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Bd. 9: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Erster Teil


Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin

[121] Kapitel 2: Das Deutsche Reich
unter der Staatsleitung Bismarcks 1871 - 1890

[122=Trennblatt] [123] 1. Der Eintritt des Deutschen Reiches in die europäische Staatengesellschaft 1871 - 1875.

Der Aufstieg des Deutschen Reiches aus den heroischen Ereignissen des Krieges von 1870/71 mußte nach innen und außen einen elementaren Umschwung aller politischen Kräfte auslösen. So mächtig auch der Lauf der Geschichte seit Jahren auf diesen Ausgang hindrängte, jetzt stand das Geschlecht der Deutschen wie gebannt unter dem tiefen Eindruck der überraschend plötzlichen Erfüllung. Der Kampf, unter dessen Zeichen alles politische Leben so lange gestanden, war für immer entschieden; alles, was um den Mittelpunkt der bisherigen Sorgen kreiste, schien befriedet, überwunden, gegenstandslos und wich dem beglückenden Gefühl des säkularen Abschlusses. Mit einem Schlage schien die deutsche Geschichte ihren Sinn wiedergefunden zu haben, und es dauerte nicht lange, bis die entgegengesetzten Lager den Sinn dieses geschichtlichen Ablaufs als innere Notwendigkeit sich auslegten: sowohl die Nationalpartei, die den Kern ihrer alten Ideale auf einem unerwarteten Wege verwirklicht sah, als auch die preußische Staatspolitik, deren Tradition gleichfalls die Ankunft auf der Höhe erlebte. Die beiden Gewalten, die immer wieder sehnsüchtig und vergeblich nacheinander ausgeschaut hatten, schienen sich für immer gefunden zu haben. Selbst ein politischer Kopf wie Heinrich von Sybel konnte im ersten Augenblick die Frage aufwerfen, was denn dieses lebende Geschlecht nun noch werde zu tun haben; um sich vermutlich schon anderntags selber die Antwort zu geben: daß nach der Legung der Fundamente und der Errichtung des äußeren Rahmens erst die eigentlichen Aufgaben des Ausbaues und der Befestigung des deutschen Staates für die Nation und ihre Glieder gestellt seien, daß das Ringen aller deutschen Lebensgewalten nach innen und außen nunmehr auf einer höheren Ebene von neuem anhebe. Zunächst aber sagte den Deutschen ein unbestimmtes Gefühl, daß der eigentliche dynamische Abschnitt ihrer neueren Geschichte abgeschlossen sei und ein mehr statisch bestimmtes politisches Zeitalter heraufziehe.

Nicht anders stand es mit der Stellung der Deutschen unter den Völkern Europas. Die deutsche Nationalbewegung war lange Zeit eine der stärksten dynamischen Zukunftskräfte in Europa gewesen, mit deren Lösungsmöglich- [124] keiten sich alle anderen Gewalten irgendwie auseinanderzusetzen hatten: jetzt schied sie, nachdem sie sich gestaltet und beruhigt hatte, als die große Unbekannte aus dem Spiel der Kräfte aus und ging als neue, feste, anerkannte Größe in die geltende Ordnung der Dinge ein. Allgemein war der Eindruck, daß die Mitte Europas, die in früheren Jahrhunderten dem Eingriff von allen Seiten offengelegen und auch seit 1815 ein mehr ruhendes, fast passives Element in der Machtgruppierung der Staaten gebildet hatte, sich jetzt in eine aktive Konzentration der Macht verwandelt habe, deren Leistung allen überlegen zu werden versprach. Zwar hatte die Landkarte sich kaum verändert, aber die Verschiebung des Schwergewichts drängte sich allen auf, sie betraf sämtliche Mächte und mußte das ganze System, alle Verhältnisse des Sichanziehens und Sichabstoßens der Staaten stärker als irgendeine peripherische Veränderung beeinflussen. Auch dieser europäische Umschwung hatte eine säkulare Tragweite. Schon sah Ranke den Moment eingetreten, in dem die seit der französischen Revolution ansteigende Welle der Volkssouveränität auf den entscheidenden Widerstand der alten Mächte gestoßen sei; nach dieser Befriedung Mitteleuropas erst, in diesem neuen Zeitalter gesicherter Entwicklung, glaubte er den Mut zu finden, an das Wagnis einer Weltgeschichte heranzutreten.

Was dieser Umschwung für die Gesamtheit Europas zu bedeuten habe, darüber gingen die Meinungen, von persönlichen und kulturellen Sympathien nach der einen oder der anderen Seite gezogen, vielfach auseinander. Die siegreiche Sache hatte, wie immer im Menschengeschlecht, viele unbedingte Anwälte, welche die Machtverschiebung begrüßten. Aber schon während des Krieges hatte der holländische Historiker R. Fruin geurteilt, die von Frankreich seit drei Jahrhunderten geübte Hegemonie sei nunmehr auf Deutschland übergegangen, und nicht seine Besorgnis verschwiegen: wenn man in die große Zeit der deutschen Kaisermacht zurückgehe, so zeigten Italien und die Slawenländer an, was an der Ansicht richtig sei, daß die Eroberungssucht allein den Romanen zu eigen, den germanischen Völkern jederzeit fremd sei. Etwas von der Empfindung der Unberechenbarkeit dieser Kräfte, die jetzt die Mitte Europas beherrschten, lebte in vielen Menschen und konnte auch den politischen Berechnungen der Mächte nicht fremd bleiben.

Um so mehr mußten die Deutschen das Bedürfnis haben, vor der Welt offen auszusprechen, was dieses Reich für sie und die anderen zu bedeuten habe. Schon die Kaiserproklamation war auf den Ton gestimmt, daß die neue Würde keine überlebten Ansprüche wieder aufleben lasse, daß man ein Reich des Friedens und des Segens erstrebe, in welchem das deutsche Volk finden und genießen werde, was es seit Jahrhunderten ersehnt. Das war nicht die Kaiserkrone, in der einst Napoleon I. in Aachen eine universale Verklärung unbegrenzter Ansprüche gesucht hatte: es war eher eine nationale Königskrone, deren Name sogar einzelnen kleindeutschen Gemütern lieber gewesen wäre. So betonte [125] auch die Thronrede Kaiser Wilhelms I. bei der Eröffnung des ersten deutschen Reichstages am 21. März 1871 ausdrücklich, daß der Geist des deutschen Volkes und die Verfassung des Reiches Deutschland inmitten seiner Erfolge vor jeder Versuchung zum Mißbrauch seiner durch Einigung gewonnenen Kraft bewahren würden:

      "Die Achtung, welche Deutschland für seine eigene Selbständigkeit in Anspruch nimmt, zollt es bereitwillig der Unabhängigkeit aller anderen Staaten und Völker, der schwachen wie der starken. Das neue Deutschland, wie es aus der Feuerprobe des gegenwärtigen Krieges hervorgegangen ist, wird ein zuverlässiger Bürge des europäischen Friedens sein, weil es stark und selbstbewußt genug ist, um sich die Ordnung seiner eigenen Angelegenheiten als ein ausschließliches, aber auch ausreichendes und zufriedenstellendes Erbteil zu bewahren."

Dieses Bekenntnis nahm der Deutsche Reichstag in seiner ersten Kundgebung auf. Als in der Adreßdebatte am 31. März 1871 die feindlichen Lager der kleindeutsch-liberalen Nationalpartei und der großdeutsch-katholisch Gesinnten in der Frage einer Intervention zugunsten des Kirchenstaates aufeinanderstießen, da schien es, als ob man unter den Bannern vergangener Kämpfe zu Felde ziehen und die gelehrten historischen Kontroversen über deutsches Königtum und Kaisertum noch einmal in dieser Stunde erneuern wolle. Die Mehrheit wollte es feierlich zum Ausdruck gebracht wissen, daß das neue Reich mit der universalen Tradition des alten Reiches nichts zu tun habe, sondern etwas Neues und Eigenes sei, ein Nationalstaat, der zwar seinem Haupte den geschichtlich ehrwürdigen Kaisernamen verliehen habe, aber seinen Daseinsgrund allein in der Nation zu finden gewillt sei. Wenn Bismarck an dem Kampf der Worte auch nicht teilnahm, so gab er durch sein beredtes Schweigen zu verstehen, in welchem Lager er selber stand. Der Schöpfer dieser Dinge war sich allzusehr bewußt, wie viele wirkliche oder vorgebliche Beunruhigung in der Welt zu überwinden sei - niemals durfte er unter den Völkern Europas den Gedanken aufkommen lassen, daß die Deutschen mit den Traditionen des alten Reiches irgendwelche verklungenen Rechtstitel wieder aufleben zu lassen gewillt wären.

Der Nationalstaat, zu dem man sich bekannte, wurde zugleich nach außen für abgeschlossen erklärt. Feierlich wurde verkündet, daß von dem neuen Reiche ein Weiterführen der nationalen Propaganda, die an mehr als einer Stelle hätte beunruhigen können, nicht zu erwarten sein werde. So fällt die Reichsgründung, der Triumph der nationalen Bewegung, doch mit der Einstellung jeder nationalen Aktion zusammen. In diesem Entschlusse kamen alle Parteien überein: die Kleindeutschen hatten ja gerade die bewußte Beschränkung des deutschen Staates ohne Österreich gewollt, und für die Großdeutschen verstand sich die Erhaltung und Nichtanfechtung Österreichs von selbst.

Für Bismarck vollends, in dessen Denken die Einordnung seiner Schöpfung in die Staatengesellschaft an erster Stelle stand, war die österreichisch-ungarische [126] Monarchie ein Faktor in der europäischen Politik, der unter keinen Umständen durch bedrohliche nationale Gesten in das gegnerische Lager abgedrängt werden durfte. Er war im Jahre 1866 der Vollstrecker friderizianischer Politik gewesen, aber in dem Moment des Sieges, mit der Erreichung seines Zieles, war er entschlossen, die alte Verbindung mit Österreich wieder herzustellen, wie sie im Deutschen Bunde bestanden hatte, und dadurch der Mitte Europas ein verstärktes Schwergewicht zu verleihen. Wenn ihm dieses Ziel vorschwebte, so mußte er von vornherein alles daransetzen, die österreichischen Staatsmänner über seine Absichten auf dem Felde nationaldeutscher Politik unbedingt zu beruhigen, und jede Möglichkeit abweisen, daß das Deutsche Reich, als Zentrum des nationalen Lebens, jemals eine mehr oder weniger große Anziehungskraft auf das Deutschtum jenseits seiner Grenzen ausüben werde. Als Graf Andrássy, nur aus taktischer Erwägung, einmal im Jahre 1874 in Petersburg hatte fallen lassen, man könne nicht wissen, ob nicht einmal die Zeit kommen werde, in der Deutschland unter dem Einfluß der Nationalpartei es für ersprießlich erachten werde, nicht bloß in seinen Einheitsbestrebungen weiter als bisher zu gehen, sondern seine Machtsphäre auch auf die Deutschen Österreichs auszudehnen, setzte Bismarck, auf das Höchste beunruhigt, alles daran, eine so irrtümliche Vorstellung mit der Wurzel auszurotten. Man müsse in Wien und Budapest doch wissen, daß Macht und Einheit des Deutschen Reiches durch eine Verschmelzung mit den seit 400 Jahren tatsächlich von Deutschland getrennten österreichischen Elblanden eher verlieren als gewinnen würden; wenn der Ungar Andrássy etwa tätige deutsche Sympathien für die Siebenbürger Sachsen befürchte, so erklärte der Kanzler bestimmt, einem derartigen Gedanken ebenso fern zu stehen, wie überhaupt jeder Versuchung, sich der Stammesgenossen in den russisch-baltischen Provinzen, in Nordamerika oder in der Schweiz anzunehmen.1 Einige Jahre später hatte Bismarck Gelegenheit, seine unbedingte Festigkeit gegen jede nationale "Versuchung" in einem viel ernsteren Falle zu erweisen. Als Francesco Crispi im Herbst 1877 ihm mit versteckten Hinweisen nahte, daß die deutsche Einheit noch nicht fertig sei und Österreich auch deutsche Provinzen besäße, widersprach der Reichskanzler dem Italiener in sehr bestimmtem Tone und ließ ihn nicht im unklaren darüber, daß der Weg von Rom nach Berlin zu allen Zeiten über Wien führen müsse. An dieser Überzeugung hielt Bismarck während seiner ganzen Staatsleitung fest, und an diesem Teil seines Vermächtnisses ist von der nachbismarckischen Reichspolitik bis zum Weltkriege niemals auch nur in Gedanken gerüttelt worden.

Also war die nationale Triebkraft, auf deren mächtig ansteigender Welle das weltgeschichtliche Handeln Bismarcks sich erhoben hatte, als ein nach außen wirkendes Element der amtlichen Politik und des öffentlichen Lebens so gut wie ausgeschaltet: ein nationalpolitisches Ziel gab es für das Deutschland [127] nach 1871 nicht mehr. Auch nach innen besaß das Reich, dessen Verfassung sich als ein Staatsvertrag der Fürsten einführte, keine unmittelbare Fühlung mit den tieferen Untergründen der Nation, sondern schien mit ihnen nur über die Vermittlung der historischen Gliedstaaten und deren bodenständigen Traditionen verknüpft. Damals schon regte sich in einzelnen Köpfen die Empfindung, daß man auch etwas vermisse, daß in dem von vornherein so realpolitisch gefaßten Staatsbewußtsein des Reiches die Tragkraft des nationalen Volkstums doch zu kurz komme. Die heute lebende Generation, die das Wesen des Staates tiefer im Volkstum verankert wissen möchte, sieht solche Grenzen schärfer als die Männer von damals, die den historischen Weg des Aufstiegs hinter sich hatten.

Jedenfalls trat das Reich nach außen hin als eine Großmacht auf, die aus sehr realen Erwägungen ein lautes Anschlagen des nationalen Tones sich eher versagte und sich endgültig damit abfand, daß es nicht einen alle Deutschen umfassenden Nationalstaat darstellte. Dazu kam, daß dieses Reich auch wegen seiner fremdnationalen Bestandteile nicht als ein reiner Nationalstaat zu bezeichnen war. Daß die nordschleswigsche Frage, hingeschleppt unter Umständen, an denen beide Seiten ihren Anteil hatten, nicht zur Lösung gekommen war, mochte nicht allzusehr ins Gewicht fallen. Schwerer schon wog das aus militärischen Sicherheitsgründen erfolgte Übergreifen in das französische Sprachgebiet in Lothringen. Diese an Zahl geringfügigen dänischen und französischen Minoritäten waren gleichsam eine Frucht der historischen Umstände, unter denen das Reich sich gebildet hatte. Ein wirkliches Problem dagegen war die Polenfrage, die als Mitgift des preußischen Staates in das Reich übernommen wurde. Die preußischen Polen hielten sogar den Augenblick der Reichsgründung für angemessen, ihre Vorbehalte anzumelden. Sie waren seit dem Jahre 1815 auf Grund europäischer Verträge preußische Untertanen; je mehr sich das alte absolute Preußen in einen konstitutionellen Staat verwandelte, desto lebhafter hatten sie ihre nationalen Interessen zur Geltung zu bringen versucht; zumal als der preußische Staat sich mit dem nationaldeutschen Gedanken befreundete, hatte ihr empfindlicher und abwehrbereiter Nationalismus sich auf seine eigenen letzten Ziele besonnen. In dem ersten deutschen Reichstag wurden polnische Stimmen laut, die die Annexion des Elsaß aus historischen und nationalen Gründen billigten, aber eben darum die eigenen Ansprüche grundsätzlich vertraten. Bismarck war sich der Tragweite dieser Probleme durchaus bewußt. Er äußerte im Jahre 1875 einmal: "Wir haben jetzt mehr Polen, Dänen, Franzosen, als uns erwünscht sein kann." Auch von hier aus ergab sich für ihn das politische Gebot, den Bestand der Dinge in der europäischen Ordnung sicherzustellen, sich zu der abgeschlossenen und saturierten Existenz zu bekennen, statt sie durch irgendwelche neuen Ambitionen zu gefährden.

