Bd. 10: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Zweiter Teil
Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin
Kapitel 1: Das Deutsche Reich
unter Kaiser Wilhelm II. (1890 - 1909) (Forts.)
3. Die Entscheidung des englischen Bündnisproblems
(1898 - 1904). (Forts.)
Es war von allen dramatischen Verschiebungen dieser Jahre wohl die
aufregendste, die jetzt mit einem Male den Blick der Mächte von Afrika
ablenkte: der plötzliche Ausbruch einer
national-revolutionären Bewegung in China, die in der Belagerung der
europäischen Gesandtschaften in Peking und in der Ermordung des
deutschen Gesandten Freiherrn von Ketteler (20. Juni 1900) gipfelte. Damit war
unter den ungünstigsten Aspekten der große Rivalitätskampf
der Mächte um China von neuem eröffnet, und im besonderen: die
Frage eines Einvernehmens zwischen England und Deutschland mußte von
jetzt an [508] auf dem dafür
gefährlichsten weltpolitischen Hintergrunde, dem ostasiatischen, fortgesetzt
werden.
Der unglückliche Zufall wollte, daß gerade Deutschland, das
vermöge seiner Interessen und Ansprüche auf chinesischem Boden
doch erst in zweiter Linie stand, durch das tragische Geschick seines Vertreters in
die vorderste Reihe der beteiligten Mächte gedrängt schien. Von
vornherein lag hier ein Widerspruch zwischen der leidenschaftlichen
persönlichen Aufwallung, die den Kaiser trug, und der Staatsräson,
die Bülow zu vertreten hatte. Der Kaiser wünschte vor allem eine
große gemeinsame, am liebsten europäische Militäraktion,
womöglich unter deutscher Führung mit dem Endziel, Peking dem
Erdboden gleichzumachen - denn die ihm geläufige Vorstellung, es
ist der Kampf Asiens gegen Europa, hatte wieder von seiner Seele Beschlag
genommen. Bülow dagegen war besorgt, wenn Deutschland in Ostasien
vorzeitig zu sehr in den Vordergrund träte, könnten sich bei der
Eifersucht der Russen, der latenten Feindschaft der Franzosen und der
Unzuverlässigkeit der englischen Politik die anderen Mächte gegen
uns zusammenschließen.
Vom ersten Augenblick an war jede erdenkliche Sonderfrage, die Stärke
der Beteiligung der einzelnen Nationen, der Umfang und das Ziel des
militärischen Unternehmens, die Übertragung des Oberbefehls bis zu
der Frage der chinesischen Sühne- und Strafbedingungen, den
Entschädigungsverhandlungen und schließlich dem Termin des
Abmarsches, alles und jedes war hochpolitischer Natur und infolgedessen
Gegenstand eines zähen und verschlagenen Ringens unter den
Mächten. Und zwar ging es dabei nicht allein um die große
Realität der Macht, die mit dem Schicksal ganz Ostasiens in Fluß und
zur Entscheidung kommen konnte, sondern ebensogut um den Schein, um das
Prestige, das jeder selbst vor den Chinesen zu wahren, dem andern aber
womöglich zu stören
trachtete - auch wenn das Ganze nur eine in sich selbst ablaufende Episode
blieb, konnten doch tiefe Eindrücke in der Seele des fernen Ostens
zurückbleiben. Die deutsche Auffassung ging schon vor Beginn der Krisis
dahin, sich möglichst nicht in das Vordertreffen zu drängen, und
auch als man durch den Ausbruch der Krisis nach vorne geschoben wurde, blieb
man entschlossen - trotz aller starken und unglücklichen Worte des
Kaisers, die nur an den äußeren Hergang rührten, die
politischen Konsequenzen in möglichst engen Grenzen zu halten. Das
deutsche Programm lautete: "unnötige Erschütterung oder gar eine
Aufteilung der chinesischen Länder ist als unseren Interessen nicht
entsprechend zu vermeiden" (30. Juni).103 In der von Intriguen und
Mißtrauen überladenen Atmosphäre war es für die
deutsche Politik schon an sich sehr schwer, ihren Weg zwischen Rußland
und England zu gehen. Den Russen mit ihren weitreichenden Plänen
[509] kam die chinesische
Revolution so unerwünscht wie möglich. Sie wollten nicht die
Europäer zusammen mit dem Japaner auf dem Boden Chinas auftreten
sehen und ließen sich nur mit Widerstreben zu einem Unternehmen gegen
Peking bereitfinden. Die Engländer dagegen neigten von vornherein dazu,
in der Krisis mit Deutschland zusammen den Russen entgegenzutreten; noch stark
in Südafrika beschäftigt, traten sie für eine kräftige
militärische Mitwirkung der Japaner ein und waren verstimmt, als die
deutsche Diplomatie sich nicht dafür in Petersburg einsetzen wollte;104 Salisbury erfüllte sich bald
mit der Sorge, daß die Deutschen, wenn es sich um eine gemeinsame Politik
in Peking handle, die Engländer im Stiche lassen würden, um es mit
den Russen nicht zu verderben. Im Grunde war es die
russisch-englische Rivalität, die dazu führte, daß man
schließlich in Petersburg und in London den wenig erwünschten
Oberbefehl des Grafen Waldersee annahm. Zwar gelang es dem Kaiser, am 6.
August dem Zaren durch den Eventualvorschlag Waldersee die Zustimmung
abzuringen und damit auch das Einverständnis aller übrigen
Mächte herbeizuführen.105 Aber als nach kurzer Frist die
Nachricht von der Einnahme Pekings am 17. August eintraf, ließ der Russe
sofort die Erklärung folgen, daß der Vormarsch nunmehr
unnötig geworden sei; als Graf Waldersee in Neapel an Bord ging (22.
