Bd. 9: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Erster Teil
Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin
[121]
Kapitel 2: Das Deutsche Reich
unter der Staatsleitung Bismarcks 1871 - 1890
[122=Trennblatt] [123] 1. Der Eintritt
des Deutschen Reiches in die europäische Staatengesellschaft
1871 - 1875.
Der Aufstieg des Deutschen Reiches aus den heroischen Ereignissen des Krieges
von 1870/71 mußte nach innen und außen einen elementaren
Umschwung aller politischen Kräfte auslösen. So mächtig
auch der Lauf der Geschichte seit Jahren auf diesen Ausgang hindrängte,
jetzt stand das Geschlecht der Deutschen wie gebannt unter dem tiefen Eindruck
der überraschend plötzlichen Erfüllung. Der Kampf, unter
dessen Zeichen alles politische Leben so lange gestanden, war für immer
entschieden; alles, was um den Mittelpunkt der bisherigen Sorgen kreiste, schien
befriedet, überwunden, gegenstandslos und wich dem beglückenden
Gefühl des säkularen Abschlusses. Mit einem Schlage schien die
deutsche Geschichte ihren Sinn wiedergefunden zu haben, und es dauerte nicht
lange, bis die entgegengesetzten Lager den Sinn dieses geschichtlichen Ablaufs
als innere Notwendigkeit sich auslegten: sowohl die Nationalpartei, die den Kern
ihrer alten Ideale auf einem unerwarteten Wege verwirklicht sah, als auch die
preußische Staatspolitik, deren Tradition gleichfalls die Ankunft auf der
Höhe erlebte. Die beiden Gewalten, die immer wieder sehnsüchtig
und vergeblich nacheinander ausgeschaut hatten, schienen sich für immer
gefunden zu haben. Selbst ein politischer Kopf wie Heinrich von Sybel konnte im
ersten Augenblick die Frage aufwerfen, was denn dieses lebende Geschlecht nun
noch werde zu tun haben; um sich vermutlich schon anderntags selber die
Antwort zu geben: daß nach der Legung der Fundamente und der Errichtung
des äußeren Rahmens erst die eigentlichen Aufgaben des Ausbaues
und der Befestigung des deutschen Staates für die Nation und ihre Glieder
gestellt seien, daß das Ringen aller deutschen Lebensgewalten nach innen
und außen nunmehr auf einer höheren Ebene von neuem anhebe.
Zunächst aber sagte den Deutschen ein unbestimmtes Gefühl,
daß der eigentliche dynamische Abschnitt ihrer neueren Geschichte
abgeschlossen sei und ein mehr statisch bestimmtes politisches Zeitalter
heraufziehe.
Nicht anders stand es mit der Stellung der Deutschen unter den Völkern
Europas. Die deutsche Nationalbewegung war lange Zeit eine der stärksten
dynamischen Zukunftskräfte in Europa gewesen, mit deren
Lösungsmöglich- [124] keiten sich alle anderen
Gewalten irgendwie auseinanderzusetzen hatten: jetzt schied sie, nachdem sie sich
gestaltet und beruhigt hatte, als die große Unbekannte aus dem Spiel der
Kräfte aus und ging als neue, feste, anerkannte Größe in die
geltende Ordnung der Dinge ein. Allgemein war der Eindruck, daß die Mitte
Europas, die in früheren Jahrhunderten dem Eingriff von allen Seiten
offengelegen und auch seit 1815 ein mehr ruhendes, fast passives Element in der
Machtgruppierung der Staaten gebildet hatte, sich jetzt in eine aktive
Konzentration der Macht verwandelt habe, deren Leistung allen überlegen
zu werden versprach. Zwar hatte die Landkarte sich kaum verändert, aber
die Verschiebung des Schwergewichts drängte sich allen auf, sie betraf
sämtliche Mächte und mußte das ganze System, alle
Verhältnisse des Sichanziehens und Sichabstoßens der Staaten
stärker als irgendeine peripherische Veränderung beeinflussen. Auch
dieser europäische Umschwung hatte eine säkulare Tragweite. Schon
sah Ranke
den Moment eingetreten, in dem die seit der französischen
Revolution ansteigende Welle der Volkssouveränität auf den
entscheidenden Widerstand der alten Mächte gestoßen sei; nach
dieser Befriedung Mitteleuropas erst, in diesem neuen Zeitalter gesicherter
Entwicklung, glaubte er den Mut zu finden, an das Wagnis einer Weltgeschichte
heranzutreten.
Was dieser Umschwung für die Gesamtheit Europas zu bedeuten habe,
darüber gingen die Meinungen, von persönlichen und kulturellen
Sympathien nach der einen oder der anderen Seite gezogen, vielfach auseinander.
Die siegreiche Sache hatte, wie immer im Menschengeschlecht, viele unbedingte
Anwälte, welche die Machtverschiebung begrüßten. Aber
schon während des Krieges hatte der holländische Historiker
R. Fruin geurteilt, die von Frankreich seit drei Jahrhunderten geübte
Hegemonie sei nunmehr auf Deutschland übergegangen, und nicht seine
Besorgnis verschwiegen: wenn man in die große Zeit der deutschen
Kaisermacht zurückgehe, so zeigten Italien und die Slawenländer an,
was an der Ansicht richtig sei, daß die Eroberungssucht allein den Romanen
zu eigen, den germanischen Völkern jederzeit fremd sei. Etwas von der
Empfindung der Unberechenbarkeit dieser Kräfte, die jetzt die Mitte
Europas beherrschten, lebte in vielen Menschen und konnte auch den politischen
Berechnungen der Mächte nicht fremd bleiben.
Um so mehr mußten die Deutschen das Bedürfnis haben, vor der
Welt offen auszusprechen, was dieses Reich für sie und die anderen zu
bedeuten habe. Schon die Kaiserproklamation war auf den Ton gestimmt,
daß die neue Würde keine überlebten Ansprüche wieder
aufleben lasse, daß man ein Reich des Friedens und des Segens erstrebe, in
welchem das deutsche Volk finden und genießen werde, was es seit
Jahrhunderten ersehnt. Das war nicht die Kaiserkrone, in der einst
Napoleon I. in Aachen eine universale Verklärung unbegrenzter
Ansprüche gesucht hatte: es war eher eine nationale Königskrone,
deren Name sogar einzelnen kleindeutschen Gemütern lieber gewesen
wäre. So betonte [125] auch die Thronrede Kaiser Wilhelms I.
bei der Eröffnung des ersten deutschen
Reichstages am 21. März 1871 ausdrücklich, daß der Geist des
deutschen Volkes und die Verfassung des Reiches Deutschland inmitten seiner
Erfolge vor jeder Versuchung zum Mißbrauch seiner durch Einigung
gewonnenen Kraft bewahren würden:
"Die Achtung, welche Deutschland
für seine eigene Selbständigkeit in Anspruch nimmt, zollt es
bereitwillig der Unabhängigkeit aller anderen Staaten und Völker,
der schwachen wie der starken. Das neue Deutschland, wie es aus der Feuerprobe
des gegenwärtigen Krieges hervorgegangen ist, wird ein
zuverlässiger Bürge des europäischen Friedens sein, weil es
stark und selbstbewußt genug ist, um sich die Ordnung seiner eigenen
Angelegenheiten als ein ausschließliches, aber auch ausreichendes und
zufriedenstellendes Erbteil zu bewahren."
Dieses Bekenntnis nahm der Deutsche Reichstag in seiner ersten Kundgebung auf.
Als in der Adreßdebatte am 31. März 1871 die feindlichen Lager der
kleindeutsch-liberalen Nationalpartei und der
großdeutsch-katholisch Gesinnten in der Frage einer Intervention zugunsten
des Kirchenstaates aufeinanderstießen, da schien es, als ob man unter den
Bannern vergangener Kämpfe zu Felde ziehen und die gelehrten
historischen Kontroversen über deutsches Königtum und Kaisertum
noch einmal in dieser Stunde erneuern wolle. Die Mehrheit wollte es feierlich
zum Ausdruck gebracht wissen, daß das neue Reich mit der universalen
Tradition des alten Reiches nichts zu tun habe, sondern etwas Neues und Eigenes
sei, ein Nationalstaat, der zwar seinem Haupte den geschichtlich
ehrwürdigen Kaisernamen verliehen habe, aber seinen Daseinsgrund allein
in der Nation zu finden gewillt sei. Wenn Bismarck an dem Kampf der Worte
auch nicht teilnahm, so gab er durch sein beredtes Schweigen zu verstehen, in
welchem Lager er selber stand. Der Schöpfer dieser Dinge war sich
allzusehr bewußt, wie viele wirkliche oder vorgebliche Beunruhigung in der
Welt zu überwinden sei - niemals durfte er unter den Völkern
Europas den Gedanken aufkommen lassen, daß die Deutschen mit den
Traditionen des alten Reiches irgendwelche verklungenen Rechtstitel wieder
aufleben zu lassen gewillt wären.
Der Nationalstaat, zu dem man sich bekannte, wurde zugleich nach außen
für abgeschlossen erklärt. Feierlich wurde verkündet,
daß von dem neuen Reiche ein Weiterführen der nationalen
Propaganda, die an mehr als einer Stelle hätte beunruhigen können,
nicht zu erwarten sein werde. So fällt die Reichsgründung, der
Triumph der nationalen Bewegung, doch mit der Einstellung jeder nationalen
Aktion zusammen. In diesem Entschlusse kamen alle Parteien überein: die
Kleindeutschen hatten ja gerade die bewußte Beschränkung des
deutschen Staates ohne Österreich gewollt, und für die
Großdeutschen verstand sich die Erhaltung und Nichtanfechtung
Österreichs von selbst.
Für Bismarck vollends, in dessen Denken die Einordnung seiner
Schöpfung in die Staatengesellschaft an erster Stelle stand, war die
österreichisch-ungarische [126] Monarchie ein Faktor
in der europäischen Politik, der unter keinen Umständen durch
bedrohliche nationale Gesten in das gegnerische Lager abgedrängt werden
durfte. Er war im Jahre 1866 der Vollstrecker friderizianischer Politik gewesen,
aber in dem Moment des Sieges, mit der Erreichung seines Zieles, war er
entschlossen, die alte Verbindung mit Österreich wieder herzustellen, wie
sie im Deutschen Bunde bestanden hatte, und dadurch der Mitte Europas ein
verstärktes Schwergewicht zu verleihen. Wenn ihm dieses Ziel
vorschwebte, so mußte er von vornherein alles daransetzen, die
österreichischen Staatsmänner über seine Absichten auf dem
Felde nationaldeutscher Politik unbedingt zu beruhigen, und jede
Möglichkeit abweisen, daß das Deutsche Reich, als Zentrum des
nationalen Lebens, jemals eine mehr oder weniger große Anziehungskraft
auf das Deutschtum jenseits seiner Grenzen ausüben werde. Als Graf
Andrássy, nur aus taktischer Erwägung, einmal im Jahre 1874 in
Petersburg hatte fallen lassen, man könne nicht wissen, ob nicht einmal die
Zeit kommen werde, in der Deutschland unter dem Einfluß der
Nationalpartei es für ersprießlich erachten werde, nicht bloß in
seinen Einheitsbestrebungen weiter als bisher zu gehen, sondern seine
Machtsphäre auch auf die Deutschen Österreichs auszudehnen, setzte
Bismarck, auf das Höchste beunruhigt, alles daran, eine so
irrtümliche Vorstellung mit der Wurzel auszurotten. Man müsse in
Wien und Budapest doch wissen, daß Macht und Einheit des Deutschen
Reiches durch eine Verschmelzung mit den seit 400 Jahren tatsächlich von
Deutschland getrennten österreichischen Elblanden eher verlieren als
gewinnen würden; wenn der Ungar Andrássy etwa tätige
deutsche Sympathien für die Siebenbürger Sachsen befürchte,
so erklärte der Kanzler bestimmt, einem derartigen Gedanken ebenso fern
zu stehen, wie überhaupt jeder Versuchung, sich der Stammesgenossen in
den russisch-baltischen Provinzen, in Nordamerika oder in der Schweiz
anzunehmen.1 Einige Jahre später hatte
Bismarck Gelegenheit, seine unbedingte Festigkeit gegen jede nationale
"Versuchung" in einem viel ernsteren Falle zu erweisen. Als Francesco Crispi im
Herbst 1877 ihm mit versteckten Hinweisen nahte, daß die deutsche Einheit
noch nicht fertig sei und Österreich auch deutsche Provinzen
besäße, widersprach der Reichskanzler dem Italiener in sehr
bestimmtem Tone und ließ ihn nicht im unklaren darüber, daß
der Weg von Rom nach Berlin zu allen Zeiten über Wien führen
müsse. An dieser Überzeugung hielt Bismarck während seiner
ganzen Staatsleitung fest, und an diesem Teil seines Vermächtnisses ist von
der nachbismarckischen Reichspolitik bis zum Weltkriege niemals auch nur in
Gedanken gerüttelt worden.
Also war die nationale Triebkraft, auf deren mächtig ansteigender Welle
das weltgeschichtliche Handeln Bismarcks sich erhoben hatte, als ein nach
außen wirkendes Element der amtlichen Politik und des öffentlichen
Lebens so gut wie ausgeschaltet: ein nationalpolitisches Ziel gab es für das
Deutschland [127] nach 1871 nicht mehr.
Auch nach innen besaß das Reich, dessen Verfassung sich als ein
Staatsvertrag der Fürsten einführte, keine unmittelbare
Fühlung mit den tieferen Untergründen der Nation, sondern schien
mit ihnen nur über die Vermittlung der historischen Gliedstaaten und deren
bodenständigen Traditionen verknüpft. Damals schon regte sich in
einzelnen Köpfen die Empfindung, daß man auch etwas vermisse,
daß in dem von vornherein so realpolitisch gefaßten
Staatsbewußtsein des Reiches die Tragkraft des nationalen Volkstums doch
zu kurz komme. Die heute lebende Generation, die das Wesen des Staates tiefer
im Volkstum verankert wissen möchte, sieht solche Grenzen schärfer
als die Männer von damals, die den historischen Weg des Aufstiegs hinter
sich hatten.
Jedenfalls trat das Reich nach außen hin als eine Großmacht auf, die
aus sehr realen Erwägungen ein lautes Anschlagen des nationalen Tones
sich eher versagte und sich endgültig damit abfand, daß es nicht einen
alle Deutschen umfassenden Nationalstaat darstellte. Dazu kam, daß dieses
Reich auch wegen seiner fremdnationalen Bestandteile nicht als ein reiner
Nationalstaat zu bezeichnen war. Daß die nordschleswigsche Frage,
hingeschleppt unter Umständen, an denen beide Seiten ihren Anteil hatten,
nicht zur Lösung gekommen war, mochte nicht allzusehr ins Gewicht
fallen. Schwerer schon wog das aus militärischen Sicherheitsgründen
erfolgte Übergreifen in das französische Sprachgebiet in Lothringen.