Und so wandelte sich dem Reichsgründer die Aufgabe der Staatskunst und der Sinn seines Lebens. Bis zum Jahre 1871 hatte Bismarck ein einziges [128] überragendes Ziel verfolgt: die stärkste der europäischen Nationalbewegungen, die deutsche Bewegung, gleichsam in das Strombett der preußisch-historischen Gegebenheiten zu leiten und einen preußisch-deutschen Nationalstaat inmitten der europäischen Lebensbedingungen aufzurichten. Indem er eine Aufgabe von weltgeschichtlicher innerer Notwendigkeit erfüllte, war er selbst auf dem steilen und verschlungenen Wege zu seinem Ziel von einem Genius des Berufenseins geleitet oder, wenn man will, von dem Dämon eines gewaltigen Schicksals besessen: seine innerste Seele suchte sich Rechenschaft darüber zu geben, wie sie die Wucht ihres Willens mit den unerforschlichen Wegen der Vorsehung vereine. In diesem Lebensgefühl bestand seine verborgene Überlegenheit gegenüber allen Gewalten, die ihm im Innern oder im Äußern entgegentraten, selbst in seinem Führungsanspruch gegenüber seinem Könige. Er wußte eben, ein vorsichtig verwegener Bergsteiger, um einen einzigen schwindelnden Weg zum Gipfel, den keiner der Freunde oder Gegner gehen konnte. Die Einzigartigkeit und Positivität der Aufgabe erzeugte die Folgerichtigkeit und Geschlossenheit des handelnden Staatsmannes, der in der Hoheit seines Endziels zugleich den letzten, über alle Ablenkung erhabenen Maßstab für jeden einzelnen seiner Schritte besaß.

Nachdem aber das Ziel der Reichsgründung erreicht war, konnte es nicht anders sein, als daß der große Nerv der Aktion gleichsam zur Ruhe kam und durch eine andere Richtung des seelischen Verhaltens abgelöst wurde. Seitdem es sich um die Erhaltung und Sicherung des Erreichten handelte, bekamen alle Probleme der Außenpolitik mit einem Male ein anderes Gesicht. Es war, als ob von der Seele Bismarcks statt der im Dynamischen wurzelnden Lebenskräfte hinfort die Erwägungen einer statischen Ordnung Besitz ergreifen müßten. Während das Zwingende des unerreichten Zieles verschwand, öffnete sich seinem Handeln eine weite Ebene, die viele Möglichkeiten der Entschließung nebeneinander darzubieten schien. Nach allen Seiten hin, den Mächten gegenüber, denen er jetzt auf einem anderen Boden begegnete, dem Kaiser gegenüber, den zu führen er fortfahren mußte, der Nation gegenüber, die das Geschenk des Genius zu erwerben hatte, um es zu besitzen: nach allen Seiten hin mußte gemäß der veränderten Aufgabe auch der Stil der Staatsleitung Bismarcks sich verändern.

Der Schauplatz seines Wirkens, die Umgrenzung seiner Aufgabe blieben die gleichen: der Kreis der Mächte Europas. Aber der Eintritt der starken Macht der Mitte in diesen Kreis schuf eine Reihe neuer Problemstellungen.

Schon während des Krieges von 1870/71 hatten die Pontusfrage auf der einen und der Untergang des Kirchenstaates auf der anderen Seite den Kanzler vor Entscheidungen gestellt, die von grundsätzlicher, rückwirkender Bedeutung für das künftige Verhältnis Deutschlands zu den Großmächten werden konnten. Die Pontuskonferenz versetzte die deutsche Politik in eine Lage, in deren Verlauf [129] die Mächtekonstellation des Krimkrieges wieder aufleben konnte. Der werdende deutsche Staat mußte hier seine Stellung nehmen, ohne ganz in die Gefolgschaft des Russen zu geraten, der sein Vorgehen auf die deutschen Siege hin wagte, und ohne die englisch-österreichische Seite zu verletzen, die sich mit dem im Augenblick ausgeschalteten Frankreich zusammenfinden konnte: im tiefsten Grunde wurden schon die Umrisse einer künftigen Option zwischen Rußland und England sichtbar. Und wenn Bismarck während des Krieges diese Frage in sorgenvollem Hinblick auf die Haltung der Neutralen zum Friedensschluß beurteilte, so konnte er sich nicht verhehlen, daß sie in Friedenszeiten jeden Tag in vergrößertem Umfange sich von neuem erheben könne.

Gleichzeitig drängte ein zweites Problem von außenpolitischer Tragweite heran, das obendrein in die Tiefe innerpolitischer Entscheidungen hinabreichte. Als die deutschen Siege dem Kirchenstaate die napoleonische Stütze entzogen, waren die Italiener in Rom eingerückt, und die erste Frage, die an die Politik des werdenden Deutschen Reiches gerichtet wurde, kam aus dem Lager der um das Schicksal Roms trauernden deutschen Katholiken: wird das neue Reich sich vor der von Italien geschaffenen vollendeten Tatsache beugen oder aber seinen Schild vor das Papsttum stellen und damit einen Anspruch auf Liebe im großdeutsch-katholischen Lager erwerben? Die Mission des Kardinals Ledochowski im November 1870 klopfte bereits an, ob Preußen bereit sein würde, dem Papste Pius IX. seinen Schutz, gegebenenfalls sogar ein Asyl in Deutschland zu gewähren und sich an einem Protest der Mächte gegen den römischen Rechtsbruch zu beteiligen. Daß Bismarck den katholischen Mächten den Vortritt lassen wollte und mit dem Vorschlag eines europäischen Kongresses auswich, läßt sich begreifen. Jede deutsche Initiative in dieser Frage mußte in Italien als eine feindselige Handlung aufgefaßt werden, und die deutsche Außenpolitik hatte sich Rechenschaft darüber zu geben, ob sie das in aller Zukunft mit einer französischen Hypothek belastete Reichsgebäude auch noch mit einer zweiten Gegnerschaft überladen und Italien künftig in die Arme eines sich wiedererholenden Frankreichs treiben wolle. Auf der anderen Seite konnte die unvermeidliche Absage an die Kurie katholische Bevölkerungsteile tiefer in die Opposition hinüberwerfen, und schon in den ersten Sitzungen des Reichstages im März 1871 sollte es der Taktik Windthorsts gelingen, die Katholiken unter dem Zeichen, daß sie von dem Reiche in ihren teuersten Angelegenheiten doch nichts zu erwarten hätten, politisch zu organisieren. Ebenso wie das künftige Verhältnis zu Österreich zugleich ein innerpolitisches Problem war, war das Verhältnis zu Italien ohne unser Zutun von Haus aus mit der Stellung des deutschen Katholizismus zum Reiche verknüpft.

Beide Episoden, noch während des Krieges rasch in sich selber ablaufend, lassen erkennen, von welcher Tragweite jeder einzelne außenpolitische Schritt des neuen Reiches sein mußte. Je weniger diese deutsche Politik eine Tradition [130] besaß, in deren sicheren Geleisen sie ihren Weg hätte finden können, desto mehr kam es darauf an, welchen Kurs sie vom ersten Augenblick an in den Beziehungen zu den verschiedenen Mächten einschlagen würde. Wir müssen die Mächte der Reihe nach durchgehen, um aus der Problematik des Einzelnen ein Bild des Ganzen zu gewinnen.

Die zentrale Frage war die Gestaltung der deutschen Beziehungen zu Frankreich. Das war die neue Tatsache, die alle unbeteiligten Mächte von nun an in ihre Rechnung einstellten: wenn im Moment auch ohne Gewicht, so mußte sie doch mit der Zeit zum Brennpunkt der europäischen Mächtedynamik werden.

Die Stimmung Frankreichs in der Periode des Präliminarfriedens und des Frankfurter Friedens bietet ein ganz einheitliches Bild. Man wird aus den Ausbrüchen des Schmerzes und des Hasses, die unmittelbar mit den Kriegsereignissen zusammenhingen, nicht allzu viel Wesens machen wollen: sie sind menschlich begreiflich und können von anderen Nationen nachgefühlt werden. Man muß gerechterweise das Furchtbare und Unvermittelte des Umschlages in Anschlag bringen: wie konnte der französische Geist, der in den Jahren vor 1870 sich mit deutschen Erwerbungen getragen hatte und voll unermeßlicher Erwartung in den Krieg gezogen war, in allen Empfindungen militärischen und politischen Stolzes verwundet, sich in ein Schicksal finden, in dem eine große Geschichte für lange Zeiten verspielt erschien? Es ist jedoch denkwürdig, welche Form die Äußerung solcher Gefühle gerade in der französischen Seele annahm. Bei der Beratung des Präliminarfriedens in Bordeaux am 1. März 1871 verkündete Victor Hugo das Zukunftsprogramm des geschlagenen Frankreich: sich sammeln in einem einzigen Gedanken, bis es sich eines Tages plötzlich zu furchtbarer Größe erhebe. Diese Vision aber malte aus: "Mit einem Sprung wird es Lothringen, wird es das Elsaß an sich reißen! Ist das alles? Nein, und abermals nein! Es wird Trier, Mainz, Köln, Koblenz nehmen, das ganze linke Rheinufer." Vor dem Schmerz, mit dem eine große Nation Niederlage und Verlust hinnimmt, wird man Achtung empfinden; und es geht zu weit, für den zügellosen Ausbruch dichterischer Ekstase den politischen Teil der Nation verantwortlich zu machen. Aber wenn das erste große Bekenntnis zur Revanche sogleich die Wiederaufnahme der räuberischen historischen Rheinpolitik selbst in der Stunde schwerster Prüfung ankündigt, wird man ohne nationale Überheblichkeit urteilen dürfen, daß in diesem Volk der großen Eroberungstradition manche Wortführer nichts gelernt und nichts vergessen hatten.

Fortan kam es vor allem darauf an, wie sich die amtlichen Beziehungen zwischen Deutschland und dem Frankreich unter der Staatsleitung von Adolphe Thiers gestalten würden. Sie kreisten in diesen ersten Jahren um zwei politische Fragenkomplexe. Der erste betraf die Okkupation, Kriegskostenzahlung und Räumung, der zweite, nach der Überwältigung des Kommuneaufstandes, den innerfranzösischen Parteikampf um die endgültige Entscheidung der Staatsform. Daß mit der deutschen Besetzung für die betroffenen Landesteile auch [131] Härte und Bitterkeit, wie der Besiegte sie zu tragen hat, verbunden war, wird niemand bestreiten. Ob sie aber damals das militärisch und politisch Notwendige überschritten hat, kann niemand besser als das heutige deutsche Geschlecht beurteilen, das die französische Okkupation des linken Rheinufers seit Ende 1918 erlebt hat. Es ist gewiß nicht die Aufgabe des Historikers, die düstere Folie solcher Gegenwartserlebnisse auf Schritt und Tritt aufzurollen, aber da sie sich ungewollt aufdrängt, ist auch die objektive Feststellung geboten, daß die beiden Vorgänge von 1871 bis 1873 und von 1918 bis 1929 in keiner Hinsicht miteinander in Vergleich gestellt werden können. Die deutschen Akten über die Okkupation in Frankreich konnten restlos und ohne Scheu aufgedeckt werden,2 und das Wort, das Präsident MacMahon an den Oberbefehlshaber General v. Manteuffel im Moment der Räumung, am 4. September 1873, richtete, die Anerkennung seiner "Gerechtigkeit und Unparteilichkeit", darf sich füglich auf den Geist erstrecken, in dem die deutsche Okkupation überhaupt ausgeübt worden ist.

Die auferlegten finanziellen Lasten waren, so riesenhaft hoch damals die Zahlen der Milliarden klangen, im Verhältnis nicht so drückend wie die Lasten, die Preußen nach 1807 hatte tragen müssen, und sie können mit den Lasten, die nach dem Weltkrieg von Deutschland verlangt wurden, nicht entfernt verglichen werden. Sie waren vor allem im Augenblick des Friedensschlusses eindeutig und endgültig festgestellt und so verteilt, daß die patriotische Entschlossenheit eines zugleich wohlhabenden und sparsamen Volkes sie in wenigen Jahren ohne zerstörende Nachwirkungen in seiner Gesamtwirtschaft abzahlen konnte. Selbst der in diesen Jahren erfolgende Übergang Frankreichs zur allgemeinen Wehrpflicht mit allen seinen finanziellen Anforderungen wurde durch die Kriegskostenentschädigung an Deutschland nicht aufgehalten.

