Bd. 10: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Zweiter Teil
Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin
Kapitel 1: Das Deutsche Reich
unter Kaiser Wilhelm II. (1890 - 1909) (Forts.)
[470] 3. Die Entscheidung des
englischen Bündnisproblems
(1898 - 1904).
In dem großen historischen Zusammenhang, in dem der Machtanstieg und
Machtverfall des Deutschen Reiches sich darstellt, erscheint der negative
Ausgang, der den deutsch-englischen Bündnismöglichkeiten in den
Jahren seit 1898 beschieden war, als die eigentliche Wende des Schicksals. Sie ist
in dem inneren Kampf um die Ergründung der Schuld besonders scharf und
unerbittlich durchleuchtet worden. In dem Ablauf der Ereignisse während
jener Jahre drängt sich dagegen das Problem noch keineswegs mit so
beherrschender Ausschließlichkeit in den Vordergrund, wie man es
nachträglich, einem vorliegenden Beweisthema zuliebe, wohl sehen
möchte. Auch den führenden Männern auf beiden Seiten gilt
es wohl als eine wichtige Angelegenheit, die sie stets im Kreise umgehen, die sie
aufnehmen und fallen lassen und vertagen, wie sie schon oft vertagt worden ist,
eine Frage, die nicht einfach mit Ja oder Nein zu lösen, sondern nur durch
einen Wald von Vorbehalten zu erreichen ist; jedenfalls wird das ganze Problem
nicht von der theoretischen Rechenkunst der politischen Dynamik aus behandelt,
nicht in jener Isolierung von der konkreten Wirklichkeit, in der mancher moderne
Nachrechner sich heute die Schicksalsfrage zurechtlegt, sondern in der
Verflechtung mit den großen politischen Sonderfragen des Tages, die
manchmal den verborgenen Bündniskern ganz überwuchern.
Dazu kam, daß die Entscheidung keineswegs so eindeutig zwischen zwei
Vertretern der beiden Mächte lag, wie sie etwa zwischen Disraeli und
Bismarck
gelegen haben würde, die ihren Willen letztlich ungestört
vollzogen, sondern - vor allem auf der englischen
Seite - fortlaufend ein Gegenstand der Auseinandersetzung verschiedener
Meinungen war. So war es möglich, daß jene Entscheidungen, in
denen wir heute die Wende des Schicksals sehen, sich hinzogen durch Jahre
wechselnder Weltlage, durch Episoden einer präzisen Sondierung und
wieder durch längere Zeitabschnitte weitreichender Sonderverhandlungen
über große Teilobjekte in dem beiderseitigen
Rivalitätsbereiche. Wir suchen geradezu nach der Stunde, in der sich der
politische Gesamtwille der beiden Großmächte gegenübertritt,
um in klarer Aufrechnung über Zusammengehen oder Auseinandergehen zu
entscheiden.
[471] Der Marquis von
Salisbury klagte gern, daß in dem modernen England der öffentlichen
Meinung die Außenpolitik nicht mehr in dem Stile der Pitt und Palmerston
geführt werden könne, aber er pflegte sich selbst um die
öffentliche Meinung weniger zu kümmern als seine Zeitgenossen,
wie er denn überhaupt dem englischen Bedürfnis nach einem
"populären" Staatsmann sehr wenig entgegenkam. Dieser verschlossene
Aristokrat mit dem schweren Körper und dem vollbärtigen
Gelehrtenhaupt, das eher auf einen vornehmen Geistlichen der Hochkirche
schließen ließ, besaß das stolze Selbstgefühl des Hauses
Cecil; ja, nach dem Urteil vertrauter Kenner,1 spielte der
persönliche Hochmut bei ihm die größte Rolle; war er hier
verletzt, sei es durch politische und noch viel mehr durch persönliche
Vorgänge, so war es für immer. Seine Beziehungen zu Deutschland
hatten sehr verschiedene Stufen durchlaufen. Schon von Hause aus von
ausgesprochenen französisch-kulturellen Sympathien erfüllt, hatte er
einst den Anfängen der deutschen Nationalbewegung nur hochfahrende
Feindseligkeit entgegengebracht; während er im Jahre 1864 Kaiser
Napoleon III. durch das Angebot des linken Rheinufers zu verlocken
suchte, konnte er sich im Jahre 1871 über jede französische
Abtretung an Deutschland auf das tiefste empören und in dieser
frühen Stunde schon seine stille Hoffnung auf die Revanche setzen.2 Als Minister aber sah er sich seit 1877
immer stärker in das europäische System Bismarcks hineingezogen,
ja, als er Ministerpräsident geworden war, wurde er ein freundschaftlich
verbundener Außenposten dieses Systems; nur das Letzte der
unabhängigen Stellung wußte er gegen den deutschen Kanzler, der
ihn mit ausgesuchter Courtoisie umwarb, doch noch mit Entschiedenheit zu
behaupten. Als er dann in seinem dritten Ministerium seit 1895 die freie Hand
nach allen Seiten zurückzugewinnen trachtete und sich mit dem Gedanken
einer türkischen Teilung befreundete, stieß er auf einen sehr
bestimmten deutschen Widerstand; da er in der südafrikanischen Politik
mehr zugelassen hatte, als er verantworten mochte, mußte er nach dem
Jameson-Einfall die Demütigung der
Krüger-Depesche auf sich nehmen. So war er in einen empfindlichen
persönlichen Gegensatz zu dem Kaiser geraten, der immer wieder neue
Nahrung erhielt. Hatzfeldt mußte wiederholt daran erinnern, daß seine
früheren Sympathien in das Gegenteil verwandelt seien,
hauptsächlich aus persönlichen Gründen.3 Soweit überhaupt in dem nur auf
den englischen Vorteil bedachten Politiker von Sympathien und Antipathien die
Rede war, vollzog sich in ihm im letzten Jahrzehnt seines Lebens eher eine
Rückbildung zu den Gesinnungen seiner jüngeren Jahre; auch
König Eduard VII. verhehlte seinem Neffen nicht, daß
Salisburys Sym- [472] pathien im
höchsten Grade französisch seien.4 Er war ein
reiner Opportunist, immer gewiß, auch in schwierigen Lagen
vermöge des Weltzusammenhanges der insularen Politik einen Ausweg
finden zu können, wie er denn auch in vertraulicher akademischer
Unterhaltung gern auf sein Lieblingsthema zurückkam: kein Land ist so gut
wie England in der Lage, auf die Freundschaft anderer zu verzichten, und wenn es
allein steht, für längere Zeit ruhig zu "boudieren", ohne besondere
Nachteile davon zu befürchten.5 Auf dem
Grunde dieses Sicherheitsgefühles ruhte das System der glänzenden
Isolierung. Wenn von Allianzen im allgemeinen die Rede war, betonte er wohl,
die Zeit dafür sei überhaupt vorbei, und es könne sich nur
noch um ein Zusammengehen von Staaten mit gemeinschaftlichen oder nicht
widersprechenden Interessen handeln. Das mochte im Gegensatz zu dem
statischen Bündnischarakter der Ära Bismarck gemeint sein und auf
die höhere Berechtigung der dynamischen Bündnisse abzielen, das
heißt nicht des Sicherheitsbündnisses, sondern der
Erwerbsgenossenschaft (um mit Bismarck zu reden). Hatzfeldt machte wohl
dagegen geltend, daß in der Gegenwart die Frage der Gruppierung der
Mächte eine Hauptrolle spiele, und daß für jede derselben die
Auffassung, welche Gruppierung ihren Interessen am meisten entspreche, mit den
Ereignissen wechseln könne. Jeder dachte dabei an die seinem Staate
offenstehenden Möglichkeiten, und Hatzfeldt verfehlte selten (weil er an
dieser Stelle dem edlen Lord dauernd den Puls fühlte), die theoretische
Möglichkeit eines englisch-französischen Bündnisses zu
unterstreichen; wenn dann Salisbury einwand, er halte eine
deutsch-russische Allianz für noch wahrscheinlicher, so schloß
Hatzfeldt das diplomatische Degenkreuzen mit der persönlichen
Bemerkung, daß er, wenn England ein Bündnis mit Frankreich
schließen würde, allerdings unbedingt seiner Regierung dazu raten
würde, am nächsten Tage eine feste Verständigung mit
Rußland einzugehen.6
Salisbury hatte einst dem Bündniswerben Bismarcks widerstanden - wie
hätte er dem Locken und Drängen seiner Epigonen nachgeben sollen!