August), lief bereits von Petersburg ein Wort des Zaren in den europäischen
Kabinetten um, daß das Militär nicht mehr die Entscheidung habe,
daß das Wort an die Diplomatie übergehe. Kaiser Wilhelm, der vor
allen anderen seine Ehre verpfändet sah, nahm es mit Erbitterung auf,
daß die russische Politik so herausfordernd seine Bahnen kreuzte und schon
den Antrag auf Räumung Pekings stellte; es war, als wenn man in
Petersburg es zu einer weiterreichenden Strafexpedition und einer Verwirklichung
des Oberkommandos überhaupt nicht kommen lassen wollte. Von dieser
Unaufrichtigkeit und Rücksichtslosigkeit abgestoßen,106 begann der Kaiser eine engere
Fühlung mit England zu suchen, das ein Eingehen auf den
russisch-französischen [510] Antrag auf
Räumung Pekings abgelehnt hatte. In einer Besprechung mit dem Prinzen
von Wales und dem englischen Botschafter am 22. August in
Wilhelmshöhe einigte man sich nicht nur darüber, daß der
Krieg noch nicht zu Ende sei, die Diplomatie noch Schweigen bewahren und die
Sache den Generalen überlassen solle, sondern auch darüber,
daß die Offenhaltung des
Jangtse-Gebietes unter gleichen Bedingungen für alle, sowohl für
England wie für Deutschland ein Gebot der politischen Notwendigkeit sei.
Von dieser Verständigung nahmen die Verhandlungen ihren Ausgang, die
zum Abschluß des deutsch-englischen Abkommens vom 16. Oktober 1900
führten.
Die deutsche Politik war davon ausgegangen, den freien Verkehr im
Jangtse-Gebiet, als ein gemeinsames Interesse aller, gemeinsam mit England zu
schützen. Der geschickten Verhandlungstechnik Salisburys gelang es
jedoch, das deutsche Entgegenkommen für eine weitergesagte und fast
mehrdeutige Vertragsgrundlage zu gewinnen. Die grundsätzliche
Offenhaltung des freien Verkehrs wurde auf alle Häfen an den
Flüssen und Seeufern Chinas ausgedehnt; dementsprechend sollte sich die
Verpflichtung der beiden Mächte auf die Aufrechterhaltung der
Verkehrsfreiheit auf das ganze chinesische Territorium, "soweit sie Einfluß
ausüben können", erstrecken; daß dabei die Mandschurei nicht
mit einbezogen werden sollte, ergibt sich einwandfrei aus der
Entstehungsgeschichte des Vertrages.107 Sodann verpflichteten
Großbritannien und Deutschland sich, die Wirren nicht zu benutzen, um
sich irgendwelche territorialen Vorteile in chinesischem Gebiet anzueignen, und
ihre Politik auf die unverminderte Erhaltung des Chinesischen Reiches zu richten;
nur für den Fall, daß eine andre Macht solche Vorteile sich aneignete,
behielten sie sich eine gemeinsame Verständigung über ihre
Interessen vor. Als der Vertrag abgeschlossen war, genügte er der
englischen Aktionspartei doch nicht ganz, weil sie besorgte, die Deutschen
würden es niemals darauf ankommen lassen, Rußland
gegenüber eine energische Haltung einzunehmen, wodurch für sie
der eigentliche Zweck des Abkommens völlig vereitelt werde.
Zunächst stimmten Rußland, über die Mandschurei beruhigt,
und die übrigen Mächte dem Vertrage zu, aber es war
vorauszusehen, daß er seine eigentliche Probe noch würde zu
bestehen haben.
Die Politik des Grafen Bülow, der an dem Tage nach dem
Vertragsabschluß zum Reichskanzler ernannt wurde, ging also dazu
über, den Ablauf [511] der chinesischen
Expedition in erster Linie durch die Fühlung mit England sicherzustellen.
Wenn man tiefer in die Entstehungsgeschichte dieses Vertrages und die
Differenzen um seine richtige Interpretation eindringt, so erkennt man jedoch,
daß eine restlose Option auf diesem Schauplatze von der deutschen Seite
noch nicht vollzogen war. Es stellte sich heraus, daß der Deutsche in der
Anwendung des Vertrages vielleicht doch nicht so weit gehen wollte, wie es
für die Engländer, um die Kluft gegen Rußland zu vertiefen,
der eigentliche Vertragszweck war, und es blieben dann wieder diplomatische
Situationen nicht aus, in denen das Einvernehmen vom 16. Oktober, weil es
verschieden ausgelegt wurde, geradezu eine Nichteinigkeit zwischen den beiden
Partnern auslöste.
Vor allem sei auf die eine gewichtige Tatsache aufmerksam gemacht, daß
von dem chinesischen Machtschauplatze, der für die deutschen Interessen
an sich nur eine sekundäre Bedeutung besaß, immer wieder die
stärksten Rückwirkungen auf das Verhältnis der Reichspolitik
zu Rußland und England ausgingen und daß das ungelöste
Lebensproblem des englischen Bündnisses fortan seine eigentliche Nahrung
aus den wechselnden Konstellationen im fernen Osten bezog.
Bald nach dem Abschlusse des deutsch-englischen Chinavertrages ging die
Leitung der englischen Außenpolitik in andere Hände über: am
12. November 1900 trat an die Stelle Salisburys, der sich fortan auf die
Ministerpräsidentschaft zurückzog, der bisherige Kriegsminister
Marqueß of Lansdowne. Der neue Außenminister war in seiner
politischen Laufbahn von früh auf in die weiten Horizonte des Imperiums
hineingestellt worden; er hatte bereits die Würde eines Generalgouverneurs
von Kanada und dann jahrelang die eines Vizekönigs von Indien bekleidet.
Innerhalb des Foreign Office besaß er vielleicht noch keine
unmittelbare Amtserfahrung, um gegen die überragende Autorität
Salisburys aufzukommen; dafür war er von den neuen
Voreingenommenheiten und Empfindlichkeiten dieser Behörde frei.
Persönlich ein großer Herr von ausgesprochen loyaler Haltung und
liebenswürdiger Bestimmtheit, stand er in der Frage des
Bündnisproblems der Gruppe
Chamberlain - Devonshire nahe und war bereit, einer sachlichen
Behandlung nicht aus dem Wege zu
gehen - immerhin lagen die Aussichten für eine Verständigung
geschäftlich günstiger als seit langer Zeit.108 Aus welchem Anlasse es sein
mochte,109 jedenfalls entschloß sich die
deutschfreundliche Gruppe des Kabinetts, nunmehr das Gespräch mit der
deutschen Seite wieder aufzunehmen. Um Mitte Januar ließ Chamberlain
auf dem Landsitze [512] des Herzogs von
Devonshire vor dem Baron Eckardstein sein bekanntes Programm vernehmen. Die
Zeit der glänzenden Isolierung sei vorüber und man müsse
sich nach Bundesgenossen umsehen; sowohl im Kabinett wie im Volke seien
Stimmen, die zur Anknüpfung mit dem Zweibunde rieten; er selbst sei der
Überzeugung, daß der Anschluß an den Dreibund vorzuziehen
sei. Und zwar sei er zunächst für ein Geheimabkommen über
Marokko auf der früher erörterten Grundlage. Erweise sich das
Bündnis als nicht möglich, so werde er auch einen Abschluß
mit Rußland befürworten. Es war noch die Melodie von 1898,
vielleicht die russische Unterstimme schon ein wenig vernehmlicher
instrumentiert.
Der deutsche Botschafter war, wenn auch der Allianzgedanke noch verfrüht
sei, doch der Meinung, man solle sich die Zuwegung über Marokko
gefallen lassen. Bülow, der damals den
Portugal-Vertrag empfindlicher zu nehmen begann, wollte immerhin den
Engländern die Initiative überlassen und die Verstimmung der
öffentlichen Meinung nicht verschwiegen sehen. In diesem Augenblicke
aber erkrankte die greise Königin sehr schwer, und Kaiser Wilhelm
entschloß sich, zu dem Sterbelager seiner Großmutter
hinüberzueilen. Damit war die Konstellation für ein neues
Bündnisgespräch mit einem Male verschoben.
Jetzt hielt der Reichskanzler es vollends für angezeigt, dem Kaiser, wenn es
zu einer politischen Besprechung kommen sollte, Zurückhaltung statt der
Beeiferung ans Herz zu legen. Er kannte die dem Eindruck der Stunde
stürmisch sich hingebende Persönlichkeit Wilhelms II. allzu
gut, um es darauf ankommen zu lassen, daß er, hingerissen von dem
feierlichen weltgeschichtlichen Augenblick, weitgehend sich binde. Er einigte
sich mit dem Kaiser darüber, daß jetzt alles darauf ankomme, die
Engländer weder zu entmutigen noch sich vorzeitig von ihnen festlegen zu
lassen: ein wahrer Meistercoup wäre auszuführen, wenn es
gelänge, "den maßgebenden Engländern die Hoffnung auf ein
zukünftiges, festes Verhältnis mit uns zu lassen, ohne sich jetzt
schon verfrüht zu binden oder festzulegen." Daß er die Stärke
der deutschen Karte im englischen Spiel überschätzte und zuviel von
der wachsenden Verlegenheit Englands für seine Trümpfe erwartete,
hatte er mit Holstein gemein;110 aber daß beide die
Brücke zu schlagen gewillt waren, kann keinem Zweifel unterliegen. Der
Kaiser vollends war von der Verantwortlichkeit der Stunde, der er entgegenging,
tief erfüllt. "Gott gebe mir die richtigen Worte, daß ich sie richtig zu
fassen verstehe und zum Wohl beider Länder ausfalle, was wir
beredet" - telegraphierte er dem Kanzler, als er nach stürmischer
Überfahrt in London den Boden der Insel betreten hatte.
[513] Der Besuch des Kaisers
verlief harmonisch. Man nahm es in London doch mit dankbarem
Verständnis auf, daß er sich am Totenbett der Königin Victoria
und in den ersten Tagen der Thronbesteigung König Eduards VII.
wie ein Glied in die große Familie füge. Der Berliner Absicht
entsprechend, gewann der Besuch keinen politischen Charakter. Wenngleich
Eduard VII. sich zum Kaiser in den schärfsten Worten gegen den
Zweibund aussprach, vermied dieser verabredetermaßen von Allianz zu
sprechen; er beschränkte sich bei dem König und den Ministern auf
das Thema der Notwendigkeit für England, mit den
Kontinentalmächten zusammenzugehen. In seiner akademischen
Unterhaltung mit Lansdowne blieb er allerdings zu lebhaft, um den andern zum
Sprechen zu nötigen, und verriet durch seine Gesprächigkeit eher,
daß er nicht abwarten könne.
Die Ereignisse des fernen Ostens begannen schon jetzt mit steigendem Druck auf
die Entschließungen der Mächte einzuwirken. Die Russen hatten am
24. Januar 1901 in Tientsin eine Gebietsaneignung für eine Niederlassung
vorgenommen, die nach englischer Auffassung unberechtigt und in Widerspruch
zu dem von Rußland anerkannten
deutsch-englischen Abkommen stand; auf die englische Frage nach der deutschen
Stellungnahme gab man in Berlin zunächst eine ausweichende Antwort, die
in London eine gewisse Mißstimmung hervorrief; diese jedoch flaute rasch
ab, als man erkannte, daß der deutsche Partner sich seinen Verpflichtungen
keineswegs zu entziehen beabsichtige.111 Bezeichnend war, wie die Leiter der
deutschen Politik sich zu der Gewissensfrage, die leicht größere
Dimensionen annehmen konnte, stellten. Der Kaiser war in seiner damaligen
Erbitterung gegen Rußland im Grunde dafür, den Engländern
möglichst entgegenzukommen, ohne die Russen allzu stark zu verletzen.112 Er fühlte sich, in dem
Gedränge der Trauerfeierlichkeiten in Windsor, unter besonders
schwierigen Umständen in den
russisch-englischen Weltgegensatz eingeklemmt und hielt, in einem immer wieder
durchbrechenden richtigen Instinkt für die Wirklichkeit, seinem Berater
entgegen: er könne doch nicht immerzu zwischen Russen und
Engländern schwanken, er würde sich dann schließlich
zwischen zwei Stühle setzen.113 Der [514] Reichskanzler
vermißte stärker, daß England "bei Erwägung etwaiger
Abmachungen mit uns die Eventualität größerer
beiderseitiger Verpflichtungen ins Auge gefaßt habe", mit der
einzigen Annahme der Chamberlain-Episode von 1898. Salisbury dagegen habe
durch sein regelmäßiges Ausweichen tatsächlich verhindert,
daß "ein Vertrag mit breiterer Grundlage, welcher England die deutsche
Rückendeckung unter gewissen Voraussetzungen sicherte", vereinbart oder
selbst nur beraten worden sei.114 Offenbar strebte er auf einen solchen
Vertrag mit breiterer Grundlage hin.
Die Situation sollte nach diesem ersten Auftakt immer verschärfter
wiederkehren. Im Laufe des Januars hatten sich die Nachrichten gehäuft,
daß Rußland und China ein Abkommen über die Mandschurei
miteinander geschlossen hätten. Am 7. Februar eröffnete Lansdowne
dem deutschen Vertreter, daß Japan, von England unterstützt, mit
Warnungen in Peking vorzugehen gedächte und daß eine
Zurückweisung seines Antrags die schwersten Folgen haben werde. In
solcher Voraussicht stellte er die Frage, ob die Reichsregierung ebenfalls gewillt
sei, auf den japanischen Antrag einzugehen: von ihren Entschlüssen
hänge es im wesentlichen ab, "ob England es weiter für lohnend
halten werde, seine bisherige Chinapolitik fortzusetzen". Das war eine Wendung,
die unabsehbare Folgen nach sich ziehen, ja, in kurzer Zeit die deutsche
Außenpolitik an den Kreuzweg prinzipiellster Entscheidung versetzen
konnte.115 Indem sie sich in Peking den
Erklärungen gegen jede chinesische Veräußerung
anschloß, stellte sie sich zum ersten Male auf die antirussische Seite. So war
man im Auswärtigen Amte sofort entschlossen,116 jeden weiteren Schritt auf diesem
Wege mit der Erörterung des Bündnisproblems zu verbinden, da man
wegen der Mandschurei an sich in keinen Gegensatz zu einer Großmacht zu
geraten gedachte117 und weitausschauende
Verpflichtungen nur bei genügender Gegenleistung und Sicherheit
übernehmen könnte.118 Man wollte also auf ein
Bündnis hinauskommen. Dabei legte die Taktik Holsteins einmal Wert
darauf, daß das Angebot eines Bündnisses und die [515] Forderung von
Gegenleistungen nicht von Deutschland ausgehen könne; und zweitens
glaubte man "angesichts der akuten antienglischen Stimmung in Deutschland"
auch nur auf einen Defensivvertrag sich einlassen zu können, der,
abgesehen von einer nach Möglichkeit gesicherten Gegenseitigkeit,
unmittelbare direkte Vorteile für Deutschland, keine bloßen
Versprechungen mit sich brächte, sei es in Form von Gewähren oder
von Zulassen.119 Man wollte sich diesmal anders als
beim Portugal-Vertrage vor dem Burenkriege, auch vor der öffentlichen
Meinung nur teuer und sicher verkaufen. Da die englische Regierung, die an sich
von der deutschen amtlichen Erklärung sehr befriedigt war, die Frage einer
weitergehenden Verständigung mit Deutschland zunächst nicht
berührte, blieb die Gelegenheit ungenutzt.
In der ersten Hälfte des März stieg der russisch-englische Konflikt
auf den Höhepunkt. Beide Teile zogen Verstärkungen an sich, und
schon hieß es, daß die englische Flotte von der
Jangtsemündung unterwegs sei; in Tientsin standen Kosaken und englische
Wachen einander hart gegenüber und betrachteten sich feindselig. Offen
gab man in London zu, wenn man nicht 200 000 Mann in Afrika zu stehen
hätte, würde man ganz anders auftreten. Nachdem China die
Vermittlung der Mächte gegen die russische Anforderung angerufen hatte,
rückte die Möglichkeit eines kriegerischen Ausbruches
näher - "welch eine interessante Lage", schrieb der Kaiser am 5.
März. Nur der Tatenscheu Salisburys wollte man es in Berlin zuschreiben,
wenn es nicht zu gewaltsamer Entladung kam.120
Am 7. März 1901 sondierte Lansdowne die deutsche Regierung, ob
Deutschland geneigt sein würde, für den Fall eines
russisch-japanischen Konflikts in Gemeinschaft mit England in Paris eine
Erklärung abzugeben, daß beide Mächte im Interesse des
europäischen Friedens die Lokalisierung eines Krieges in Ostasien
wünschten und selbst strikte Neutralität bewahren würden.
Gegenüber diesem einseitigen Festlegungsversuch entschied der
Reichskanzler mit Recht: "Das können wir in London und Tokio, nicht aber
in Paris erklären." Grundsätzlich war man gegenüber allen
englischen Versuchen, Deutschland zu binden,
ent- [516] schlossen, eine solche
Bindung ohne ein vertragsmäßiges Einvernehmen auf breiterer
Grundlage zu vermeiden.121 Von neuem versteifte sich Holstein
auf seinen Standpunkt: die Gegenleistung für eine deutsche
Unterstützung in Ostasien könne nur das englische Bündnis
zur Deckung gegen einen Doppelangriff bieten.
Und so geschah es, daß an diese sich immer weiter komplizierende
Fragestellung die eigentliche und zugleich letzte
deutsch-englische Bündnisverhandlung anknüpfte. Man hat lange
Zeit angenommen, daß Lord Lansdowne am 18. März in einer
Unterhaltung mit dem Freiherrn von Eckardstein die Bündnisanregung, und
zwar in der von Berlin her gewünschten Form: Bündnis gegen
Doppelangriff auf einen der Verbündeten, gegeben habe. Von diesem
"Angebot" auf englischer Seite aus sind dann die Vorgänge der folgenden
Monate erläutert und beurteilt worden. In Wahrheit liegt die Sache so,
daß Eckardstein, trotz der strengsten Anweisung Holsteins, nicht den ersten
Schritt zu tun,122 instruktionswidrig, augenscheinlich
in dem Glauben, die Sache dadurch zu fördern, seinerseits mit dem
Angebot herausgeplatzt ist.123 Aus allen späteren englischen
Erörterungen geht hervor, daß man sich einem deutschen
Bündnisangebot gegenübersehe; insbesondere hat Lansdowne selber
niemals eine andere Vorstellung von dem Hergange gehabt.124 Indem man in Berlin aus der
unzuverlässigen Berichterstattung Eckardsteins ein falsches Bild von einem
aktiven Bündniswillen der anderen Seite bekam, war man von vornherein
in eine unrichtige Stellung hineinmanövriert. Schon nach wenigen Tagen,
am 29. März, sah sich Lansdowne in der Lage, Eckardsteins Illusionen
erbarmungslos zu zerstören: seine Kollegen wären einem
allgemeinen Defensivbündnis an Stelle eines Spezialabkommens
über China durchaus abgeneigt, Salisbury sei krank, und ohne ihn
könne nichts entschieden werden.
Die in diesem Moment plötzlich eintretende Abkühlung hing einmal
allem Anschein nach mit Äußerungen des Kaisers zusammen, der
von dem Geheimnis der Verhandlung ausgeschlossen war und gewissen
Verstimmungen (in der Frage der chinesischen Kriegsentschädigung und
der südafrikanischen Reklamationen) [517] allzusehr nachgab,
doch hat diese Episode keine tiefere Bedeutung, da ohnehin die Verhandlung
unterbrochen war. Dazu kam, daß fast gleichzeitig der unmittelbare Zwang
zur Entschließung für die Engländer wegfiel. Nachdem China
seinen Rücktritt aus dem Mandschureivertrage verkündigt hatte, gab
auch Rußland am 5. April bekannt, daß es seinerseits von dem
Vertrage zurücktrete. Als daher Lansdowne mit seinen Freunden im Laufe
des April die schwebende Bündnisverhandlung formell wiederaufnahm,
geschah es, ohne daß der mächtige Druck der ostasiatischen Krisis
der Maschine noch merkbaren Dampf zuführte. In Fluß kam auch
jetzt die Verhandlung erst nach der Rückkehr Salisburys aus seinem Urlaub
(28. März bis 10. Mai), und wenn man der optimistischen Darstellung
Eckardsteins trauen soll, waren Lansdowne, Chamberlain und Devonshire immer
noch geneigt, den schon fast zu lange beredeten Bündnisgedanken zu
verwirklichen.
Um Mitte Mai waren die Dinge so weit gediehen, daß Lansdowne eine
schriftliche Niederlegung der beiderseitigen Vorschläge wünschte,
um die Frage einer förmlichen Beratung im Kabinett zu unterwerfen. Zu
diesem Zwecke suchte er am 23. Mai 1901 den schwerleidenden deutschen
Botschafter auf, der in den letzten Monaten die Geschäftsführung
zum Schaden der Sache Herrn von Eckardstein überlassen hatte. Und
Hatzfeldt schuf wenigstens für die Verhandlung eine sachliche Grundlage.
Er verschwieg nicht die Schwierigkeiten, die von der öffentlichen Meinung
Deutschlands her dem Bündnis entgegenständen. Aber er verlangte
Klarheit über den entscheidenden Punkt, über die Frage, ob England
den Deutschen aktiv beispringen würde, wenn der einzige wahrscheinliche
Fall eines zweiseitigen Angriffes eintreten sollte: wenn Rußland den
Österreicher angriffe, wir aber genötigt wären, dem
Dreibundgenossen beizustehen und nunmehr mit dieser Bündnispflicht den
russisch-französischen Doppelangriff auf uns zu ziehen. Wenn England
diese Frage mit "Ja" beantworte, dann sei Deutschland bereit, das britische
Imperium gegen einen zweiseitigen Angriff in allen seinen Kolonien zu
verteidigen.125 Das war eine unabsehbar
weitgehende Verpflichtung. Aber das Auswärtige Amt, das Hatzfeldts
Vorgehen billigte, glaubte das Risiko tragen zu können, weil, wenn das
englische Imperium ernstlich in seinem Bestande bedroht sei, es sich dann nicht
mehr um die Frage der einzelnen Dominions handle, sondern um die Erhaltung
des Gleichgewichts der Mächte auf dem Erdball. Dann gelte es auch
für die deutsche Politik, nicht Indien und Australien zu schützen,
sondern die russisch-französische Weltherrschaft zu
verhindern - daran aber habe Deutschland ein unmittelbares
Lebensinteresse.
Lansdowne unterbreitete den Bündnisvorschlag Hatzfeldts, nachdem er ihn,
um eine greifbare Unterlage der Besprechung zu haben, in dem Entwurf einer
[518] Konvention hatte
zusammenfassen lassen,126 zunächst dem
Ministerpräsidenten. So ist Salisburys Memorandum über den
deutschen Antrag (in der Formulierung Hatzfeldts) vom 29. Mai entstanden.
Dieses politische Dokument ersten Ranges lief auf eine völlige Verwerfung
hinaus. Schon der wuchtig einsetzende erste Satz: "Dies ist der Vorschlag,
England in die Schranken des Dreibundes einzubeziehen" wirkte wie eine
Brandmarkung der politischen Absichten, die Salisbury selbst immer wieder
durchkreuzt hatte. Seine Kritik setzte damit ein, daß er, die
tatsächliche deutsche Hilfsverpflichtung verengend (was auch Lansdowne
sogleich beanstandete), mit aller Schärfe eine angebliche Ungleichheit
feststellte: "Die Verpflichtung, die deutschen und österreichischen Grenzen
gegen Rußland verteidigen zu müssen, wiegt schwerer als die
Verpflichtung, die britischen Inseln gegen Frankreich verteidigen zu
müssen." Auf Grund dieser Antithese kam er zum Schluß, daß
der Handel selbst in seiner nacktesten Gestalt ungünstig für
Großbritannien sei. Die Notwendigkeit, der Gefahr der Isolierung entgehen
zu müssen, wies er von oben herab zurück: "Haben wir diese Gefahr
jemals verspürt?" Nicht einmal im Revolutionskrieg und sonst waren wir je
in Gefahr. Es sei daher nicht klug, Verpflichtungen zu übernehmen "zum
Schutze gegen eine Gefahr, an deren Bestehen zu glauben wir keinen
geschichtlichen Grund haben." Die gewichtigsten Bedenken waren für den
Schluß aufgespart. Beide Regierungen seien nicht berechtigt, sich so
weitgehende Versprechungen zu machen. "Die britische Regierung kann sich
nicht verpflichten, zu irgendeinem Zwecke den Krieg zu erklären, es sei
denn zu einem Zweck, den die Wähler unseres Landes billigen
würden." Eine Vorlage an das Parlament werde einigermaßen
entlasten, habe aber auch sehr ernste Bedenken. Dasselbe Bedenken gelte auch
für Deutschland, auch wenn der Reichstag der Exekutive mehr Beachtung
schenke. "Aber das Versprechen eines Defensivbündnisses würde ein
zorniges Murren in allen Klassen der deutschen Gesellschaft
erregen - nach dem Erlebnis der beiden letzten Jahre." Damit versah er das
verworfene Bündnis noch mit dem doppelten Stigma, keinen festen Grund
in dem lebendigen Willen und der öffentlichen Meinung der beiden
Völker zu besitzen. Wenn er überhaupt seine Blicke auf das
Bündnisproblem richtete, so liefen sie in anderer Richtung. Allgemein
bekannt waren seine französischen Sympathien. Und einige Monate
später schrieb er an Lansdowne: "Ich bin der
Meinung - und ich habe sie schon lange
vertreten - daß engere freundschaftliche Beziehungen zu
Rußland zweckmäßig wären. Die Staatsmänner
anderer Länder wissen sehr wohl, daß eine wahre Sympathie [519] zwischen
Rußland und England die anderen Mächte in eine untergeordnete
Stellung drängen würde." Unter den anderen Mächten war in
erster Linie die eine Macht zu verstehen, deren Bündnis er verwarf.
Mit diesem Votum des Ministerpräsidenten war in Wirklichkeit die Debatte
geschlossen. Ob es zu einer Besprechung im Kabinett gekommen ist, ist nicht
erkennbar und nicht wahrscheinlich.127 Man hört von keiner Stimme,
die sich dagegen erhöbe, und es ist kein Zufall, daß eine Reihe von
Zufällen sich vereinte, den Fortgang der Verhandlung zu unterbrechen und
schließlich stillzulegen. Schon in diesem Augenblick, ohne daß man
sich dessen im deutschen Lager bewußt werden konnte, stehen wir an der
entscheidenden Wendung nicht nur dieser laufenden Unterhandlung, sondern an
einer Wende der Zeiten.
Die englische Staatsräson, in dem siebzigjährigen Salisbury
verkörpert, hatte das deutsche Bündnisproblem vom dynamischen
Standpunkt gewogen und zu leicht befunden. Wie in der Lösung eines
Rechenexempels kam Salisbury zu dem Ergebnis: der Deutsche braucht das
englische Bündnis mehr als der Engländer das deutsche
Bündnis, denn das Ganze des Dreibundes ist gefährdeter als das
Ganze des Imperiums. Also lehnte er die ihm wohlbekannte Argumentation der
deutschen Seite ab, daß England im eigenen Interesse Anschluß an
den Dreibund suchen müsse - die große Tradition eines
Jahrhunderts führte er mit hohem Selbstgefühl ohne große
Worte ins Feld. Wenn diese Grundauffassung zu Recht bestand, dann mußte
vom englischen Standpunkt aus die herkömmliche deutsche Politik der
Forderungen und leisen Nötigungen allerdings unberechtigt erscheinen, und
diese Überzeugung hatte sich als das Ergebnis vieler Erfahrungen im
Foreign Office festgesetzt. Die ersten Konflikte der Jahre 1884/85
mochten vergessen sein, denn sie fielen noch in die Zeit Bismarcks. Aber im
letzten Jahrzehnt glaubte man immer wieder die Erfahrung gemacht zu haben,
daß der Deutsche eigentlich sehr anspruchsvoll, ohne zureichenden Grund
anspruchsvoll sei. Daß in den einzelnen Streitigkeiten der Deutsche, schon
in der Kongostaat-Sache von 1894, formell im Rechte gewesen war, daß
man ihn auch kürzlich in der
Portugal-Angelegenheit hinterhältig und in der
Samoa-Frage unfreundlich behandelt hatte, rechnete man dem Partner schon
deswegen nicht recht an, weil man ihm die volle Parität auf allen
weltpolitischen Schauplätzen nicht zubilligte. Der Deutsche dagegen sah
sich, häufig mit Recht, kürzer und verständnisloser behandelt,
als er es für angemessen hielt. Zumal der Kaiser kam gern auf das Thema
zurück: den Engländern werde sich nie wieder eine solche
Gelegenheit bieten, denn nie wieder werde ein Enkel der Königin von
Großbritannien auf [520] dem deutschen Throne
sitzen.128 Und wenn das Inselreich nicht mit
beiden Händen zugriff, dann
mußte - das ist doch auch des sehr englandfreundlichen Grafen
Hatzfeldt letzte Weisheit gewesen - dann mußte es mit realistischen
Methoden und dem kühlen Nachweis, daß man auch anders
könne, allmählich zu einem besseren Verständnis erzogen
werden. Man braucht in dem zähen Ringen um Einzelfragen, das wir immer
wieder beobachteten, dem Deutschen diese Taktik nicht zu einem schweren
Vorwurf zu machen, aber sollte sich doch das nachdenkliche Urteil Metternichs
durch den Kopf gehen lassen: es würden während der letzten
Jahrzehnte manche Verstimmungen vermieden worden sein, wenn man sich
häufiger die Frage vorgelegt hätte: "Würdest du mit
Rußland ebenso verfahren, wie du jetzt mit England verfahren willst."129 Den Engländern war in diesen
Streitigkeiten kraft Tradition und Temperament der längere Atem verliehen,
und sie empfanden bei dem Deutschen, der sich mit Heißhunger an die
Krippe drängte, nur die unstillbare
Begehrlichkeit - sie waren nicht im Recht so zu empfinden, aber sie waren
in der Macht. Und wenn umgekehrt auf der deutschen Seite, vor allem auch in der
Marine, die englische Art als ein System des nur durch Tatsachen belehrbaren
brutalen Egoismus verrufen war, so war man ebensowenig im Recht, sondern
drückte nur ein brennend empfundenes Machtverhältnis auf seine
Weise aus.
Es handelte sich um Machtfragen. Die Frage war vielleicht nicht, ob Deutschland
stark genug war, überhaupt auf diesem Fuße wie Macht mit Macht
mit England zu verkehren, sondern ob es gegenüber dem englischen
Weltreiche mit seinem System von Machtmitteln und politischen
Möglichkeiten diese Sprache in allen Lebenslagen behaupten werde.
Gewiß, die Macht des Deutschen Reiches war ausreichend, seine
dominierende Stellung in der Mitte Europas auch gegen Koalitionen festzuhalten
und mit diesem Schwergewicht auch seinen älteren Kolonialbestand
mittelbar zu decken. Aber durfte man als die stärkste Macht auf dem
Kontinent von der nicht ungefährdeten Europamitte aus eine aktive
Weltpolitik auf fast allen noch offenen Schauplätzen betreiben? Es war im
Auswärtigen Amte in Berlin ein beliebtes Argument, daß England
seine Weltpolitik auf die Dauer isoliert nicht würde fortsetzen
können - in London war man eher der Meinung, der Deutsche
überziehe schon das Ganze seines Weltkredits. Und wenn man in Berlin
den Schluß zog, dann die für diese Politik noch erforderlichen
Machtmittel zur See zu verstärken, so mußte man sich eines Tages in
London fragen, wieweit eine solche Verstärkung im englischen Interesse
liege. Einstweilen sah man unter Führung der deutschen Kolonialpolitiker
und Marineoffiziere nur die Ansprüche derer wachsen, die
stimmungsmäßig von der Idee eines friedlichen Wettkampfes mit
England lebten.
Wie kam es jedoch, daß jeder deutsch-englische Verhandlungskomplex
immer wieder einen Zustand der Spannung unter den Beteiligten hervorrief?
Einige [521] Jahre später, als
der große Umschwung sich längst vollzogen hatte, gab König
Eduard VII. das Stichwort: "Es handelt sich gar nicht um Friktionen, es
handelt sich um Rivalität." In gewissem Sinne gilt das schon von den
Jahren, in denen wir stehen. Diese Rivalität besitzt kein konkretes
Kampfgebiet, auf dem um dieselben Ziele gerungen würde; weder in der
kolonialen Welt noch im Wettkampf der maritimen Machtmittel kann von
rivalisierenden Interessen die Rede sein, die nicht nebeneinander bestehen
könnten. Es handelt sich nicht um Athen und Sparta, die mit ihren
Machtbereichen auf der ganzen Linie der allgriechischen Rivalität
aufeinanderstoßen und unaufhaltsam auf die große Machtprobe
hintreiben. Aber es regt sich das Vorgefühl, daß die Entwicklung
eines Tages in eine wirkliche Rivalität hineinwachsen könne. In der
Geschichte der Vergangenheit fehlte es an jedem Anreiz, an aller feindlichen
Tradition, wie sie zwischen England und Frankreich die Jahrhunderte
füllte - aber schien nicht die Gegenwart eine andere Sprache zu
sprechen?
Welch ein Anblick weltgeschichtlicher Energien in beiden Lagern! Sie hatten auf
der einen Seite dieses einzigartige imperiale Gebäude in der Dreieinigkeit
von Kolonialmacht, Seemacht und Wirtschaftsmacht über die Welt hin
geschaffen und trieben auf der anderen Seite die jüngere Großmacht
an, mit einer noch angespannteren Bewußtheit in die Rennbahn nach
ähnlichen Zielen hinabzusteigen - dieses Nebeneinander mußte
ein Vorgefühl der Rivalität erzeugen. Das Deutsche Reich war, nach
den in ihm verkörperten Energien beurteilt, in diesen Jahren in der
stärksten Geschwindigkeit des Aufstiegs. Es schien auf dem Wege, nach
seiner kontinentalen Befestigung und Sicherung auch noch das letzte
nachzuholen, was es in seiner Entwicklung der neueren Jahrhunderte
versäumt hatte: eine Weltstellung über den Meeren vorzubereiten.
Aber Tempo und Richtung dieses Aufstiegs ließen das englische Imperium
in dem Deutschen nicht gerade den empfehlenswerten Bundesgenossen erblicken.
Man begann vielmehr in England den geschichtlichen Aufstieg des Reiches und
die Art und Weise, in der es von seiner Macht Gebrauch machte, mit immer
kritischeren Augen anzusehen. Schon im November 1901 ging aus dem
Foreign Office ein historisches Porträt Neudeutschlands hervor, das
eigentlich bereits alle Charakterzüge der später von Haß
durchzogenen historisch-politischen Denkschriften von Sir Eyre Crowe
enthält,130 und in den führenden Organen
der öffentlichen Meinung fanden die Gedankengänge Salisburys eine
immer nachdrücklichere Unterstützung.131
[522] Auf dem Hintergrunde
des Erlebnisses des Burenkrieges beginnt sich das Vorgefühl der
Rivalität zu verdichten. Der elementare Durchbruch der Burensympathien
auf der deutschen Seite, der noch hemmungslosere und viel politischere Widerhall
später auf der englischen Seite konnten nicht anders als Öl in das
Feuer gießen. Eine weitausschauende deutsche Politik hätte, eben
weil sie das englische Bündnis wollte, die Zügel in der Burenfrage
auf jede Gefahr der Unpopularität straffer halten müssen, um die
Bündnismöglichkeit nicht der englischen öffentlichen
Meinung zu verleiden.
Gewiß, auch die englische Regierung war hernach außerstande, ihre
Presse auch nur der Person des Kaisers gegenüber auf der Linie der
Mäßigung zu halten,132 und auch sie sollte viel weiter
getrieben werden, als sie ursprünglich gewollt hatte. Allmählich
verschob sich in dem Lärm der Zeitungen die Streitlust. Noch im Juni 1900
meinte Metternich feststellen zu dürfen: "Trotzdem ist in England viel
mehr guter Wille gegenüber Deutschland zu finden, als in Deutschland
gegenüber England. Ich meine hiermit die Völker, nicht die
Regierungen."133 Es war kein Jahr vergangen, da traf
dieses Urteil nicht mehr zu. Diejenigen, die in Deutschland töricht genug
ihr volles Herz nicht wahrten (nicht zum ersten und nicht zum letzten Male in
dem öffentlichen Leben unseres Volkes), hatten ihren Leidenschaften so
lange freien Lauf gelassen, bis sie sich eines Tages einem anderen England
gegenübersahen, das, mit Stolz, Erfahrung und Bitterkeit aus dem
Burenkriege emporgestiegen, aus einer noch tiefer sitzenden Leidenschaft heraus
zu antworten begann.
Man hat wohl die Fehler der deutschen Verhandlungstaktik im einzelnen
bemängelt, spröde Zugeknöpftheit und hinterhältiges
Lavieren, aber das Nichtzustandekommen des Bündnisses darf man nicht
auf dieses technische Beiwerk der Diplomaten schieben. Man kann jene Methoden
sogar zugeben, muß dann aber zugleich darauf bestehen, daß die
Engländer durch ausweichendes Lavieren, Zweideutigkeiten und Mangel
guten Willens dieselben Fehler begangen
haben - denn man sollte den "Fehler" nicht nur von der einen Seite her
bloßlegen. Man darf auch die allzu geringe Beweglichkeit kritisieren, mit
der die deutsche Diplomatie an ihren Thesen (wie dem Dogma, England werde
den Weg zu Rußland nicht finden, oder der Risikotheorie, die den
Flottenbau immer weiter treibt, ohne einen politischen Generalangriff zu
besorgen) festhält, aber der Kern des Bündnisproblems wird damit
nicht berührt.
Der deutsche Bundesgenosse, so wie er sich in diesen Jahren darstellt, war
für Englands Weltbedürfnis zu gefährdet und zu
beunruhigend, er war für seine Begehrlichkeit zu stark und doch wieder da
nicht stark genug, wo England ihn [523] gebraucht haben
würde - er war nicht diejenige dynamische Ergänzung, die die
englische Weltmacht damals zu brauchen glaubte. Die Frage war nur, ob die
"andere" dynamische Ergänzung, die sie nach Verwerfung der ersteren
wählte und wählen mußte, auf die Dauer nicht viel
gefährlichere Erschütterungen für den Bestand des Imperiums
in sich schloß.
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