Schließlich läßt sich der deutschen Politik das Zeugnis ausstellen, daß sie keinen Versuch gemacht hat, über den Wortlaut und Geist des Frankfurter Friedens hinweg Forderungen irgendwelcher Art aufzustellen oder die relative Wehrlosigkeit des ehemaligen Gegners während der Okkupation zu benutzen, um in die Gestaltung seiner inneren Angelegenheiten mit dem Anspruch des Siegers hineinzureden. So ist das französische Rekrutierungsgesetz vom 27. Juli 1872, das zum ersten Male die allgemeine Wehrpflicht mit zwanzigjähriger Dienstzeit einführte - der erste Anstoß zum Wettrüsten der europäischen Großmächte -, noch während der Okkupationszeit, ohne Bemerkung von deutscher Seite, erlassen worden und in Kraft getreten. Vor allem vermied die deutsche Politik jede Einmischung in den Kampf um die französische Regierungsform. Bismarck war für die Anerkennung der Regierung Thiers, "solange sich nicht auf gesetzmäßigem Wege aus ihr eine andere entwickelt, [132] welche die Ausführung des Friedensvertrages und die Erhaltung der jetzigen Beziehungen zwischen den beiden Ländern für die Zukunft sicherstellt".3 Er war entschlossen, die Auseinandersetzung zwischen Monarchisten und Republikanern einen Verlauf nehmen zu lassen, der allein durch die französischen Parteiverhältnisse bestimmt werde, und tadelte die Versuche seines Botschafters, in diesem Streite zugunsten der Monarchie Partei zu ergreifen, auf das Strengste. Er übte diese Zurückhaltung gewiß in der realistischen Berechnung, daß ein republikanisches Frankreich, wenigstens damals, verhältnismäßig friedlicher und weniger angriffslustig, vor allem weniger bündnisfähig als ein monarchisches Frankreich sein würde; aber er besaß doch zugleich ein lebendiges Gefühl dafür, daß eine große Nation nichts demütigender empfindet, als das Einmischen eines Fremden, der im Augenblick die Macht dazu hat, in ihre inneren Parteikämpfe; er gab sich keiner Täuschung darüber hin, daß eine Spekulation auf inneren Hader gegenüber dem französischen nationalen Solidaritätsgefühl jederzeit fehlschlage. Gegen dieses deutsche System läßt sich nicht der Vorwurf erheben, daß es die Ehre und das Recht der französischen Seite nicht anerkannt und geschont hätte; man verkannte keineswegs die Verpflichtung, die Tiefen der Erbitterung und des Hasses, die aus einem solchen Kriege zurückbleiben, nicht weiter aufzureißen. Bismarck war gerecht und realistisch genug, von der Seele der Gegner nicht allzu viel zu verlangen. Als der Botschafter einmal gegenüber den Friedensbeteuerungen der Franzosen die Frage nach ihren Hintergedanken aufwarf, korrigierte er ihn in seinem großen Stile: "Man kann einer Großmacht, die mit Gebietsverlust aus einem Kriege hervorgegangen ist, nicht sobald eine solche Entsagung zutrauen, und der Verzichterklärung eines einzelnen Ministers wäre nicht mehr Aufrichtigkeit und Bestand zuzuschreiben, als der sonst üblichen Klausel der Friedensverträge, daß zwischen den kontrahierenden Teilen immerwährende Freundschaft bestehen werde".4 Es war mehr als bloße Courtoisie, wenn er an dem ersten Jahrestage des Friedensschlusses, am 2. März 1872, dem französischen Botschafter seinen Wunsch aussprach: "Ich hoffe von ganzem Herzen, daß damit ein Zeitabschnitt begonnen hat, der auch unsere Kinder noch überdauert."

Aber von Anfang an schienen die Sterne in die umgekehrte Richtung zu weisen. Schon am 9. Juli 1871 urteilte Graf Waldersee über die sichtliche Zunahme des Revanchegeistes: "Fast alle Zeitungen predigen Haß und Rache gegen die Deutschen, wenige wagen ganz schüchtern zur Mäßigung zu raten. Es kommt allmählich in allen politischen Parteien die Ansicht zur Geltung, daß man sich nur in einem Zustande der Waffenruhe befinde und daß, sobald man genügend wieder retabliert sei, zur Revanche geschritten werden müsse." Ein scheinwerferhaftes Licht fiel auf diesen Seelenzustand, als im Dezember1871 die Mörder deutscher Soldaten von französischen Geschworenengerichten frei- [133] gesprochen wurden - man stelle sich vor, mit welchen Mitteln die französischen Okkupationsmethoden von 1919 auf einen ähnlichen Vorgang geantwortet haben würden. [Betonung vom Scriptorium hinzugefügt.] Wenn aber Bismarck darauf scharfe und drohende Anklagen gegen dieses Erlöschen des Rechtsempfindens erhob, erregte er neuen Groll, und seine Worte geben noch heute der französischen Geschichtschreibung einen Anlaß, Betrachtungen über die brutale Natur des Reichskanzlers anzustellen.5 Selbst der alte Ranke, der sehr menschlich zu urteilen pflegte, stellte in einer Silvesterbetrachtung von 1872 fest, daß über allen Zerwürfnissen der Franzosen der Wunsch, die Leidenschaft sich zu rächen schwebe: "davor wird alles andere zurückweichen". Auf diesem Felde verschwanden alle Parteiunterschiede. So kam denn Bismarck in einem Erlaß vom 2. Februar 1873 zu dem Ergebnis: "Die Offenheit, mit welcher seit dem Friedensschluß in Frankreich der Nationalhaß gegen die Deutschen von allen Parteien geschürt und proklamiert wird, läßt uns darüber keinen Zweifel, daß jede Regierung, welcher Partei sie auch angehören möge, die Revanche als ihre Hauptaufgabe betrachten wird. Es kann sich nur darum handeln, welche Zeit die Franzosen brauchen werden, um ihre Armee oder ihre Bündnisse soweit zu reorganisieren, daß sie ihrer Ansicht nach fähig ist, den Kampf wieder aufzunehmen. Sobald dieser Augenblick gekommen ist, wird jede französische Regierung gedrängt werden, uns den Krieg zu erklären."

Allerdings war die Regierung von Thiers entschlossen, Erfüllungspolitik zu treiben, um die Räumung des Landes in den vertragsmäßigen Fristen herbeizuführen, und es lag ihr nichts ferner, als nach der Weise der Opposition mit kriegerischen Velleitäten zu spielen. Aber auch Thiers, wenn er dem deutschen Botschafter die völlige Unmöglichkeit einer französischen Kriegführung in der Gegenwart entwickelte, hielt es für angezeigt, eine andere Zukunft seines Vaterlandes (die er allerdings nicht erleben werde) in Worten auszumalen: "Nach Verlauf vieler Jahre, wenn Frankreich zu Kräften gekommen sein würde, müsse natürlich das Bestreben in den Vordergrund treten, eine Entschädigung für die erlittenen Verluste zu suchen, und wenn Deutschland einmal in Verlegenheit mit andern Mächten geraten sollte, werde der Augenblick zur Abrechnung gekommen sein. Darum sei aber noch gar nicht gesagt, daß Frankreich in einem solchen Falle gegen Deutschland auftreten müsse. Es sei sehr wohl denkbar, daß Deutschland dann Frankreichs Allianz durch Kompensationen zu erkaufen geneigt sein würde, welche einen Krieg unmöglich machen könnten".6 Diese Visionen mochten in eine ferne Zukunft reichen und sich friedlich-realistisch gebärden - wie mußten sie auf einen Realisten wie Bismarck einwirken!

Die am 15. September 1873 vollendete Räumung Frankreichs eröffnete eine neue Epoche im Innern des Landes, weil nun die Entscheidung über [134] die Staatsform näherrückte, und nach außen hin, weil sich dem französischen Staat der erste Anfang zu freierer Bewegung eröffnete. Von jetzt an begannen die übrigen Mächte ernsthafter mit dem französischen Faktor zu rechnen. Wie hatten sich inzwischen die Beziehungen des Deutschen Reiches zu den Großmächten gestaltet?

Die intime Verbindung zwischen Preußen und Rußland, seit Ende 1868 auch vertragsmäßig gefestigt, hatte beim Kriegsausbruch im Juli 1870 wertvolle Dienste geleistet, indem sie zur Zügelung des österreichischen Tatendranges beitrug. Kaiser Wilhelm hatte diese Tatsache im März 1871 in einer Weise anerkannt, die nach dem Urteil seiner Berater seinem ritterlichen Empfinden entsprach, aber über das politisch Zulässige fast hinausging. "Nie wird Preußen vergessen, daß es Ihnen verdankt, daß der Krieg nicht äußerste Dimensionen angenommen hat", hieß es in dem Telegramm an den Zaren, das fast einer politischen Schuldverschreibung glich. Niemals zuvor strahlte die traditionelle Freundschaft der Dynastien in hellerem Lichte. Aber wenn es schon immer fraglich gewesen war, ob die Wärme dieser Freundschaft auch in der nächsten dynastischen Generation andauern würde und ob sie von den Spitzen des Staates tiefer in die russische Gesellschaft hinabreiche, so trat jetzt die weitere Frage hinzu, ob diese Tradition nach den überwältigenden deutschen Siegen auch dem russischen Machtinteresse entsprechen und unverändert in eine veränderte Weltlage übernommen werden könne. Als der in der russischen Tradition aufgewachsene Prinz Friedrich Carl im Dezember 1871 nach Petersburg entsandt wurde, wußte er nicht genug von der Liebe des Zaren zu Preußen zu melden, den die deutschen Siege wie russische Siege erfreut hätten: "Aber der Kaiser", fügte er hinzu, "dem sehr wenige beistimmen, steht allein da für uns. Gegen Deutschland ist der große Haß überall, außer beim russischen Volke."

Schon regten sich ganz andere Stimmen in Rußland. Noch während des deutsch-französischen Krieges erschien das Werk von Danilewskij: Rußland und Europa, das bald zu einem Evangelium der russischen Intelligenz werden sollte. Es faßte zum ersten Male die Zertrümmerung Österreichs und der Türkei als Ziel der russischen Politik und Sache des gesamten Slawentums ins Auge und nahm für dieses Zukunftsprogramm Frankreich als Bundesgenossen in Aussicht. Ebendarum aber sei Rußland, so folgerte diese geschmeidige Dialektik, an dem Siege Deutschlands und zeitweiliger Schwächung Frankreichs interessiert, damit eine dauernde tiefe Kluft zwischen beiden Mächten aufgerissen, Frankreich aber (unter Preisgabe aller polnischen Liebhabereien) allein bei Rußland seine Stütze zu suchen genötigt werde. Also habe Rußland die bisherige politische Unterstützung Preußen-Deutschlands aufzugeben. Es werde durch eine solche Wendung, mit der es in dem jahrhundertalten Kampfe zwischen Germanentum und Slawentum seine Stellung nehme, überall die Herzen der slawischen Intelligenz auch außerhalb Rußlands gewinnen. Der russische Machtinstinkt [135] fühlte, daß er infolge der sich verschiebenden Dynamik Europas mit der anderen Seite vielleicht noch bessere Geschäfte machen könne. Obgleich der deutsche Sieg keineswegs die Position der Russen verschlechtert, vielmehr in der Pontusfrage infolge des Wegfalls der alten englisch-französischen Kombination ihr eher Luft gemacht hatte, so wurde man sich doch bewußt, daß man hinfort auch eine andere Karte ausspielen und den von Frankreich her lockenden Liebeswerbungen entgegenkommen könne. Schon vor der Kaiserproklamation in Versailles war Danilewskij über sein Programm klar: alle unsere Sympathien sind auf Seiten Frankreichs, aber die politischen Interessen zwingen uns, auf den vollen Sieg Deutschlands zu hoffen.7

Solche Gefühle wurden von dem amtlichen Rußland keineswegs geteilt, aber die Möglichkeit, eines Tages auch eine andere Politik treiben zu können, konnte dazu verführen, mit ihr zu spielen und das Deutsche Reich aus Sorge vor einer solchen Rechnung beizeiten zu einer dankbaren und dienstwilligen Haltung zu nötigen. Fürst Gortschakow hatte die französische Karte von jeher viel zu sehr geschätzt, als daß er um solche Möglichkeiten und die daraus für den deutschen Staat fließenden Konsequenzen nicht gewußt hätte; die preußischen Diplomaten hatten längst beobachtet, daß er zu ihnen über Frankreich zu sprechen lieber vermied; seit dem deutsch-französischen Kriege stand es für ihn noch mehr als vordem fest, daß, vom russischen Interesse aus gesehen, Frankreich eine europäische Notwendigkeit sei. Schon Ende 1871 ließ er in Berlin neben einer Erkundigung nach dem Stande der nordschleswigschen Frage die Hoffnung aussprechen - und das machte Bismarck hoch aufhorchen8 -, daß die Deutschen wegen etwaiger Nichterfüllung der französischen Zahlungsverpflichtungen doch keinesfalls einen Krieg zur Eintreibung führen würden. Gewiß nur eine leichte Andeutung - obendrein bestimmt den Weg nach Berlin nicht zu verlegen, sondern offenzuhalten -, aber doch zugleich eine sanfte Erinnerung, daß dieser Weg für die Russen in Berlin nicht aufhöre, sondern ihnen bis nach Paris reichende Perspektiven eröffne. Mochte der deutsche Sieger daraus entnehmen, daß er zwar in den Mittelpunkt Europas gerückt, aber dafür auch mit neuen aus dieser Machtverschiebung unausweichlich sich ergebenden Belastungen beladen sei.

Bismarck hörte ohne Zweifel das politische Bedürfnis Rußlands heraus, auch dem starken kaiserlichen Deutschland gegenüber die Freiheit seiner Hand [136] und seiner Interessen zu betonen. Er war sich der positiven Werte der russischen Freundschaft sehr bewußt; noch fünf Jahre später, nachdem er inzwischen peinlichere Erfahrungen gesammelt hatte, sprach er von Rußland als "dem bisher nützlichsten und in Zukunft vielleicht wichtigsten und seinen inneren Verhältnissen nach relativ zuverlässigsten unserer Bundesgenossen"; vor allem verhehlte er sich nicht, daß er mit einer starken Neigung seines Monarchen nach dieser Seite rechnen müsse. Aber sein politisches Denken lebte viel zu sehr in dem dynamischen Grundgesetz der europäischen Mächte, als daß er nicht einem fortan vielleicht zu erwartenden russischen Freundesdruck gegenüber sich auch nach Gegengewichten in der Welt umgesehen hätte.