Diese an Zahl geringfügigen dänischen und französischen
Minoritäten waren gleichsam eine Frucht der historischen Umstände,
unter denen das Reich sich gebildet hatte. Ein wirkliches Problem dagegen war
die Polenfrage, die als Mitgift des preußischen Staates in das Reich
übernommen wurde. Die preußischen Polen hielten sogar den
Augenblick der Reichsgründung für angemessen, ihre Vorbehalte
anzumelden. Sie waren seit dem Jahre 1815 auf Grund europäischer
Verträge preußische Untertanen; je mehr sich das alte absolute
Preußen in einen konstitutionellen Staat verwandelte, desto lebhafter hatten
sie ihre nationalen Interessen zur Geltung zu bringen versucht; zumal als der
preußische Staat sich mit dem nationaldeutschen Gedanken befreundete,
hatte ihr empfindlicher und abwehrbereiter Nationalismus sich auf seine eigenen
letzten Ziele besonnen. In dem ersten deutschen Reichstag wurden polnische
Stimmen laut, die die Annexion des Elsaß aus historischen und nationalen
Gründen billigten, aber eben darum die eigenen Ansprüche
grundsätzlich vertraten. Bismarck war sich der Tragweite dieser Probleme
durchaus bewußt. Er äußerte im Jahre 1875 einmal: "Wir haben
jetzt mehr Polen, Dänen, Franzosen, als uns erwünscht sein kann."
Auch von hier aus ergab sich für ihn das politische Gebot, den Bestand der
Dinge in der europäischen Ordnung sicherzustellen, sich zu der
abgeschlossenen und saturierten Existenz zu bekennen, statt sie durch
irgendwelche neuen Ambitionen zu gefährden.
Und so wandelte sich dem Reichsgründer die Aufgabe der Staatskunst und
der Sinn seines Lebens. Bis zum Jahre 1871 hatte Bismarck ein einziges [128] überragendes
Ziel verfolgt: die stärkste der europäischen Nationalbewegungen, die
deutsche Bewegung, gleichsam in das Strombett der
preußisch-historischen Gegebenheiten zu leiten und einen
preußisch-deutschen Nationalstaat inmitten der europäischen
Lebensbedingungen aufzurichten. Indem er eine Aufgabe von weltgeschichtlicher
innerer Notwendigkeit erfüllte, war er selbst auf dem steilen und
verschlungenen Wege zu seinem Ziel von einem Genius des Berufenseins geleitet
oder, wenn man will, von dem Dämon eines gewaltigen Schicksals
besessen: seine innerste Seele suchte sich Rechenschaft darüber zu geben,
wie sie die Wucht ihres Willens mit den unerforschlichen Wegen der Vorsehung
vereine. In diesem Lebensgefühl bestand seine verborgene
Überlegenheit gegenüber allen Gewalten, die ihm im Innern oder im
Äußern entgegentraten, selbst in seinem Führungsanspruch
gegenüber seinem Könige. Er wußte eben, ein vorsichtig
verwegener Bergsteiger, um einen einzigen schwindelnden Weg zum Gipfel, den
keiner der Freunde oder Gegner gehen konnte. Die Einzigartigkeit und
Positivität der Aufgabe erzeugte die Folgerichtigkeit und Geschlossenheit
des handelnden Staatsmannes, der in der Hoheit seines Endziels zugleich den
letzten, über alle Ablenkung erhabenen Maßstab für jeden
einzelnen seiner Schritte besaß.
Nachdem aber das Ziel der Reichsgründung erreicht war, konnte es nicht
anders sein, als daß der große Nerv der Aktion gleichsam zur Ruhe
kam und durch eine andere Richtung des seelischen Verhaltens abgelöst
wurde. Seitdem es sich um die Erhaltung und Sicherung des Erreichten handelte,
bekamen alle Probleme der Außenpolitik mit einem Male ein anderes
Gesicht. Es war, als ob von der Seele Bismarcks statt der im Dynamischen
wurzelnden Lebenskräfte hinfort die Erwägungen einer statischen
Ordnung Besitz ergreifen müßten. Während das Zwingende
des unerreichten Zieles verschwand, öffnete sich seinem Handeln eine
weite Ebene, die viele Möglichkeiten der Entschließung
nebeneinander darzubieten schien. Nach allen Seiten hin, den Mächten
gegenüber, denen er jetzt auf einem anderen Boden begegnete, dem Kaiser
gegenüber, den zu führen er fortfahren mußte, der Nation
gegenüber, die das Geschenk des Genius zu erwerben hatte, um es zu
besitzen: nach allen Seiten hin mußte gemäß der
veränderten Aufgabe auch der Stil der Staatsleitung Bismarcks sich
verändern.
Der Schauplatz seines Wirkens, die Umgrenzung seiner Aufgabe blieben die
gleichen: der Kreis der Mächte Europas. Aber der Eintritt der starken
Macht der Mitte in diesen Kreis schuf eine Reihe neuer Problemstellungen.
Schon während des Krieges von 1870/71 hatten die Pontusfrage auf der
einen und der Untergang des Kirchenstaates auf der anderen Seite den Kanzler vor
Entscheidungen gestellt, die von grundsätzlicher, rückwirkender
Bedeutung für das künftige Verhältnis Deutschlands zu den
Großmächten werden konnten. Die Pontuskonferenz versetzte die
deutsche Politik in eine Lage, in deren Verlauf [129] die
Mächtekonstellation des Krimkrieges wieder aufleben konnte. Der
werdende deutsche Staat mußte hier seine Stellung nehmen, ohne ganz in
die Gefolgschaft des Russen zu geraten, der sein Vorgehen auf die deutschen
Siege hin wagte, und ohne die
englisch-österreichische Seite zu verletzen, die sich mit dem im Augenblick
ausgeschalteten Frankreich zusammenfinden konnte: im tiefsten Grunde wurden
schon die Umrisse einer künftigen Option zwischen Rußland und
England sichtbar. Und wenn Bismarck während des Krieges diese Frage in
sorgenvollem Hinblick auf die Haltung der Neutralen zum Friedensschluß
beurteilte, so konnte er sich nicht verhehlen, daß sie in Friedenszeiten jeden
Tag in vergrößertem Umfange sich von neuem erheben
könne.
Gleichzeitig drängte ein zweites Problem von außenpolitischer
Tragweite heran, das obendrein in die Tiefe innerpolitischer Entscheidungen
hinabreichte. Als die deutschen Siege dem Kirchenstaate die napoleonische
Stütze entzogen, waren die Italiener in Rom eingerückt, und die erste
Frage, die an die Politik des werdenden Deutschen Reiches gerichtet wurde, kam
aus dem Lager der um das Schicksal Roms trauernden deutschen Katholiken: wird
das neue Reich sich vor der von Italien geschaffenen vollendeten Tatsache beugen
oder aber seinen Schild vor das Papsttum stellen und damit einen Anspruch auf
Liebe im großdeutsch-katholischen Lager erwerben? Die Mission des
Kardinals Ledochowski im November 1870 klopfte bereits an, ob Preußen
bereit sein würde, dem Papste Pius IX. seinen Schutz, gegebenenfalls
sogar ein Asyl in Deutschland zu gewähren und sich an einem Protest der
Mächte gegen den römischen Rechtsbruch zu beteiligen. Daß
Bismarck den katholischen Mächten den Vortritt lassen wollte und mit dem
Vorschlag eines europäischen Kongresses auswich, läßt sich
begreifen. Jede deutsche Initiative in dieser Frage mußte in Italien als eine
feindselige Handlung aufgefaßt werden, und die deutsche
Außenpolitik hatte sich Rechenschaft darüber zu geben, ob sie das in
aller Zukunft mit einer französischen Hypothek belastete
Reichsgebäude auch noch mit einer zweiten Gegnerschaft überladen
und Italien künftig in die Arme eines sich wiedererholenden Frankreichs
treiben wolle. Auf der anderen Seite konnte die unvermeidliche Absage an die
Kurie katholische Bevölkerungsteile tiefer in die Opposition
hinüberwerfen, und schon in den ersten Sitzungen des Reichstages im
März 1871 sollte es der Taktik Windthorsts gelingen, die Katholiken unter
dem Zeichen, daß sie von dem Reiche in ihren teuersten Angelegenheiten
doch nichts zu erwarten hätten, politisch zu organisieren. Ebenso wie das
künftige Verhältnis zu Österreich zugleich ein innerpolitisches
Problem war, war das Verhältnis zu Italien ohne unser Zutun von Haus aus
mit der Stellung des deutschen Katholizismus zum Reiche verknüpft.
Beide Episoden, noch während des Krieges rasch in sich selber ablaufend,
lassen erkennen, von welcher Tragweite jeder einzelne außenpolitische
Schritt des neuen Reiches sein mußte. Je weniger diese deutsche Politik
eine Tradition [130] besaß, in deren
sicheren Geleisen sie ihren Weg hätte finden können, desto mehr
kam es darauf an, welchen Kurs sie vom ersten Augenblick an in den
Beziehungen zu den verschiedenen Mächten einschlagen würde. Wir
müssen die Mächte der Reihe nach durchgehen, um aus der
Problematik des Einzelnen ein Bild des Ganzen zu gewinnen.
Die zentrale Frage war die Gestaltung der deutschen Beziehungen zu Frankreich.
Das war die neue Tatsache, die alle unbeteiligten Mächte von nun an in ihre
Rechnung einstellten: wenn im Moment auch ohne Gewicht, so mußte sie
doch mit der Zeit zum Brennpunkt der europäischen Mächtedynamik
werden.
Die Stimmung Frankreichs in der Periode des Präliminarfriedens und des
Frankfurter
Friedens bietet ein ganz einheitliches Bild. Man wird aus den
Ausbrüchen des Schmerzes und des Hasses, die unmittelbar mit den
Kriegsereignissen zusammenhingen, nicht allzu viel Wesens machen wollen: sie
sind menschlich begreiflich und können von anderen Nationen
nachgefühlt werden. Man muß gerechterweise das Furchtbare und
Unvermittelte des Umschlages in Anschlag bringen: wie konnte der
französische Geist, der in den Jahren vor 1870 sich mit deutschen
Erwerbungen getragen hatte und voll unermeßlicher Erwartung in den Krieg
gezogen war, in allen Empfindungen militärischen und politischen Stolzes
verwundet, sich in ein Schicksal finden, in dem eine große Geschichte
für lange Zeiten verspielt erschien? Es ist jedoch denkwürdig, welche
Form die Äußerung solcher Gefühle gerade in der
französischen Seele annahm. Bei der Beratung des
Präliminarfriedens in Bordeaux am 1. März 1871 verkündete
Victor Hugo das Zukunftsprogramm des geschlagenen Frankreich: sich sammeln
in einem einzigen Gedanken, bis es sich eines Tages plötzlich zu
furchtbarer Größe erhebe. Diese Vision aber malte aus: "Mit einem
Sprung wird es Lothringen, wird es das Elsaß an sich reißen! Ist das
alles? Nein, und abermals nein! Es wird Trier, Mainz, Köln, Koblenz
nehmen, das ganze linke Rheinufer." Vor dem Schmerz, mit dem eine große
Nation Niederlage und Verlust hinnimmt, wird man Achtung empfinden; und es
geht zu weit, für den zügellosen Ausbruch dichterischer Ekstase den
politischen Teil der Nation verantwortlich zu machen. Aber wenn das erste
große Bekenntnis zur Revanche sogleich die Wiederaufnahme der
räuberischen historischen Rheinpolitik selbst in der Stunde schwerster
Prüfung ankündigt, wird man ohne nationale Überheblichkeit
urteilen dürfen, daß in diesem Volk der großen
Eroberungstradition manche Wortführer nichts gelernt und nichts vergessen
hatten.
Fortan kam es vor allem darauf an, wie sich die amtlichen Beziehungen zwischen
Deutschland und dem Frankreich unter der Staatsleitung von Adolphe Thiers
gestalten würden. Sie kreisten in diesen ersten Jahren um zwei politische
Fragenkomplexe. Der erste betraf die Okkupation, Kriegskostenzahlung und
Räumung, der zweite, nach der Überwältigung des
Kommuneaufstandes, den innerfranzösischen Parteikampf um die
endgültige Entscheidung der Staatsform. Daß mit der deutschen
Besetzung für die betroffenen Landesteile auch [131] Härte und
Bitterkeit, wie der Besiegte sie zu tragen hat, verbunden war, wird niemand
bestreiten. Ob sie aber damals das militärisch und politisch Notwendige
überschritten hat, kann niemand besser als das heutige deutsche Geschlecht
beurteilen, das die französische Okkupation des linken Rheinufers seit
Ende 1918 erlebt hat. Es ist gewiß nicht die Aufgabe des Historikers, die
düstere Folie solcher Gegenwartserlebnisse auf Schritt und Tritt
aufzurollen, aber da sie sich ungewollt aufdrängt, ist auch die objektive
Feststellung geboten, daß die beiden Vorgänge von 1871 bis 1873
und von 1918 bis 1929 in keiner Hinsicht miteinander in Vergleich gestellt
werden können. Die deutschen Akten über die Okkupation in
Frankreich konnten restlos und ohne Scheu aufgedeckt werden,2 und das Wort, das Präsident
MacMahon an den Oberbefehlshaber General v. Manteuffel im Moment
der Räumung, am 4. September 1873, richtete, die Anerkennung seiner
"Gerechtigkeit und Unparteilichkeit", darf sich füglich auf den Geist
erstrecken, in dem die deutsche Okkupation überhaupt ausgeübt
worden ist.
Die auferlegten finanziellen Lasten waren, so riesenhaft hoch damals die Zahlen
der Milliarden klangen, im Verhältnis nicht so drückend wie die
Lasten, die Preußen nach 1807 hatte tragen müssen, und sie
können mit den Lasten, die nach dem Weltkrieg von Deutschland
verlangt wurden, nicht entfernt verglichen werden. Sie waren vor allem
im Augenblick des Friedensschlusses eindeutig und endgültig festgestellt
und so verteilt, daß die patriotische Entschlossenheit eines zugleich
wohlhabenden und sparsamen Volkes sie in wenigen Jahren ohne
zerstörende Nachwirkungen in seiner Gesamtwirtschaft abzahlen konnte.
Selbst der in diesen Jahren erfolgende Übergang Frankreichs zur
allgemeinen Wehrpflicht mit allen seinen finanziellen Anforderungen wurde
durch die Kriegskostenentschädigung an Deutschland nicht
aufgehalten.