Als er nach der Krüger-Depesche die Überzeugung gewann,
daß eigentlich der Kaiser seit einem halben Jahre England zum
Anschluß an den Dreibund habe drängen wollen, schrieb er der
Königin: "Es ist unmöglich für Eure Majestät, so zu
handeln, weil das englische Volk niemals zustimmen würde, in den Krieg
für eine Sache zu gehen, in der England nicht offensichtlich interessiert
wäre; und Lord Salisbury hat, während seines gegenwärtigen
Ministeriums und während seines früheren Ministeriums, immer aus
diesem Grunde abgelehnt. Es hat [473] keinen Nutzen, etwas
zu versprechen, was wahrscheinlich nicht gehalten werden kann."7
Im übrigen war Salisbury vorsichtig und zurückhaltend, zäh
und schwerflüssig, in den letzten Jahren seines Lebens schien sein Wesen
noch unbestimmter, ungreifbarer als ehedem zu werden.8 Der außerparlamentarische
Unterstaatssekretär Sir T. H. Sanderson erzählt:
"In den letzten Jahren ist's nicht selten
vorgekommen, daß Graf Hatzfeldt zu mir gekommen ist und geklagt hat:
»Voilà une heure que j'ai causé avec Lord Salisbury et
que le diable me prenne si je comprends la politique de votre
Gouvernement.« Worauf ich zu antworten pflegte, er müsse
doch wissen, daß wir keine Politik hätten und von der Hand in den
Mund schafften. Ich berichtete einmal einen dieser Ausbrüche Lord
Salisbury, der lachte und sagte: »Ich hatte keine Ahnung, daß unser
Gespräch solch weitgehende Zwecke hatte, doch können Sie
Hatzfeldt sagen, daß es bei einem parlamentarischen System wie dem
unsern unmöglich ist, die Regierung bezüglich der Haltung, die sie
im Falle irgendeines künftigen Ereignisses einnehmen wird,
festzulegen.«."9
Alles in allem, er war ein echter Sohn seines Landes, der auf der letzten Stufe
seiner großen Laufbahn zu einem der bedeutendsten Gegenspieler des
Deutschen Reiches geworden ist.
Die Gestaltung der Weltlage seit Anfang 1898 schien es nicht mehr zuzulassen,
daß Salisbury die Politik der glänzenden Isolierung fortsetze: die
Auswirkungen der Kiautschou-Frage drängten dazu, nach irgendeiner Seite
sich zu entscheiden. Auf der einen Seite hatte man von Berlin aus während
der ersten Spannung mit Rußland eine vorsichtige Annäherung an
England versucht; ohne Erfolg, wenn auch der Mangel an Gegensätzen der
beiderseitigen Interessen auf chinesischem Boden festgestellt werden konnte.10 Auf der anderen Seite drohte ein
unabsehbares Weitergreifen der russischen Eroberung in China, auch die
Möglichkeit des dauernden deutsch-russischen Zusammengehens. So raffte
sich Salisbury zu einer Aktion auf, die durchaus den Stempel seines
staatsmännischen Geistes trägt. Nachdem er am 17. Januar eine
Vorfrage in Petersburg hatte stellen lassen, ob es möglich sei, daß
England und Rußland in China zusammengingen, und bei Murawiew
ebenso wie bei Witte auf die grundsätzliche Geneigtheit zu einem engeren
Einvernehmen gestoßen war, ließ er den Russen am 25. Januar einen
Plan von grandiosen Ausmaßen unterbreiten, der das türkische
Projekt von 1895 gleichsam vervielfachte. Die beiden Reiche China und
Türkei, so lief der englische Gedankengang, seien so schwach, daß
sie ständig durch den Rat fremder Mächte geleitet werden
müßten; dabei befänden sich Rußland und England viel
häufiger im Gegensatz, als der wirkliche Widerstreit ihrer Interessen
[474] rechtfertige; aus einer
Verständigung würden beide Nationen Vorteil ziehen. Die
wesentlichen Bedingungen seien nur, daß man den Bruch bestehender
Verträge nicht zulasse und die Integrität der beiden Reiche nicht
schmälere: "Wir streben keine Gebietsverteilung an, sondern nur eine
Teilung des Übergewichts." Die ungefähren Umrisse der
möglichen Teilungslinien, die um die halbe Welt liefen, werden bereits
skizziert.11 Es ist nicht im einzelnen bekannt, wie
die Russen diese Teilung der Welt aufnahmen. Am 2. Februar äußerte
der Zar sich dem englischen Botschafter gegenüber sehr ermutigend. Er
hatte recht, wenn er später dem deutschen Kaiser gestand: niemals zuvor
habe England solche Anerbietungen an Rußland gemacht.12 Aber schon am 11. Februar meinte
Salisbury zu dem Ergebnis zu kommen, daß die Russen unaufrichtig und
ihre Äußerungen zweideutig wären; die russischen Absichten
auf Port Arthur und Talien-wan ernüchterten die englische Phantasie, und
der Abschluß einer englisch-deutschen Anleihe mit China veranlaßte
die russische Regierung am 3. März, die Besprechung "der
größeren Frage" nicht mehr fortzusetzen. Der Anlauf Salisburys war
schon im ersten Anfang gescheitert. Er mußte sich in diesen Tagen leidend
nach dem Süden begeben und seine Vertretung im Auswärtigen
Amte ging an den ersten Lord des Schatzes, Arthur J. Balfour, seinen Neffen,
über.
Inzwischen setzten die jetzt immer weiter um sich greifenden russischen
Absichten in China die öffentliche Meinung in London in immer lebhaftere
Beunruhigung. Sollte es der Anfang einer Überschwemmung von halb
China durch die Russen sein? Dann mußte man sich entschließen,
gegen Rußland chinesische und Weltpolitik zu machen. So kam man im
Kabinett auf den Gedanken, die Urlaubspause Salisburys zu benutzen, um in der
durch die russische Ablehnung geschaffenen Lage den anderen Weg zu versuchen,
der bei dem dreieckigen Charakter der großmächtlichen Positionen in
China übrigblieb. Einer eher antirussischen Gruppe erschien es
wünschenswert, die deutsche Seite wieder als einen positiven Wert in die
Rechnung einzusetzen und mit der von Salisbury bisher gegen Deutschland
beobachteten kühlen Zurückhaltung zu brechen. Gerade
Männer, wie der Kolonialminister Joseph Chamberlain, der seit der
Krüger-Depesche zu den scharfen Gegnern der deutschen Politik und
keineswegs zu den Deutschfreunden zählte, hatten sich, angesichts der
russischen Gefahr, zu der Notwendigkeit des neuen Weges bekehrt; auch sie
wollten der Isolierung ein Ende bereiten, aber nach der anderen Seite hin. Im
Kabinett war man, nach englischer Art, bereit, ihm die Chance zu geben,
unverbindlich und ohne der Entscheidung des Premiers nach seiner
Rückkehr vorzugreifen.13
Mr. Balfour leitete die [475] formale
Annäherung durch eine Aussprache mit dem deutschen Botschafter am 25.
März 1898 ein, die in die amtlichen Beziehungen einen freundlicheren Ton
trug und augenscheinlich die Vertraulichkeiten des Kolonialministers legitimieren
sollte. Dann folgte am 29. März - zufällig in den Tagen, als
der Deutsche Reichstag die Flottenvorlage in dritter Lesung
annahm - die erste Unterredung Chamberlains mit Hatzfeldt, schon in der
Form ungewöhnlich. Denn auf den geschulten Diplomaten (der die
Verhandlung mit Balfour entschieden vorzog) machte der Kolonialminister "den
Eindruck eines naiven Anfängers, der nur seine persönliche Eitelkeit
zu Rate zieht und sich von den Konsequenzen seiner Handlungen und Worten
keine genügende Rechenschaft zu machen pflegt."