Die preußisch-deutschen Beziehungen zu Österreich waren durch den Krieg, rein dynamisch gesehen, eher im umgekehrten Sinne umgewälzt worden. Bis an die Schwelle des Kriegsausbruches hatte man in Wien in geheimen Bündnisverhandlungen mit Frankreich gestanden, und wenn man nach Kriegsausbruch doch nicht marschierte, so geschah es, weil die russische Drohung, der Einspruch der Ungarn und Deutsch-Österreicher, und die ersten deutschen Siege zum Stillsitzen oder doch zum Abwarten nötigten. Aber noch kurz vor Sedan hatte die österreichische Militärpartei gegen die bremsende Diplomatie der Staatsleitung größere Kriegsvorbereitungen durchgesetzt, und der Reichskanzler Beust hatte wenigstens alles getan, um eine Aktion der Neutralen einzuleiten und damit dem deutschen Siege in den Weg zu treten. Bismarck hatte dieses ganze Nachspiel der österreichischen Gegnerschaft seit 1866 nicht allzu tief nachgetragen, sondern mit nüchternem Realismus die österreichische Großmacht als europäischen Faktor in seine künftige Rechnung eingestellt; er war entschlossen, die Politik, die er mit den maßvollen Friedensbedingungen des Jahres 1866 eingeleitet hatte, wieder aufzunehmen. Gewiß wiegt es nicht allzu schwer, wenn er während der Pontuskonferenz dem Engländer Odo Russell zu verstehen gab, ihm schwebe eigentlich ein Bündnis mit England und Österreich als Ideal vor - daß er sich nach Gegengewichten gegen Rußland umsah, mag man immerhin daraus entnehmen. Eben damals, im Dezember 1870, brachte er dem Wiener Kabinett den Beitritt der Südstaaten, der formell die Prager Friedensbestimmungen durchbrach, zur amtlichen Anzeige: nicht allein die Rücksicht auf den Prager Frieden leite ihn, "sondern auch der Wunsch, mit dem mächtigen Nachbarreiche Beziehungen zu pflegen, welche der gemeinsamen Vergangenheit wie den Gesinnungen und Bedürfnissen der beiderseitigen Bevölkerungen entsprechen". Auf diesem Wege ging er nach dem Friedensschlusse weiter. Die ersten Berührungen der beiden Monarchen in Ischl und Salzburg im August 1871 stellten die persönlichen Beziehungen wieder her und begruben die Vergangenheit; seit der Berufung Andrássys konnte Bismarck darauf rechnen, daß seine Politik auf Gegenliebe stoßen würde; daß noch auf lange Zeit hinaus mächtige Gruppen in Wien die Versöhnung zu hintertreiben suchten, blieb ihm [137] nicht unbekannt. Andrássy aber war innerlich überzeugt, daß Deutschland wegen Frankreich kommen müsse; hätte es nicht Elsaß-Lothringen genommen, so würde es die Wahl zwischen Österreich und Rußland haben; bei der unversöhnlichen Kluft zwischen Deutschland und Frankreich werde ihm die Freundschaft mit Österreich so wichtig sein, daß es sie unmöglich Rußland opfern könne. So war schon im April 1872 der Besuch Kaiser Franz Josephs in Berlin zum Herbstmanöver beschlossen, der vor der Welt den endgültigen Strich unter die Vergangenheit ziehen und eine neue Ära einleiten sollte; man meinte auf deutscher Seite, auf dieser Zusammenkunft das freundschaftliche Verhältnis in bindende, wenn auch noch nicht vertragsmäßige Formen zu bringen.

Die Absicht Bismarcks war, die deutsch-österreichische Freundschaft zunächst unter Dach und Fach zu bringen und von dieser starken Mitte aus, die in gewissem Sinne die europäische Situation des Deutschen Bundes wiederherstellte, als gleichwertige Partner mit Rußland einen Friedenspakt zu schließen. Dieser Plan Bismarcks, von seinem Standpunkte ebenso verständlich wie von demjenigen Andrássys, wurde jedoch in der Ausführung durchkreuzt und abgebogen. Kaiser Alexander, der auf Umwegen von dieser Zusammenkunft erfahren hatte, ließ um Mitte Juli in Berlin anfragen, ob man ihn nicht zusammen mit dem Kaiser von Österreich zu sehen wünsche; er schien das Gefühl zu hegen, wenn sein bester Freund Wilhelm I. mit einem dritten zusammenkomme, daß er sozusagen vor der Tür seines Freundes stehe, während die beiden anderen miteinander vertraulich verkehrten. Der Russe war von der Sorge erfüllt, daß eine sich bildende deutsch-österreichische Freundschaft ohne ihn leicht zu intim werden könne, und meldete gleichsam als der ältere Freund die Vorhand im Freundschaftsverhältnis an. Es lag auf der Hand, daß Kaiser Wilhelm I. auf die Ankündigung des Zaren eingehen und die gewünschte Einladung aussprechen mußte. Der ursprüngliche Plan Bismarcks war damit gestört; "der eigentliche Zweck", so urteilte Schweinitz, "nämlich unser Verhältnis zu Wien so akzentuieren, daß sowohl Frankreich wie Rußland sich danach zu richten hätten, war verfehlt. Das rasche und geschickte Eingreifen des Kaisers Alexanders hatte das erreicht". Immerhin glaubte Bismarck auch jetzt noch, daß die Vorteile überwögen; selbst wenn seine eigene Rechnung und nicht minder die Erwartungen Wiens dadurch etwas verschoben waren.

Die Dreikaiserzusammenkunft im September 1872, deren Vorgeschichte nicht frei von einem verborgenen Spiel großmächtlicher Rivalitäten ist, ließ vor der Welt von diesen Hintergründen nichts erkennen. Sie wirkte nach außen hin wie ein Triumph der deutschen Politik, und die glänzende Schaustellung der drei Monarchen und ihrer leitenden Minister in der Hauptstadt des neuen Reiches wurde wie eine europäische Sanktion des großen Umschwunges angesehen. Dem Zuschauer drängte sich die Vorstellung auf, als wenn ein Dreikaiserbündnis eine neue Ära der Staatengesellschaft einleite, und der historische [138] Sinn mochte sich an die Zeiten des Bundes der Ostmächte erinnert sehen. Aber der Vergleich traf in Wirklichkeit nicht zu. Nicht nur daß in dem Verhältnis der Schwerpunkt sich von Wien über Petersburg nach Berlin verlagert hatte; insofern hatte Bismarck Recht zu dem Urteil, er habe sich eine Brücke nach Wien geschlagen, ohne die abzubrechen, die er schon nach Petersburg besessen habe. Vor allem aber war von einem Bündnis, überhaupt von einer Abmachung nicht die Rede. Bismarck, der mit Gortschakow und Andrássy nur gesondert, nicht gemeinschaftlich verhandelte, stellte sogar fest, daß durch jeden Versuch einer Abmachung nur der gute Eindruck und die wohltätige Wirkung der Zusammenkunft würde abgeschwächt werden; "es ist nichts abgemacht", betonte er auch gegenüber seinem Kaiser. Man stellte also nur ein allgemeines Einvernehmen fest in der Aufrechterhaltung des Friedens, in der Behauptung der Ordnung gegenüber den unterirdischen Gefahren und schließlich in der grundsätzlichen Haltung in der Orientfrage. Aufrechterhaltung des Friedens bedeutete noch keineswegs Garantie des Besitzstandes. Die Franzosen hatten mit den größten Sorgen einer solchen Wendung entgegengesehen, aber Gortschakow hielt es für angezeigt, sie noch in Berlin zu beruhigen, daß es nur einen Austausch von Gesichtspunkten und Ideen gegeben habe, aber kein Protokoll, nichts Schriftliches. Ja er ging so weit, dem französischen Botschafter in Berlin gleichzeitig mit dieser Eröffnung den Wunsch auszusprechen: "Frankreich muß stark und weise sein; es muß stark sein, um eines Tages die ihm vorbehaltene Rolle in Europa zu spielen." Damit durchkreuzte Gortschakow im Augenblick der Begründung des Dreikaiserverhältnisses die Linie Bismarcks: gegenüber dem deutschen Reichskanzler, der die Karte Österreich aufgenommen hatte, wollte er wenigstens für die Zukunft sich die Karte Frankreich sichern.

Schon diese eine Episode warnt davor, die Bedeutung des Dreikaiserverhältnisses zu überschätzen: auch auf der russischen Seite, die soviel Wert auf die Beteiligung gelegt hatte, machte man seine Vorbehalte. Doch würde es ebenso unrichtig sein, die Bedeutung des Dreikaiserverhältnisses darum gering anzusetzen. Es hat immerhin den Wert eines Versuches, der vielleicht zeitlich befristet war, aber so viele Möglichkeiten in seinem Innern barg, daß er sein eigentliches Gesicht erst im Laufe der Zeit entwickeln würde. Man war in London nicht ohne Besorgnisse, und wenn der Zar von den Gefahren des wachsenden Republikanismus in England sprach, denen die Mächte entgegentreten müßten, um die Ordnung in Europa aufrechtzuerhalten, so verriet er, daß er dem Verhältnis gern eine Spitze gegen England geben wollte. Im Laufe des nächsten Jahres schien es sogar, als wenn das Dreikaiserverhältnis sich noch vertragsmäßig verdichten würde. Bei dem Besuche Kaiser Wilhelms in Petersburg im April 1873 wurde eine Militärkonvention über militärische Hilfeleistung gegen jeden Angriff von dritter Seite abgeschlossen, die von den Feldmarschällen Moltke und Graf Berg unterzeichnet und von [139] den Monarchen bestätigt wurde. Bezeichnend aber war, daß Bismarck die Unterzeichnung ablehnte, offenbar weil er eine einseitige Bindung von ihr befürchtete, und ausdrücklich darauf bestand, daß die Konvention nicht gelte, wenn Österreich nicht beiträte. Am 6. Juni 1873 folgte auch eine österreichisch-russische Militärkonvention, die im Falle eines Angriffs von dritter Seite eine vorgängige Verständigung vorsah; indem auch Kaiser Wilhelm ihr am 22. Oktober 1873 beitrat, wurde der Ring der Abmachungen wieder geschlossen. Man kann trotzdem nicht sagen, daß das Dreikaiserverhältnis von 1872 durch diese Verträge an innerer Festigkeit gewonnen hätte. In Wahrheit war noch alles im Flusse. Das wird noch deutlicher werden, wenn wir den Blick auf England werfen. Innerhalb des Dreikaiserverhältnisses war Rußland geneigt, eine Spitze gegen England zu nehmen, Österreich aber gewillt, eine gute Beziehung mit England unter allen Umständen zu pflegen. Um so mehr kam es darauf an, wie sich die Beziehungen zwischen Berlin und London gestalten würden.

England hatte in den preußisch-deutschen außenpolitischen Beziehungen von jeher nicht diejenige Bedeutung gehabt, die dem Verhältnis zu den nächsten kontinentalen Nachbarn zukam: das galt auch von der Zeit des Krieges und den ersten Jahren der Nachkriegszeit. Die Außenpolitik des liberalen Kabinetts Gladstone-Granville, im allgemeinen ohne feste und ausgesprochene Linie, hatte zumal gegenüber den Umwälzungen, die sich unter Bismarcks Führung vollzogen, kein Programm gehabt - es waren die Jahre, in denen der englische Einfluß in Europa eher etwas ausgelöscht war. Bismarck hielt während des Krieges dem englischen Kabinett einmal vor, "daß wir im Laufe der letzten zehn Jahre oftmals vertraulich in London sondiert haben, was wir von England zu erwarten hätten im Falle eines Krieges mit Frankreich - und daß wir stets ausweichende, meist kühl ablehnende, im besten Falle dahin lautende Antworten erhalten haben: daß dies ganz von dem Stande der öffentlichen Meinung in England abhängen würde".9 Diese unbestimmte Haltung Englands setzte sich nach Kriegsausbruch fort. Wenn anfangs die Sympathien für Deutschland überwogen, so begann sich mit der Zeit in der öffentlichen Meinung, auf die alles ankam, ein Umschwung zu vollziehen. Der Zusammentritt der Pontuskonferenz änderte daran ebensowenig wie die gelegentlichen werbenden Sondierungen Bismarcks.10 Vielmehr unternahm das englische Kabinett verschiedene Anläufe, auf die Friedensbedingungen von Versailles wenigstens auf Umwegen einzuwirken; es tat damit der öffentlichen Meinung Englands nicht genug, reizte den französischen Widerstand auf und erregte nur die deutschen Stim- [140] mungen, die gerade das Verhältnis zu England unsachlich und sentimental nahmen.

Die Ursache des Stimmungsumschwunges in England lag nicht in dem allgemein menschlichen Anteil an dem französischen Schicksal, der nach außen hin einen breiten Raum einnahm, noch in den geschäftlichen Interessen der Kriegsindustrie, die den Weg des besten Verdienstes suchte, sie lag in dem tiefen politischen Instinkt der Engländer begründet. Wenn die Niederlage Napoleons auch für England eine gewisse Erleichterung innerhalb des europäischen Gleichgewichtes bedeutete, so drohte seit Sedan der Umschlag, wie man dumpf empfand, einen Umfang anzunehmen, der dem englischen Interesse doch nicht mehr entsprach. Das allgemeine politische Empfinden des Volkes sah in der Welt, die ihm geläufig war, eine Störung eintreten durch etwas Neues, Unberechenbares, Bedrohliches, und das Wort des englischen Diplomaten: "Europa hat eine Herrin verloren und einen Herrn bekommen" schien vielen den Nagel auf den Kopf zu treffen. Eine neue Suprematie drohte heraufzuziehen. Man wurde sich bewußt, daß mit dem Sturze Napoleons III. jede westmächtliche Kombination für lange Zeit ausgeschaltet worden sei, und war sehr unsicher, was an die Stelle treten würde. Auch der Führer der Opposition kam, unabhängig von allen Sympathien und Antipathien, zu dem Ergebnis: "Dieser Krieg verkörpert die germanische Revolution, ein größeres politisches Ereignis als die französische Revolution des letzten Jahrhunderts. Das Gleichgewicht ist völlig zerstört und das Land, das darunter am meisten leidet und das die Wirkungen des großen Umschwunges am meisten fühlt, ist England."11

Wohl überwog in den Vordergründen des politischen Lebens die freundliche Begrüßung des neuen Reiches, aber in der Tiefe regten sich andere Stimmen. Wir erinnern uns des Bildes europäischer Politik, das im Jahre 1864 Lord Salisbury (damals Lord Robert Cecil) entwarf. Von tiefen französischen Sympathien kultureller Art erfüllt, erbitterte er sich jetzt heftig über die Friedensbedingungen, die der Deutsche dem Besiegten auferlege. Er hatte im Jahre 1864 kein Bedenken getragen, dem Kaiser Napoleon III. das Lockmittel des linken Rheinufers hinzuhalten, und setzte sich jetzt leidenschaftlich dafür ein, daß jede Grenzveränderung zwischen Frankreich und Deutschland verboten werden müsse. Denn von dem Rausche des deutschen Triumphes, meinte er, sei mehr zu befürchten als von dem zerrissenen und revolutionierten Frankreich, das friedliche Deutschland sei nur ein diplomatischer Gemeinplatz und es gebe in der Geschichte nichts, eine solche Behauptung zu rechtfertigen. Je mehr er einst die national-politischen Bemühungen eines so unpraktischen Volkes wie der Deutschen von oben herab ironisiert hatte, desto gereizter empfand er jetzt den Umschwung, und fast rachsüchtig blickte er in die Zukunft: "Die Zeit wird kommen, wo ihre ehrgeizigen Träume den Pfad irgendeiner Großmacht kreuzen, die stark genug [141] ist, sie sich nicht gefallen zu lassen; dieser Tag wird für Frankreich der Tag der Wiederherstellung und der Revanche sein." Es war im Moment nur ein Publizist mit vornehmem Namen, der so schrieb, aber es sollten nur wenige Jahre bis zu seinem Eintritt in das Auswärtige Amt vergehen.