Schließlich läßt sich der deutschen Politik das Zeugnis
ausstellen, daß sie keinen Versuch gemacht hat, über den Wortlaut
und Geist des Frankfurter Friedens hinweg Forderungen irgendwelcher Art
aufzustellen oder die relative Wehrlosigkeit des ehemaligen Gegners
während der Okkupation zu benutzen, um in die Gestaltung seiner inneren
Angelegenheiten mit dem Anspruch des Siegers hineinzureden. So ist das
französische Rekrutierungsgesetz vom 27. Juli 1872, das zum ersten Male
die allgemeine Wehrpflicht mit zwanzigjähriger Dienstzeit
einführte - der erste Anstoß zum Wettrüsten der
europäischen Großmächte -, noch während der
Okkupationszeit, ohne Bemerkung von deutscher Seite, erlassen worden und in
Kraft getreten. Vor allem vermied die deutsche Politik jede Einmischung in den
Kampf um die französische Regierungsform. Bismarck war für die
Anerkennung der Regierung Thiers, "solange sich nicht auf
gesetzmäßigem Wege aus ihr eine andere entwickelt, [132] welche die
Ausführung des Friedensvertrages und die Erhaltung der jetzigen
Beziehungen zwischen den beiden Ländern für die Zukunft
sicherstellt".3 Er war entschlossen, die
Auseinandersetzung zwischen Monarchisten und Republikanern einen Verlauf
nehmen zu lassen, der allein durch die französischen
Parteiverhältnisse bestimmt werde, und tadelte die Versuche seines
Botschafters, in diesem Streite zugunsten der Monarchie Partei zu ergreifen, auf
das Strengste. Er übte diese Zurückhaltung gewiß in der
realistischen Berechnung, daß ein republikanisches Frankreich, wenigstens
damals, verhältnismäßig friedlicher und weniger angriffslustig,
vor allem weniger bündnisfähig als ein monarchisches Frankreich
sein würde; aber er besaß doch zugleich ein lebendiges Gefühl
dafür, daß eine große Nation nichts demütigender
empfindet, als das Einmischen eines Fremden, der im Augenblick die Macht dazu
hat, in ihre inneren Parteikämpfe; er gab sich keiner Täuschung
darüber hin, daß eine Spekulation auf inneren Hader gegenüber
dem französischen nationalen Solidaritätsgefühl jederzeit
fehlschlage. Gegen dieses deutsche System läßt sich nicht der
Vorwurf erheben, daß es die Ehre und das Recht der französischen
Seite nicht anerkannt und geschont hätte; man verkannte keineswegs die
Verpflichtung, die Tiefen der Erbitterung und des Hasses, die aus einem solchen
Kriege zurückbleiben, nicht weiter aufzureißen. Bismarck war
gerecht und realistisch genug, von der Seele der Gegner nicht allzu viel zu
verlangen. Als der Botschafter einmal gegenüber den Friedensbeteuerungen
der Franzosen die Frage nach ihren Hintergedanken aufwarf, korrigierte er ihn in
seinem großen Stile: "Man kann einer Großmacht, die mit
Gebietsverlust aus einem Kriege hervorgegangen ist, nicht sobald eine solche
Entsagung zutrauen, und der Verzichterklärung eines einzelnen Ministers
wäre nicht mehr Aufrichtigkeit und Bestand zuzuschreiben, als der sonst
üblichen Klausel der Friedensverträge, daß zwischen den
kontrahierenden Teilen immerwährende Freundschaft bestehen werde".4 Es war mehr als bloße
Courtoisie, wenn er an dem ersten Jahrestage des Friedensschlusses, am 2.
März 1872, dem französischen Botschafter seinen Wunsch
aussprach: "Ich hoffe von ganzem Herzen, daß damit ein Zeitabschnitt
begonnen hat, der auch unsere Kinder noch überdauert."
Aber von Anfang an schienen die Sterne in die umgekehrte Richtung zu weisen.
Schon am 9. Juli 1871 urteilte Graf Waldersee über die sichtliche Zunahme
des Revanchegeistes: "Fast alle Zeitungen predigen Haß und Rache gegen
die Deutschen, wenige wagen ganz schüchtern zur Mäßigung
zu raten. Es kommt allmählich in allen politischen Parteien die Ansicht zur
Geltung, daß man sich nur in einem Zustande der Waffenruhe befinde und
daß, sobald man genügend wieder retabliert sei, zur Revanche
geschritten werden müsse." Ein scheinwerferhaftes Licht fiel auf diesen
Seelenzustand, als im Dezember1871 die Mörder deutscher Soldaten von
französischen Geschworenengerichten
frei- [133] gesprochen
wurden - man stelle sich vor, mit welchen Mitteln die französischen
Okkupationsmethoden von 1919 auf einen ähnlichen Vorgang geantwortet
haben würden. [Betonung vom Scriptorium
hinzugefügt.] Wenn aber Bismarck darauf scharfe und
drohende Anklagen gegen dieses Erlöschen des Rechtsempfindens erhob,
erregte er neuen Groll, und seine Worte geben noch heute der französischen
Geschichtschreibung einen Anlaß, Betrachtungen über die brutale
Natur des Reichskanzlers anzustellen.5 Selbst der
alte Ranke,
der sehr menschlich zu urteilen pflegte, stellte in einer
Silvesterbetrachtung von 1872 fest, daß über allen
Zerwürfnissen der Franzosen der Wunsch, die Leidenschaft sich zu
rächen schwebe: "davor wird alles andere zurückweichen". Auf
diesem Felde verschwanden alle Parteiunterschiede. So kam denn Bismarck in
einem Erlaß vom 2. Februar 1873 zu dem Ergebnis: "Die Offenheit, mit
welcher seit dem Friedensschluß in Frankreich der Nationalhaß gegen
die Deutschen von allen Parteien geschürt und proklamiert wird,
läßt uns darüber keinen Zweifel, daß jede Regierung,
welcher Partei sie auch angehören möge, die Revanche als ihre
Hauptaufgabe betrachten wird. Es kann sich nur darum handeln, welche Zeit die
Franzosen brauchen werden, um ihre Armee oder ihre Bündnisse soweit zu
reorganisieren, daß sie ihrer Ansicht nach fähig ist, den Kampf
wieder aufzunehmen. Sobald dieser Augenblick gekommen ist, wird jede
französische Regierung gedrängt werden, uns den Krieg zu
erklären."
Allerdings war die Regierung von Thiers entschlossen, Erfüllungspolitik zu
treiben, um die Räumung des Landes in den vertragsmäßigen
Fristen herbeizuführen, und es lag ihr nichts ferner, als nach der Weise der
Opposition mit kriegerischen Velleitäten zu spielen. Aber auch Thiers,
wenn er dem deutschen Botschafter die völlige Unmöglichkeit einer
französischen Kriegführung in der Gegenwart entwickelte, hielt es
für angezeigt, eine andere Zukunft seines Vaterlandes (die er allerdings
nicht erleben werde) in Worten auszumalen: "Nach Verlauf vieler Jahre, wenn
Frankreich zu Kräften gekommen sein würde, müsse
natürlich das Bestreben in den Vordergrund treten, eine
Entschädigung für die erlittenen Verluste zu suchen, und wenn
Deutschland einmal in Verlegenheit mit andern Mächten geraten sollte,
werde der Augenblick zur Abrechnung gekommen sein. Darum sei aber noch gar
nicht gesagt, daß Frankreich in einem solchen Falle gegen
Deutschland auftreten müsse. Es sei sehr wohl denkbar, daß
Deutschland dann Frankreichs Allianz durch Kompensationen zu erkaufen geneigt
sein würde, welche einen Krieg unmöglich machen
könnten".6 Diese Visionen mochten in eine ferne
Zukunft reichen und sich friedlich-realistisch
gebärden - wie mußten sie auf einen Realisten wie Bismarck
einwirken!
Die am 15. September 1873 vollendete Räumung Frankreichs
eröffnete eine neue Epoche im Innern des Landes, weil nun die
Entscheidung über [134] die Staatsform
näherrückte, und nach außen hin, weil sich dem
französischen Staat der erste Anfang zu freierer Bewegung eröffnete.
Von jetzt an begannen die übrigen Mächte ernsthafter mit dem
französischen Faktor zu rechnen. Wie hatten sich inzwischen die
Beziehungen des Deutschen Reiches zu den Großmächten
gestaltet?
Die intime Verbindung zwischen Preußen und Rußland, seit Ende
1868 auch vertragsmäßig gefestigt, hatte beim Kriegsausbruch im Juli
1870 wertvolle Dienste geleistet, indem sie zur Zügelung des
österreichischen Tatendranges beitrug. Kaiser Wilhelm hatte diese Tatsache
im März 1871 in einer Weise anerkannt, die nach dem Urteil seiner Berater
seinem ritterlichen Empfinden entsprach, aber über das politisch
Zulässige fast hinausging. "Nie wird Preußen vergessen, daß es
Ihnen verdankt, daß der Krieg nicht äußerste Dimensionen
angenommen hat", hieß es in dem Telegramm an den Zaren, das fast einer
politischen Schuldverschreibung glich. Niemals zuvor strahlte die traditionelle
Freundschaft der Dynastien in hellerem Lichte. Aber wenn es schon immer
fraglich gewesen war, ob die Wärme dieser Freundschaft auch in der
nächsten dynastischen Generation andauern würde und ob sie von
den Spitzen des Staates tiefer in die russische Gesellschaft hinabreiche, so trat
jetzt die weitere Frage hinzu, ob diese Tradition nach den
überwältigenden deutschen Siegen auch dem russischen
Machtinteresse entsprechen und unverändert in eine veränderte
Weltlage übernommen werden könne. Als der in der russischen
Tradition aufgewachsene Prinz Friedrich Carl im Dezember 1871 nach Petersburg
entsandt wurde, wußte er nicht genug von der Liebe des Zaren zu
Preußen zu melden, den die deutschen Siege wie russische Siege erfreut
hätten: "Aber der Kaiser", fügte er hinzu, "dem sehr wenige
beistimmen, steht allein da für uns. Gegen Deutschland ist der große
Haß überall, außer beim russischen Volke."
Schon regten sich ganz andere Stimmen in Rußland. Noch während
des deutsch-französischen Krieges erschien das Werk von Danilewskij:
Rußland und Europa, das bald zu einem Evangelium der russischen
Intelligenz werden sollte. Es faßte zum ersten Male die
Zertrümmerung Österreichs und der Türkei als Ziel der
russischen Politik und Sache des gesamten Slawentums ins Auge und nahm
für dieses Zukunftsprogramm Frankreich als Bundesgenossen in Aussicht.
Ebendarum aber sei Rußland, so folgerte diese geschmeidige Dialektik, an
dem Siege Deutschlands und zeitweiliger Schwächung Frankreichs
interessiert, damit eine dauernde tiefe Kluft zwischen beiden Mächten
aufgerissen, Frankreich aber (unter Preisgabe aller polnischen Liebhabereien)
allein bei Rußland seine Stütze zu suchen genötigt werde. Also
habe Rußland die bisherige politische Unterstützung
Preußen-Deutschlands aufzugeben. Es werde durch eine solche Wendung,
mit der es in dem jahrhundertalten Kampfe zwischen Germanentum und
Slawentum seine Stellung nehme, überall die Herzen der slawischen
Intelligenz auch außerhalb Rußlands gewinnen. Der russische
Machtinstinkt [135] fühlte, daß
er infolge der sich verschiebenden Dynamik Europas mit der anderen Seite
vielleicht noch bessere Geschäfte machen könne. Obgleich der
deutsche Sieg keineswegs die Position der Russen verschlechtert, vielmehr in der
Pontusfrage infolge des Wegfalls der alten
englisch-französischen Kombination ihr eher Luft gemacht hatte, so wurde
man sich doch bewußt, daß man hinfort auch eine andere Karte
ausspielen und den von Frankreich her lockenden Liebeswerbungen
entgegenkommen könne. Schon vor der Kaiserproklamation in Versailles
war Danilewskij über sein Programm klar: alle unsere Sympathien sind auf
Seiten Frankreichs, aber die politischen Interessen zwingen uns, auf den vollen
Sieg Deutschlands zu hoffen.7
Solche Gefühle wurden von dem amtlichen Rußland keineswegs
geteilt, aber die Möglichkeit, eines Tages auch eine andere Politik treiben
zu können, konnte dazu verführen, mit ihr zu spielen und das
Deutsche Reich aus Sorge vor einer solchen Rechnung beizeiten zu einer
dankbaren und dienstwilligen Haltung zu nötigen. Fürst
Gortschakow hatte die französische Karte von jeher viel zu sehr
geschätzt, als daß er um solche Möglichkeiten und die daraus
für den deutschen Staat fließenden Konsequenzen nicht gewußt
hätte; die preußischen Diplomaten hatten längst beobachtet,
daß er zu ihnen über Frankreich zu sprechen lieber vermied; seit dem
deutsch-französischen Kriege stand es für ihn noch mehr als vordem
fest, daß, vom russischen Interesse aus gesehen, Frankreich eine
europäische Notwendigkeit sei. Schon Ende 1871 ließ er in Berlin
neben einer Erkundigung nach dem Stande der nordschleswigschen Frage die
Hoffnung aussprechen - und das machte Bismarck hoch
aufhorchen8 -, daß die Deutschen
wegen etwaiger Nichterfüllung der französischen
Zahlungsverpflichtungen doch keinesfalls einen Krieg zur Eintreibung
führen würden. Gewiß nur eine leichte
Andeutung - obendrein bestimmt den Weg nach Berlin nicht zu verlegen,
sondern offenzuhalten -, aber doch zugleich eine sanfte Erinnerung,
daß dieser Weg für die Russen in Berlin nicht aufhöre, sondern
ihnen bis nach Paris reichende Perspektiven eröffne. Mochte der deutsche
Sieger daraus entnehmen, daß er zwar in den Mittelpunkt Europas
gerückt, aber dafür auch mit neuen aus dieser Machtverschiebung
unausweichlich sich ergebenden Belastungen beladen sei.
Bismarck hörte ohne Zweifel das politische Bedürfnis
Rußlands heraus, auch dem starken kaiserlichen Deutschland
gegenüber die Freiheit seiner Hand [136] und seiner Interessen
zu betonen. Er war sich der positiven Werte der russischen Freundschaft sehr
bewußt; noch fünf Jahre später, nachdem er inzwischen
peinlichere Erfahrungen gesammelt hatte, sprach er von Rußland als "dem
bisher nützlichsten und in Zukunft vielleicht wichtigsten und seinen inneren
Verhältnissen nach relativ zuverlässigsten unserer Bundesgenossen";
vor allem verhehlte er sich nicht, daß er mit einer starken Neigung seines
Monarchen nach dieser Seite rechnen müsse. Aber sein politisches Denken
lebte viel zu sehr in dem dynamischen Grundgesetz der europäischen
Mächte, als daß er nicht einem fortan vielleicht zu erwartenden
russischen Freundesdruck gegenüber sich auch nach Gegengewichten in der
Welt umgesehen hätte.