Chamberlain setzte mit einer unverhüllten Absage an das System Salisburys
ein, mit dem offenen Geständnis, England könne die bisherige
traditionelle Politik der Isolierung nicht mehr aufrechterhalten, sondern
müsse sie, im Bunde mit der öffentlichen Meinung, aufgeben und
sich nach Allianzen umsehen. Sowohl die Lage in China als die Verhandlungen
über Westafrika nötigten dazu: zwischen Deutschland und England
ließen sich kleine Differenzen ausgleichen, wenn man gleichzeitig zu einer
Verständigung über die großen politischen Interessen gelange.
Und nun ging der undiplomatische Draufgänger noch einen Schritt weiter
und setzte mit einer in der üblichen Verhandlungstaktik fast
unmöglichen Offenheit der Gegenseite die Pistole auf die Brust. Die
englische Regierung stehe vor der zwingenden Notwendigkeit, in den
allernächsten Tagen ernste Entschlüsse zu fassen. "Wenn wir jetzt
auf Englands Seite stehen wollten, würde England, falls Deutschland
angegriffen würde, auf unserer Seite stehen." England beabsichtige seine
Flotte nach Talien-wan zu schicken. Also englische Bündnisbereitschaft,
aber zum Zwecke der unmittelbaren Aktion in China, mit allen kriegerischen
Konsequenzen. Das Angebot Salisburys in Petersburg war erst zwei Monate alt.
Nachdem der große Verführer den höchsten Berg bestiegen
hatte, suchte einer seiner kleineren Gehilfen einem andern verführbaren
Erdensohn die Schätze der Welt von einer anderen Fernsicht aus zu
empfehlen.14
Bülow und Holstein erhoben gegenüber dem überraschenden
Antrag denselben Einwand, den schon Bismarck im September 1882 in
ähnlicher Lage - Ägypten! - gemacht hatte, daß
ein solcher Vertrag nur die jeweilige englische Regierung binden würde.
Auch gaben sie zu erwägen, ob denn England gleichzeitig die
französische und die russische Gegnerschaft ins Auge fassen wolle, ob
[476] nicht der zur Zeit
vorhandene russische Friedenswille, sofern er nur Aussicht auf einen zeitweiligen
modus vivendi biete, sich heraushalten lasse. Chamberlain aber ließ
sich durch diese Bedenken in seinem stürmischen Vorgehen nicht
aufhalten. In einer zweiten Besprechung mit Hatzfeldt erklärte er sich
bereit, das Abkommen auch dem Parlament zur Ratifikation vorzulegen, und
zweifelte nicht im geringsten an der Annahme. Dagegen erwies er sich dem
russischen Argument zugänglich und begnügte sich, in raschem
Umschlag, mit einer wenigstens scheinbar harmloseren Bündnisgrundlage:
daß England und Deutschland sich untereinander über die Zukunft in
China mit Ausnahme der Teile, die andere Nationen sich bereits angeeignet, zu
verständigen hätten. Das Ergebnis der Abmachung würde
dann an Rußland, das dadurch in seinen bisherigen Erwerbungen nicht
verkürzt würde, mitzuteilen sein. Das Programm lautete jetzt: Den
Kern von China selbständig und dem Welthandel offenzuhalten. Aber die
russische Front war geblieben.
So leicht ließ Bülow sich nicht aus seiner Stellung verdrängen.
Er bezweifelte (ebenso wie Balfour und Lascelles), ob die Annahme im Parlament
nach den Erschütterungen der letzten Jahre so sicher sei, und entwickelte
daraus die himmelhohe Verschiedenheit des Risikos. Gesetzt den Fall, daß
Deutschland, das nirgends innerhalb oder außerhalb Europas von
Rußland bedrängt oder bedroht werde, sich ohne eine sichtbare
Notwendigkeit in festester Form mit Rußlands Hauptfeind verbinde, und es
komme dann zur Ablehnung des Vertrages im
Parlament - so würde der Zweibund ohne Zögern den Kampf
gegen Deutschland aufnehmen,15
während in England nur die Regierung zum Rücktritt genötigt
sei und die Staatspolitik in die zweite Linie der großen Gegensätze
rücke.16 So schloß er mit dem Ergebnis,
daß die deutsche Regierung eine Zusicherung nicht geben könne; er
ziehe aber "ein deutsch-englisches Zusammengehen in der von Chamberlain
skizzierten Form trotz der für uns durch die gegenwärtigen
Verhältnisse gebotenen diesmaligen Ablehnung gleichwohl als eine
Eventualität der Zukunft in Betracht. - Denn England wird den
Kampf ums Dasein auf die Dauer nicht vermeiden können und andere
Allierte als Deutschland und bessere Freunde wird es dabei nicht finden."17 Man ließ also angesichts der
unverbindlichen Sondierung [477] soviel
geschäftliches Entgegenkommen sehen, wie angezeigt war, und wartete
nicht ohne stille kolonialpolitische Zukunftswünsche ab.18
Inzwischen hatte Chamberlain in einer dritten Unterredung am 25. April noch
einmal auf den baldigen Abschluß gedrängt. Als aber Hatzfeldt mit
ihm die ganze Reihe der Einwände durchging und z. B. eine
Wiederherstellung des Verhältnisses mit Österreich und Italien
anregte, oder ein freundlicheres Entgegenkommen in kleineren Fragen, um die
öffentliche Meinung auf eine weiterreichende Verständigung
vorzubereiten, war Chamberlain in der ersten Frage deutlich ausgewichen und
hatte betont, daß ohne eine politische Verständigung im
Großen auch nicht auf koloniales Entgegenkommen im Einzelnen zu
rechnen sein würde. Um so nachdrücklicher kam er auf sein
großes Zukunftsgemälde zurück: einem weiteren russischen
Vorgehen in Ostasien im Bunde mit dem Dreibund einen Riegel vorzuschieben;
keinen Krieg, aber er halte eine gemeinschaftliche Erklärung, daß
Rußland sich mit den erworbenen Vorteilen begnügen und jedenfalls
nicht über einen gewissen Punkt hinausgehen müsse, für das
einzige Mittel, einem künftigen Kriege der in China interessierten
Mächte mit Rußland vorzubeugen. Es war antirussische Weltpolitik
als Kern und Ziel der Allianz. Chamberlain verschwieg auch nicht, daß,
wenn England auf die naturgemäße Allianz verzichten müsse,
keine Unmöglichkeit bestehen würde, "mit Rußland19 oder mit Frankreich20 zu einer Verständigung zu
gelangen". Damit schied er, da die Rückkehr Salisburys schon nahe
bevorstand, geschäftlich zunächst wieder aus.21
Wenn man nach dieser Episode sich zu dem Verlauf der geschäftlichen
Verhandlungen zwischen Hatzfeldt und Salisbury begibt, so hat man das
Gefühl, aus etwas dilettantischen Phantasien in eine Welt der Wirklichkeit
von erheblich kühlerer Temperatur zurückzukehren. Wohl
hörte Hatzfeldt, daß eine Reihe hervorragender Kabinettsmitglieder
die Hoffnung auf eine Verständigung nicht aufgebe, aber er vertrat von
vornherein die Meinung, daß Salisbury noch das entscheidende Wort
spreche und eine Fortsetzung des Verkehrs mit Chamberlain nicht
wünsche.22 Jedenfalls kam der Premierminister
im Mai auf die eigentliche Allianzsondierung Chamberlains (zumal da ihr Kern ja
einen negativen Bescheid [478] gefunden hatte) nur in
allgemeinen Wendungen zurück; er ließ deutlich erkennen, daß
er von lange im voraus geschlossenen Allianzverträgen überhaupt
nicht viel halte und den scharf antirussischen Bündniszweck Chamberlains
nicht billige. Augenscheinlich stand man einem Dualismus im englischen
Kabinett gegenüber, bei dem der Wunsch nach Annäherung in sehr
verschiedenen Schattierungen vertreten war. Chamberlain fuhr fort, seine
Anträge in unverbindlichen Gesprächen und in öffentlicher
Rede zu wiederholen; so wagte er am 13. Mai im Hinblick auf die russische
Kriegsgefahr den Gedanken eines Anschlusses Englands an den Dreibund
öffentlich auszusprechen.23 Er
erinnerte fast an den fashionablen Liebhaber Oskar Wildes, der trotz aller
Körbe nicht müde wird, "to propose". Auf der anderen Seite
blieb das Familienhaupt, das allein zu entscheiden hatte, bei seinem Vorsatz, jede
Knüpfung fester Bande lieber zu vermeiden und sowohl andere Bewerber
als die eigenen Interessen fest im Auge zu behalten.
Wenn Salisbury sich auch nicht abgeneigt zeigte, den Weg der
Einzelverständigung zu beschreiten, so knüpfte er doch an seine
Bereitschaft sofort die Voraussetzung, daß nicht der eine Teil stets der
gebende und der andere immer nur der nehmende sein dürfe. Darauf ging
auch Hatzfeldt weiter aus sich heraus und gab zu erwägen, daß die
tatsächlichen Umstände nicht die gleichen seien und daher eine
gleichartige Behandlung kaum zuließen: schon deshalb, weil England in
dieser Hinsicht ziemlich alles, wir dagegen sehr wenig besäßen, also
von unserem geringen Besitztum nicht so leicht etwas abgeben könnten,
wie das an Kolonien überreiche England es von seinem
Überfluß tun könne. Er entwickelte als persönlichen
Gedanken, daß England, das seit einer Reihe von Jahren in kolonialer
Hinsicht mit Riesenschritten vorgegangen sei und jetzt darauf ausgehe, sich die
letzten noch verfügbaren kolonialen Objekte einzuverleiben, den
freundschaftlichen Beziehungen, wie sie zwischen den beiden Nationen bestehen
sollten, entsprechen würde, wenn es Deutschland an seiner künftigen
kolonialen Expansion dort, wo deutsche Interessen in Frage kommen
könnten, in richtigem und angemessenem Verhältnis teilnehmen
ließe. Dieses Zukunftsbild hörte Salisbury schweigend an. Er hatte
schon einmal das (in Berlin lange Zeit unvergessene) Wort fallen lassen: Sie
verlangen zuviel für Ihre Freundschaft, - ohne eine Antwort auf die
Frage zu haben, worin sich denn dieses deutsche Verlangen geäußert
hätte.
Immerhin gewann Hatzfeldt aus den gewundenen Sätzen des
Premierministers doch den Eindruck, daß er jetzt gute Beziehungen zu
Deutschland zu pflegen wünsche und sich dabei vorbehalte, auch eine
formale Verständigung anzuregen, wenn eine Zuspitzung der politischen
Situation es wünschenswert machen sollte; aus dem Zusammenhang seiner
Äußerungen entnahm er, daß Salisbury, wenn er einmal den
Augenblick zu Vorschlägen an Deutschland gekommen erachte, eine
praktischere Grundlage wählen würde, als Chamberlain aus [479] Mangel an
Sachkenntnis und Erfahrung in der auswärtigen Politik tun konnte. Als
nach einer Besprechung mit Hatzfeldt der russische Botschafter bei dem
Premierminister eintrat und halb im Scherz fragte, ob die lange Unterhaltung auf
Allianz deute, konnte auch Salisbury (nicht ohne Berechnung) erwidern:
"Alliance non, rapprochement oui."24 So war es.
Der frostige Zustand, der seit der Krüger-Depesche die Temperatur der
Beziehungen beherrscht hatte, schien einer milderen Luft zu weichen. Mit Hilfe
der Extratouren Chamberlains war das diplomatische Gelände so, wie es
Hohenlohe schon im Februar gewünscht hatte, wieder freigelegt. Auch der
britische Botschafter in Berlin urteilte: es hat ein großer Umschwung zum
Besseren stattgefunden (11. Juni 1898).
So riet Hatzfeldt, die englischen Bemühungen um eine Allianz mit
Deutschland freundlich, aber dilatorisch zu behandeln und gleichzeitig darauf
hinzuwirken, daß die Möglichkeit einer späteren
Verständigung offenbliebe; er begründete seinen Rat mit der
Besorgnis, daß jeden Augenblick in irgendeinem Teile der Welt Ereignisse
eintreten könnten, die Deutschland vor die Aufgabe stellen würden,
weittragende Entscheidungen zu treffen.25 Dieser
Auffassung entsprach auch die allgemeine Stimmung des Auswärtigen
Amtes. Man kann nicht sagen, daß Hohenlohe, Bülow und Holstein
sich durch mehr als Nuancen von der Auffassung des Londoner Botschafters
unterschieden.26 Nach dem Verlauf der
Chamberlain- und der Salisbury-Linie der Verhandlung im Frühjahr 1898
hätte es sich verboten, die in den letzten Jahren angeknüpften
Beziehungen zu Rußland um eines höchst ungewissen Ersatzes
willen preiszugeben. Die englischen Erwägungen mußten selber eine
festere Gestalt gewinnen, bevor sie eine deutsche Entschließung nach sich
ziehen konnten.
Wie stand der Kaiser selbst zu den Möglichkeiten, die sich ihm auftaten?
Das Verhalten Wilhelms II., sein inneres Verhältnis zu dem
englischen Staate und seiner Politik, den englischen Verwandten und der
englischen Gesellschaft ist ein besonderes, vielleicht das problematischste
Stück seines Charakters: denn an dieser Stelle wurden seine Empfindungen,
die so leicht in Bewegung zu setzen waren, am lebhaftesten in Liebe und
Haß hin und her geworfen. Nach keiner Seite in Europa schlug sein Herz
wärmer und liebebereiter, nach keiner Seite war er empfindlicher, wenn er
durch eigene oder anderer Schuld enttäuscht wurde. Er hat die politische
Beziehung zu England niemals dauernd und gleichmäßig auf den
sachlichen unpersönlichen Ton der Staatsräson abstimmen
können und dadurch immer von neuem, durch ein Zuviel oder Zuwenig,
eine unruhigere Note in das Verhältnis hineingetragen. Gerade weil
Wilhelm II. im April 1898 mit sehr [480] hohen Erwartungen in
das Bündnisgespräch hineingegangen war, wußte er sich nicht
zu gedulden, als im Mai schon allerhand Wasser in den Wein geschüttet
ward. So ließ er sich zu dem Briefe an den Zaren vom 30. Mai
hinreißen, indem er höchst indiskret die wiederholte Sondierung nicht
ohne Übertreibung mitteilte und dem überraschten Freunde die
Gewissensfrage vorlegte, was er ihm für
eine - in gewissem Umfange schon
erfolgte - Ablehnung des Bündnisangebotes bieten könne. Der
Zar antwortete mit einem Schreiben, das ebenso indiskret die vorangegangene
englische Werbung27 in Petersburg preisgab, aber der ihm
gestellten Gewissensfrage, wie er nicht anders konnte, geschickt auswich und zum
Schluß die gefühlvolle Versicherung gab: Deutschland und
Rußland haben in Frieden seit alten Zeiten gelebt als gute Nachbarn und
mögen, Gott gebe es, damit fortfahren in enger und loyaler Freundschaft.
Die Länder hätten glücklicherweise keine politische Reibung
und die Interessen stießen, wie das Beispiel von Kiautschou zeige, nirgends
zusammen: der Kaiser kenne die Gesinnungen des Zaren und könne sich
voll auf die friedliche und ruhige Haltung Rußlands verlassen.28 Es ist nicht zu verwundern, daß
aus dieser Episode in der Berliner Stimmung einige gemischte Gefühle
zurückblieben, die mehr den russischen Wünschen als der deutschen
Staatsräson dienten.
Der Fortgang der deutsch-englischen Besprechungen verließ gleich darauf
die Sphäre der akademischen Erörterung und verknüpfte sich
bald, wie man in den letzten Wochen schon auf beiden Seiten voraussah, mit
neuen politischen Weltvorgängen, die eine hohe Aufmerksamkeit der
Kabinette in Anspruch nahmen. Es empfiehlt sich, diesen neuen Welthintergrund
fest ins Auge zu fassen, denn aus den einzelnen hervorragenden Geschäften
schöpften auch die Bündnisfragen der großen Politik ihren
Antrieb und ihr Tempo; eine Isolierung des Bündnisproblems schafft wohl
Raum für alle Neigungen kritischen Besserwissens, aber zerschneidet auch
zu einem guten Teil die feinen Fäden, die tatsächlich die
Entschließungen der Staatsmänner mit dem Erleben des Tages
verbinden.
Die praktische Behandlung aller Bündnis- oder Verständnisfragen
wurde in den nächsten Monaten dadurch kompliziert,
daß - noch bevor der chinesische Fragenkomplex eine Entscheidung
erforderte - ein ganz anderes, bisher jenseits des allgemeinen Interesses
liegendes Problem in den Mittelpunkt der großmächtlichen
Berechnungen rückte, der
spanisch-amerikanische Krieg (April bis August 1898). Für einige Monate
drohte die eingestandene Gebrechlichkeit und Vergänglichkeit alter
weltgeschichtlicher Rechte und Werte die ganze Welt zu erschüttern; und in
der Stille, hinter dem Vorhang jener um den Erdball jagenden Ereignisse, schien
auch schon über die Reste des portugiesischen Kolonialreiches durch die
geheimen deutsch-englischen Verhandlungen (Juni bis August 1898) [481] das letzte Wort
gesprochen werden zu sollen. Das neue Zeitalter des Imperialismus begann in
immer wilderem Tempo das Bild der Erde umzugestalten. Die Ziele der deutschen
Außenpolitik, die fortan mit der höchsten Woge ihrer weltpolitischen
Erwartungen geht, erfordern es, den Ablauf dieser beiden Linien in knappen
Umrissen darzustellen.
Seitdem die Vereinigten Staaten im September 1897 die Insurgenten in Kuba als
kriegführende Macht anerkannt hatten,29 war die
Dauer der spanischen Kolonialherrschaft in Westindien ernsthaft in Frage gestellt.
Nach der Explosion der "Maine" im Hafen von Havanna am 15. Februar 1898 war
es schon unwahrscheinlich, daß der Krieg zwischen Spanien und Amerika
vermieden werden könne. Die Frage war nur, ob die europäischen
Mächte bei den sich hier vorbereitenden Ereignissen die Hände in
den Schoß legen würden. Eine Anfrage Spaniens an den Deutschen
Kaiser, ob er geneigt sei, zum Schutze des monarchischen Prinzips an die Spitze
der europäischen Interventionsmächte zu treten, wurde mit Nein
beantwortet: der Hinweis auf Frankreich lag nahe genug. Auch ein zweiter Schritt
der spanischen Regierung stieß in Berlin auf keine Gegenliebe. Trotzdem
wandte sich Spanien am 26. März amtlich an die Mächte, sie
möchten an Spanien und die Vereinigten Staaten den empfehlenden Rat
geben, die Lösung des kubanischen Konflikts durch einen
päpstlichen Schiedsspruch herbeizuführen. Auch jetzt hielt die
Reichsregierung an dem Standpunkte fest, daß sie sich bei einem solchen
Unternehmen nicht voranzustellen habe, sondern nur, wenn und soweit alle
großmächtlichen Vertreter mitmachten, sich beteiligen werde; sie
müsse, wie Bülow dem Kaiser vortrug, "alles vermeiden, was wie
unnötige Parteinahme, namentlich gegen Amerika aussehen könnte".
Auf dieser Grundlage erfolgte am 7. April der Kollektivschritt der sechs
Mächte in Washington (und in Madrid), vom Standpunkt der Menschheit
und des Friedens, jeden kriegerischen Schritt zu vermeiden. Als der Schritt
wirkungslos blieb, richteten die Vertreter der sechs Großmächte in
Washington, und zwar auf Wunsch und Initiative des englischen Botschafters
Sir Julian Pauncefote, eine gleichartige Aufforderung an ihre Regierungen,
noch einen weiteren Friedensschritt (daß man eine bewaffnete Intervention
für nicht gerechtfertigt hielte) folgen zu lassen. Kaiser Wilhelm II.
erklärte jedoch sofort: "Ich halte sie für gänzlich verfehlt,
zwecklos und daher schädlich, ich bin gegen diesen Schritt." Später,
im Januar 1902 haben der englische Botschafter sowie die englische Regierung es
für erlaubt gehalten, die eigene Initiative in Abrede zu stellen und sie
geradezu auf Deutschland abzuwälzen, ja sogar England als den
eigentlichen Gegner dieses [482] Kollektivschrittes zu
preisen.30 Eine Intervention der
europäischen Mächte, auch wenn sie in der ersten Minute sich
einträchtig zusammenfanden, war nicht so gefestigt in sich, daß sie
über den Ozean in die amerikanische Welt hineingereicht hätte.
Die Entscheidungen des Krieges waren zugleich die Entscheidungen über
das spanische Kolonialreich, sie waren Anfang Mai durch Deweys Sieg bei Cavite
(vor Manila) eingeleitet und Anfang Juli durch die Vernichtung der Flotte
Cerveras vor Havanna zum Abschluß gebracht. Daß die Vereinigten
Staaten die westindischen Inseln in irgendeiner Form sich aneignen
würden, stand von vornherein fest; schwieriger schien die Frage, was aus
den der amerikanischen Machtsphäre so fernen Philippinen werden
würde. Da geschah es, daß auf ein im Grunde wenig kontrollierbares
Gerücht hin31 in Berlin der Gedanke auftauchte, sich
an dieser Stelle, wenn sich die Möglichkeit ergeben sollte, einzuschieben
und die in Kiautschou gewonnene Stellung durch weitere ostasiatische Stationen
zu vermehren. Der Plan ging nicht so sehr von dem Auswärtigen Amte aus,
in dem man die politischen Schwierigkeiten sehr wohl erkannte und nur
gemeinschaftlich mit mehreren Seemächten eine Teilung für
möglich hielt,32 sondern von dem Reichsmarineamt,
dessen tatkräftiger Leiter im Vollgefühl des soeben verabschiedeten
Flottengesetzes nunmehr den Kaiser und das Auswärtige Amt mit
phantastischen Entwürfen bestürmte.33 Von der
Seite der Marine begann jetzt ein Tatendrang einzusetzen, dessen Aktivität
mit dem politischen Verantwortungsgefühl keineswegs gleichen Schritt
hielt; man machte sich kaum recht klar, daß die Aussicht nicht sehr
groß sei, aus einem Kriege zweier Anderer einen Teil des Streitobjekts
für einen Dritten herauszuholen. Jedenfalls befreundete sich der Kaiser mit
dem Gedanken, die Philippinengruppe dürfe nicht ganz oder teilweise in
den Besitz einer fremden Macht übergehen, ohne daß Deutschland
eine angemessene Kompensation erhalte,34 und
entschloß sich, am 13. Juni ein Geschwader unter dem Vizeadmiral
v. Diederichs nach Manila zu entsenden, um die deutschen Interessen zu
vertreten. Die Lage war hier allerdings für einen [483] neutralen Zuschauer
mit Hintergedanken sehr verwickelt: Aufstand der Eingeborenen, schwaches
spanisches Heer, amerikanische Blockade; es verstand sich, daß der
deutsche Admiral sich auf das von dem spanischen Generalgouverneur
angebotene "Depot der Neutralen" nicht einließ. Die deutsche
Philippinenspekulation blieb eine Episode, in der es nach dieser Vorbereitung
überhaupt nicht zu amtlichen Schritten kommen sollte.35 Man kann ihr eine gewisse
Berechtigung nicht absprechen, insofern als die völlige Unsicherheit
über das amerikanische Programm in den Philippinen
verhältnismäßig lange andauerte; noch als man in Berlin den
amerikanischen Botschafter Mr. Andrew White über diese
Pläne sondierte (10. Juli), stieß man bei dem erklärten
Deutschenfreunde auf ein weitgeöffnetes Entgegenkommen; er war zwar
ohne jede Instruktion, aber aus innerpolitischen Gründen ein so
überzeugter Gegner einer amerikanischen Annektion, daß er die
gewünschten Marinestützpunkte für Deutschland als ebenso
nötig wie für Amerika erachtete. Dieser Haltung entsprach der
wirkliche politische Wille der Vereinigten Staaten keineswegs. An demselben 10.
Juli kam es zwischen dem amerikanischen Geschwaderchef, der die Blockade vor
Manila kommandierte, und dem deutschen Geschwaderchef zu gereizter
Auseinandersetzung, wie sie bei umgekehrter Rollenverteilung vermutlich auch
nicht ausgeblieben wäre.36 Schon am
25. Juli ward der Botschafter White von Washington amtlich desavouiert. Als die
Vereinigten Staaten gleich darauf die Abtretung der Philippinen unter ihre
Friedensbedingungen aufnahmen und Spanien sich diesen Bedingungen
unterwarf, stand es außer Frage, daß das Deutsche Reich jedes
Zeichen von Interesse an dem ganzen Objekte einstellte (12. August). Die Marine,
deren Initiative in der Kiautschou-Frage sich gegenüber dem
Auswärtigen Amte durchgesetzt hatte, mußte bei diesem von
manchen Merkmalen der Voreiligkeit nicht freien Unternehmen den
Rückzug antreten. Man mußte zufrieden sein, bei der Zerschlagung
des spanischen Kolonialreiches, die im Jahre 1886 durch päpstlichen
Schiedsspruch den Spaniern zurückgegebene Inselgruppe der Karolinen
für Deutschland zu erwerben.
Während die spanische Tragödie abrollte, mehr ehrwürdig
durch eine zurückliegende große Vergangenheit, als durch ihre
inhaltsleer gewordene Gegenwart, schien mit einer gewissen Folgerichtigkeit auch
der fast noch gefährdetere Restbestand des portugiesischen Kolonialreiches
ins Wanken zu geraten. Es war, als wenn die beiden ältesten
Kolonialmächte, die einst die überseeische Welt untereinander
geteilt, gleichzeitig von der Bühne abtreten würden, ja einen
Augen- [484] blick, als wenn die
beiden angelsächsischen Mächte den Besitzwechsel gleichzeitig und
in einer gewissen Verbundenheit zum Austrag bringen würden.37 Um so mehr hatten die Deutschen
Veranlassung, auf diesem ihnen günstiger gelegenen zweiten Schauplatz
ihre Ansprüche geltend zu machen. Um Anfang Juni 1898, in den Tagen,
wo Salisbury und Hatzfeldt die möglichen Wege des Zusammengehens in
der Welt noch theoretisch untereinander erörterten, erfuhr man, daß
der portugiesische Gesandte am englischen Hofe sich nach London begebe, um
den bedrängten portugiesischen Finanzen durch eine englische Anleihe
gegen Verpfändung von Angola und Mozambique zu Hilfe zu kommen; es
lag nahe, daß Chamberlain die Gelegenheit vor allem auch zum Erwerb der
Delagoa-Bai benutzen würde.
Da die allgemeinen deutsch-englischen Beziehungen gerade damals um den Punkt
des "freundlichen Entgegenkommens" in vorfallenden Einzelfragen kreisten, so
empfahl es sich, diese Gelegenheit nicht vorbeigehen zu
lassen - denn an dieser Stelle lag für die deutsche Seite fast die
einzige Möglichkeit, ihren afrikanischen Kolonialbesitz abzurunden. So
war denn auch schon in früheren Jahren zwischen den beiden Regierungen
die Zukunft der portugiesischen Kolonien eingehend besprochen worden. Sowohl
mit dem Ministerium Rosebery, als auch vordem mit dem zweiten Ministerium
Salisbury;38 damals hatte dieser sogar dem
deutschen Botschafter den Vorschlag gemacht, die portugiesischen Kolonien, falls
sie in irgendeiner Weise von Portugal aufgegeben werden sollten, mit
Deutschland zu teilen.39 So nahm die deutsche Politik einen
Faden der Vergangenheit auf, wenn sie am 14. Juni in London zu verstehen gab,
daß ein einseitiges Vorgehen Englands in der portugiesischen Frage nicht
geeignet sein würde, die gewünschte Besserung der Beziehungen
herbeizuführen. Während Salisbury anfangs den delikaten
Gegenstand mit allen Künsten seiner Zurückhaltung nur im Kreise
umging, suchte gleichzeitig auch der französische Minister Hanotaux
über diese Frage einen Zugang zu gemeinschaftlichem Vorgehen mit Berlin
zu finden. Man wäre in Berlin auch nicht abgeneigt gewesen, die Sache von
dieser Seite anzufassen, und verhehlte sich nicht, daß das "von
weitgehender Bedeutung für die fernere Gestaltung unserer
auswärtigen Politik" sein würde; aber der plötzliche Sturz des
französischen Ministeriums, nach dem die Außenpolitik an den
jedem Zusammengehen abgeneigten Mr. Delcassé überging, machte
dieser Möglichkeit sofort ein Ende. So blieb nur die englische
Gemeinschaft, und [485] es war nicht leicht, der
zähen Vorsicht Salisburys von neuem das "Divisons, divisons" zu
entlocken. Am 22. Juni ließ Bülow ihm amtlich die Frage vorlegen,
ob er über die zukünftige Verteilung der portugiesischen Kolonien
zwischen Deutschland und England ein bindendes Abkommen schließen
wolle. Die deutsche Regierung erklärte dabei, auf die Tatsache der
älteren Interessen Englands Rücksicht nehmen und den
Engländern freie Hand in der Delagoa-Bai und deren Hinterland lassen zu
wollen, obgleich der Schritt im ganzen deutschen Volke eine peinliche
Mißempfindung erregen werde, "weil die Boeren seit Jahren zum
Gegenstande einer sentimentalen Sympathie geworden sind, gegen welche wie in
allen Fällen von Sympathie mit Gründen der Logik nicht anzugehen
ist".40 Als Gegengabe verlangte sie den
nördlichen Teil von Mozambique mit der
Sambesi - Schire-Grenze, und wenn man auch Westafrika in den
Plan mit hineinnehme, den südlichen Teil von Angola, etwa bis Benguela.
Am 6. Juli erklärte Salisbury sich grundsätzlich einverstanden, auf
dieser Grundlage zu verhandeln; d. h. für den Fall, daß
Portugal mit Anleihewünschen an die beiden Mächte herantrete,
diese - nicht gemeinsamen, sondern
parallelen - Anleihen gegen die Verpfändung der Zölle in den
portugiesischen Kolonien zu gewähren - worunter jeder den ersten
Schritt zur tatsächlichen Kontrolle verstand. Da die Engländer auf
gewisse ostafrikanische Gebiete nicht verzichten wollten, wurde von deutscher
Seite aus die Walfisch-Bai (in Süd-Westafrika) und die portugiesische Insel
Timor in die Verhandlung einbezogen, während von englischer Seite das
Recht auf Exterritorialität in Sansibar eingebracht wurde. Nachdem der
englische Ministerrat am 13. Juli sein Einverständnis erklärt hatte,
gingen die Verhandlungen noch fast sechs Wochen mit größter
Zähigkeit weiter und durchschritten mehr als einen Spannungszustand,
zumal der englische Ministerrat die Abtretung der Walfischbai ablehnte.41 Auf der einen Seite drängte der
Kaiser, der eben damals die Enttäuschung der Philippinen erlebt hatte, mit
höchster Ungeduld, auf der anderen Seite erklärte Balfour, dem
Salisbury im letzten Stadium die Verhandlung überließ: "Das eine
stehe fest, daß man von den Deutschen nie etwas anderes höre, als die
Drohung, unangenehm zu werden, wenn irgendeine Forderung nicht erfüllt
werde, niemals aber eine für England freundliche Äußerung,
sei es in China oder anderwärts." Das deutsche Auswärtige Amt
hinwiederum bezeichnete seine Forderung als "das Minimum dessen dafür,
daß wir insbesondere die Boeren sich selbst überlassen".42
[486] So kam denn
schließlich am 30. August 1898 der Vertrag zustande, der im Zeitalter des
Imperialismus als ein Musterstück vertragsmäßiger Ordnung
von kolonialen Begehrlichkeiten in dem Bereich eines ungefragten Dritten
bezeichnet werden muß. Der Kaufvertrag bestimmte ein gemeinschaftliches
Vorgehen von England und Deutschland, wenn Portugal infolge finanzieller
Schwierigkeiten sich genötigt sehen sollte, um die Gewährung eines
Darlehens an eine der beiden Mächte heranzutreten und dafür die
Zolleinnahmen von Mozambique, Angola und Timor zu verpfänden;
für diesen Fall teilte er die Zolleinnahmen der portugiesischen Kolonien in
zwei Teile, die dem deutschen und englischen Darlehen, und demnach den
Inspektionsbefugnissen der einen oder anderen Seite zugewiesen werden sollten.
In einer geheimen Konvention einigten sich die beiden Mächte vor allem
darüber, einer Einmischung einer dritten Macht in diesem portugiesischen
Kolonialgebiet, sei es durch Anleihen auf Sicherheiten, sei es durch
Gebietserwerb, Schenkung, Kauf, Pacht usw. gemeinschaftlich
entgegenzutreten.
Es ist nicht zu verkennen, daß die letzten Bestimmungen für einen
allerdings sehr begrenzten und an eine Reihe von Prämissen gebundenen
Eventualfall gegen eine bestimmte Macht (die nur Frankreich sein konnte) sogar
eine bündnismäßige Verpflichtung in sich schlossen und
insofern ist das Abkommen vom 30. August in die Versuche einzureihen, aus
gewissen gemeinsamen Interessen ein System wechselseitiger Verpflichtungen
aufzubauen. Wir sehen auch das Thema, das im März angeschlagen war, im
Hintergrunde der geschäftlichen Verhandlungen immer noch lebendig. Im
Juli hatte der Kaiser durch seine Mutter, die Kaiserin Friedrich, die Königin
Victoria wissen lassen, daß konkrete Vorschläge Salisburys auf kein
unübersteigbares Hindernis in Berlin stoßen würden, aber eine
Rückäußerung war nicht erfolgt, und wir wissen heute,
daß Salisbury diesen Wunsch mit einer kühlen Handbewegung
beiseiteschob.43 Bald darauf wußte wieder der
englische Botschafter dem Kaiser vertraulich zu erzählen, daß im
Laufe des Sommers Chamberlain zu einer realistischeren Auffassung des
Bündnisproblems herangereift sei und im vertrauten Kreise das Programm
eines Defensivbündnisses aufgestellt habe, nach dem England und
Deutschland sich zum gegenseitigen Beistand verpflichten sollten, sobald eine der
beiden Mächte von zwei Seiten gleichzeitig angegriffen würde; aber
dieser Versuchsballon aus dem freundlichen Lager, in dem der Kaiser eine ganz
annehmbare Basis für weitere Verhandlungen erblickte, wurde von
deutscher Seite nicht beantwortet,44 nachdem
man auf einem anderen Wege eine Absage erhalten hatte.
Und nun sollte sich allmählich herausstellen, daß man sich die
Handhabung des Abkommens über die portugiesischen Kolonien doch sehr
verschieden dachte. [487] Bülow war von
dem Abschluß hoch befriedigt45 und
erwartete eine unmittelbare Auswirkung des Abkommens und der neuen
Interessengemeinschaft. Er konnte sich nicht genug tun, für diesen zweiten
eigentlichen Akt höchste Stille und Schnelligkeit anzuempfehlen,
während die Engländer nach beiden Seiten hin umgekehrte Wege
gingen. Man erklärte in Berlin, von England Vorschläge über
die beste Art der Ausführung entgegennehmen zu wollen, um
möglichst bald mit Portugal ins reine zu kommen, aber es zeigte sich,
daß Balfour vollständig unentschlossen war, ob und was er
vorschlagen sollte.46 Heute kennen wir aus den Akten auch
die Randbemerkung, mit der Salisbury aus dem Hinterhalt das deutsche
Drängen aufnahm: "Ich erwartete das. Sie sind nicht zufrieden damit, die
Ereignisse abzuwarten, die ihnen ihren Anteil am portugiesischen Gebiet
verschaffen sollen, sondern sie möchten den Gang des Schicksals
beschleunigen. Ich glaube nicht, daß es möglich ist, Portugal schon
eine Andeutung zu machen, solange wir nichts über die finanziellen
Bedingungen wissen, die Deutschland zu gewähren geneigt ist. Sie werden
in der Art Shylocks sein".47
So nehmen die Dinge von der ersten Stunde an einen in Berlin gar nicht in
Berechnung gezogenen Verlauf. Der portugiesischen Regierung blieb es nicht
verborgen, daß die deutsche und die englische Regierung mit ihrem
Vertrage, dessen äußere Umrisse in Lissabon mitgeteilt wurden, ein
sehr verschiedenes Ziel verfolgten. Die Methoden des einen drängten
ebenso heftig auf die Anleihe hin, wie die des anderen zurückhielten. Schon
gegen Ende September und endgültig im Laufe des Oktober erklärte
daher die Regierung in Lissabon, das Anerbieten des
deutsch-englischen Abkommens abzulehnen. Man hatte einen Eventualvertrag
abgeschlossen, aber wenn die vorausgesetzte Eventualität, das
Anleihegesuch des Portugiesen, nicht vorlag, so konnte der Vertrag, der obendrein
nur ein gemeinsames Vorgehen beider Mächte vorsah, überhaupt
nicht in Kraft treten, sondern mußte auf Eis gelegt werden.
Vor allem der englische Gesandte in Lissabon setzte alles daran, die
Ausführung des Vertrages zu hintertreiben; ein Schriftstück von ihm
an das Auswärtige Amt überlegt, wie der Portugiese am besten "aus
den Krallen Frankreichs und der zahlreichen politischen und finanziellen Gauner,
die es umkreisen", befreit werden könne, wenn die englische Regierung
eine große Londoner Bankfirma "überrede", ihm
500 000 £ vorzuschießen; das Abkommen mit
Deutschland schließe zwar eine alleinige englische Hilfe an Portugal aus,
aber eine Teilnahme Ihrer Majestät Regierung an der Transaktion sei
ja - abgesehen von jener Empfehlung - nicht beabsichtigt.48 Salisbury hatte sich nicht umsonst im
[488] letzten Stadium der
Verhandlung zurückgezogen; schon Ende Dezember stellte er dem
deutschen Botschafter gegenüber fest, daß man die weitere
Entwicklung in Lissabon abwarten müsse. Wie er selber dazu beitrug, zeigt
eine Besprechung vom 7. Juni 1899 mit dem Marquis de Soveral, dem
portugiesischen Gesandten in London, der als intimer Freund des Prinzen von
Wales eine große Figur in der Gesellschaft machte; als dieser ihm von der
Sorge vor einer Kontrolle der Zölle sprach, beruhigte ihn der
Premierminister, daß gegen eine so unangemessene Maßregel von
englischer Seite sehr ernstlicher Einspruch erhoben werden würde; er
schien ganz vergessen zu haben, daß die Kontrolle im Falle schlechter
Zinszahlung in dem Vertrage vom 30. August vorgesehen war. Aber er trug bald
darauf gar keine Bedenken, dem deutschen Botschafter gegenüber
beiläufig fallenzulassen, daß er diesen Vertrag niemals abgeschlossen
haben würde. Eigentlich konnte der Vertrag, obwohl andere
Kabinettsmitglieder ihn noch später als ein nützliches Instrument
lobten,49 seitdem nur als ein Fetzen Papier
betrachtet werden. Durch das kurz vor dem Ausbruch des Burenkrieges
geschlossene geheime englisch-portugiesische Abkommen vom
14. Oktober 1899, das unter Erneuerung von zwei älteren
Verträgen von 1642 und 1661 eine Garantie des portugiesischen
Territoriums (Mutterland und Kolonien) aussprach, wurde dann der letzte Rest
des englisch-deutschen Vertrages in der Stille ausgelöscht.
Man kann Zweifel hegen, ob nicht das Abkommen vom 30. August 1898 in
seinen Voraussetzungen und seiner Anlage contra bonos mores
verstieß. Die Art aber, wie hernach der eine Partner den anderen
übers Ohr hieb, nötigt dazu, zu ihrer Kennzeichnung schon zu
stärkeren Ausdrücken zu greifen: auch nach englischem Urteil war es
ein Akt von beispielloser Treulosigkeit.50 Im
Auswärtigen Amte in Berlin, wo man das ganze Spiel nicht durchschauen
konnte, blieb zunächst eine Skala peinlicher Gefühle zurück;
Enttäuschung nach der übereilten Hoffnung, Resignation und, als
langsam und auf Umwegen die Existenz des Vertrages von 1899 durchsickerte,
eine tiefe Erbitterung. Man sah sich betrogen und nicht einmal in der Lage, sich
zu beklagen, aber Holstein grollte, es sei unmöglich mit diesen Leuten in
irgendein Verständnis einzutreten.51 So nahm
[489] das erste Beispiel
freundlichen Einvernehmens, das der Bündnissondierung Chamberlains
vom März 1898 entsprungen war, allmählich einen Verlauf, der
für eine vertrauensvolle Fühlung der beiden Kabinette sehr
schädlich war. Man empfand das in Berlin um so schneidender, als man
sich, nicht lange vor dem Herannahen des Burenkrieges, durch die Hergabe eines
Wechsels heimlich gebunden hatte, dessen Gegenwerte für die deutsche
Seite nicht einklagbar waren und vielleicht niemals fällig wurden.
Jetzt freilich, im Herbst 1898, stand man noch unter dem Zeichen der frischen
Annäherung.52 Sie fiel um so mehr auf, als in dem
dramatischen Wechsel dieser Monate der englische Welthorizont durch andere
Wetterzeichen vorübergehend in ein tiefes Dunkel gehüllt wurde.
Der Schlußakt des Kampfes der Westmächte um den oberen Nil hatte
eingesetzt und er war schon in dem Momente entschieden, wo der Sirdar
Kitchener den französischen Major Marchand mit seinem Gefolge in
Faschoda "entdeckte".
Die Franzosen verkannten damals die Ungunst der Weltkonstellation und der
besonderen Lage am Nil und versteiften sich, statt sich sofort zur Räumung
Faschodas zu entschließen, ehrenhalber in Weiterungen. Darüber
erhob sich in England ein Sturm der öffentlichen Meinung, um den
bedingungslosen Rückzug der Franzosen und ihrer Ansprüche zu
erzwingen; umfassende Rüstungen zu Wasser und zu Lande gaben der
drohenden Sprache der Minister einen Rückhalt und schon hieß es,
daß es größere Übel als den Krieg gebe; der
Durchgänger Chamberlain erging sich wieder öffentlich in seinen
Lieblingsideen von dem Zusammenschluß der teutonischen und der
angelsächsischen Rasse und fürchtete nur, Lord Salisbury, der sich
mehr zurückhielt, möge nicht die Seelenstärke besitzen, um
die notwendige Krisis heraufzubeschwören und "wie Bismarck in Ems"
zuzuschlagen.53 Selbst der franzosenfreundliche Lord
Salisbury entdeckte jetzt, daß die Dinge sich in den letzten zwölf
Monaten doch sehr verändert hätten, und gab auf dem
Höhepunkt der Krisis der Königin Victoria den Rat, den Kaiser
einzuladen, da die Haltung Frankreichs es wünschenswert mache, daß
die Welt an ein Einvernehmen zwischen Deutschland und England glaube54 (17. November 1898). Die Franzosen
gestanden rückblickend, während der ganzen Periode von Ende
September 1898 bis zum März 1899 "nur zwei Finger breit von dem
Ausbruch der Feindseligkeiten entfernt gewesen zu sein".55 Sie mußten [490] sich darein finden,
daß der russische Verbündete auf diesem Schauplatz zu keiner Hilfe
imstande und bereit war.
Die deutsche Position während der Krisis war die sichere Hinterhand des
Unbeteiligten. Daß die Franzosen jetzt ihre eigentlichen Hoffnungen am
Rhein zurückstellten, wog leicht gegenüber der Tatsache, daß
sie bei allen freundlichen Worten "nicht gewillt waren, auf diese Hoffnungen zu
verzichten".56 Graf Hatzfeldt riet zwar anfangs, nach
seinen Londoner Erfahrungen, den Franzosen gegenüber, wie sie damals
gern gewollt hätten, eine äußerlich erkennbare freundlichere
Haltung einzunehmen,57 aber man sah in Berlin davon ab. Falls
Deutschland, durch die unfreundliche Haltung Englands in Samoa
gedrängt, damals aus seiner für England immer noch freundlichen
Stellung herausgetreten wäre und sich zu einer politischen
Annäherung an Frankreich und seine Alliierten entschlossen hätte, so
würde England nicht die gleiche Nachgiebigkeit in Paris gefunden
haben.58 Also blieb es dabei, daß die
Entscheidung von 1870/71, so gut wie einst in der ersten Stunde des Kampfes um
Ägypten, auch in der letzten Stunde dieses Kampfes die Franzosen zum
Rückzuge zwang.
Welche Konsequenzen für die künftige Gestaltung der
deutsch-englischen Verhältnisse zu ziehen waren, war allerdings eine
andere Frage. Die englisch-französische Deklaration, die am 21.
März 1899 die Abgrenzung der Besitzungen südlich und westlich
vom Niger und der Interessensphäre östlich vom Niger festsetzte,
bedeutete zwar für das Niltal die große Liquidation, zwischen deren
Zeilen schon der künftige französische Verzicht auf den so lange
behaupteten ägyptischen Anspruch sich von ferne einleitete. Damit erwuchs
den Franzosen aus ihrer Niederlage, die man im Orient ein zweites Sedan
hieß, doch auch wieder eine gewisse Erleichterung ihrer Gesamtpolitik. So
sehr die Krisis von Faschoda auch von lärmenden Kundgebungen begleitet
war, so rückte doch ihr Ablauf zugleich die theoretische Möglichkeit
näher, daß die Kluft zwischen beiden Völkern eines Tages
geschlossen werden würde. Man hat den Eindruck, daß Salisbury bei
der Richtung seiner Politik diese mögliche Folge sehr früh erkannt
hat, wie auf der anderen Seite Delcassé, der, von dem russischen
Bündnis enttäuscht, seinen Blick nach London zu richten begann.
Dagegen sucht man in den deutschen Akten vergeblich nach einer sicher
formulierten Erkenntnis, daß seit dem Ausgang der
Faschoda-Krisis der stärkste Trumpf, den man in Berlin lange Zeit hindurch
der englischen Politik gegenüber in der Hand gehabt hatte, unmerklich an
Wert nach allen Seiten zu verlieren beginne.
[491] Die englische Politik
hatte durch den Abschluß des Abkommens mit Deutschland über die
portugiesischen Kolonien und des Abkommens mit Frankreich über den
Niger freie Hand zu großen Unternehmungen erlangt, und sie zögerte
nicht, inmitten der sich jagenden Weltkonjunkturen, in denen alles auf den
Moment ankam, davon Gebrauch zu machen. Es waren noch nicht acht Wochen
nach dem Niger-Abkommen vergangen, da deuteten alle Anzeigen darauf hin,
daß die Beziehungen Englands zu den Burenstaaten sich verschlechterten;
im Mai 1899 war die Regierung von Transvaal schon überzeugt, daß
Chamberlain den Krieg wolle; sie hoffte noch den Frieden zu erhalten, aber
begann sich auf die Verteidigung vorzubereiten. Das erschütternde Ereignis
des Burenkrieges, die gewalttätigste Unternehmung des Zeitalters des
Imperialismus, begann in der Ferne heraufzuziehen.
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