Für die englische öffentliche Meinung machte es nicht wenig aus, daß diese Machtverschiebung sich in der ihnen fremdartigen Gestalt Bismarcks verkörperte - was würde der Gegner der Liberalen und der Freund der Russen für England bedeuten? Bei Gladstone und Granville überwog ein persönliches, auch der innerpolitischen Parteifarbe nicht ermangelndes Mißtrauen gegen "den Mann von Blut und Eisen". Weite Kreise waren geneigt, dem deutschen Kanzler nach seinem beunruhigenden Erfolge schlechterdings alles zuzutrauen, und die insulare Geschichtskenntnis fühlte sich sogar an die Figur Napoleons I. erinnert, obgleich auch nicht ein entferntes Recht zu solcher Parallele zu erweisen, geschweige denn vom englischen Standpunkt aus zu vertreten war. An dieser Stelle trug leider auch die Haltung des kronprinzlichen Paares in Berlin, namentlich der Kronprinzessin Victoria, der alten Gegnerin des konservativen Ministers, immer wieder dazu bei, zumal bei der Königin Victoria und ihrer Umgebung das schlummernde Mißtrauen von innen her zu verstärken.

Diese englische Grundstimmung konnte durch die Dreikaiserzusammenkunft im September 1872 nur vertieft werden. Ein kluger Beobachter stellte in den nächsten Wochen fest: "Es herrscht zur Zeit in England viel Übelwollen gegen Deutschland." Wenn das Dreikaiserverhältnis von weitem an die alte Gruppierung der Ostmächte erinnerte, so bedeutete es, angesichts der zeitweiligen Ausschaltung Frankreichs, so gut wie eine Isolierung Englands, und es konnte immerhin eines Tages seine Spitze gegen England nehmen, zumal wenn es sich - wie es im Jahre 1873 den Anschein hatte - noch weiter verdichtete oder gar auf die Orientpolitik ausdehnte. So begreift man, wenn die englische Regierung es für erwünscht halten mußte, daß Frankreich nicht für längere Zeiten ausgeschaltet blieb, sondern eines Tages sein Gewicht wieder in die europäische Wagschale zu werfen befähigt wurde. Das englische Interesse verlangte nicht Niederhalten, sondern Erholung Frankreichs.

Mit der Räumung Frankreichs durch die deutschen Truppen am 15. September 1873 war die Epoche eröffnet, in der überhaupt die Konsolidierung der europäischen Staatengesellschaft in ein neues Stadium trat. Die nächste innerfranzösische Wirkung bestand nicht in einer Erleichterung von einer drückenden Last, deren Wegfall einer friedlicheren Stimmung zugute kam, sondern in dem Abzuge einer Zwangsgewalt, nach dem man keinerlei Rücksichten mehr zu nehmen hatte. Einsichtige Beobachter stellten sofort fest, daß die feindselige Sprache der französischen Blätter aller Parteien beinahe noch gehässiger und sogar von öffentlichen Autoritäten aufgenommen werde. Unmittelbar bevor die letzten Truppen die Grenze überschritten, wurde in den Kirchen der Diözesen Nancy [142] und Toul - denen auch die Kirchen Deutsch-Lothringens angehörten - ein Hirtenbrief verlesen, der zu Gebeten für die Wiedervereinigung von Metz und Straßburg mit Frankreich aufforderte. Die wohlberechnete Herausforderung gab der deutschen Regierung den Anlaß, von der französischen Regierung zu verlangen, daß sie "wenigstens eine öffentlich erkennbare Mißbilligung" ausspreche; man wollte damit nicht nur das deutsch-französische Verhältnis grundsätzlich klären, sondern auch auf die innerfranzösischen Entscheidungen, in denen während der letzten Monate des Jahres 1873 die Möglichkeit einer klerikalen Monarchie immer naher zu rücken schien, eine heilsame Einwirkung ausüben. Da die Regierung des Herzogs von Broglie zunächst auszuweichen suchte, wurde das Verlangen deutlicher wiederholt, bis sie schließlich zu denjenigen Schritten sich herbeiließ, die, ohne sie allzusehr bei dem Nationalismus zu kompromittieren, als Genugtuung angesehen werden konnten. In dieser Krisis wandte sich am 16. Januar 1874 ein Artikel der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung gegen die Bischöfe, die "ein Zerwürfnis zwischen Frankreich und uns, das wir nicht wünschen, herbeiführen". Die große Sorge Bismarcks in diesen Monaten, wo der innerdeutsche Kulturkampf auf dem Hintergrunde einer internationalen Krise auf den Höhepunkt stieg, war die Verquickung von Revanche und Religion, die Befestigung der Regierungsgewalt Frankreichs nach der klerikalen Seite hin und die Möglichkeit einer katholisch-monarchischen Bündnisbildung in Europa: eine Verbindung der inneren und äußeren Gegensätze im Zeichen der Ecclesia militans mußte um jeden Preis gesprengt werden. Ein streng vertraulicher Erlaß vom 23. Januar 1874 erörterte, man sei entschlossen, den Krieg zu vermeiden, solange sich nicht die Überzeugung aufdränge, daß er unvermeidlich sei: "Wenn die französische Politik sich den uns feindlichen Bestrebungen der römischen Kurie dienstbar macht, so werden wir uns für bedroht erachten und auf die Abwehr Bedacht nehmen müssen. Auf andern Gebieten liegt für uns kein Grund vor, eine Störung des Friedens zu besorgen, und wir haben weder Absicht noch Bedürfnis, in die ruhige Entwicklung unsrer künftigen Beziehungen zu dem mächtigen Nachbarstaate gewaltsam einzugreifen. Es ist unser lebhaftester Wunsch, mit demselben in Frieden zu leben, und wir werden kein Mittel unversucht lassen, um die französische Regierung für die gleiche Anschauung zu gewinnen."12 Daß der Sinn des Erlasses, der ausdrücklich den Botschaftern untersagte, einen Anlaß zu Äußerungen ihrerseits daraus zu entnehmen, nicht etwa auf eine verdeckte Theorie des Präventivkrieges hinauslief, steht nach seinem Gedankengang außer Frage.

Es ist nicht unwahrscheinlich, daß die französische Regierung, in dem Gedränge zwischen ihren eigenen Nationalisten und dem deutschen Drucke, in diesen Tagen bewegliche Klage nach London erschallen ließ - und hier war man sogleich bereit, den Schlüssel der Situation in der einfachen Formel zu finden: Frankreich [143] durch Deutschland bedroht. Man glaubte es, weil man es glauben wollte und die Wiederauferstehung der französischen Macht in Europa wünschte. Lord Granville meinte damals wirklich in Bismarck eine größere Gefahr für den Frieden Europas zu erblicken, als in den Leidenschaften der französischen Klerikalen: wenn Deutschland einen Angriffskrieg beginne, so zweifle er, ob irgend jemand für die Stimmung in England aufkommen könne.13 Bald nachdem die Norddeutsche Allgemeine Zeitung ihren kalten Wasserstrahl nach Paris gesandt hatte, begann er zu handeln, in einem Momente, wo die Spannung zwischen Berlin und Paris infolge des schärferen Vorgehens der französischen Regierung gegen die klerikalen Elemente schon wieder nachzulassen begann. Er veranlaßte die stets zu Friedensdiensten bereite Königin Victoria, am 10. Februar 1874 ein Schreiben an Kaiser Wilhelm zu richten, das in freundschaftlicher, aber eindringlicher Weise zur Großmut und zum Frieden mahnte; die herausfordernde Sprache der Franzosen wurde zugegeben, aber aus dem Nationalcharakter zu erklären versucht; die Sympathien für Deutschland wurden warm betont, namentlich auch die protestantischen Sympathien, auf die man rechnen könne, wenn nur nicht Deutschland die Absicht hege, einen geschlagenen Feind zu vernichten.14 Es war ein Familienbrief, gegen dessen Form nichts einzuwenden war, dessen Inhalt aber doch, wie Bismarck sofort herausfühlte, auf eine leise politische Warnung hinauslief. Der Kaiser beteuerte in einem langen Staatsschreiben vom 16. Februar 1874 seine absolute Friedensliebe.15 In dem Entwurfe, in dem Bismarck die Feder geführt hatte, hieß es in dessen Worten: "Ich muß gerüstet bleiben. Um so mehr, als die Erfahrung mich gelehrt hat, daß ich auch dem ungerechtesten Überfall gegenüber allein stehe in Europa. Mir aber wird niemand im Ernste einen Eroberungskrieg zutrauen. Wenn mir meine Neigung und mein christliches Bewußtsein der Verantwortung vor Gott solche ruchlose Kriege nach französischer Manier, wie Frankreich seit 300 Jahren gegen uns so viele geführt hat, nicht an sich untersagten, so frage ich jeden vernünftigen Menschen, was sollte ich denn erobern wollen, wo liegt denn irgendeine Versuchung, die mich auf solche Abwege bringen könnte? Ich will nichts als Deutschlands Frieden, Sicherheit und innere Befestigung."16

In denselben Tagen führte ein Erlaß des Reichskanzlers an den Botschafter in Petersburg aus: "Daß andere Regierungen auf die Entwicklung der Dinge in Frankreich mit anderen Augen sehen, ist nicht zu verwundern; sie sind nicht die Nachbarn der Franzosen, während Deutschland gleichsam das Stoßpolster [144] Europas gegen die Invasionen einer kriegerischen Völkerschaft bildet. Niemand kann sich darüber täuschen, daß, wenn Frankreich wieder stark genug ist, den Frieden zu brechen, der Friede zu Ende sein wird; und es ist möglich, daß andere Regierungen, die nicht Nachbarn von Frankreich sind, auf die Eventualität, ob Deutschland von Frankreich zum zwanzigsten Mal in zwei Jahrhunderten wiederum angegriffen wird, mit mehr Ruhe als wir, vielleicht auch nicht ohne ein gewisses Behagen, blicken. Der Fürst Gortschakow treibt russische Machtpolitik: wir verfolgen keine Macht-, sondern Sicherheitspolitik." Es ließ sich aber nicht verkennen, daß man in Petersburg wie in London aus einem gleichen großmächtlichen Interesse heraus auch eine deutsche Sicherheitspolitik, die irgendwie als eine Beeinträchtigung des französischen Machtwillens ausgelegt werden konnte, nicht gutzuheißen geneigt war.

Während des Meinungsaustausches der Monarchen hatte sich in England ein politischer Umschwung vollzogen: der Übergang der Regierung an die konservative Partei. Ihr Führer Mr. Disraeli, der schon im Jahre 1872 die Umrisse seines imperialistischen Programms entwickelt hatte, war von Anfang an entschlossen, eine aktivere und energischere Außenpolitik als sein Vorgänger zu betreiben. Man mußte in Berlin damit rechnen, daß die Außenpolitik Englands, statt von den etwas schwächlichen Händen Granvilles, fortan von einem stärkeren, vielleicht auch unvorsichtigeren Willen geleitet werden würde.

Das Jahr 1874 brachte in die großmächtlichen Beziehungen nicht zunehmende Durchsichtigkeit, sondern nur neue Spannungen, die ihren Ursprung mehr in der Peripherie als in dem Zentrum Europas hatten. Indem das Deutsche Reich aus Anlaß eines Konfliktes mit den spanischen Karlisten die Führung in der Anerkennung der spanischen Republik - zugleich ein Schritt in der antiklerikalen Außenpolitik Bismarcks - übernahm, konnte es nicht vermeiden, daß dadurch ein Mißton in das Verhältnis zu Rußland gebracht wurde. Wenn in diesem Falle der Anlaß eher vorübergehender Natur war, so wurden im Orient schon Anzeichen sichtbar, daß von hier aus die Gruppierung der Mächte nachhaltiger in Fluß kommen würde. Um so mehr ging Bismarck darauf aus, einen orientalischen Krieg möglichst hinzuhalten oder doch zu verhindern, daß aus orientalischen Verwicklungen eine europäische Friedensstörung entstehen möchte, durch die auch die französischen Hoffnungen neu belebt werden könnten. Mit einer gewissen Unruhe verfolgte er die Bemühungen Frankreichs, sich der wenn auch noch so entfernten Möglichkeit eines russischen Bündnisses auf dem Boden einer gemeinsamen Aktion im Orient Schritt für Schritt zu nähern: schon im Jahre 1874 sahen die Visionen Gambettas die Serben dereinst die Rolle der Piemontesen des Ostens spielen und träumten davon, wie es, wenn dieses Südslawenreich geschaffen sei, mit den Preußen, den Mazedoniern des Nordens, als Diktatoren Europas zu Ende sein würde.17 [145] Bismarck wollte eine Orientkrise möglichst vermeiden, weil sie auf alle Fälle dem Bestande des Dreikaiserverhältnisses, des einzigen bisherigen Ansatzes zu einer Mächtegruppierung, gefährlich werden und einen russisch-österreichischen Interessengegensatz enthüllen konnte; in demselben Gedankengange suchte er den russisch-englischen Gegensatz auf diesem Schauplatz zu mildern, weil er auch von seinem Ansteigen eine wachsende Bedrohung des Friedens, vor allem für Deutschland den Zwang zur Option befürchtete. Wenn der Reichskanzler sich bewußt war, daß die guten Beziehungen Deutschlands zu England im Interesse seiner europäischen Stellung unter der Intimität zu den beiden Kaisermächten nicht leiden dürften,18 so war auf der anderen Seite Gortschakow darauf bedacht, Bismarck einer englischen Rückendeckung zu berauben und zugleich die französische Bündnismöglichkeit nicht aus dem Auge zu verlieren. So waren die großmächtlichen Beziehungen aller zu allen noch im vollen Flusse. Jeder bemühte sich, in die Hinterhand des Spieles zu kommen, möglichst freie Bewegung für sich und feste Bindung der anderen zu erzielen, um so die Führung zu übernehmen und dem Rivalen das Gesetz des Handelns zu diktieren. In diesen Zusammenhang gehört auch die Mission Radowitz' nach Petersburg im Februar 1875. Sie bezweckte nicht nur, die deutsch-russischen Mißverständnisse zu beseitigen und das möglicherweise gestörte Vertrauen des Zaren zu befestigen, sondern war auch dazu bestimmt, in der politischen Behandlung der Geschäfte die Parität wieder herzustellen, die Gortschakows Methode zugunsten einer russischen Führung zu verschieben bestrebt war - sie war eine Episode in dem diplomatischen Ringen um die Mächtegruppierung der Zukunft. Nicht aber lief die Mission, wie später behauptet worden ist, auf eine geheime Erkundung hinaus, ob Rußland gegen eine ihm gewährte freie Hand im Osten seinerseits freie Hand gegen Frankreich zu gewähren bereit sei. Als ein Vorspiel zu der zeitlich bald anschließenden deutsch-französischen Krisis von 1875 ist sie weder nach dem Aktenbestande noch nach der Lage der Dinge zu bezeichnen.19

Diese Krisis setzte erst etwas später ein, sie nahm ihren Ausgang von den neuen Rüstungen Frankreichs. Der Auftakt war die deutsche Maßregel eines Pferdeausfuhrverbotes vom 4. März, mit der man die umfangreichen französischen Pferdeankäufe beantwortete. Den eigentlichen Anlaß gab das französische Cadresgesetz vom 13. März 1875, das in das militärische Stärkeverhältnis der Länder einen neuen Ton zu bringen schien. Das deutsche Reichsmilitärgesetz vom 2. Mai 1874, das am 1. Januar 1875 in Kraft getreten war, hatte die im Jahre 1867 auf 1% der Bevölkerungszahl festgesetzte Friedenspräsenzstärke von 401 659 Köpfen beibehalten, ohne den inzwischen eingetretenen Bevölkerungszuwachs von rund 2 Millionen Einwohnern zu berücksichti- [146] gen.20 Auch aus der Geltung dieser Regelung für sieben Jahre war zu entnehmen, daß man sich nicht auf Wettrüsten, sondern auf einen dauernden Stand einzurichten wünschte. Das neue französische Cadresgesetz veränderte das Kräfteverhältnis insofern, als es die Möglichkeit schuf, ohne die Friedenspräsenz zu erhöhen, durch Aufstellung eines Kriegsetats von 200 bis 300 Mann für die Kompagnie 100 000 bis 150 000 Mann mehr in die aktive Feldarmee zu stellen. Die Absicht, den deutschen Rivalen zu überflügeln, war erkennbar und symptomatisch. Es steht jedoch außer Frage, daß die praktische Tragweite dieser Verstärkung auf deutscher Seite überschätzt wurde, weniger von dem deutschen Militärattaché in Paris als von dem Generalstab in Berlin. Jenes Geschlecht war noch nicht an das Schauspiel des ungemessenen Wettrüstens der Mächte als eines Dauerzustandes der Menschheit gewöhnt, sondern glaubte die Maßnahmen der anderen Seite als einem unmittelbaren kriegerischen Zwecke dienend auslegen zu sollen. Die Militärs in Berlin meinten sich schon dem letzten vorbereitenden Schritt gegenüber zu sehen; das Militärwochenblatt vom 27. März sprach bereits ernste Warnungen aus; auch der Kronprinz stand stark unter dem Eindruck, daß eine wirkliche Gefahr für Deutschland vorliege. So begann der Generalstab unter Führung Moltkes sich pflichtmäßig mit dem Gedanken zu beschäftigen, ob es gegenüber einem wahrscheinlich zu erwartenden Angriff nicht richtiger sei, selber die Stunde des Losschlagens zu wählen und der drohenden Revanche gegenüber das Prävenire zu spielen.