Die preußisch-deutschen Beziehungen zu Österreich waren durch den
Krieg, rein dynamisch gesehen, eher im umgekehrten Sinne umgewälzt
worden. Bis an die Schwelle des Kriegsausbruches hatte man in Wien in
geheimen Bündnisverhandlungen mit Frankreich gestanden, und wenn man
nach Kriegsausbruch doch nicht marschierte, so geschah es, weil die russische
Drohung, der Einspruch der Ungarn und
Deutsch-Österreicher, und die ersten deutschen Siege zum Stillsitzen oder
doch zum Abwarten nötigten. Aber noch kurz vor Sedan hatte die
österreichische Militärpartei gegen die bremsende Diplomatie der
Staatsleitung größere Kriegsvorbereitungen durchgesetzt, und der
Reichskanzler Beust hatte wenigstens alles getan, um eine Aktion der Neutralen
einzuleiten und damit dem deutschen Siege in den Weg zu treten. Bismarck hatte
dieses ganze Nachspiel der österreichischen Gegnerschaft seit 1866 nicht
allzu tief nachgetragen, sondern mit nüchternem Realismus die
österreichische Großmacht als europäischen Faktor in seine
künftige Rechnung eingestellt; er war entschlossen, die Politik, die er mit
den maßvollen Friedensbedingungen des Jahres 1866 eingeleitet hatte,
wieder aufzunehmen. Gewiß wiegt es nicht allzu schwer, wenn er
während der Pontuskonferenz dem Engländer Odo Russell zu
verstehen gab, ihm schwebe eigentlich ein Bündnis mit England und
Österreich als Ideal vor - daß er sich nach Gegengewichten
gegen Rußland umsah, mag man immerhin daraus entnehmen. Eben damals,
im Dezember 1870, brachte er dem Wiener Kabinett den Beitritt der
Südstaaten, der formell die Prager Friedensbestimmungen durchbrach, zur
amtlichen Anzeige: nicht allein die Rücksicht auf den Prager Frieden leite
ihn, "sondern auch der Wunsch, mit dem mächtigen Nachbarreiche
Beziehungen zu pflegen, welche der gemeinsamen Vergangenheit wie den
Gesinnungen und Bedürfnissen der beiderseitigen Bevölkerungen
entsprechen". Auf diesem Wege ging er nach dem Friedensschlusse weiter. Die
ersten Berührungen der beiden Monarchen in Ischl und Salzburg im August
1871 stellten die persönlichen Beziehungen wieder her und begruben die
Vergangenheit; seit der Berufung Andrássys konnte Bismarck darauf
rechnen, daß seine Politik auf Gegenliebe stoßen würde;
daß noch auf lange Zeit hinaus mächtige Gruppen in Wien die
Versöhnung zu hintertreiben suchten,
blieb ihm [137] nicht unbekannt.
Andrássy aber war innerlich überzeugt, daß Deutschland
wegen Frankreich kommen müsse; hätte es nicht
Elsaß-Lothringen genommen, so würde es die Wahl zwischen
Österreich und Rußland haben; bei der unversöhnlichen Kluft
zwischen Deutschland und Frankreich werde ihm die Freundschaft mit
Österreich so wichtig sein, daß es sie unmöglich
Rußland opfern könne. So war schon im April 1872 der Besuch Kaiser Franz Josephs in Berlin zum Herbstmanöver beschlossen, der vor
der Welt den endgültigen Strich unter die Vergangenheit ziehen und eine
neue Ära einleiten sollte; man meinte auf deutscher Seite, auf dieser
Zusammenkunft das freundschaftliche Verhältnis in bindende, wenn auch
noch nicht vertragsmäßige Formen zu bringen.
Die Absicht Bismarcks war, die deutsch-österreichische Freundschaft
zunächst unter Dach und Fach zu bringen und von dieser starken Mitte aus,
die in gewissem Sinne die europäische Situation des Deutschen Bundes
wiederherstellte, als gleichwertige Partner mit Rußland einen Friedenspakt
zu schließen. Dieser Plan Bismarcks, von seinem Standpunkte ebenso
verständlich wie von demjenigen Andrássys, wurde jedoch in der
Ausführung durchkreuzt und abgebogen. Kaiser Alexander, der auf
Umwegen von dieser Zusammenkunft erfahren hatte, ließ um Mitte Juli in
Berlin anfragen, ob man ihn nicht zusammen mit dem Kaiser von
Österreich zu sehen wünsche; er schien das Gefühl zu hegen,
wenn sein bester Freund Wilhelm I. mit einem dritten zusammenkomme,
daß er sozusagen vor der Tür seines Freundes stehe, während
die beiden anderen miteinander vertraulich verkehrten. Der Russe war von der
Sorge erfüllt, daß eine sich bildende
deutsch-österreichische Freundschaft ohne ihn leicht zu intim werden
könne, und meldete gleichsam als der ältere Freund die Vorhand im
Freundschaftsverhältnis an. Es lag auf der Hand, daß Kaiser
Wilhelm I. auf die Ankündigung des Zaren eingehen und die
gewünschte Einladung aussprechen mußte. Der ursprüngliche
Plan Bismarcks war damit gestört; "der eigentliche Zweck", so urteilte
Schweinitz, "nämlich unser Verhältnis zu Wien so akzentuieren,
daß sowohl Frankreich wie Rußland sich danach zu richten
hätten, war verfehlt. Das rasche und geschickte Eingreifen des Kaisers
Alexanders hatte das erreicht". Immerhin glaubte Bismarck auch jetzt noch,
daß die Vorteile überwögen; selbst wenn seine eigene
Rechnung und nicht minder die Erwartungen Wiens dadurch etwas verschoben
waren.
Die Dreikaiserzusammenkunft im September 1872, deren Vorgeschichte nicht frei
von einem verborgenen Spiel großmächtlicher Rivalitäten ist,
ließ vor der Welt von diesen Hintergründen nichts erkennen. Sie
wirkte nach außen hin wie ein Triumph der deutschen Politik, und die
glänzende Schaustellung der drei Monarchen und ihrer leitenden Minister
in der Hauptstadt des neuen Reiches wurde wie eine europäische Sanktion
des großen Umschwunges angesehen. Dem Zuschauer drängte sich
die Vorstellung auf, als wenn ein Dreikaiserbündnis eine neue Ära
der Staatengesellschaft einleite, und der historische [138] Sinn mochte sich an
die Zeiten des Bundes der Ostmächte erinnert sehen. Aber der Vergleich
traf in Wirklichkeit nicht zu. Nicht nur daß in dem Verhältnis der
Schwerpunkt sich von Wien über Petersburg nach Berlin verlagert hatte;
insofern hatte Bismarck Recht zu dem Urteil, er habe sich eine Brücke nach
Wien geschlagen, ohne die abzubrechen, die er schon nach Petersburg besessen
habe. Vor allem aber war von einem Bündnis, überhaupt von einer
Abmachung nicht die Rede. Bismarck, der mit Gortschakow und
Andrássy nur gesondert, nicht gemeinschaftlich verhandelte, stellte sogar
fest, daß durch jeden Versuch einer Abmachung nur der gute Eindruck und
die wohltätige Wirkung der Zusammenkunft würde
abgeschwächt werden; "es ist nichts abgemacht", betonte er auch
gegenüber seinem Kaiser. Man stellte also nur ein allgemeines
Einvernehmen fest in der Aufrechterhaltung des Friedens, in der Behauptung der
Ordnung gegenüber den unterirdischen Gefahren und schließlich in
der grundsätzlichen Haltung in der Orientfrage. Aufrechterhaltung des
Friedens bedeutete noch keineswegs Garantie des Besitzstandes. Die Franzosen
hatten mit den größten Sorgen einer solchen Wendung
entgegengesehen, aber Gortschakow hielt es für angezeigt, sie noch in
Berlin zu beruhigen, daß es nur einen Austausch von Gesichtspunkten und
Ideen gegeben habe, aber kein Protokoll, nichts Schriftliches. Ja er ging so weit,
dem französischen Botschafter in Berlin gleichzeitig mit dieser
Eröffnung den Wunsch auszusprechen: "Frankreich muß stark und
weise sein; es muß stark sein, um eines Tages die ihm vorbehaltene Rolle in
Europa zu spielen." Damit durchkreuzte Gortschakow im Augenblick der
Begründung des Dreikaiserverhältnisses die Linie Bismarcks:
gegenüber dem deutschen Reichskanzler, der die Karte Österreich
aufgenommen hatte, wollte er wenigstens für die Zukunft sich die Karte
Frankreich sichern.
Schon diese eine Episode warnt davor, die Bedeutung des
Dreikaiserverhältnisses zu überschätzen: auch auf der
russischen Seite, die soviel Wert auf die Beteiligung gelegt hatte, machte man
seine Vorbehalte. Doch würde es ebenso unrichtig sein, die Bedeutung des
Dreikaiserverhältnisses darum gering anzusetzen. Es hat immerhin den
Wert eines Versuches, der vielleicht zeitlich befristet war, aber so viele
Möglichkeiten in seinem Innern barg, daß er sein eigentliches Gesicht
erst im Laufe der Zeit entwickeln würde. Man war in London nicht ohne
Besorgnisse, und wenn der Zar von den Gefahren des wachsenden
Republikanismus in England sprach, denen die Mächte entgegentreten
müßten, um die Ordnung in Europa aufrechtzuerhalten, so verriet er,
daß er dem Verhältnis gern eine Spitze gegen England geben wollte.
Im Laufe des nächsten Jahres schien es sogar, als wenn das
Dreikaiserverhältnis sich noch vertragsmäßig verdichten
würde. Bei dem Besuche Kaiser Wilhelms in Petersburg im April 1873
wurde eine Militärkonvention über militärische Hilfeleistung
gegen jeden Angriff von dritter Seite abgeschlossen, die von den
Feldmarschällen Moltke
und Graf Berg unterzeichnet und von [139] den Monarchen
bestätigt wurde. Bezeichnend aber war, daß Bismarck die
Unterzeichnung ablehnte, offenbar weil er eine einseitige Bindung von ihr
befürchtete, und ausdrücklich darauf bestand, daß die
Konvention nicht gelte, wenn Österreich nicht beiträte. Am 6. Juni
1873 folgte auch eine österreichisch-russische Militärkonvention, die
im Falle eines Angriffs von dritter Seite eine vorgängige
Verständigung vorsah; indem auch Kaiser Wilhelm ihr am 22. Oktober
1873 beitrat, wurde der Ring der Abmachungen wieder geschlossen. Man kann
trotzdem nicht sagen, daß das Dreikaiserverhältnis von 1872 durch
diese Verträge an innerer Festigkeit gewonnen hätte. In Wahrheit war
noch alles im Flusse. Das wird noch deutlicher werden, wenn wir den Blick auf
England werfen. Innerhalb des Dreikaiserverhältnisses war Rußland
geneigt, eine Spitze gegen England zu nehmen, Österreich aber gewillt,
eine gute Beziehung mit England unter allen Umständen zu pflegen. Um so
mehr kam es darauf an, wie sich die Beziehungen zwischen Berlin und London
gestalten würden.
England hatte in den preußisch-deutschen außenpolitischen
Beziehungen von jeher nicht diejenige Bedeutung gehabt, die dem
Verhältnis zu den nächsten kontinentalen Nachbarn zukam: das galt
auch von der Zeit des Krieges und den ersten Jahren der Nachkriegszeit. Die
Außenpolitik des liberalen Kabinetts
Gladstone-Granville, im allgemeinen ohne feste und ausgesprochene Linie, hatte
zumal gegenüber den Umwälzungen, die sich unter Bismarcks
Führung vollzogen, kein Programm
gehabt - es waren die Jahre, in denen der englische Einfluß in Europa
eher etwas ausgelöscht war. Bismarck hielt während des Krieges
dem englischen Kabinett einmal vor, "daß wir im Laufe der letzten zehn
Jahre oftmals vertraulich in London sondiert haben, was wir von England zu
erwarten hätten im Falle eines Krieges mit
Frankreich - und daß wir stets ausweichende, meist kühl
ablehnende, im besten Falle dahin lautende Antworten erhalten haben: daß
dies ganz von dem Stande der öffentlichen Meinung in England
abhängen würde".9 Diese
unbestimmte Haltung Englands setzte sich nach Kriegsausbruch fort. Wenn
anfangs die Sympathien für Deutschland überwogen, so begann sich
mit der Zeit in der öffentlichen Meinung, auf die alles ankam, ein
Umschwung zu vollziehen. Der Zusammentritt der Pontuskonferenz
änderte daran ebensowenig wie die gelegentlichen werbenden
Sondierungen Bismarcks.10 Vielmehr
unternahm das englische Kabinett verschiedene Anläufe, auf die
Friedensbedingungen von Versailles wenigstens auf Umwegen einzuwirken; es tat
damit der öffentlichen Meinung Englands nicht genug, reizte den
französischen Widerstand auf und erregte nur die deutschen
Stim- [140] mungen, die gerade das
Verhältnis zu England unsachlich und sentimental nahmen.
Die Ursache des Stimmungsumschwunges in England lag nicht in dem allgemein
menschlichen Anteil an dem französischen Schicksal, der nach außen
hin einen breiten Raum einnahm, noch in den geschäftlichen Interessen der
Kriegsindustrie, die den Weg des besten Verdienstes suchte, sie lag in dem tiefen
politischen Instinkt der Engländer begründet. Wenn die Niederlage
Napoleons auch für England eine gewisse Erleichterung innerhalb des
europäischen Gleichgewichtes bedeutete, so drohte seit Sedan der
Umschlag, wie man dumpf empfand, einen Umfang anzunehmen, der dem
englischen Interesse doch nicht mehr entsprach. Das allgemeine politische
Empfinden des Volkes sah in der Welt, die ihm geläufig war, eine
Störung eintreten durch etwas Neues, Unberechenbares, Bedrohliches, und
das Wort des englischen Diplomaten: "Europa hat eine Herrin verloren und einen
Herrn bekommen" schien vielen den Nagel auf den Kopf zu treffen. Eine neue
Suprematie drohte heraufzuziehen. Man wurde sich bewußt, daß mit
dem Sturze Napoleons III. jede westmächtliche Kombination
für lange Zeit ausgeschaltet worden sei, und war sehr unsicher, was an die
Stelle treten würde. Auch der Führer der Opposition kam,
unabhängig von allen Sympathien und Antipathien, zu dem Ergebnis:
"Dieser Krieg verkörpert die germanische Revolution, ein
größeres politisches Ereignis als die französische Revolution
des letzten Jahrhunderts. Das Gleichgewicht ist völlig zerstört und
das Land, das darunter am meisten leidet und das die Wirkungen des großen
Umschwunges am meisten fühlt, ist England."11
Wohl überwog in den Vordergründen des politischen Lebens die
freundliche Begrüßung des neuen Reiches, aber in der Tiefe regten
sich andere Stimmen. Wir erinnern uns des Bildes europäischer Politik, das
im Jahre 1864 Lord Salisbury (damals Lord Robert Cecil) entwarf. Von tiefen
französischen Sympathien kultureller Art erfüllt, erbitterte er sich
jetzt heftig über die Friedensbedingungen, die der Deutsche dem Besiegten
auferlege. Er hatte im Jahre 1864 kein Bedenken getragen, dem Kaiser
Napoleon III. das Lockmittel des linken Rheinufers hinzuhalten, und setzte
sich jetzt leidenschaftlich dafür ein, daß jede
Grenzveränderung zwischen Frankreich und Deutschland verboten werden
müsse. Denn von dem Rausche des deutschen Triumphes, meinte er, sei
mehr zu befürchten als von dem zerrissenen und revolutionierten
Frankreich, das friedliche Deutschland sei nur ein diplomatischer Gemeinplatz
und es gebe in der Geschichte nichts, eine solche Behauptung zu rechtfertigen. Je
mehr er einst die national-politischen Bemühungen eines so unpraktischen
Volkes wie der Deutschen von oben herab ironisiert hatte, desto gereizter
empfand er jetzt den Umschwung, und fast rachsüchtig blickte er in die
Zukunft: "Die Zeit wird kommen, wo ihre ehrgeizigen Träume den Pfad
irgendeiner Großmacht kreuzen, die stark genug [141] ist, sie sich nicht
gefallen zu lassen; dieser Tag wird für Frankreich der Tag der
Wiederherstellung und der Revanche sein." Es war im Moment nur ein Publizist
mit vornehmem Namen, der so schrieb, aber es sollten nur wenige Jahre bis zu
seinem Eintritt in das Auswärtige Amt vergehen.
Für die englische öffentliche Meinung machte es nicht wenig aus,
daß diese Machtverschiebung sich in der ihnen fremdartigen Gestalt
Bismarcks verkörperte - was würde der Gegner der Liberalen
und der Freund der Russen für England bedeuten? Bei Gladstone und
Granville überwog ein persönliches, auch der innerpolitischen
Parteifarbe nicht ermangelndes Mißtrauen gegen "den Mann von Blut und
Eisen". Weite Kreise waren geneigt, dem deutschen Kanzler nach seinem
beunruhigenden Erfolge schlechterdings alles zuzutrauen, und die insulare
Geschichtskenntnis fühlte sich sogar an die Figur Napoleons I.
erinnert, obgleich auch nicht ein entferntes Recht zu solcher Parallele zu erweisen,
geschweige denn vom englischen Standpunkt aus zu vertreten war. An dieser
Stelle trug leider auch die Haltung des kronprinzlichen Paares in Berlin,
namentlich der Kronprinzessin Victoria, der alten Gegnerin des konservativen
Ministers, immer wieder dazu bei, zumal bei der Königin Victoria und ihrer
Umgebung das schlummernde Mißtrauen von innen her zu
verstärken.
Diese englische Grundstimmung konnte durch die Dreikaiserzusammenkunft im
September 1872 nur vertieft werden. Ein kluger Beobachter stellte in den
nächsten Wochen fest: "Es herrscht zur Zeit in England viel
Übelwollen gegen Deutschland." Wenn das Dreikaiserverhältnis von
weitem an die alte Gruppierung der Ostmächte erinnerte, so bedeutete es,
angesichts der zeitweiligen Ausschaltung Frankreichs, so gut wie eine Isolierung
Englands, und es konnte immerhin eines Tages seine Spitze gegen England
nehmen, zumal wenn es
sich - wie es im Jahre 1873 den Anschein
hatte - noch weiter verdichtete oder gar auf die Orientpolitik ausdehnte. So
begreift man, wenn die englische Regierung es für erwünscht halten
mußte, daß Frankreich nicht für längere Zeiten
ausgeschaltet blieb, sondern eines Tages sein Gewicht wieder in die
europäische Wagschale zu werfen befähigt wurde. Das englische
Interesse verlangte nicht Niederhalten, sondern Erholung Frankreichs.
Mit der Räumung Frankreichs durch die deutschen Truppen am 15.
September 1873 war die Epoche eröffnet, in der überhaupt die
Konsolidierung der europäischen Staatengesellschaft in ein neues Stadium
trat. Die nächste innerfranzösische Wirkung bestand nicht in einer
Erleichterung von einer drückenden Last, deren Wegfall einer friedlicheren
Stimmung zugute kam, sondern in dem Abzuge einer Zwangsgewalt, nach dem
man keinerlei Rücksichten mehr zu nehmen hatte. Einsichtige Beobachter
stellten sofort fest, daß die feindselige Sprache der französischen
Blätter aller Parteien beinahe noch gehässiger und sogar von
öffentlichen Autoritäten aufgenommen werde. Unmittelbar bevor die
letzten Truppen die Grenze überschritten, wurde in den Kirchen der
Diözesen Nancy [142] und
Toul - denen auch die Kirchen Deutsch-Lothringens
angehörten - ein Hirtenbrief verlesen, der zu Gebeten für die
Wiedervereinigung von Metz und Straßburg mit Frankreich aufforderte. Die
wohlberechnete Herausforderung gab der deutschen Regierung den Anlaß,
von der französischen Regierung zu verlangen, daß sie "wenigstens
eine öffentlich erkennbare Mißbilligung" ausspreche; man wollte
damit nicht nur das deutsch-französische Verhältnis
grundsätzlich klären, sondern auch auf die innerfranzösischen
Entscheidungen, in denen während der letzten Monate des Jahres 1873 die
Möglichkeit einer klerikalen Monarchie immer naher zu rücken
schien, eine heilsame Einwirkung ausüben. Da die Regierung des Herzogs
von Broglie zunächst auszuweichen suchte, wurde das Verlangen deutlicher
wiederholt, bis sie schließlich zu denjenigen Schritten sich herbeiließ,
die, ohne sie allzusehr bei dem Nationalismus zu kompromittieren, als
Genugtuung angesehen werden konnten. In dieser Krisis wandte sich am 16.
Januar 1874 ein Artikel der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung gegen
die Bischöfe, die "ein Zerwürfnis zwischen Frankreich und uns, das
wir nicht wünschen, herbeiführen". Die große Sorge Bismarcks
in diesen Monaten, wo der innerdeutsche Kulturkampf auf dem Hintergrunde
einer internationalen Krise auf den Höhepunkt stieg, war die Verquickung
von Revanche und Religion, die Befestigung der Regierungsgewalt Frankreichs
nach der klerikalen Seite hin und die Möglichkeit einer
katholisch-monarchischen Bündnisbildung in Europa: eine Verbindung der
inneren und äußeren Gegensätze im Zeichen der Ecclesia
militans mußte um jeden Preis gesprengt werden. Ein streng
vertraulicher Erlaß vom 23. Januar 1874 erörterte, man sei
entschlossen, den Krieg zu vermeiden, solange sich nicht die Überzeugung
aufdränge, daß er unvermeidlich sei: "Wenn die französische
Politik sich den uns feindlichen Bestrebungen der römischen Kurie
dienstbar macht, so werden wir uns für bedroht erachten und auf die
Abwehr Bedacht nehmen müssen. Auf andern Gebieten liegt für uns
kein Grund vor, eine Störung des Friedens zu besorgen, und wir haben
weder Absicht noch Bedürfnis, in die ruhige Entwicklung unsrer
künftigen Beziehungen zu dem mächtigen Nachbarstaate gewaltsam
einzugreifen. Es ist unser lebhaftester Wunsch, mit demselben in Frieden zu
leben, und wir werden kein Mittel unversucht lassen, um die französische
Regierung für die gleiche Anschauung zu gewinnen."12 Daß der Sinn des Erlasses, der
ausdrücklich den Botschaftern untersagte, einen Anlaß zu
Äußerungen ihrerseits daraus zu entnehmen, nicht etwa auf eine
verdeckte Theorie des Präventivkrieges hinauslief, steht nach seinem
Gedankengang außer Frage.
Es ist nicht unwahrscheinlich, daß die französische Regierung, in
dem Gedränge zwischen ihren eigenen Nationalisten und dem deutschen
Drucke, in diesen Tagen bewegliche Klage nach London erschallen
ließ - und hier war man sogleich bereit, den Schlüssel der
Situation in der einfachen Formel zu finden: Frankreich [143] durch Deutschland
bedroht. Man glaubte es, weil man es glauben wollte und die Wiederauferstehung
der französischen Macht in Europa wünschte. Lord Granville meinte
damals wirklich in Bismarck eine größere Gefahr für den
Frieden Europas zu erblicken, als in den Leidenschaften der französischen
Klerikalen: wenn Deutschland einen Angriffskrieg beginne, so zweifle er, ob
irgend jemand für die Stimmung in England aufkommen könne.13 Bald nachdem die Norddeutsche
Allgemeine Zeitung ihren kalten Wasserstrahl nach Paris gesandt hatte,
begann er zu handeln, in einem Momente, wo die Spannung zwischen Berlin und
Paris infolge des schärferen Vorgehens der französischen Regierung
gegen die klerikalen Elemente schon wieder nachzulassen begann. Er
veranlaßte die stets zu Friedensdiensten bereite Königin Victoria, am
10. Februar 1874 ein Schreiben an Kaiser Wilhelm zu richten, das in
freundschaftlicher, aber eindringlicher Weise zur Großmut und zum Frieden
mahnte; die herausfordernde Sprache der Franzosen wurde zugegeben, aber aus
dem Nationalcharakter zu erklären versucht; die Sympathien für
Deutschland wurden warm betont, namentlich auch die protestantischen
Sympathien, auf die man rechnen könne, wenn nur nicht Deutschland die
Absicht hege, einen geschlagenen Feind zu vernichten.14 Es war ein Familienbrief, gegen
dessen Form nichts einzuwenden war, dessen Inhalt aber doch, wie Bismarck
sofort herausfühlte, auf eine leise politische Warnung hinauslief. Der
Kaiser beteuerte in einem langen Staatsschreiben vom 16. Februar 1874 seine
absolute Friedensliebe.15 In dem Entwurfe, in dem Bismarck
die Feder geführt hatte, hieß es in dessen Worten: "Ich muß
gerüstet bleiben. Um so mehr, als die Erfahrung mich gelehrt hat, daß
ich auch dem ungerechtesten Überfall gegenüber allein stehe in
Europa. Mir aber wird niemand im Ernste einen Eroberungskrieg zutrauen. Wenn
mir meine Neigung und mein christliches Bewußtsein der Verantwortung
vor Gott solche ruchlose Kriege nach französischer Manier, wie Frankreich
seit 300 Jahren gegen uns so viele geführt hat, nicht an sich untersagten, so
frage ich jeden vernünftigen Menschen, was sollte ich denn erobern wollen,
wo liegt denn irgendeine Versuchung, die mich auf solche Abwege bringen
könnte? Ich will nichts als Deutschlands Frieden, Sicherheit und innere
Befestigung."16
In denselben Tagen führte ein Erlaß des Reichskanzlers an den
Botschafter in Petersburg aus: "Daß andere Regierungen auf die
Entwicklung der Dinge in Frankreich mit anderen Augen sehen, ist nicht zu
verwundern; sie sind nicht die Nachbarn der Franzosen, während
Deutschland gleichsam das Stoßpolster [144] Europas gegen die
Invasionen einer kriegerischen Völkerschaft bildet. Niemand kann sich
darüber täuschen, daß, wenn Frankreich wieder stark genug ist,
den Frieden zu brechen, der Friede zu Ende sein wird; und es ist möglich,
daß andere Regierungen, die nicht Nachbarn von Frankreich sind, auf die
Eventualität, ob Deutschland von Frankreich zum zwanzigsten Mal in zwei
Jahrhunderten wiederum angegriffen wird, mit mehr Ruhe als wir, vielleicht auch
nicht ohne ein gewisses Behagen, blicken. Der Fürst Gortschakow treibt
russische Machtpolitik: wir verfolgen keine
Macht-, sondern Sicherheitspolitik." Es ließ sich aber nicht verkennen,
daß man in Petersburg wie in London aus einem gleichen
großmächtlichen Interesse heraus auch eine deutsche
Sicherheitspolitik, die irgendwie als eine Beeinträchtigung des
französischen Machtwillens ausgelegt werden konnte, nicht
gutzuheißen geneigt war.
Während des Meinungsaustausches der Monarchen hatte sich in England
ein politischer Umschwung vollzogen: der Übergang der Regierung an die
konservative Partei. Ihr Führer Mr. Disraeli, der schon im Jahre 1872
die Umrisse seines imperialistischen Programms entwickelt hatte, war von Anfang
an entschlossen, eine aktivere und energischere Außenpolitik als sein
Vorgänger zu betreiben. Man mußte in Berlin damit rechnen,
daß die Außenpolitik Englands, statt von den etwas
schwächlichen Händen Granvilles, fortan von einem stärkeren,
vielleicht auch unvorsichtigeren Willen geleitet werden würde.
Das Jahr 1874 brachte in die großmächtlichen Beziehungen nicht
zunehmende Durchsichtigkeit, sondern nur neue Spannungen, die ihren Ursprung
mehr in der Peripherie als in dem Zentrum Europas hatten. Indem das Deutsche
Reich aus Anlaß eines Konfliktes mit den spanischen Karlisten die
Führung in der Anerkennung der spanischen
Republik - zugleich ein Schritt in der antiklerikalen Außenpolitik
Bismarcks - übernahm, konnte es nicht vermeiden, daß
dadurch ein Mißton in das Verhältnis zu Rußland gebracht
wurde. Wenn in diesem Falle der Anlaß eher vorübergehender Natur
war, so wurden im Orient schon Anzeichen sichtbar, daß von hier aus die
Gruppierung der Mächte nachhaltiger in Fluß kommen würde.
Um so mehr ging Bismarck darauf aus, einen orientalischen Krieg
möglichst hinzuhalten oder doch zu verhindern, daß aus
orientalischen Verwicklungen eine europäische Friedensstörung
entstehen möchte, durch die auch die französischen Hoffnungen neu
belebt werden könnten. Mit einer gewissen Unruhe verfolgte er die
Bemühungen Frankreichs, sich der wenn auch noch so entfernten
Möglichkeit eines russischen Bündnisses auf dem Boden einer
gemeinsamen Aktion im Orient Schritt für Schritt zu nähern: schon
im Jahre 1874 sahen die Visionen Gambettas die Serben dereinst die Rolle der
Piemontesen des Ostens spielen und träumten davon, wie es, wenn dieses
Südslawenreich geschaffen sei, mit den Preußen, den Mazedoniern
des Nordens, als Diktatoren Europas zu Ende sein würde.17 [145] Bismarck wollte eine
Orientkrise möglichst vermeiden, weil sie auf alle Fälle dem
Bestande des Dreikaiserverhältnisses, des einzigen bisherigen Ansatzes zu
einer Mächtegruppierung, gefährlich werden und einen
russisch-österreichischen Interessengegensatz enthüllen konnte; in
demselben Gedankengange suchte er den
russisch-englischen Gegensatz auf diesem Schauplatz zu mildern, weil er auch
von seinem Ansteigen eine wachsende Bedrohung des Friedens, vor allem
für Deutschland den Zwang zur Option befürchtete. Wenn der
Reichskanzler sich bewußt war, daß die guten Beziehungen
Deutschlands zu England im Interesse seiner europäischen Stellung unter
der Intimität zu den beiden Kaisermächten nicht leiden
dürften,18 so war auf der anderen Seite
Gortschakow darauf bedacht, Bismarck einer englischen Rückendeckung
zu berauben und zugleich die französische
Bündnismöglichkeit nicht aus dem Auge zu verlieren. So waren die
großmächtlichen Beziehungen aller zu allen noch im vollen Flusse.
Jeder bemühte sich, in die Hinterhand des Spieles zu kommen,
möglichst freie Bewegung für sich und feste Bindung der anderen zu
erzielen, um so die Führung zu übernehmen und dem Rivalen das
Gesetz des Handelns zu diktieren. In diesen Zusammenhang gehört auch
die Mission Radowitz' nach Petersburg im Februar 1875. Sie bezweckte nicht nur,
die deutsch-russischen Mißverständnisse zu beseitigen und das
möglicherweise gestörte Vertrauen des Zaren zu befestigen, sondern
war auch dazu bestimmt, in der politischen Behandlung der Geschäfte die
Parität wieder herzustellen, die Gortschakows Methode zugunsten einer
russischen Führung zu verschieben bestrebt
war - sie war eine Episode in dem diplomatischen Ringen um die
Mächtegruppierung der Zukunft. Nicht aber lief die Mission, wie
später behauptet worden ist, auf eine geheime Erkundung hinaus, ob
Rußland gegen eine ihm gewährte freie Hand im Osten seinerseits
freie Hand gegen Frankreich zu gewähren bereit sei. Als ein Vorspiel zu der
zeitlich bald anschließenden
deutsch-französischen Krisis von 1875 ist sie weder nach dem
Aktenbestande noch nach der Lage der Dinge zu bezeichnen.19
Diese Krisis setzte erst etwas später ein, sie nahm ihren Ausgang von den
neuen Rüstungen Frankreichs. Der Auftakt war die deutsche
Maßregel eines Pferdeausfuhrverbotes vom 4. März, mit der man die
umfangreichen französischen Pferdeankäufe beantwortete. Den
eigentlichen Anlaß gab das französische Cadresgesetz vom 13.
März 1875, das in das militärische Stärkeverhältnis der
Länder einen neuen Ton zu bringen schien. Das deutsche
Reichsmilitärgesetz vom 2. Mai 1874, das am 1. Januar 1875 in Kraft
getreten war, hatte die im Jahre 1867 auf 1% der Bevölkerungszahl
festgesetzte Friedenspräsenzstärke von 401 659 Köpfen
beibehalten, ohne den inzwischen eingetretenen Bevölkerungszuwachs von
rund 2 Millionen Einwohnern zu berücksichti- [146] gen.20 Auch aus der Geltung dieser
Regelung für sieben Jahre war zu entnehmen, daß man sich nicht auf
Wettrüsten, sondern auf einen dauernden Stand einzurichten
wünschte. Das neue französische Cadresgesetz veränderte das
Kräfteverhältnis insofern, als es die Möglichkeit schuf, ohne
die Friedenspräsenz zu erhöhen, durch Aufstellung eines Kriegsetats
von 200 bis 300 Mann für die Kompagnie 100 000 bis
150 000 Mann mehr in die aktive Feldarmee zu stellen. Die Absicht, den
deutschen Rivalen zu überflügeln, war erkennbar und
symptomatisch. Es steht jedoch außer Frage, daß die praktische
Tragweite dieser Verstärkung auf deutscher Seite überschätzt
wurde, weniger von dem deutschen Militärattaché in Paris als von
dem Generalstab in Berlin. Jenes Geschlecht war noch nicht an das Schauspiel des
ungemessenen Wettrüstens der Mächte als eines Dauerzustandes der
Menschheit gewöhnt, sondern glaubte die Maßnahmen der anderen
Seite als einem unmittelbaren kriegerischen Zwecke dienend auslegen zu sollen.
Die Militärs in Berlin meinten sich schon dem letzten vorbereitenden
Schritt gegenüber zu sehen; das Militärwochenblatt vom 27.
März sprach bereits ernste Warnungen aus; auch der Kronprinz stand stark
unter dem Eindruck, daß eine wirkliche Gefahr für Deutschland
vorliege. So begann der Generalstab unter Führung Moltkes sich
pflichtmäßig mit dem Gedanken zu beschäftigen, ob es
gegenüber einem wahrscheinlich zu erwartenden Angriff nicht richtiger sei,
selber die Stunde des Losschlagens zu wählen und der drohenden Revanche
gegenüber das Prävenire zu spielen.
Die militärischen Besorgnisse, nicht die militärische Idee eines
Präventivkrieges wurden im Auswärtigen Amte geteilt. Inmitten der
völlig ungeklärten auswärtigen Lage, die sich trotz des
Dreikaiserverhältnisses in Europa entwickelt hatte, schien das starke
Wiederanwachsen der französischen Macht, auch wenn es noch keine
unmittelbare Kriegsgefahr in sich schloß, die deutsche Position automatisch
zu verschlechtern. Sollte "der neue Kriegszustand", den Jakob Burckhardt schon
im Dezember 1871 schmerzvoll vorausgesehen hatte, sich immer weiter
verschärfen, ja verewigen? So war auch Bismarck überzeugt,
daß die von der französischen Regierung getroffenen Vorbereitungen,
um ihre Armee in schlagfertigen Zustand zu versetzen, weit über die
Bedürfnisse einer friedlichen Politik und über die materiellen
Kräfte des Landes hinausgingen. Gegen Anfang April wurden die
deutschen Vertreter in Paris, London und Wien nach Berlin berufen, um
angesichts der schwierig gewordenen Lage Instruktionen zu empfangen.
Inzwischen begannen sich Sorge und Kriegsgerede zu verbreiten und auch in der
Presse durchzusickern: je undurchsichtiger gerade in diesen Tagen sich die
internationale Konstellation der Mächte (Zusammentreffen des Kaisers
Franz Joseph und des Königs von Italien in Venedig) zu gestalten schien,
[147] um so mehr schien eine
Warnung nach innen und außen angezeigt. Auf einen Warnungsartikel in
der Kölnischen Zeitung vom 5. April folgte am 8. April ein
viel ernster gehaltener Artikel in der Post mit der beunruhigenden
Überschrift "Ist der Krieg in Sicht?", der die herankriechende dunkle Welle
der Gefahr der Allgemeinheit zum Bewußtsein brachte und die Frage
aufwarf, ob es nicht richtiger sei, dem Gegner zuvorzukommen. Der Artikel war
nicht von Bismarck veranlaßt, kam ihm überraschend, wurde aber
gleichwohl als ein helles Schlaglicht auf die bedrohliche Lage für
nützlich gehalten; demgemäß war auch ein offiziöser
Artikel in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung vom 10. April, der
formell von den Schlußfolgerungen der Post abrückte, nicht
geeignet, die Ruhe wiederherzustellen. Die Beunruhigung stieg vielmehr immer
höher. Als General v. Werder am 14. April von Petersburg in Berlin
eintraf, fand er die Gemüter in höchster Aufregung: "man glaubte
jeden Augenblick die Mobilmachungsordre erscheinen zu sehen."21 In Wirklichkeit war gerade an diesem
Tage der Höhepunkt der Krisis schon überschritten. Ein Bericht des
deutschen Militärattachés in Paris vom 11. April, in dem auch die
milde Hand des Botschafters Fürst Hohenlohe nicht zu verkennen war,
hatte über die technischen Wirkungen des Cadresgesetzes weitgehend
beruhigt; seine allgemein friedlichen Perspektiven wurden sogar in Berlin als
unerwünschte Kompetenzüberschreitung empfunden. Aber auch die
bewußte Zurückhaltung der Pariser Presse war im Augenblick
geeignet, in demselben Sinne zu wirken. So brachte denn auch die offiziöse
Provinzialkorrespondenz vom 14. April einen beruhigenden Artikel, der die
Umstellung ankündigte. Der Umschwung wurde vollends dadurch sichtbar,
daß unmittelbar hernach, am 15. April, Kaiser Wilhelm sich veranlaßt
sah, den französischen Militärattaché auf dem Hofball
huldvoll anzusprechen: man habe Deutschland und Frankreich brouillieren
wollen, jetzt aber sei alles vorbei. Der Kaiser, an den irgendwelche Anträge
der Militärs ebensowenig herangelangt waren wie beunruhigende
Vorträge Bismarcks, lebte in der Überzeugung, daß es sich
überhaupt nur um Zusammenstöße in den Gefilden der Presse
handle, und er sprach mit dem ganzen Gewicht des Obersten Kriegsherrn, an den
dieser Lärm nicht heranreiche, in dem ruhigen Bewußtsein, mit
seinem kaiserlichen Worte alles zu erledigen und die Krisis zum Abschluß
zu bringen.
Die heftige Erregung ließ sich freilich nicht mit einem Schlage abstellen,
sondern zog noch einige weitere Kreise. Bismarck hatte sich, wie er damals und
später eingeräumt hat, von einer gewissen Beunruhigung eine
erzieherische Wirkung auf französische Revanchestimmungen versprochen
und er sah keine Veranlassung, auf dieses Argument zu verzichten. Ob er aber mit
zwei Vorgängen einverstanden war, die nach dem Ablauf der Krisis sie zu
erneuern drohten, ist eher zu bezweifeln. Es handelte sich zunächst um ein
Privatgespräch, in dem [148] Herr
v. Radowitz, akademisch und außeramtlich, am 21. April zu
Diplomaten sich über die Berechtigung der Idee eines
Präventivkrieges erging; wieweit ihm dabei Unvorsichtigkeiten unterliefen,
wieweit seine Worte nur so ausgelegt wurden, steht dahin. Jedenfalls waren sie
für den französischen Ministerpräsidenten Herzog von
Decazes ein erwünschter Anlaß, eine Gegenaktion einzuleiten; er
hatte schon im März der englischen Regierung nahegelegt, ihren
Einfluß in Berlin im Sinne des Friedens geltend zu machen; jetzt sah er eine
günstige Gelegenheit, als der Friedliche und Bedrohte an die Mächte
heranzutreten, ihre Intervention zu erbitten und damit die Diskussion auf den von
so viel Spannungen und ungeklärten Rivalitäten durchzogenen
Schauplatz der großen Mächte hinüberzuspielen. Daß
der schlaue Gascogner dabei weniger von ernster Sorge als von kühler
Berechnung geleitet wurde, steht auch nach französischem Urteil wohl
außer Frage. Jedenfalls nahm der Zar, obgleich er die Krisis in Berlin als
beendet ansah, den französischen "Vertrauensbeweis" freundlich auf; er
stand, auf einer Reise nach Ems, nahe vor einem Besuche in Berlin, und war
augenscheinlich auf Drängen Gortschakows zur Hilfe in der Not bereit.
Denn Frankreich schien ja einer Hilfe zu bedürfen. Einige Tage
später, am 1. Mai, äußerte sich auch Moltke selbst in einem
Gespräch mit dem belgischen Gesandten dahin, daß Deutschland im
nächsten Jahre den Krieg nicht werde vermeiden können, wenn
Frankreich seine Rüstungen nicht auf einen vernünftigen
Friedenszustand zurückführe. Ein solches Wort aus dem gewichtigen
Munde des Marschalls schien immerhin bedrohlich. Daß Moltke für
seine Person an der Notwendigkeit des Präventivkrieges festhielt, war sein
Recht; daß er seine Überzeugung trotz der ihm bekannten Ansicht des
Obersten Kriegsherrn in dieser Form aussprach, überschritt seine amtliche
Kompetenz und in diesem Augenblick auch die von Bismarck innegehaltene
Linie. Denn seine Äußerung konnte allerdings der nunmehr
beginnenden amtlichen deutsch-französischen Aussprache einen anderen
Sinn geben.
Der Herzog von Decazes hatte in der letzten Aprilwoche selbst in Berlin angeregt,
ob Frankreich und Deutschland nicht irgendwie zusammen operieren und dadurch
ihre Gegensätze überwinden könnten. Die deutsche Regierung
griff den Gedanken auf, ohne sich allzuviel davon zu versprechen, und verband
ihn auch mit der Frage der Rüstungen. Am 5. Mai erschien Fürst
Hohenlohe bei dem Herzog von Decazes mit diesem doppelten Auftrage. Er hatte
bei aller friedlichen Tendenz doch dem Herzog klarzumachen, daß
Deutschland in den französischen Rüstungsbeschlüssen zwar
nicht die Gefahr nahe bevorstehender kriegerischer Verwicklung, wohl aber eine
bleibende Belastung der beiderseitigen Beziehungen sehe. Der Franzose
erklärte sich seinerseits bereit, zu erwägen, wie und wo ein Terrain
zu finden sei, auf dem durch gemeinsame Aktion Deutschlands und Frankreichs
für ersteres Beruhigung und für letzteres die gewünschte
Stellung unter den europäischen Mächten gewonnen werden
könnte. Daß [149] in dem Gespräch
von deutscher Seite eine offene oder versteckte Forderung einer
Rüstungsbeschränkung oder Entwaffnung gestellt worden sei, wird
durch alle ernsthaften Quellen widerlegt.22 So wenig
von einer ausgesprochenen deutschen Verständigungsaktion23 die Rede sein kann, so wenig darf ein
eindeutiger Einschüchterungsvorstoß herausgelesen
werden - die diplomatische Methode Bismarcks barg oftmals mehr als eine
Möglichkeit in den Falten ihrer Toga. Jedenfalls konnte er sich einige Tage
später, in einem Erlaß an Münster vom 12. Mai, mit Recht
darauf berufen, daß zwischen der französischen und deutschen
Regierung "auch nicht die leiseste Tonart einer Verstimmung erkennbar sei".
Um so mehr kam es für die Taktik von Decazes darauf an, sich zu stellen,
als wenn in der Rüstungsfrage tatsächlich ein Druck ausgeübt
worden sei, um auf dieser Grundlage in der bereits eingeleiteten Aktion bei den
Großmächten wirksam nachzustoßen. Wenn in Petersburg und
London sich die Überzeugung befestigte, daß Bismarck wirklich eine
Herabsetzung der französischen Rüstungen habe erzwingen wollen,
dann war zu hoffen, daß England und Rußland, die sich in den letzten
Wochen einander schon genähert hatten, nicht nur eingreifen, sondern
vielleicht sogar vereint eingreifen würden.
In London schlug diese Rechnung mit überraschendem Erfolge durch. Der
Außenminister Lord Derby, der sich bisher zurückgehalten hatte,
fühlte sich schon durch den Bericht über Moltkes
Präventivkriegstheorie lebhaft beunruhigt und ließ sich jetzt leicht
überzeugen, daß der Schritt Hohenlohes die erste Etappe auf dem
Wege zur direkten Forderung der Rüstungsbeschränkung gewesen
sei; den wahren Sinn dieses Schrittes meinte er sich aus den nichtamtlichen
Äußerungen von Moltke und Radowitz interpretieren zu
dürfen. Als daher die französische Regierung nunmehr in starkem
Tone die Sympathien Englands für sich anrief, erklärte er sich sofort
bereit, sie tatkräftig zu bezeugen; der konservative Minister nahm damit in
vergrößertem Ausmaße die Politik wieder auf, die sein liberaler
Vorgänger, vereint mit der Königin Victoria, im Februar 1874
eingeleitet hatte. Zunächst ließ Lord Derby es zu, daß am 6.
Mai ein Artikel in der Times Aufnahme fand, der gegen die deutsche
Kriegspartei die Anklage erhob, einen Präventivkrieg gegen Frankreich zu
planen und den Frieden Europas zu stören, und damit einen Appell an
Rußland als die dazu berufene Macht verband, solcher
Friedensstörung ein Ende zu bereiten. Der Artikel war von dem Pariser
Korrespondenten der Times verfaßt, ging aber in Wahrheit auf den
Herzog von Decazes zurück; der italienische Gesandte in Berlin spottete
gleich darauf, jedermann in Paris wisse, wer den
Times-Artikel geschrieben, aber darum könne man dort nicht auf
die Straße gehen, ohne daß ein begegnender Franzose einem zuriefe:
"Ce n'est pas M. Decazes qui ait fait [150] l'article." Seine
Aufnahme in die Times aber war eine Ankündigung für die
Öffentlichkeit, in welchem Lager England zu finden sein würde, und
der Auftakt zu der in den nächsten Tagen von England und Rußland
ausgehenden diplomatischen Aktion.
Die öffentliche Meinung Englands ließ sich leicht überzeugen,
daß Deutschland der große Störenfried und Schuldige sei und
daß die Kriegspartei in Berlin den Präventivkrieg vom Zaune brechen
würde, wenn ihr nicht Einhalt geboten werde. Selbst ein Mann wie
Sir Robert Morier, der sich am kronprinzlichen Hofe leicht hätte
unterrichten können, daß Bismarck gar nicht an Krieg denke, sah jetzt
als erwiesen an, daß der systematische und doktrinäre Chauvinismus,
den Deutschland großgezogen habe, schlimmer als der unmethodische,
undisziplinierte Chauvinismus sei, durch den Frankreich so oft den Frieden
gestört habe, - eine Nation dürfe es sich nicht leisten, so
zynischen Ansichten wie der Präventivtheorie zu huldigen. Vielerlei
englische Instinkte vereinigten sich: das alte Mißbehagen seit 1871 und das
neue Bedürfnis nach politischer Aktivität, der Glaube an die
Notwendigkeit des französischen Gegengewichts und die ehrliche Sorge
um den Frieden, Angst vor einer deutschen Hegemonie und vor dem großen
Mann, dem man nach seinen Erfolgen von 1866 bis 1871 schlechterdings alles
zutraute: wenn ihm bald die Zertrümmerung Österreichs oder die
Aufsaugung der kleinen Staaten, bald die Eroberung Hollands oder die Annexion
Belgiens als Ziel eines ruchlosen Ehrgeizes zugeschrieben wurde,24 so konnte der Plan eines
Überfalles auf Frankreich vollends der inneren Wahrscheinlichkeit doch
nicht entbehren. So unternahm es Königin Victoria, in einem
persönlichen Brief an den Zaren Alexander dessen Friedenseinwirkung in
Berlin anzurufen, und das englische Kabinett entschloß sich, in einer
Zirkulardepesche vom 8. Mai, die nach Petersburg, Wien und Rom ging, die
Mächte zu einem kollektiven Friedensschritt
aufzufordern - an demselben Tage, an dem der Zar mit dem Fürsten
Gortschakow aufbrach, um auf der Durchreise durch Berlin sein gewichtiges Wort
in die Wagschale zu werfen.
Die russische und die englische Politik, noch kurz zuvor im Reibungszustande
untereinander, hatten unerwartet nähere Fühlung miteinander
genommen und spielten sich in die
Hände - ein überraschendes Momentbild! Während des
Krieges von 1870/71 war es Bismarck bis zuletzt gelungen, an den untereinander
uneinigen Neutralen vorbei den Friedensschluß autonom zu vollziehen, aber
schon in den Nachkriegsjahren hatte der großmächtliche Wille dieser
Neutralen sich immer wieder leise bemerklich
gemacht - war es jetzt soweit, daß Europa [151] geeint ihm entgegentrat
und seinen Schild vor Frankreich stellte? Dazu sollte es allerdings nicht kommen.
Die englische Kollektivaktion stieß in Wien und Rom auf unbedingte
Ablehnung und war damit erledigt. So versagten nunmehr gerade diejenigen
beiden Mächte, die in den Jahren 1868 bis 1870 sich mit
Napoleon III. zu einer Bündnispolitik gegen die Mitte vereinigt
hatten und nur durch die raschen deutschen Siege am Eingreifen verhindert
worden waren, jede Mitwirkung an der
Friedenseinkreisung - bei ihnen überwog schon die Tendenz, ihre
bündnismäßige Fühlung nach eben dieser Mitte hin zu
suchen. Die beiden großen Flügelmächte Europas dagegen, die
während der deutschen Reichsgründung in einer gewissen
Entfernung wohlwollend oder neutral beiseitegestanden hatten, reichten sich die
Hände, um die Mitte nicht allzu stark werden zu lassen. Bismarck
mußte die Erfahrung machen, daß diese beiden
großmächtlichen Gegenpole, die weltpolitisch am weitesten
voneinander entfernt standen, in einer gemeinsamen Aktion unzweideutig die
Grenze dessen bezeichneten, was sie für eine deutsche Sicherungspolitik
gegen Frankreich für zulässig hielten. Schon meinte der englische
Premierminister, man sollte ein kollektives Vorgehen einleiten, um den Frieden
Europas zu sichern, wie Lord Palmerston es tat, als er im Jahre 1840 Frankreich in
den Weg trat und den Ägypter aus Syrien vertrieb.25
Diese plötzlich hereinbrechende Situation hätte bedrohlich
erscheinen können, wenn nicht Bismarcks diplomatisches Geschick
dafür gesorgt hätte, daß beide Aktionen wie ein Stoß ins
Leere verpufften. Er lehnte das obendrein alleingebliebene Angebot der
englischen guten Dienste höflich ab, da in den
deutsch-französischen Beziehungen nicht der geringste Anlaß, sie
anzurufen, gegeben sei, und führte auch den Russen den gar nicht
schwierigen Nachweis, daß es nichts zu pazifizieren gebe.
So nahm der Besuch des Zaren in Berlin einen ganz anderen Verlauf, als man in
Petersburg sich ihn ausgemalt hatte. Kaiser Wilhelm hat den Hergang seiner
Besprechung mit dem Zaren mit hoher Befriedigung, die die Reinheit seines
Gewissens widerspiegelt, selber aufgezeichnet: "Die Unterredung mit dem Kaiser
hat eine Übereinstimmung unserer Ansichten festgestellt, wie ich solche
nur je hätte wünschen können. Er wird von neuem, wie er es
schon in den letzten vier Wochen, ohne mich von neuem gehört oder
gesehen zu haben, unsere Friedensliebe nach allen Seiten hin proklamieren und so
hoffentlich dem ewigen Zeitungsgeschwätz ein Ende machen."
Dementsprechend hat auch der Zar später immer wieder versichert,
daß er wider Willen und ohne sein Wissen als Engel des Friedens
proklamiert worden sei und in Berlin kein Wort von Kriegsgeschrei und
Rüstungen gehört habe. Als aber Fürst Gortschakow bei
seinem ersten Besuche bei Bismarck in scherzhaftem Tone von der angeblichen
deutschen Kriegspolitik zu sprechen anfing, wurde er mit so schneidender Ironie
abgefertigt, [152] daß er mit keiner
Silbe auf die Sache zurückkam.26 Er
ließ sich aber nicht abhalten, seinem Erfolgsbedürfnis dadurch genug
zu tun, daß er bei seiner Abreise durch eine Zirkulardepesche vom 13. Mai:
"jetzt ist der Friede gesichert" den Glauben in Europa zu erwecken suchte, als
wenn erst dem russischen Eingreifen diese Sicherung zu danken sei. Er erregte
dadurch den schweren Zorn Bismarcks. Denn dieses von Berlin aufgegebene
Telegramm war mehr als eine schwere Belastung eines
Freundschaftsverhältnisses zweier Großmächte, es war eine
den wahren Hergang verfälschende hinterlistige Handlung, die in vollem
Umfange die erbarmungslose Kritik verdient, die Bismarck bis zuletzt über
das eitle Prestigebedürfnis seines alternden Kollegen zu äußern
nicht müde wurde.
Aber wie stand es in Wirklichkeit um die deutsche Politik, die der Russe zum
Frieden zurückgerufen haben wollte? Hat sie, als Ganzes beurteilt, in ihrem
Ablauf von Ende März bis Anfang Mai einen hinreichenden Anlaß
gegeben zu den Hilferufen der Franzosen und der Rettungsaktion zweier
Großmächte? Es bedarf keiner weiteren Erörterung, daß
zwar der Generalstab den Präventivkrieg unbedingt vertreten hatte,
daß aber der Kaiser ihn ebenso unbedingt verwarf, wie seine
militärischen Berater ihn forderten. Wie der Kaiser während der
ganzen Krisis dachte, geht aus einer Randbemerkung vom 16. Mai zu einem
publizistischen Artikel hervor, der die Möglichkeit des
Präventivkrieges streifte: "Dies ist eine Ansicht, die im gemeinen Leben
etwas für sich hat, nicht da, wo Staaten sich bekämpfen wollen. Um
glückliche Kriege zu führen, muß dem Angreifenden die
Sympathie aller edelgesinnten Menschen und Länder zur Seite stehen, und
dem, der ungerecht den Krieg zuträgt, die öffentliche Stimme den
Stein werfen. Dies war das Geheimnis des Enthusiasmus in Deutschland 1870!
Wer ungerechtfertigt zu den Waffen greift, wird die öffentliche Stimme
gegen sich haben, er wird keine Allierten finden, keine neutres
bienveillants, ja überhaupt wohl keine Neutralen, wohl aber Gegner
finden. Dieses Raisonnement habe ich dem Kaiser Alexander vorgehalten, und er
erfaßte meine beiden Hände und sprach seine volle
Übereinstimmung aus." Wer in dem Geiste des deutschen Militarismus eine
wirkliche Gefahr für den Frieden sieht, muß im selben Atemzuge
anerkennen, daß der oberste Kriegsherr, der an der Spitze dieses Systems
stand, durch sein Verantwortungsgefühl eine unübersteigliche
Schranke gegen jeden Mißbrauch darstellte und das System vor jeder
Überspannung bewahrte.
Welche Rolle aber hat Bismarck selbst in dieser Krisis gespielt? Darauf kommt es
zur Beurteilung der deutschen Politik von 1875 recht eigentlich an. Die
unbedingte Friedensliebe des Monarchen zugegeben, war dieser nicht von seinem
dämonischen Minister in den Jahren 1866 und 1870 trotz seines ernsten
[153] Friedenswillens mit
solcher Kunst vor vollendete Tatsachen gestellt worden, daß er doch mit
Gottvertrauen in den Krieg zog? Entscheidend bleibt daher, was im
Frühjahr 1875 in der Seele des Mannes vorging, von dem man annahm,
daß er alle Fäden zog und seinen Plan hatte.
Nach dem weitaus überwiegenden Urteil hat Bismarck in dieser Krisis den
Krieg nicht gewollt. In Wien und Rom waren die leitenden Männer
überzeugt, daß er an den Krieg nicht denke; Andrássy hat
immer von neuem bei seinem Kaiser seinen Kopf dafür verpfändet,
daß Bismarck keine Kriegsabsichten hege, und die Italiener gestanden offen,
der ganze Lärm sei nur ein Angstgeschrei aus Paris gewesen. Selbst sein
Gegenspieler Decazes hat am 8. Mai geurteilt: "Bismarck will uns mehr glauben
machen, daß er den Krieg wolle, als daß er ihn in Wirklichkeit will."
Jeder, der in diesen Wochen Bismarck politisch näher kam, wußte
nur zu melden, daß ihm jede Kriegsabsicht fernliege, und selbst die
Kronprinzessin, die ihm das Schlimmste zuzutrauen liebte, war im Frühjahr
1875 weit davon entfernt, ihn kriegerischer Pläne zu bezichtigen. So hat
denn auch ein sachkundiger französischer Diplomat und Historiker wie
Gabriel Hanotaux die These von Bismarcks Kriegswillen verworfen, und erst
während des Weltkrieges sollte auch an dieser Stelle das Bedürfnis
der Welt nach dunkleren Farbentönen seine Befriedigung suchen.27
Insbesondere hat Bismarck in allen seinen Äußerungen
während seiner Staatsleitung und später in seinem
Vermächtnis die generalstäbliche Theorie des Präventivkrieges
grundsätzlich verworfen. Einige Monate nach Ablauf der Krisis entwickelte
er seinem Monarchen seine Stellungnahme: "Ich würde noch heute, wie
1867 in der Luxemburger Frage, Ew. Majestät niemals zureden,
einen Krieg um deswillen sofort zu führen, weil wahrscheinlich ist,
daß der Gegner ihn bald beginnen würde; man kann die Wege der
göttlichen Vorsehung dazu niemals sicher genug im Voraus erkennen. Aber
es ist gewiß auch nicht nützlich, dem Gegner die Sicherheit zu geben,
daß man einen Angriff jedenfalls abwarten werde." Das war es, bei aller
grundsätzlichen Ablehnung des Präventivkrieges, die uns in seiner
Staatsleitung noch mehr als einmal begegnen wird, wollte der Reichskanzler doch
die französische öffentliche Meinung nicht im unklaren
darüber gelassen wissen, daß der Weg der Revanchepolitik eines
Tages zum Kriege führen könne. Er teilte den unbedingten und
präventiven Angriffsgeist des Generalstabes ebensowenig, wie die strenge
und absolute Enthaltsamkeit des Monarchen, aber er hat sie beide auf dem
Schachbrett seines diplomatischen Spieles ihre Rolle spielen lassen.
Während er sich selber aus diesem Spiele möglichst heraushielt,
ließ er alle publizistischen und diplomatischen [154]
Äußerungen gewähren, die ihm geeignet schienen, der
öffentlichen Meinung Frankreichs den Ernst der Lage zu Gemüte zu
führen.
Ganz allgemein gesprochen lautete das dem deutschen Staat gestellte politische
Problem: wie weit darf man die wiederaufsteigende Offensivkraft eines
geschlagenen Gegners, in dem der Revanchegedanke als unauslöschliche
Lebenskraft erkennbar ist, sich entfalten lassen, und welche Mittel können
vor der politischen Klugheit und der politischen Sittlichkeit bestehen, die Gefahr
beizeiten einzuschränken, einzuschüchtern oder gar gewaltsam
einzudämmen? Bismarck war sich durchaus bewußt, daß der
letztere Weg, der des Präventivkrieges, über die Grenzen, die die
Politik verantworten kann, hinausführe. Um so mehr meinte er von den
Methoden der Einschüchterung, um der eigenen Sicherheit und um des
Friedens willen, Gebrauch machen zu dürfen. Man kann ihm nicht
vorwerfen, daß seine vorsichtig angelegte Aktion sich nicht innerhalb der
erlaubten Grenzen gehalten hätte. So korrekt aber er selbst in seinen
amtlichen Handlungen verfuhr, so ließ sich doch nicht vermeiden, daß
einzelne Stimmen, die ihm zu sekundieren meinten, die Linie der politischen
Klugheit überschritten und damit der Gegenseite den Vormund zu einem
unerwarteten Rückstoße gaben, ja seine ganze Politik einen Moment
lang vor der Welt ins Unrecht setzten. Denn die Idee des Präventivkrieges,
die technisch-militärisch, in den internen Erwägungen eines
Generalstabes, ihr Recht hat, kann, in die allgemeine Publizistik
übergreifend, dem Mißbrauch der Willkür und
Überheblichkeit des Stärkeren dienen und dadurch einer allgemeinen
Verurteilung verfallen.
So mußte Bismarck jetzt die Erfahrung machen, daß zwei
führende Großmächte auf sehr unbestimmte Besorgnisse hin in
sehr bestimmter Form zum Ausdruck brachten, daß sie den Wiederaufstieg
Frankreichs zur ebenbürtigen Großmacht nicht irgendwie gehemmt
oder verlangsamt zu sehen wünschten. Es war freilich nicht nur der
selbstlose Wunsch nach Frieden, dem sie damit zu dienen vorgaben, es war
mindestens in demselben Maße das Interesse dieser beiden
Großmächte, daß der
deutsch-französische dauernde
Spannungszustand - eine so eindeutige Tatsache, wie ihn die frühere
Staatengesellschaft kaum gekannt
hatte - nicht wieder aus der Welt verschwand, sondern in seiner
Unversöhnlichkeit erhalten blieb. Im Keime war dieses Interesse der
Großmächte schon bald nach 1870/71 zu erkennen. Es wird dauernd
ein Geheimnis der großmächtlichen Rechnung der anderen bleiben,
die Gefahr einer Hegemonie der Mitte Europas durch die Verewigung der
Revanche zu bannen.
Wenn man neuerdings versucht hat, an der Politik Bismarcks von 1875 gerade die
Gefährlichkeit dessen zu deduzieren, was von einem solchen Deutschland
zu erwarten gewesen wäre und nur durch großmächtliches
Einschreiten verhindert worden sei, so liefert die Parallele der
französischen Druckmethoden, die auf die analoge deutsche Position in der
Nachkriegszeit ausgeübt wurden, einen unvergleichlichen
Anschauungsstoff für das, was in solchen Lagen
grund- [155] sätzlich als
zulässig und unzulässig bezeichnet werden darf. Denn die aus Furcht
und Gewalt gemischte Politik des heutigen Frankreichs, die sich um eine deutsche
Revanchepolitik in ferner Zukunft sorgt, hat das Zehnfache, wenn nicht das
Hundertfache an Druckmitteln aufgewandt: obgleich dem Revanchegeiste der
Franzosen von einst eine vergleichbare antifranzösische Stimmung der
Deutschen von heute keineswegs entspricht, obgleich den auf das Höchste
angespannten französischen Rüstungen heute die peinlich
überwachte Abrüstung der deutschen Seite gegenübersteht,
und obgleich schließlich das Deutsche Reich der Gegenwart nicht
mächtige und wohlwollende Freunde zur Seite hat, sondern bei aller seiner
wehrpolitischen Ohnmacht von einem System schwerbewaffneter
französischer Parteigänger umringt ist. Wenn man diese Parallele, in
welcher der wandelbare Begriff der "Sicherheit" so ganz zugunsten der einen und
zuungunsten der anderen Seite verkehrt ist, in ihrem vollen Umfange durchdenkt,
erscheint Bismarcks amtliche Sprache mit ihren Begleiterscheinungen und
Hintergedanken wie eine ziemliche Harmlosigkeit, verglichen mit der
künstlichen Maschinerie von Zwangsmitteln, die sich in unseren Tagen auf
den leisesten Verdacht hin in Bewegung setzte, es möchte auf deutschem
Boden sich jemals wieder eine bescheidene Wehrhaftigkeit und Selbstbestimmung
herausbilden.
Der Alarm von 1875 hatte ein überraschendes Ergebnis. Der
deutsch-französische Spannungszustand hatte sich vorläufig
gleichsam wie ein Geisterspuk mit einem Schlage verflüchtigt und auf der
Bühne blieben nur die großen Akteurs zurück, die
Großmächte, allen voran Deutschland, Rußland und England,
um sich Rechenschaft zu geben über die Rollen, die sie gespielt hatten und
fortan miteinander spielen würden. Das war es, was vor allem für
Bismarck aus dem Erlebnis zurückblieb: eine Revision sämtlicher
großmächtlichen Beziehungen.
Er empfand zunächst die russische Aktion als die unbequemste.
Rußland hatte die persönliche und sichtbare Form des
freundschaftlichen Druckes gewählt, England die sachlich umfassendere
und gefährlichere, wenngleich sein Versuch einer Mobilisierung der
Großmächte in Wien wie in Rom sein Ziel verfehlte. Dazu kam,
daß England immerhin keinerlei Verpflichtungen gegen Deutschland
besaß, im vollen Besitz seiner freien Hand war, während
Rußland alte dynastische Freundschaft und vertragliche Verbindung
außer acht gelassen hatte und sich, auch nach geschehener
Aufklärung, seiner Taten vor der Welt auf deutsche Kosten
berühmte. Bismarck hat Gortschakow den Dolchstoß in den
Rücken nicht vergessen. Doch würde es ein falsches Bild erwecken,
wenn man die spätere Entfremdung auf das persönliche Motiv in
erster Linie zurückführen wollte. Schwerer wog die sachliche
Einschätzung dessen, was die deutsche Politik von der Großmacht
Rußland, trotz der Freundschaft der beiden Kaiser, gegebenenfalls zu
befahren haben würde. Darin lag die große Enttäuschung.
Der englische Friedensschritt vom 8. Mai war von Bismarck ursprünglich
nicht als eine unfreundliche Handlung genommen worden. Noch ein Erlaß
[156] an Münster vom
12. Mai beschränkte sich auf den ironischen Rat: der beste Weg, den
Beunruhigungen Europas ein Ziel zu setzen, sei und bleibe, den
tendenziösen Verleumdungen der deutschen Politik, die leider auch in
Organe der englischen Presse ihren Weg gefunden hätten, den Glauben zu
versagen. Als er jedoch den ganzen gefährlichen Umfang der englischen
Aktion erfuhr, ging er in seiner Weise zu frontalem Gegenstoße vor.
Die Engländer waren einen Moment mit ihrem Vorgehen sehr zufrieden
gewesen. In einer gewissen Harmlosigkeit meldete Lord Derby dem
Premierminister Disraeli: "Was wir taten, schloß kein Risiko in sich und
kostete uns keine Unruhe, während es uns den Schein gab, geholfen zu
haben, in höherem Grade als wir in Wahrheit zu dem erreichten Ergebnis
beitrugen";28 und auch Disraeli meinte in seinem
fast naiven Prestigebedürfnis: "seit Palmerston sind wir niemals so
energisch gewesen". Die Sache gewann ein verändertes Gesicht, als von
Berlin am 3. Juni eine gemessene Anfrage nach London erging, wieso man zur
Annahme gelangt sei, daß Deutschland den Frieden stören oder eine
Herabsetzung der französischen Rüstung fordern würde. Wenn
auch Lord Derby seine tatsächliche Gutgläubigkeit erweisen mochte
und sogar seine Auffassung in einer Oberhausrede wiederholte, und
Königin Victoria persönlich in ihrer Korrespondenz mit Kaiser
Wilhelm den englischen Interventionsvorstoß mit allgemeinen Wendungen
und deutlichen Hinweisen auf Moltke (nicht aber auf irgendeinen amtlichen
deutschen Schritt) zu rechtfertigen suchte, so setzte Bismarck die
Auseinandersetzung fort und ließ die englische Regierung wissen, daß
Lord Derby sein persönliches Vertrauen verscherzt habe. Das Ende dieses
diplomatischen Nachspieles war eine Erklärung Derbys vom 28. Juli, die
im Grunde einen bescheidenen Rückzug von der großen
Prestigeaktion des Mai darstellte: "England habe nur das Interesse, in Europa
Frieden zu erhalten, und dazu gebe es keine bessere Garantie als ein starkes
Deutschland. Mit Deutschland habe England keine divergierenden Interessen, mit
Frankreich sei das anders, und kein ruhiger und verständiger
Engländer könne sich der Überzeugung verschließen,
daß ein zu mächtiges Frankreich naturgemäß für
England gefährlicher sein müsse als ein kräftiges Deutschland.
Er bedauere deshalb die momentane Verstimmung."
In neueren Zeiten hat man sich bemüht, der Drohung des deutschen
Militarismus die englisch-russische Kooperation gegenüberzustellen, und Poincaré hat sie sogar als die erste Skizze der Tripelentente gepriesen. In
Wahrheit lagen die Dinge so, daß gleich nachher beide Mächte es
nicht gewesen sein wollten, vielmehr sich wechselseitig die Initiative zuschoben
und ein weiteres Zusammengehen untereinander gar nicht erwogen. Beide hatten
mit ihrem Vorgehen zugleich das Ziel verfolgt, die Annäherung der anderen
an Deutschland zu durchkreuzen, und die scheinbare Schutzaktion für
Frankreich war zugleich eine Szene [157] aus dem Drama des
Ringens um die deutsche Option, die vor allem Rußland für die
eigene Sache erstrebte und mit einem kräftigen Frankreich eher in seinem
Sinne zu entscheiden hoffte.
Aber es bleibt noch ein letztes Nachspiel zu erwähnen übrig.
Österreich hatte unter der klugen Leitung Andrássys eine
Beteiligung an dem englischen Schritte abgelehnt und damit diejenige
Zuverlässigkeit erwiesen, die Rußland hatte vermissen lassen.
Bismarck zog auch daraus seine Schlüsse. Er sprach am 4. Juni dem
österreichischen Botschafter seine zuversichtliche Hoffnung aus, daß
die Freundschaft sich inniger gestalten würde, und machte sogar die
Andeutung, es scheine ihm "bei der Gleichartigkeit der allgemeinen Interessen
innerhalb des Bereiches der Eventualitäten und sogar der
Probabilitäten gelegen, daß sich zwischen Deutschland und
Österreich-Ungarn ein natürliches, auf völkerrechtlicher
Grundlage beruhendes Verhältnis einer gegenseitigen Assekuranz
entwickle. Auch sei es notwendig, daß ein solches Verhältnis von
selbst heranreife, daher seiner natürlichen Entwicklung überlassen
und nicht voreilig und zu schnell angebahnt werde". Andrássy
erläuterte seinem Monarchen, daß er es für möglich
hielte, einen Antrag von Bismarck zu erreichen: "derselbe erscheint soeben in der
Ferne". In der Ferne war das deutsch-österreichische Bündnis von
1879 zu ahnen, eine völkerrechtliche Wiederaufnahme des
Verhältnisses, das bis 1866 staatsrechtlich bestanden hatte. Es war
fürs erste nur eine Möglichkeit der Zukunft, nicht mehr, aber ihre
Umrisse hoben sich innerhalb des erschütterten
Dreikaiserverhältnisses zum ersten Male erkennbarer ab.
Der Prozeß, der mit dem Eintritt des Deutschen Reiches in die
Staatengesellschaft begonnen hatte, war im Sommer 1875 noch immer mitten im
Flusse. Eine ausgesprochene Befestigung der politischen Beziehungen des
Deutschen Reiches war noch an keiner Stelle sicher erkennbar; noch war mehr als
eine Möglichkeit des Anziehens und Abstoßens in dem flutenden
Meere der staatlichen Kräftekollektive vorhanden. Nach der Krisis von
1875 zog ein deutscher Diplomat den resignierten Schluß: wir
müssen stärker werden. Und allerdings, das neue Reich der Mitte
brauchte, um nur seine in einem glücklichen Kriege gewonnene Stellung
autonom zu behaupten, mehr Stärke im Daseinskampf, als einst
Preußen, die kleinste der Großmächte, innerhalb der alten
Staatengesellschaft gebraucht hatte. Der Alarm von 1875 hatte die Karten
überall tiefer aufgedeckt, und es war die Frage, ob das Erlebnis so bald
verwunden werden könnte. Schon aber stand ein neuer Anstoß von
außen vor der Tür, der den Prozeß in eine neue
Entwicklungsstufe überführen
sollte - er erhob sich im Orient, in der alten Arena
großmächtlicher Rivalitäten.
Bevor wir den Fortgang dieser Entwicklung verfolgen, haben wir noch einen
Blick auf die politischen Kräfte zu werfen, die sich in der inneren
Gestaltung des Reiches in diesen Jahren nebeneinander erhoben haben.
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