Die militärischen Besorgnisse, nicht die militärische Idee eines Präventivkrieges wurden im Auswärtigen Amte geteilt. Inmitten der völlig ungeklärten auswärtigen Lage, die sich trotz des Dreikaiserverhältnisses in Europa entwickelt hatte, schien das starke Wiederanwachsen der französischen Macht, auch wenn es noch keine unmittelbare Kriegsgefahr in sich schloß, die deutsche Position automatisch zu verschlechtern. Sollte "der neue Kriegszustand", den Jakob Burckhardt schon im Dezember 1871 schmerzvoll vorausgesehen hatte, sich immer weiter verschärfen, ja verewigen? So war auch Bismarck überzeugt, daß die von der französischen Regierung getroffenen Vorbereitungen, um ihre Armee in schlagfertigen Zustand zu versetzen, weit über die Bedürfnisse einer friedlichen Politik und über die materiellen Kräfte des Landes hinausgingen. Gegen Anfang April wurden die deutschen Vertreter in Paris, London und Wien nach Berlin berufen, um angesichts der schwierig gewordenen Lage Instruktionen zu empfangen.

Inzwischen begannen sich Sorge und Kriegsgerede zu verbreiten und auch in der Presse durchzusickern: je undurchsichtiger gerade in diesen Tagen sich die internationale Konstellation der Mächte (Zusammentreffen des Kaisers Franz Joseph und des Königs von Italien in Venedig) zu gestalten schien, [147] um so mehr schien eine Warnung nach innen und außen angezeigt. Auf einen Warnungsartikel in der Kölnischen Zeitung vom 5. April folgte am 8. April ein viel ernster gehaltener Artikel in der Post mit der beunruhigenden Überschrift "Ist der Krieg in Sicht?", der die herankriechende dunkle Welle der Gefahr der Allgemeinheit zum Bewußtsein brachte und die Frage aufwarf, ob es nicht richtiger sei, dem Gegner zuvorzukommen. Der Artikel war nicht von Bismarck veranlaßt, kam ihm überraschend, wurde aber gleichwohl als ein helles Schlaglicht auf die bedrohliche Lage für nützlich gehalten; demgemäß war auch ein offiziöser Artikel in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung vom 10. April, der formell von den Schlußfolgerungen der Post abrückte, nicht geeignet, die Ruhe wiederherzustellen. Die Beunruhigung stieg vielmehr immer höher. Als General v. Werder am 14. April von Petersburg in Berlin eintraf, fand er die Gemüter in höchster Aufregung: "man glaubte jeden Augenblick die Mobilmachungsordre erscheinen zu sehen."21 In Wirklichkeit war gerade an diesem Tage der Höhepunkt der Krisis schon überschritten. Ein Bericht des deutschen Militärattachés in Paris vom 11. April, in dem auch die milde Hand des Botschafters Fürst Hohenlohe nicht zu verkennen war, hatte über die technischen Wirkungen des Cadresgesetzes weitgehend beruhigt; seine allgemein friedlichen Perspektiven wurden sogar in Berlin als unerwünschte Kompetenzüberschreitung empfunden. Aber auch die bewußte Zurückhaltung der Pariser Presse war im Augenblick geeignet, in demselben Sinne zu wirken. So brachte denn auch die offiziöse Provinzialkorrespondenz vom 14. April einen beruhigenden Artikel, der die Umstellung ankündigte. Der Umschwung wurde vollends dadurch sichtbar, daß unmittelbar hernach, am 15. April, Kaiser Wilhelm sich veranlaßt sah, den französischen Militärattaché auf dem Hofball huldvoll anzusprechen: man habe Deutschland und Frankreich brouillieren wollen, jetzt aber sei alles vorbei. Der Kaiser, an den irgendwelche Anträge der Militärs ebensowenig herangelangt waren wie beunruhigende Vorträge Bismarcks, lebte in der Überzeugung, daß es sich überhaupt nur um Zusammenstöße in den Gefilden der Presse handle, und er sprach mit dem ganzen Gewicht des Obersten Kriegsherrn, an den dieser Lärm nicht heranreiche, in dem ruhigen Bewußtsein, mit seinem kaiserlichen Worte alles zu erledigen und die Krisis zum Abschluß zu bringen.

Die heftige Erregung ließ sich freilich nicht mit einem Schlage abstellen, sondern zog noch einige weitere Kreise. Bismarck hatte sich, wie er damals und später eingeräumt hat, von einer gewissen Beunruhigung eine erzieherische Wirkung auf französische Revanchestimmungen versprochen und er sah keine Veranlassung, auf dieses Argument zu verzichten. Ob er aber mit zwei Vorgängen einverstanden war, die nach dem Ablauf der Krisis sie zu erneuern drohten, ist eher zu bezweifeln. Es handelte sich zunächst um ein Privatgespräch, in dem [148] Herr v. Radowitz, akademisch und außeramtlich, am 21. April zu Diplomaten sich über die Berechtigung der Idee eines Präventivkrieges erging; wieweit ihm dabei Unvorsichtigkeiten unterliefen, wieweit seine Worte nur so ausgelegt wurden, steht dahin. Jedenfalls waren sie für den französischen Ministerpräsidenten Herzog von Decazes ein erwünschter Anlaß, eine Gegenaktion einzuleiten; er hatte schon im März der englischen Regierung nahegelegt, ihren Einfluß in Berlin im Sinne des Friedens geltend zu machen; jetzt sah er eine günstige Gelegenheit, als der Friedliche und Bedrohte an die Mächte heranzutreten, ihre Intervention zu erbitten und damit die Diskussion auf den von so viel Spannungen und ungeklärten Rivalitäten durchzogenen Schauplatz der großen Mächte hinüberzuspielen. Daß der schlaue Gascogner dabei weniger von ernster Sorge als von kühler Berechnung geleitet wurde, steht auch nach französischem Urteil wohl außer Frage. Jedenfalls nahm der Zar, obgleich er die Krisis in Berlin als beendet ansah, den französischen "Vertrauensbeweis" freundlich auf; er stand, auf einer Reise nach Ems, nahe vor einem Besuche in Berlin, und war augenscheinlich auf Drängen Gortschakows zur Hilfe in der Not bereit. Denn Frankreich schien ja einer Hilfe zu bedürfen. Einige Tage später, am 1. Mai, äußerte sich auch Moltke selbst in einem Gespräch mit dem belgischen Gesandten dahin, daß Deutschland im nächsten Jahre den Krieg nicht werde vermeiden können, wenn Frankreich seine Rüstungen nicht auf einen vernünftigen Friedenszustand zurückführe. Ein solches Wort aus dem gewichtigen Munde des Marschalls schien immerhin bedrohlich. Daß Moltke für seine Person an der Notwendigkeit des Präventivkrieges festhielt, war sein Recht; daß er seine Überzeugung trotz der ihm bekannten Ansicht des Obersten Kriegsherrn in dieser Form aussprach, überschritt seine amtliche Kompetenz und in diesem Augenblick auch die von Bismarck innegehaltene Linie. Denn seine Äußerung konnte allerdings der nunmehr beginnenden amtlichen deutsch-französischen Aussprache einen anderen Sinn geben.

Der Herzog von Decazes hatte in der letzten Aprilwoche selbst in Berlin angeregt, ob Frankreich und Deutschland nicht irgendwie zusammen operieren und dadurch ihre Gegensätze überwinden könnten. Die deutsche Regierung griff den Gedanken auf, ohne sich allzuviel davon zu versprechen, und verband ihn auch mit der Frage der Rüstungen. Am 5. Mai erschien Fürst Hohenlohe bei dem Herzog von Decazes mit diesem doppelten Auftrage. Er hatte bei aller friedlichen Tendenz doch dem Herzog klarzumachen, daß Deutschland in den französischen Rüstungsbeschlüssen zwar nicht die Gefahr nahe bevorstehender kriegerischer Verwicklung, wohl aber eine bleibende Belastung der beiderseitigen Beziehungen sehe. Der Franzose erklärte sich seinerseits bereit, zu erwägen, wie und wo ein Terrain zu finden sei, auf dem durch gemeinsame Aktion Deutschlands und Frankreichs für ersteres Beruhigung und für letzteres die gewünschte Stellung unter den europäischen Mächten gewonnen werden könnte. Daß [149] in dem Gespräch von deutscher Seite eine offene oder versteckte Forderung einer Rüstungsbeschränkung oder Entwaffnung gestellt worden sei, wird durch alle ernsthaften Quellen widerlegt.22 So wenig von einer ausgesprochenen deutschen Verständigungsaktion23 die Rede sein kann, so wenig darf ein eindeutiger Einschüchterungsvorstoß herausgelesen werden - die diplomatische Methode Bismarcks barg oftmals mehr als eine Möglichkeit in den Falten ihrer Toga. Jedenfalls konnte er sich einige Tage später, in einem Erlaß an Münster vom 12. Mai, mit Recht darauf berufen, daß zwischen der französischen und deutschen Regierung "auch nicht die leiseste Tonart einer Verstimmung erkennbar sei".

Um so mehr kam es für die Taktik von Decazes darauf an, sich zu stellen, als wenn in der Rüstungsfrage tatsächlich ein Druck ausgeübt worden sei, um auf dieser Grundlage in der bereits eingeleiteten Aktion bei den Großmächten wirksam nachzustoßen. Wenn in Petersburg und London sich die Überzeugung befestigte, daß Bismarck wirklich eine Herabsetzung der französischen Rüstungen habe erzwingen wollen, dann war zu hoffen, daß England und Rußland, die sich in den letzten Wochen einander schon genähert hatten, nicht nur eingreifen, sondern vielleicht sogar vereint eingreifen würden.

In London schlug diese Rechnung mit überraschendem Erfolge durch. Der Außenminister Lord Derby, der sich bisher zurückgehalten hatte, fühlte sich schon durch den Bericht über Moltkes Präventivkriegstheorie lebhaft beunruhigt und ließ sich jetzt leicht überzeugen, daß der Schritt Hohenlohes die erste Etappe auf dem Wege zur direkten Forderung der Rüstungsbeschränkung gewesen sei; den wahren Sinn dieses Schrittes meinte er sich aus den nichtamtlichen Äußerungen von Moltke und Radowitz interpretieren zu dürfen. Als daher die französische Regierung nunmehr in starkem Tone die Sympathien Englands für sich anrief, erklärte er sich sofort bereit, sie tatkräftig zu bezeugen; der konservative Minister nahm damit in vergrößertem Ausmaße die Politik wieder auf, die sein liberaler Vorgänger, vereint mit der Königin Victoria, im Februar 1874 eingeleitet hatte. Zunächst ließ Lord Derby es zu, daß am 6. Mai ein Artikel in der Times Aufnahme fand, der gegen die deutsche Kriegspartei die Anklage erhob, einen Präventivkrieg gegen Frankreich zu planen und den Frieden Europas zu stören, und damit einen Appell an Rußland als die dazu berufene Macht verband, solcher Friedensstörung ein Ende zu bereiten. Der Artikel war von dem Pariser Korrespondenten der Times verfaßt, ging aber in Wahrheit auf den Herzog von Decazes zurück; der italienische Gesandte in Berlin spottete gleich darauf, jedermann in Paris wisse, wer den Times-Artikel geschrieben, aber darum könne man dort nicht auf die Straße gehen, ohne daß ein begegnender Franzose einem zuriefe: "Ce n'est pas M. Decazes qui ait fait [150] l'article." Seine Aufnahme in die Times aber war eine Ankündigung für die Öffentlichkeit, in welchem Lager England zu finden sein würde, und der Auftakt zu der in den nächsten Tagen von England und Rußland ausgehenden diplomatischen Aktion.

Die öffentliche Meinung Englands ließ sich leicht überzeugen, daß Deutschland der große Störenfried und Schuldige sei und daß die Kriegspartei in Berlin den Präventivkrieg vom Zaune brechen würde, wenn ihr nicht Einhalt geboten werde. Selbst ein Mann wie Sir Robert Morier, der sich am kronprinzlichen Hofe leicht hätte unterrichten können, daß Bismarck gar nicht an Krieg denke, sah jetzt als erwiesen an, daß der systematische und doktrinäre Chauvinismus, den Deutschland großgezogen habe, schlimmer als der unmethodische, undisziplinierte Chauvinismus sei, durch den Frankreich so oft den Frieden gestört habe, - eine Nation dürfe es sich nicht leisten, so zynischen Ansichten wie der Präventivtheorie zu huldigen. Vielerlei englische Instinkte vereinigten sich: das alte Mißbehagen seit 1871 und das neue Bedürfnis nach politischer Aktivität, der Glaube an die Notwendigkeit des französischen Gegengewichts und die ehrliche Sorge um den Frieden, Angst vor einer deutschen Hegemonie und vor dem großen Mann, dem man nach seinen Erfolgen von 1866 bis 1871 schlechterdings alles zutraute: wenn ihm bald die Zertrümmerung Österreichs oder die Aufsaugung der kleinen Staaten, bald die Eroberung Hollands oder die Annexion Belgiens als Ziel eines ruchlosen Ehrgeizes zugeschrieben wurde,24 so konnte der Plan eines Überfalles auf Frankreich vollends der inneren Wahrscheinlichkeit doch nicht entbehren. So unternahm es Königin Victoria, in einem persönlichen Brief an den Zaren Alexander dessen Friedenseinwirkung in Berlin anzurufen, und das englische Kabinett entschloß sich, in einer Zirkulardepesche vom 8. Mai, die nach Petersburg, Wien und Rom ging, die Mächte zu einem kollektiven Friedensschritt aufzufordern - an demselben Tage, an dem der Zar mit dem Fürsten Gortschakow aufbrach, um auf der Durchreise durch Berlin sein gewichtiges Wort in die Wagschale zu werfen.

Die russische und die englische Politik, noch kurz zuvor im Reibungszustande untereinander, hatten unerwartet nähere Fühlung miteinander genommen und spielten sich in die Hände - ein überraschendes Momentbild! Während des Krieges von 1870/71 war es Bismarck bis zuletzt gelungen, an den untereinander uneinigen Neutralen vorbei den Friedensschluß autonom zu vollziehen, aber schon in den Nachkriegsjahren hatte der großmächtliche Wille dieser Neutralen sich immer wieder leise bemerklich gemacht - war es jetzt soweit, daß Europa [151] geeint ihm entgegentrat und seinen Schild vor Frankreich stellte? Dazu sollte es allerdings nicht kommen. Die englische Kollektivaktion stieß in Wien und Rom auf unbedingte Ablehnung und war damit erledigt. So versagten nunmehr gerade diejenigen beiden Mächte, die in den Jahren 1868 bis 1870 sich mit Napoleon III. zu einer Bündnispolitik gegen die Mitte vereinigt hatten und nur durch die raschen deutschen Siege am Eingreifen verhindert worden waren, jede Mitwirkung an der Friedenseinkreisung - bei ihnen überwog schon die Tendenz, ihre bündnismäßige Fühlung nach eben dieser Mitte hin zu suchen. Die beiden großen Flügelmächte Europas dagegen, die während der deutschen Reichsgründung in einer gewissen Entfernung wohlwollend oder neutral beiseitegestanden hatten, reichten sich die Hände, um die Mitte nicht allzu stark werden zu lassen. Bismarck mußte die Erfahrung machen, daß diese beiden großmächtlichen Gegenpole, die weltpolitisch am weitesten voneinander entfernt standen, in einer gemeinsamen Aktion unzweideutig die Grenze dessen bezeichneten, was sie für eine deutsche Sicherungspolitik gegen Frankreich für zulässig hielten. Schon meinte der englische Premierminister, man sollte ein kollektives Vorgehen einleiten, um den Frieden Europas zu sichern, wie Lord Palmerston es tat, als er im Jahre 1840 Frankreich in den Weg trat und den Ägypter aus Syrien vertrieb.25

Diese plötzlich hereinbrechende Situation hätte bedrohlich erscheinen können, wenn nicht Bismarcks diplomatisches Geschick dafür gesorgt hätte, daß beide Aktionen wie ein Stoß ins Leere verpufften. Er lehnte das obendrein alleingebliebene Angebot der englischen guten Dienste höflich ab, da in den deutsch-französischen Beziehungen nicht der geringste Anlaß, sie anzurufen, gegeben sei, und führte auch den Russen den gar nicht schwierigen Nachweis, daß es nichts zu pazifizieren gebe.

So nahm der Besuch des Zaren in Berlin einen ganz anderen Verlauf, als man in Petersburg sich ihn ausgemalt hatte. Kaiser Wilhelm hat den Hergang seiner Besprechung mit dem Zaren mit hoher Befriedigung, die die Reinheit seines Gewissens widerspiegelt, selber aufgezeichnet: "Die Unterredung mit dem Kaiser hat eine Übereinstimmung unserer Ansichten festgestellt, wie ich solche nur je hätte wünschen können. Er wird von neuem, wie er es schon in den letzten vier Wochen, ohne mich von neuem gehört oder gesehen zu haben, unsere Friedensliebe nach allen Seiten hin proklamieren und so hoffentlich dem ewigen Zeitungsgeschwätz ein Ende machen." Dementsprechend hat auch der Zar später immer wieder versichert, daß er wider Willen und ohne sein Wissen als Engel des Friedens proklamiert worden sei und in Berlin kein Wort von Kriegsgeschrei und Rüstungen gehört habe. Als aber Fürst Gortschakow bei seinem ersten Besuche bei Bismarck in scherzhaftem Tone von der angeblichen deutschen Kriegspolitik zu sprechen anfing, wurde er mit so schneidender Ironie abgefertigt, [152] daß er mit keiner Silbe auf die Sache zurückkam.26 Er ließ sich aber nicht abhalten, seinem Erfolgsbedürfnis dadurch genug zu tun, daß er bei seiner Abreise durch eine Zirkulardepesche vom 13. Mai: "jetzt ist der Friede gesichert" den Glauben in Europa zu erwecken suchte, als wenn erst dem russischen Eingreifen diese Sicherung zu danken sei. Er erregte dadurch den schweren Zorn Bismarcks. Denn dieses von Berlin aufgegebene Telegramm war mehr als eine schwere Belastung eines Freundschaftsverhältnisses zweier Großmächte, es war eine den wahren Hergang verfälschende hinterlistige Handlung, die in vollem Umfange die erbarmungslose Kritik verdient, die Bismarck bis zuletzt über das eitle Prestigebedürfnis seines alternden Kollegen zu äußern nicht müde wurde.

Aber wie stand es in Wirklichkeit um die deutsche Politik, die der Russe zum Frieden zurückgerufen haben wollte? Hat sie, als Ganzes beurteilt, in ihrem Ablauf von Ende März bis Anfang Mai einen hinreichenden Anlaß gegeben zu den Hilferufen der Franzosen und der Rettungsaktion zweier Großmächte? Es bedarf keiner weiteren Erörterung, daß zwar der Generalstab den Präventivkrieg unbedingt vertreten hatte, daß aber der Kaiser ihn ebenso unbedingt verwarf, wie seine militärischen Berater ihn forderten. Wie der Kaiser während der ganzen Krisis dachte, geht aus einer Randbemerkung vom 16. Mai zu einem publizistischen Artikel hervor, der die Möglichkeit des Präventivkrieges streifte: "Dies ist eine Ansicht, die im gemeinen Leben etwas für sich hat, nicht da, wo Staaten sich bekämpfen wollen. Um glückliche Kriege zu führen, muß dem Angreifenden die Sympathie aller edelgesinnten Menschen und Länder zur Seite stehen, und dem, der ungerecht den Krieg zuträgt, die öffentliche Stimme den Stein werfen. Dies war das Geheimnis des Enthusiasmus in Deutschland 1870! Wer ungerechtfertigt zu den Waffen greift, wird die öffentliche Stimme gegen sich haben, er wird keine Allierten finden, keine neutres bienveillants, ja überhaupt wohl keine Neutralen, wohl aber Gegner finden. Dieses Raisonnement habe ich dem Kaiser Alexander vorgehalten, und er erfaßte meine beiden Hände und sprach seine volle Übereinstimmung aus." Wer in dem Geiste des deutschen Militarismus eine wirkliche Gefahr für den Frieden sieht, muß im selben Atemzuge anerkennen, daß der oberste Kriegsherr, der an der Spitze dieses Systems stand, durch sein Verantwortungsgefühl eine unübersteigliche Schranke gegen jeden Mißbrauch darstellte und das System vor jeder Überspannung bewahrte.

Welche Rolle aber hat Bismarck selbst in dieser Krisis gespielt? Darauf kommt es zur Beurteilung der deutschen Politik von 1875 recht eigentlich an. Die unbedingte Friedensliebe des Monarchen zugegeben, war dieser nicht von seinem dämonischen Minister in den Jahren 1866 und 1870 trotz seines ernsten [153] Friedenswillens mit solcher Kunst vor vollendete Tatsachen gestellt worden, daß er doch mit Gottvertrauen in den Krieg zog? Entscheidend bleibt daher, was im Frühjahr 1875 in der Seele des Mannes vorging, von dem man annahm, daß er alle Fäden zog und seinen Plan hatte.

Nach dem weitaus überwiegenden Urteil hat Bismarck in dieser Krisis den Krieg nicht gewollt. In Wien und Rom waren die leitenden Männer überzeugt, daß er an den Krieg nicht denke; Andrássy hat immer von neuem bei seinem Kaiser seinen Kopf dafür verpfändet, daß Bismarck keine Kriegsabsichten hege, und die Italiener gestanden offen, der ganze Lärm sei nur ein Angstgeschrei aus Paris gewesen. Selbst sein Gegenspieler Decazes hat am 8. Mai geurteilt: "Bismarck will uns mehr glauben machen, daß er den Krieg wolle, als daß er ihn in Wirklichkeit will." Jeder, der in diesen Wochen Bismarck politisch näher kam, wußte nur zu melden, daß ihm jede Kriegsabsicht fernliege, und selbst die Kronprinzessin, die ihm das Schlimmste zuzutrauen liebte, war im Frühjahr 1875 weit davon entfernt, ihn kriegerischer Pläne zu bezichtigen. So hat denn auch ein sachkundiger französischer Diplomat und Historiker wie Gabriel Hanotaux die These von Bismarcks Kriegswillen verworfen, und erst während des Weltkrieges sollte auch an dieser Stelle das Bedürfnis der Welt nach dunkleren Farbentönen seine Befriedigung suchen.27

Insbesondere hat Bismarck in allen seinen Äußerungen während seiner Staatsleitung und später in seinem Vermächtnis die generalstäbliche Theorie des Präventivkrieges grundsätzlich verworfen. Einige Monate nach Ablauf der Krisis entwickelte er seinem Monarchen seine Stellungnahme: "Ich würde noch heute, wie 1867 in der Luxemburger Frage, Ew. Majestät niemals zureden, einen Krieg um deswillen sofort zu führen, weil wahrscheinlich ist, daß der Gegner ihn bald beginnen würde; man kann die Wege der göttlichen Vorsehung dazu niemals sicher genug im Voraus erkennen. Aber es ist gewiß auch nicht nützlich, dem Gegner die Sicherheit zu geben, daß man einen Angriff jedenfalls abwarten werde." Das war es, bei aller grundsätzlichen Ablehnung des Präventivkrieges, die uns in seiner Staatsleitung noch mehr als einmal begegnen wird, wollte der Reichskanzler doch die französische öffentliche Meinung nicht im unklaren darüber gelassen wissen, daß der Weg der Revanchepolitik eines Tages zum Kriege führen könne. Er teilte den unbedingten und präventiven Angriffsgeist des Generalstabes ebensowenig, wie die strenge und absolute Enthaltsamkeit des Monarchen, aber er hat sie beide auf dem Schachbrett seines diplomatischen Spieles ihre Rolle spielen lassen. Während er sich selber aus diesem Spiele möglichst heraushielt, ließ er alle publizistischen und diplomatischen [154] Äußerungen gewähren, die ihm geeignet schienen, der öffentlichen Meinung Frankreichs den Ernst der Lage zu Gemüte zu führen.

Ganz allgemein gesprochen lautete das dem deutschen Staat gestellte politische Problem: wie weit darf man die wiederaufsteigende Offensivkraft eines geschlagenen Gegners, in dem der Revanchegedanke als unauslöschliche Lebenskraft erkennbar ist, sich entfalten lassen, und welche Mittel können vor der politischen Klugheit und der politischen Sittlichkeit bestehen, die Gefahr beizeiten einzuschränken, einzuschüchtern oder gar gewaltsam einzudämmen? Bismarck war sich durchaus bewußt, daß der letztere Weg, der des Präventivkrieges, über die Grenzen, die die Politik verantworten kann, hinausführe. Um so mehr meinte er von den Methoden der Einschüchterung, um der eigenen Sicherheit und um des Friedens willen, Gebrauch machen zu dürfen. Man kann ihm nicht vorwerfen, daß seine vorsichtig angelegte Aktion sich nicht innerhalb der erlaubten Grenzen gehalten hätte. So korrekt aber er selbst in seinen amtlichen Handlungen verfuhr, so ließ sich doch nicht vermeiden, daß einzelne Stimmen, die ihm zu sekundieren meinten, die Linie der politischen Klugheit überschritten und damit der Gegenseite den Vormund zu einem unerwarteten Rückstoße gaben, ja seine ganze Politik einen Moment lang vor der Welt ins Unrecht setzten. Denn die Idee des Präventivkrieges, die technisch-militärisch, in den internen Erwägungen eines Generalstabes, ihr Recht hat, kann, in die allgemeine Publizistik übergreifend, dem Mißbrauch der Willkür und Überheblichkeit des Stärkeren dienen und dadurch einer allgemeinen Verurteilung verfallen.

So mußte Bismarck jetzt die Erfahrung machen, daß zwei führende Großmächte auf sehr unbestimmte Besorgnisse hin in sehr bestimmter Form zum Ausdruck brachten, daß sie den Wiederaufstieg Frankreichs zur ebenbürtigen Großmacht nicht irgendwie gehemmt oder verlangsamt zu sehen wünschten. Es war freilich nicht nur der selbstlose Wunsch nach Frieden, dem sie damit zu dienen vorgaben, es war mindestens in demselben Maße das Interesse dieser beiden Großmächte, daß der deutsch-französische dauernde Spannungszustand - eine so eindeutige Tatsache, wie ihn die frühere Staatengesellschaft kaum gekannt hatte - nicht wieder aus der Welt verschwand, sondern in seiner Unversöhnlichkeit erhalten blieb. Im Keime war dieses Interesse der Großmächte schon bald nach 1870/71 zu erkennen. Es wird dauernd ein Geheimnis der großmächtlichen Rechnung der anderen bleiben, die Gefahr einer Hegemonie der Mitte Europas durch die Verewigung der Revanche zu bannen.

Wenn man neuerdings versucht hat, an der Politik Bismarcks von 1875 gerade die Gefährlichkeit dessen zu deduzieren, was von einem solchen Deutschland zu erwarten gewesen wäre und nur durch großmächtliches Einschreiten verhindert worden sei, so liefert die Parallele der französischen Druckmethoden, die auf die analoge deutsche Position in der Nachkriegszeit ausgeübt wurden, einen unvergleichlichen Anschauungsstoff für das, was in solchen Lagen grund- [155] sätzlich als zulässig und unzulässig bezeichnet werden darf. Denn die aus Furcht und Gewalt gemischte Politik des heutigen Frankreichs, die sich um eine deutsche Revanchepolitik in ferner Zukunft sorgt, hat das Zehnfache, wenn nicht das Hundertfache an Druckmitteln aufgewandt: obgleich dem Revanchegeiste der Franzosen von einst eine vergleichbare antifranzösische Stimmung der Deutschen von heute keineswegs entspricht, obgleich den auf das Höchste angespannten französischen Rüstungen heute die peinlich überwachte Abrüstung der deutschen Seite gegenübersteht, und obgleich schließlich das Deutsche Reich der Gegenwart nicht mächtige und wohlwollende Freunde zur Seite hat, sondern bei aller seiner wehrpolitischen Ohnmacht von einem System schwerbewaffneter französischer Parteigänger umringt ist. Wenn man diese Parallele, in welcher der wandelbare Begriff der "Sicherheit" so ganz zugunsten der einen und zuungunsten der anderen Seite verkehrt ist, in ihrem vollen Umfange durchdenkt, erscheint Bismarcks amtliche Sprache mit ihren Begleiterscheinungen und Hintergedanken wie eine ziemliche Harmlosigkeit, verglichen mit der künstlichen Maschinerie von Zwangsmitteln, die sich in unseren Tagen auf den leisesten Verdacht hin in Bewegung setzte, es möchte auf deutschem Boden sich jemals wieder eine bescheidene Wehrhaftigkeit und Selbstbestimmung herausbilden.

Der Alarm von 1875 hatte ein überraschendes Ergebnis. Der deutsch-französische Spannungszustand hatte sich vorläufig gleichsam wie ein Geisterspuk mit einem Schlage verflüchtigt und auf der Bühne blieben nur die großen Akteurs zurück, die Großmächte, allen voran Deutschland, Rußland und England, um sich Rechenschaft zu geben über die Rollen, die sie gespielt hatten und fortan miteinander spielen würden. Das war es, was vor allem für Bismarck aus dem Erlebnis zurückblieb: eine Revision sämtlicher großmächtlichen Beziehungen.

Er empfand zunächst die russische Aktion als die unbequemste. Rußland hatte die persönliche und sichtbare Form des freundschaftlichen Druckes gewählt, England die sachlich umfassendere und gefährlichere, wenngleich sein Versuch einer Mobilisierung der Großmächte in Wien wie in Rom sein Ziel verfehlte. Dazu kam, daß England immerhin keinerlei Verpflichtungen gegen Deutschland besaß, im vollen Besitz seiner freien Hand war, während Rußland alte dynastische Freundschaft und vertragliche Verbindung außer acht gelassen hatte und sich, auch nach geschehener Aufklärung, seiner Taten vor der Welt auf deutsche Kosten berühmte. Bismarck hat Gortschakow den Dolchstoß in den Rücken nicht vergessen. Doch würde es ein falsches Bild erwecken, wenn man die spätere Entfremdung auf das persönliche Motiv in erster Linie zurückführen wollte. Schwerer wog die sachliche Einschätzung dessen, was die deutsche Politik von der Großmacht Rußland, trotz der Freundschaft der beiden Kaiser, gegebenenfalls zu befahren haben würde. Darin lag die große Enttäuschung.

Der englische Friedensschritt vom 8. Mai war von Bismarck ursprünglich nicht als eine unfreundliche Handlung genommen worden. Noch ein Erlaß [156] an Münster vom 12. Mai beschränkte sich auf den ironischen Rat: der beste Weg, den Beunruhigungen Europas ein Ziel zu setzen, sei und bleibe, den tendenziösen Verleumdungen der deutschen Politik, die leider auch in Organe der englischen Presse ihren Weg gefunden hätten, den Glauben zu versagen. Als er jedoch den ganzen gefährlichen Umfang der englischen Aktion erfuhr, ging er in seiner Weise zu frontalem Gegenstoße vor.

Die Engländer waren einen Moment mit ihrem Vorgehen sehr zufrieden gewesen. In einer gewissen Harmlosigkeit meldete Lord Derby dem Premierminister Disraeli: "Was wir taten, schloß kein Risiko in sich und kostete uns keine Unruhe, während es uns den Schein gab, geholfen zu haben, in höherem Grade als wir in Wahrheit zu dem erreichten Ergebnis beitrugen";28 und auch Disraeli meinte in seinem fast naiven Prestigebedürfnis: "seit Palmerston sind wir niemals so energisch gewesen". Die Sache gewann ein verändertes Gesicht, als von Berlin am 3. Juni eine gemessene Anfrage nach London erging, wieso man zur Annahme gelangt sei, daß Deutschland den Frieden stören oder eine Herabsetzung der französischen Rüstung fordern würde. Wenn auch Lord Derby seine tatsächliche Gutgläubigkeit erweisen mochte und sogar seine Auffassung in einer Oberhausrede wiederholte, und Königin Victoria persönlich in ihrer Korrespondenz mit Kaiser Wilhelm den englischen Interventionsvorstoß mit allgemeinen Wendungen und deutlichen Hinweisen auf Moltke (nicht aber auf irgendeinen amtlichen deutschen Schritt) zu rechtfertigen suchte, so setzte Bismarck die Auseinandersetzung fort und ließ die englische Regierung wissen, daß Lord Derby sein persönliches Vertrauen verscherzt habe. Das Ende dieses diplomatischen Nachspieles war eine Erklärung Derbys vom 28. Juli, die im Grunde einen bescheidenen Rückzug von der großen Prestigeaktion des Mai darstellte: "England habe nur das Interesse, in Europa Frieden zu erhalten, und dazu gebe es keine bessere Garantie als ein starkes Deutschland. Mit Deutschland habe England keine divergierenden Interessen, mit Frankreich sei das anders, und kein ruhiger und verständiger Engländer könne sich der Überzeugung verschließen, daß ein zu mächtiges Frankreich naturgemäß für England gefährlicher sein müsse als ein kräftiges Deutschland. Er bedauere deshalb die momentane Verstimmung."

In neueren Zeiten hat man sich bemüht, der Drohung des deutschen Militarismus die englisch-russische Kooperation gegenüberzustellen, und Poincaré hat sie sogar als die erste Skizze der Tripelentente gepriesen. In Wahrheit lagen die Dinge so, daß gleich nachher beide Mächte es nicht gewesen sein wollten, vielmehr sich wechselseitig die Initiative zuschoben und ein weiteres Zusammengehen untereinander gar nicht erwogen. Beide hatten mit ihrem Vorgehen zugleich das Ziel verfolgt, die Annäherung der anderen an Deutschland zu durchkreuzen, und die scheinbare Schutzaktion für Frankreich war zugleich eine Szene [157] aus dem Drama des Ringens um die deutsche Option, die vor allem Rußland für die eigene Sache erstrebte und mit einem kräftigen Frankreich eher in seinem Sinne zu entscheiden hoffte.

Aber es bleibt noch ein letztes Nachspiel zu erwähnen übrig. Österreich hatte unter der klugen Leitung Andrássys eine Beteiligung an dem englischen Schritte abgelehnt und damit diejenige Zuverlässigkeit erwiesen, die Rußland hatte vermissen lassen. Bismarck zog auch daraus seine Schlüsse. Er sprach am 4. Juni dem österreichischen Botschafter seine zuversichtliche Hoffnung aus, daß die Freundschaft sich inniger gestalten würde, und machte sogar die Andeutung, es scheine ihm "bei der Gleichartigkeit der allgemeinen Interessen innerhalb des Bereiches der Eventualitäten und sogar der Probabilitäten gelegen, daß sich zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn ein natürliches, auf völkerrechtlicher Grundlage beruhendes Verhältnis einer gegenseitigen Assekuranz entwickle. Auch sei es notwendig, daß ein solches Verhältnis von selbst heranreife, daher seiner natürlichen Entwicklung überlassen und nicht voreilig und zu schnell angebahnt werde". Andrássy erläuterte seinem Monarchen, daß er es für möglich hielte, einen Antrag von Bismarck zu erreichen: "derselbe erscheint soeben in der Ferne". In der Ferne war das deutsch-österreichische Bündnis von 1879 zu ahnen, eine völkerrechtliche Wiederaufnahme des Verhältnisses, das bis 1866 staatsrechtlich bestanden hatte. Es war fürs erste nur eine Möglichkeit der Zukunft, nicht mehr, aber ihre Umrisse hoben sich innerhalb des erschütterten Dreikaiserverhältnisses zum ersten Male erkennbarer ab.

Der Prozeß, der mit dem Eintritt des Deutschen Reiches in die Staatengesellschaft begonnen hatte, war im Sommer 1875 noch immer mitten im Flusse. Eine ausgesprochene Befestigung der politischen Beziehungen des Deutschen Reiches war noch an keiner Stelle sicher erkennbar; noch war mehr als eine Möglichkeit des Anziehens und Abstoßens in dem flutenden Meere der staatlichen Kräftekollektive vorhanden. Nach der Krisis von 1875 zog ein deutscher Diplomat den resignierten Schluß: wir müssen stärker werden. Und allerdings, das neue Reich der Mitte brauchte, um nur seine in einem glücklichen Kriege gewonnene Stellung autonom zu behaupten, mehr Stärke im Daseinskampf, als einst Preußen, die kleinste der Großmächte, innerhalb der alten Staatengesellschaft gebraucht hatte. Der Alarm von 1875 hatte die Karten überall tiefer aufgedeckt, und es war die Frage, ob das Erlebnis so bald verwunden werden könnte. Schon aber stand ein neuer Anstoß von außen vor der Tür, der den Prozeß in eine neue Entwicklungsstufe überführen sollte - er erhob sich im Orient, in der alten Arena großmächtlicher Rivalitäten.

Bevor wir den Fortgang dieser Entwicklung verfolgen, haben wir noch einen Blick auf die politischen Kräfte zu werfen, die sich in der inneren Gestaltung des Reiches in diesen Jahren nebeneinander erhoben haben.


1 [1/126]25. Febr. 1874. E. v. Wertheimer, Andrássy, II, 110, 112. ...zurück...

2 [1/131]Karl Linnebach, Deutschland als Sieger im besetzten Frankreich 1871 - 73 (Stuttgart 1924) und Deutsche und französische Okkupationsmethoden 1871 - 73 und 1920 (Berlin 1929). Hans Goldschmidt, Bismarck und die Friedensverhandlungen 1871 (1929). ...zurück...

3 [1/132]1871. 4. Juni, Gr. Pol. I, 47. ...zurück...

4 [2/132]1873. 30. Okt. Gr. Pol. I, 220. ...zurück...

5 [1/133]Vgl. Hanotaux, I. 353 ff. ...zurück...

6 [2/133]1872. 6. Mai. Gr. Pol. I, 114. ...zurück...

7 [1/135]Daß diese theoretische Berechnung auch der praktischen Politik nicht fremd war, zeigt folgende Episode. Als der kroatische Bischof Stroßmayer nach Sedan vom russischen Botschafter in Wien eine Intervention des Zaren zu gunsten Frankreichs erbat, verwarf der Botschafter jeden Schritt "nur um des so wie so sichern Vorteils willen, Frankreich im gegebenen Fall zum warmen Alliierten gegen Deutschland zu haben". (E. C. Corti, Alexander von Battenberg, S. 50). ...zurück...

8 [2/135]Gr. Pol. I. 107. Nach einer späteren Bemerkung Bismarcks hat der Zar ihm bald nach dem Kriege (also vermutlich im September 1872) gesagt: "Ihre Regierung ist mir Dank schuldig, und sie könnte ihn mir durch Abtretung von Nordschleswig betätigen". ...zurück...

9 [1/139]Kurt Rheindorf, England und der Deutsch-französische Krieg. S. 177. ...zurück...

10 [2/139]Bismarck an Odo Russell. 1. Dez. 1870. Cambridge Modern Hist. 3, 54. - Vgl. Bismarcks Erlaß vom 28. Nov.: "Solange in England die Erkenntnis nicht durchgedrungen ist, daß sein einziger wertvoller und sicherer Alliierter auf dem Kontinent in Deutschland zu finden ist." ...zurück...

11 [1/140]Monypenny-Buckle, Life of Benjamin Disraeli, 5, 133. ...zurück...

12 [1/142]1874. 23. Januar. Gr. Pol. I. 235. ...zurück...

13 [1/143]Granville an O. Russell, 28. und 31. Dezbr. 1878. Lord Fitzmaurice, Granville, II. 114 ff. ...zurück...

14 [2/143]Buckle, The Letters of Queen Victoria, II, 313 f. ...zurück...

15 [3/143]Ebenda II, 325 ff. ...zurück...

16 [4/143]Dieser Passus ist nach dem Entwurf des Schreibens wiedergegeben, den Bismarck damals dem Kaiser vorlegte. Konzept von der Hand Buchers, von Bismarck durchkorrigiert (Auswärtiges Amt). ...zurück...

17 [1/144]Gambetta an Mme. Adam; L. Mandl, Die Habsburger und die serbische Frage, S. 14. ...zurück...

18 [1/145]Erlaß Bülows von 25. III. 75. ...zurück...

19 [2/145]Hajo Holborn, Bismarcks europäische Politik zu Beginn der siebziger Jahre und die Mission Radowitz (1925). Hans Herzfeld, Die deutsch-französische Kriegsgefahr von 1875. (1922.) ...zurück...

20 [1/146]Vgl. die amtliche Publikation des Reichsarchivs: Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft. I. S. 5 ff. (Der Weltkrieg 1914 - 18.) Berlin 1930. ...zurück...

21 [1/147]Briefwechsel des Generals von Schweinitz. S. 103 f. ...zurück...

22 [1/149]Fürst Münster an Bennigsen. H. Oncken, Rudolf v. Bennigsen 2, 286. 1921. ...zurück...

23 [2/149]Adalbert Wahl, "Vom Bismarck der siebziger Jahre." Deutsche Geschichte I, 363 f. ...zurück...

24 [1/150]Es wäre eine besondere Aufgabe, die Geschichte dieser Legenden in dem diplomatischen Gerede zu verfolgen. Auch der englische Botschafter Lord Odo Russell gab sich diesen Phantasien damals mehr hin, als man in Berlin ahnte. Selbst seine Gemahlin, Lady E. Russell, wußte in einem Schreiben an Königin Victoria vom 15. März 1873 von den Ambitionen Bismarck zu erzählen, die er "by mediatising the reigning princes" zu befriedigen gedenke. ...zurück...

25 [1/151]Monypenny-Buckle, Beaconsfield 5, 422. ...zurück...

26 [1/152]So die spätere Mitteilung des hier wohl eingeweihten Radowitz, vgl. sein Schreiben an Schweinitz vom 24. März 1878 (Briefwechsel Schweinitz S. 129). ...zurück...

27 [1/153]Es begann mit einem Angriff, den J. Holland Rose (The origins of the war. 1915) gegen meine Darstellung in der Cambridge Modern History (1910) richtete. Die bis dahin mehr im Schatten liegende englische Mitwirkung ist dann erst durch die neueren Veröffentlichungen vollends ans Licht getreten. ...zurück...

28 [1/156]Monypenny-Buckle, Beaconsfield a. a. O. 20. Mai 1875. ...zurück...


Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte