Bd. 9: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Erster Teil
Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin
Kapitel 1: Das alte Reich
und die Begründung des neuen Reiches (Forts.)
[89] 6. Die europäische
Entscheidung.
Der Krieg von 1866 war nach dem Urteil Jacob Burckhardts eine abgeschnittene
Krisis ersten Ranges. Denn er endete in einem politischen Waffenstillstand, nicht
zwischen den Beteiligten, zwischen denen eine volle Entscheidung gefallen war,
wohl aber zwischen der siegreichen Macht und einem Dritten, der den Anlauf
nahm, dazwischenzutreten. So kam es zu einem Stillestehen auf halbem Wege in
einer Frage, deren Wesen nun einmal nur eine ganze Lösung vertrug, zu
einem Stillestehen in einer unfertigen Ordnung und in einer unsichern Situation.
Eine Streitfrage von weltgeschichtlichen Horizonten, in den Tiefen der Nation auf
das innerlichste umkämpft und zugleich fast alle Großmächte
in ihren Interessen berührend, erfährt eine Lösung, an deren
Dauer und Endgültigkeit niemand glauben kann, und im Mittelpunkt der
nächsten Jahre wird das Problem stehen, ob das Provisorische der
deutschen Staatsgründung gleichsam das letzte Wort enthalten soll, oder ob
der natürliche Lauf einer großen Entwicklung über die von
außen her künstlich herbeigeführte Unterbrechung
hinwegrollen wird.
Die Jahre 1867 bis 1870 stehen in der deutschen Geschichtsbetrachtung unter
einer unsichern Beleuchtung, wie die Stunde der Dämmerung, die zwischen
Dunkel und Licht liegt. Sie werden in der Regel als eine Vorstufe empfunden, die
rasch durchschritten worden sei, da der Gang der Dinge automatisch
weiterdrängte. Auf der andern Seite hat man die Jahre als ein Deutschland
der tiefsten Zersplitterung gekennzeichnet, da, abgesehen von der Zeit der
napoleonischen Herrschaft, in dem Reiche der Ottonen und Hohenstaufen seit
tausend Jahren keine ähnliche, völkerrechtlich festgestellte
Aufteilung erlebt worden sei; insofern als neben dem geschlossenen
Norddeutschen Bunde nunmehr die Königreiche Bayern und
Württemberg und die Großherzogtümer Baden und Hessen zu
souveränen Mitgliedern der europäischen Staatengesellschaft
aufgestiegen seien, weder durch den im Prager Frieden vorgesehenen
Südbund untereinander zusammengehalten noch mit dem Nordbund durch
staatsrechtliche Bande verknüpft. Dagegen läßt sich formal
staatsrechtlich nichts einwenden, aber der politischen Wirklichkeit wird eine
solche Feststellung der äußern Form nichts weniger als gerecht. Die
völkerrechtlichen Schutz- und Trutzbündnisse zwischen
Preußen und dem Süden auf der einen Seite, die wirtschaftliche
Gemeinschaft in dem erneuerten Zollverein auf der andern Seite, beides getragen
von dem Strome der nationalen Bewegung, belebt von dem Glauben, daß
der Fortgang der [90] Dinge jetzt nicht mehr
aufzuhalten sei, das Ganze dieser Kombinationen enthielt zusammen so viel
dynamische Unwägbarkeiten, daß der Ausnahmezustand des
Provisoriums darüber ertragen und hingenommen wurde.
Freilich, die Hemmungen waren darum doch nicht zu unterschätzen. Die
Leidenschaften, die in dem rasch abgeschnittenen Kriege sich nach außen
nicht hatten ausleben können, schwelten, nach allen Seiten verdrängt,
in der Tiefe weiter. Und wie hätten, angesichts der gewaltigen historischen
Lebenskräfte, die auf dem Spiele gestanden, die Menschen sich sogleich der
wie ein Blitz herniederfahrenden Entscheidung demütig beugen sollen. So
blieben überall Rückstände, das Revanchebedürfnis der
österreichischen Großmacht, das Ressentiment entsetzter
Fürsten und partikularer bodenständiger Kräfte, das
Widerstreben bayerischer Klerikaler und württembergischer Demokraten,
die doch alle nicht nur eine politische Niederlage erlitten hatten, wie andere auch,
sondern eine Welt von Idealen, einen weltanschaulichen geschichtlichen
Zusammenhang verloren hatten, den sie nicht für immer kampflos aufgeben
wollten. Und doch wäre die Summe aller dieser Widerstände nicht
lebenskräftig gewesen, sich gegen den Fortgang zu erheben, wenn nicht am
Himmel die Wolke Napoleons gestanden hätte, die Möglichkeit einer
französischen Intervention, die allein imstande war, die abgeschnittene
Krisis wieder zu eröffnen und dann, so hoffte man im Lager der Besiegten,
zu einem Siege hinaufzuführen. Das ist das große Geheimnis dieser
Jahre, die eigentliche Erklärung des Provisoriums, in dem die Deutschen
nun weiterleben.
Zunächst sollte die Kompensationskrise des August 1866 in mehreren
Stufen ablaufen. Die französische Regierung unterbreitete, um sich den
unvermeidlichen Rückzug zu erleichtern, in Berlin sofort einen neuen
Vorschlag. Nunmehr wurden die Abtretung der deutschen Bundesfestung
Luxemburg und ein Geheimvertrag über Belgien (das seit seiner
Begründung nicht aufgehört hatte, ein heimliches Ziel der
französischen Wünsche zu bilden) als eine ausreichende
französische Kompensation für die nationale Einigung Deutschlands
bezeichnet. Diesem bedenklichen Vorschlage gegenüber war Bismarck,
immer wieder dilatorisch ausweichend, darauf bedacht, eine
vertragsmäßige Bindung und eine europäische
Mitverantwortlichkeit für einen französischen Anfall auf Belgien zu
vermeiden: einer solchen "Verschwörung" würde die gerechte und
edle Natur König Wilhelms sich unter allen Umständen widersetzt
haben. Sobald das Drängen aus Paris ungeduldiger wurde und sich auf die
sofortige Erwerbung Luxemburgs versteifte, ließ der preußische
Minister, der in diesen Wochen den Grund der Norddeutschen Bundesverfassung
legte, immer deutlicher durchblicken, daß ein solcher Verzicht von
preußischer Seite denkbar sei gegen die vorbehaltlose Anerkennung der
nationalen Entwicklung Deutschlands, dagegen als ein Preis zur
vorübergehenden Beruhigung der öffentlichen Meinung zu hoch sein
würde. Als dann Kaiser Napoleon durch überstürztes
Vorgehen im März 1867 den Gegenspieler vor eine [91] vollendete Tatsache zu
stellen suchte, rief Bismarck die europäischen Mächte an. Er vermied
den Krieg und nahm den Kompromiß an, der die Bundesfestung Luxemburg
neutralisierte. Die große Auseinandersetzung zwischen Frankreich und
Deutschland war zunächst vertagt.
Bis zum Ablauf der Luxemburger Krisis war die Möglichkeit eines
rascheren Fortgangs der deutschen Einheit im Feuer großer Ereignisse noch
auf allen Seiten erwogen worden, seit dem Frühjahr 1867 begannen die
Menschen wieder mit längeren Fristen zu rechnen und sich innerhalb des
Provisoriums irgendwie einzurichten. Der Abschluß der norddeutschen
Bundesverfassung erfolgte, die süddeutschen Staaten bemühten sich
um den Südbund und erneuerten ihre unvollkommene
Militärverfassung, in Österreich begann man sich nach der
Einführung des Dualismus wieder auf einen selbständigen Weg zu
besinnen, und vor allem unternahm die napoleonische Politik, nachdem die
Luxemburger Illusion ihr unter den Händen zerronnen war, eine
zielbewußte Aktion, die ihr über Wien den Rückweg nach
Deutschland erleichtern sollte.
Es konnte nicht anders sein, als daß die Norddeutsche Bundesverfassung
vom 16. April die Merkmale des Provisoriums an sich trug. Wenn man sie in
einen historischen Zusammenhang einreihen will, so kann man sie in gewissem
Sinne, was die äußern Bestandteile angeht, an die Frankfurter
Reichsverfassung von 1849 anknüpfen, aber mit der doppelten
Modifikation, die sich hinsichtlich der inneren Machtverteilung aus der
staatsschöpferischen Rolle und dem Siege Preußens und hinsichtlich
der äußern Abgrenzung aus dem Dazwischentreten Napoleons ergab.
Die Norddeutsche Bundesverfassung war dementsprechend nicht ein Werk, das
aus dem Kampfe der politischen Ideen und Theorien hervorging, sondern aus dem
Entwurfe eines Einzigen, der den in der gegenwärtigen Lage nach
außen und innen entstandenen Machtzusammenhang gleichsam in die
Formen einer Verfassung umgoß und das Ganze dem konstituierenden
Reichstag zur Diskussion und Beschlußfassung unterbreitete; es ist
bezeichnend, daß die Annahme unter dem Druck der auswärtigen
Spannung erfolgte, die durch die Luxemburger Frage ausgelöst worden war.
Das Ganze war ein Bundesstaat unter Führung Preußens, aber wie
sehr empfing er sein Gesicht nicht aus dem Geiste des Theoretikers, sondern von
der Hand des staatsschöpferischen Politikers! Bismarck hatte seinem
Mitarbeiter Savigny für die Gestaltung der Verfassung am 30. Oktober
1866 die Anweisung gegeben: "Man werde sich in der Form mehr an den
Staatenbund halten müssen, diesem aber praktisch die Natur des
Bundesstaates geben, mit elastischen, unscheinbaren, aber weitgreifenden
Ausdrücken." Er legte sie daher in seinem Entwurfe so elastisch an,
daß sie die Tore für den spätern Beitritt der
Süddeutschen mühelos offenhielt und ohne wesentliche
Veränderungen zur Grundlage der Reichsverfassung von 1871 werden
konnte. Dieses Verhältnis ist um so überraschender, als die
bundesstaatliche [92] Idee durch das weit
überragende Übergewicht Preußens im Norddeutschen Bunde
zunächst fast in den Schatten gedrängt schien. Manchen Politikern
schienen damals die Zeichen der Zeit eher auf ein Großpreußen
hinauszudeuten, und auch in Europa sah man den Umschwung mehr als eine
Eroberung Norddeutschlands durch Preußen denn als Errichtung eines
Bundesstaates an, in dem Preußen nur die Führung zustand. Man darf
wohl sagen, daß dem bundesstaatlichen Gedanken erst durch den Eintritt
der Süddeutschen zu einer stärkern Geltung verholfen worden sei.
Noch war aus dem Wortlaut der Verfassung nicht abzulesen, wie sich das
politische Dasein des neuen Staates in dieser Lebensform auswirken würde;
es wird immer denkwürdig bleiben, wie die spätere
Machtkonzentration im Amte des Reichskanzlers sich nur daraus ergab, daß
die Liberalen wohl die Verantwortlichkeit des Bundeskanzlers dem Reichstage
gegenüber, nicht aber ein kollegiales Bundesministerium durchzusetzen
vermochten. Schließlich überwog in den Verhandlungen des
konstituierenden Reichstages die Stimmung, das Werk werde erst durch den
Beitritt des Südens abgeschlossen. So schrieb Rudolf von Bennigsen einem
süddeutschen Parteifreunde am 27. April: "Hier im Norden sehen in dem
Zustandekommen dieser Verfassung alle Weiterblickenden einen
außerordentlichen Fortschritt, meiner Meinung nach den
größten, welchen Deutschland seit der Reformationszeit wirklich
gemacht, nicht bloß versucht hat. Der Süden hat es vollkommen in
der Hand, jeden Tag beizutreten. Eine Agitation im großen Stile
müßte mit der Sache in wenigen Wochen fertig werden
können!" Also dachten die Männer der Nationalpartei, die in dem
Schlußartikel der Verfassung den Zusatz durchsetzten: "Der Eintritt der
süddeutschen Staaten oder eines derselben in den Bund erfolgt auf
Vorschlag des Bundespräsidiums im Wege der Bundesgesetzgebung." Die
Tore standen weit offen.
Aber so fest auch das Ziel stand, die Durchführung der Aufgabe war an die
große Politik gebunden. Das Zukunftsprogramm, das Bismarck dem
Großherzog Friedrich von Baden, dem idealistischen Bundesgenossen der
Nationalpartei, übersandte, lautete in vieldeutigen und unbestimmten
Sätzen: vorerst sich an die Mainlinie halten und dem Norden Zeit zum
inneren Ausbau lassen, eine Verbindung von Nord und Süd nur als
Zeitfrage behandeln und in der Zwischenzeit, ohne zu provozieren, alles tun, was
diese Verbindung vorbereiten könne; im Kriegsfalle aber die Mainschranke
entschlossen durchbrechen. Fast noch bestimmter sprach sich König
Wilhelm seinem Schwiegersohn gegenüber aus: "Diese Manifestation des
Südens nach dem Norden muß von Euch encouragiert werden, damit
man auch jenseits des Rheins einsieht, daß ein Nationalwille vorhanden ist,
dem der Norden sich nicht widersetzen dürfe auf die Dauer."
Der Weg zu diesem Ende lag darum doch im Dunkeln und sollte weder in gerader
Linie noch in raschem Tempo zurückzulegen sein. Das letzte Zwischenspiel
in dem großen vaterländischen Drama sollte sich nicht mit der
inneren [93] Logik des
Unaufhaltsamen abwickeln, sondern der nationale Impuls, der diese Menschen als
etwas Unbedingtes erfüllte, mußte sich immer wieder den
Mächten anpassen, die jenseits des deutschen Volkes die Geschicke
bestimmten, und in den Künsten diplomatischer Kleinarbeit aufgehen, um
nur einen Schritt vorwärtszukommen. Das letzte Stadium der Vollendung
der deutschen Geschicke war keine innenpolitische Angelegenheit, sondern eine
Frage der Außenpolitik, vor allem der Stellungnahme Frankreichs.
Darüber machte man sich damals keine Illusionen. In jenem Briefe
Bennigsens vom 27. April 1867 hieß es zum Schluß: "Für ein
historisches Urteil kann leider kein ernsthafter Zweifel darüber sein,
daß Frankreich nach seiner traditionellen Politik die Bildung einer
stärkeren Kontinentalmacht, als es selbst ist, nicht ruhig dulden kann, ohne
vorerst einen sehr kriegerischen Versuch zu machen, diese deutsche
Präponderanz im Entstehen zu hindern." Wenige Tage zuvor, am 23. April
1867, noch während der Luxemburger Ausgleichsverhandlung, hatte
Napoleon durch seinen Botschafter in Wien, Herzog von Gramont,
Österreich ein Offensiv- und Defensivbündnis mit weitgreifenden
Kriegszielen anbieten lassen. Für sich selbst verlangte er das linke
Rheinufer, das "er zu erwerben beabsichtige", namentlich die bayerische Pfalz
und den linksrheinischen Teil der preußischen Rheinprovinz; dagegen
würde Österreich Schlesien erhalten und könne sich in
Süddeutschland ganz nach Belieben einrichten, unter dem alleinigen
Vorbehalt, daß Frankreich sich für das Schicksal des
Großherzogtums Baden interessiere. Auf dem Kamme des Schwarzwaldes
würden sich in diesem Zukunftsbilde die französische und die
österreichische Macht- und Einflußsphäre begegnet haben. Die
Tatsache, daß Beust den "etwas abenteuerlichen Plan" sofort ablehnte,
schon weil ein Krieg mit dem "eingestandenen Zweck", einen Teil Deutschlands
unter fremde Herrschaft zu bringen, für die Monarchie nicht tragbar sein
würde, ändert nichts an der historischen Bedeutung des
französischen Bündnisangebots. Man hatte jetzt in Paris alle
Verkleidungen zu Boden fallen lassen, und von der napoleonischen Ideologie der
Nationalitäten war die letzte Spur verschwunden; was früher nur
zaghaft oder stückweise als Kompensation bezeichnet worden war, erschien
jetzt in großem Zuge mit überraschender Offenherzigkeit
zusammengefaßt, nicht mehr in der keuschen Verhüllung des
Pufferstaates, vielmehr zur nackten Eroberung sich bekennend; selbst die
Rheingrenze genügte nicht mehr, sondern wurde ohne Bedenken
überschritten. Es waren die Tage, in denen die Vorform des deutschen
Nationalstaates, das Werk der norddeutschen Bundesverfassung, abgeschlossen
wurde. Aber während die Nation in tiefer Bewegung zur Einheit
voranschritt, galten ihr Körper und ihre Seele, wie in vergangenen Zeiten,
noch immer als Objekt für das Spiel dynastischen Ehrgeizes und fremden
Machthungers. Während ein neues deutsches Geschlecht aufsteigt, das in
dem nationalen Staate die Überwindung langer geschichtlicher Irrwege
erblickt, treibt die französische Politik, ohne irgendeinen höhern
euro- [94] päischen
Gesichtspunkt, in die Bahnen der Rheinpolitik verflossener Jahrhunderte
zurück. Bismarck hatte seine Auffassung der Lage in einem Erlaß
vom 18. April 1867 dahin formuliert: "Deutschland hat keine erobernden
Tendenzen, es hat sich nicht vergrößert und verlangt nichts von
Frankreich, es hat sich nur durch innere Kämpfe eine neue und bessere
Organisation erworben und durch das Ausscheiden Österreichs sogar eine
Verminderung seiner Macht erfahren. Aber es ist bereit, sich gegen jede
unberufene Einmischung zu sichern." Die Deutschen wollen nichts als
Selbstbestimmung im Umkreis ihrer Nation, die Franzosen sind entschlossen,
durch Intervention in den nationalen Bereich des Nachbarn ihr Interesse zu
wahren. Es mag sein, daß der Kaiser fortan keine Wahl mehr hatte. Die
Politik bis Königgrätz war eine Sache seiner freien Hand, seines
Spiels mit den verschiedensten Möglichkeiten, seiner persönlichsten
Initiative gewesen, von jetzt an empfing er das Gesetz des Handelns mehr und
mehr von der öffentlichen Meinung Frankreichs. Die innere Unsicherheit
des aus dem Staatsstreich emporgestiegenen zweiten Kaiserreichs, die Sorge um
Thron und Dynastie trieb ihn fortan, sich der Vollendung der deutschen Einheit
auf jede Gefahr hin entgegenzuwerfen. In richtiger Erkenntnis urteilte Bismarck
damals: "Die Gefahr für den Frieden liegt nicht in dem Werte Luxemburgs
für Frankreich oder für den Kaiser, sondern in der Nachgiebigkeit
des letztern gegen die begehrlichen Leidenschaften der französischen
Nation und in seinem Bedürfnis, die innern Schwierigkeiten durch
äußere Erfolge zu überwinden."
Diese Politik wird fortan jeden Schritt, der auf dem Wege einer weitern
Annäherung des Südens an den Norddeutschen Bund lag, als eine
Durchlöcherung des Prager Friedens
bekämpfen. Sie begann schon
bald damit, die Schutz- und Trutzbündnisse vom August 1866, weil sie
dem Wortlaut des Prager Friedens widersprächen, zu beanstanden, obgleich
diese Bündnisse allein durch die französischen
Kompensationsforderungen deutschen Landes hervorgerufen worden waren; noch
bis in den Winter 1869/70 wird man auf unterirdischen Wegen die Opposition der
bayerischen und württembergischen Kammern gegen die
Bündnisverträge ins Feuer zu schicken versuchen. Sie wandte sich
weiter gegen die Ausgestaltung des Zollvereins. Als Preußen im Jahre 1867
die Zollvereinsverträge erneuerte und ihre Ergänzung durch ein
Zollparlament, einen politischen Gedanken schon aus dem Jahre 1847, in
Aussicht nahm, zeigte sich die französische Regierung sehr unzufrieden.
Eigentlich sei ein Zollparlament eine Institution von politischem Charakter: wenn
man schon einer solchen Einrichtung bedürfe, weshalb sie nicht nach
Würzburg oder Bamberg berufen und warum, statt eines Eintritts der
süddeutschen Abgeordneten in den Norddeutschen Reichstag, nicht
völlige Neuwahlen indirekter Art, etwa in der bescheidenen Form von
Handelskammerwahlen? Wenn man auch nicht zu amtlichen Schritten vorging, so
verrieten solche Wünsche eine fortdauernde Interventionsneigung.
Obgleich die Wirtschaftseinigung, in der
Nord- und Süddeutschland im Zoll- [95] verein verbunden waren,
seit einem Menschenalter eine anerkannte Tatsache war, stellte man sich in Paris,
als wenn eigentlich auch in der wirtschaftlichen Sphäre die Mainlinie, in
sinngemäßer Anwendung des Prager Friedens, maßgebend und
darin von Frankreich als dem Garanten dieses Friedens zu überwachen sei.
So begann man, indem man sich an den Wortlaut und Sinn des Prager Friedens
klammerte, ihn bald nach allen Seiten zu durchbrechen und eine Kette von
Interventionsmöglichkeiten daraus zu folgern, in denen, wie in den
dunkelsten Zeiten des alten Reiches, Frankreich als der oberste Schiedsrichter in
deutschen Dingen aufgetreten wäre.
Aus den einzelnen Beanstandungen erwuchs allmählich ein geschlossenes
Programm. Als Kaiser Napoleon dem Kaiser Franz Joseph in Salzburg im August
1867 einen Besuch abstattete, ließ er Beust den Entwurf eines
Bündnisses auf der Basis der strikten Ausführung des Prager
Friedens vorlegen. Und zwar sollten die Mächte fordern: die Aufhebung der
Schutz- und Trutzbündnisse; Bildung eines Südbundes unter
gemeinschaftlichem Protektorat von Österreich und Frankreich, mit dem
Sitz des Bundesparlamentes in Wien; Räumung der Festung Mainz durch
die Preußen und Entlassung Oberhessens aus dem Nordbunde; Errichtung
eines österreichisch-süddeutschen Zollvereins. Bei Verweigerung
dieser Forderungen aber Krieg mit den Kriegszielen: Grenzen von 1814 für
Frankreich, Oberschlesien für Österreich, Revision der Annexionen
und Volksabstimmung in Nordschleswig. Der Text klang maßvoller und
ostensibler als das große Eroberungsprogramm vom April 1867, doch fehlt
es nicht an einer Nachricht Beusts, Napoleon habe ihm in Salzburg
Süddeutschland angeboten, wenn man ihm dafür das linke Rheinufer
überlassen wolle: das waren freilich Zusicherungen, die man in Wien
unbedingt vermeiden wollte. So war der Österreicher denn auch nur bereit,
die kriegerische Intervention durch eine gemeinsame diplomatische Methode in
der deutschen Politik zu ersetzen, die, um der Nationalpartei jeden Vormund zu
nehmen, den Mittelstädten den Rücken stärken, einen neuen
moralischen Einfluß gewinnen und mit dieser wohlberechneten Taktik die
Politik Bismarcks durchkreuzen sollte.
Die Folgen blieben nicht aus. Die Franzosen hatten schon in der Luxemburger
Krisis der bayrischen Regierung bedeutet, in der herrischen Sprache des alten
Kaiserreichs: wenn sie in einer solchen Haltung beharre, werde man im
Kriegsfalle den Endfrieden ganz einfach auf dem Rücken Bayerns
schließen. In Karlsruhe leitete der französische Gesandte seinen
Vortrag mit der Wendung ein: "Wir, die wir das Großherzogtum Baden
geschaffen haben" - als wenn die Zeiten des Rheinbundes sich in der
Epoche der nationalen Einigung noch wieder beleben ließen. Seit der
Salzburger Zusammenkunft wurde diese Einwirkung von Paris und Wien
[64a]
Königin Victoria mit Prinzgemahl Albert.
|
gleichmäßig in den Mittelstädten geübt. Man
beobachtet, wie diese Sprache deutlicher wird, als die Wahlen zum Zollparlament
in Süddeutschland einsetzen und das Zollparlament in Berlin
zusammentritt. [96]
Schon sickerte in Europa durch, daß Kaiser Napoleon zum Handeln bereit
sei, und Königin Viktoria von England hielt es im März 1868
für angezeigt, in Berlin einen diplomatischen Bericht vertraulich
mitzuteilen: zwar sei die Sprache der französischen Minister
äußerst friedlich, aber vertraute Kenner des Charakters Napoleons
versicherten aus gewissen Symptomen zu schließen, daß der Gedanke
einer plötzlichen Kriegserklärung gegen Preußen ihn
gegenwärtig beschäftige. Und tatsächlich ließ Napoleon
einige Wochen später, als das Zollparlament seine Sitzungen eröffnet
hatte, in Wien eine Anfrage unterbreiten, was man zu tun gedenke, wenn die
Süddeutschen sich freiwillig den Preußen in die Arme würfen
oder wenn Preußen Gewalt anwende, um sie unter Bruch des Prager
Friedens zu sich herüber zu ziehen. Indem er seinerseits erklärte,
Frankreich werde in einem Überschreiten der Mainlinie einen Kriegsfall
erblicken, ließ er in Wien die Gewissensfrage stellen. Als Beust
ausweichend antwortete, drohte der Herzog von Gramont: "Dann werden wir Sie
mit uns fortreißen." Dem Bayern wurde noch deutlicher eröffnet,
daß er dann vor die Entscheidung, ob Freund oder Feind, gestellt werde.
Sollten solche demütigenden
Erinnerungen - man brauchte in München nur an das Jahr 1805
zurückzudenken - in Deutschland niemals aussterben?
Die kriegerisch angeheizte Atmosphäre mochte ihre Wirkung tun, um das
Zollparlament, von dem Napoleon eine Kompetenzüberschreitung in das
Politische befürchtete, unter einen Druck zu setzen. Alle begeisterten
Reden des Zollparlaments änderten nichts an der Tatsache, daß Paris
und Wien in gleicher Weise zu verstehen gaben, daß sie gewisse Schritte,
von denen die nationale Aktion einen Fortgang erwartete, nicht gleichgültig
hinnehmen würden. Nur die maßvolle Leitung des Zollparlaments
verhinderte, daß solche Beschlüsse gefaßt wurden. Auch
Bismarck konnte sich nicht mehr verhehlen, daß er sich auf eine
Verzögerung in der Vollendung des Einigungswerkes werde einzurichten
haben. So sprach er am 19. Mai 1868 zu dem württembergischen
Kriegsminister von Suckow die denkwürdigen Worte: "Erreicht
Deutschland sein nationales Ziel noch im 19. Jahrhundert, so erscheint mir
das als etwas Großes, und wäre es in zehn oder gar fünf Jahren,
so wäre das etwas Außerordentliches, ein unverhofftes
Gnadengeschenk von Gott."
Um so mehr war Napoleon darauf aus, vor allem in Wien das Eisen so lange zu
schmieden, wie es heiß war. Schon im Juli 1868 meldete er sich von neuem
mit seinen Bündnisanträgen; als Beust, wiederum ausweichend, den
Abrüstungsgedanken zur Bündnisgrundlage zu machen vorschlug,
war Napoleon wohl bereit, an Preußen eine Reihe von Forderungen zu
stellen, die in Wahrheit die Aufhebung der preußischen Wehrverfassung in
sich schlossen, aber er verband damit die Gewissensfrage, ob man in Wien bereit
sein würde, ihn im Notfall mit bewaffneter Hand zu unterstützen.
Mit dem Ölzweig der allgemeinen Abrüstung wollte er die deutsche
Nation, der man das Recht auf [97] ihre Einheit bestritt, vor
die Alternative stellen: Verzicht oder Krieg. Der englische Außenminister
Lord Clarendon hatte recht mit seinem Urteil, ein derartiger Vorschlag
würde nur dazu dienen, den Krieg unvermeidlich zu machen.
Nach diesem letzten Vorspiel entschloß sich Napoleon, die
Bündnisverhandlungen auf einer breiteren Basis, gleichzeitig mit
Österreich und Italien, aufzunehmen, um damit alle Bedenklichkeiten
Wiens von vornherein zu beruhigen und eine schlechthin überlegene
Machtkonzentration für den Ernstfall hinter seine Politik zu stellen. Die
Pariser Dreibundsverhandlungen, am 1. Dezember 1868 vertraulich eingeleitet,
seit dem 1. März 1869 zwischen den drei Monarchen und ihren leitenden
Ministern amtlich im tiefsten Geheimnis geführt, gediehen, nach einem
höchst verwickelten Spiel der Interessen und der Projekte, schließlich
zu einem Vertragsentwurf, dessen formelle Ratifikation in den nächsten
Wochen auf Schwierigkeiten stieß, die in dem in letzter Stunde
angemeldeten italienischen Anspruch auf Rom und in einer
innerfranzösischen Krisis ihre Wurzel hatten. Doch erklärte Kaiser
Napoleon schon im Juni 1869, daß er den Vertrag als bestimmt
unterzeichnet ansehe, und der Austausch von ähnlich lautenden Briefen der
drei Monarchen im September 1869 befestigte in ihm die Überzeugung,
daß, unbeschadet des Mangels der Ratifikation, eine moralische Bindung
erreicht sei. Er teilte bald darauf dem Staatsminister Rouher mit, daß er die
Verträge als moralisch unterzeichnet betrachte, und bezeichnete
insbesondere das Bündnis mit Österreich als den Angelpunkt seiner
Politik. Dem General Lebrun erklärte er im November 1869: "Es ist
erlaubt, das Bündnis mit Italien als gewiß, und das Bündnis mit
Österreich als moralisch, wenn nicht tatsächlich gesichert
anzunehmen." Die Äußerung wiegt um so schwerer, als der General
auf der Grundlage dieses Tatbestandes die Aufstellung eines Feldzugsplanes
vornehmen sollte. Jedenfalls glaubte der Kaiser so weit zu sein, daß er an
die strategischen Konsequenzen herantreten könne. Ob er in dem Glauben
an die vorausgesetzte vertragsgleiche Bindung, die bis in den Juli 1870 die
Grundlage seiner Politik bildet, sich geirrt hat oder nicht, kommt zunächst
nicht in Frage. Die Motive der Bündnispolitik von 1869 und das taktische
Vorgehen in der ersten Hälfte des Jahres 1870 werden davon nicht
betroffen.
Aus den Entwürfen über die Zweckbestimmung des
Bündnisses war schließlich die Formel hervorgegangen: "Frankreich
und Österreich versprechen im Kriegsfall die Waffen nicht eher
niederzulegen, als bis in Deutschland ein neuer, aus möglichst gleich
mächtigen Staaten zu bildender Bund geschaffen und somit der Zweck des
Krieges erreicht ist." Es war die (noch in den amtlich mitgeteilten Kriegszielen
vom August 1870 wiederkehrende) Zerschlagung Preußens und seine
Herabdrückung auf den Machtumfang Bayerns oder Sachsens, somit die
Begründung einer deutschen Mächtegruppierung, die sich
wechselseitig neutralisierte und kaum unter einheitlicher Führung
zusammenfassen ließ - es ist das Bild jenes Deutschlands von 1648,
das noch die Franzosen von 1919 als das [98] Ideal einer
unschädlichen Desorganisation der Macht in den dunkelsten Zeiten unserer
inneren Auflockerung und äußeren Abhängigkeit
entzückte. Man kann nicht sagen, daß dieser Offenheit auch eine
ähnliche Offenheit in Sachen der französischen
Sonderwünsche entsprach: von den Erwerbungen auf dem linken Rheinufer
war in dem Vertrage nicht die Rede. Die Erklärung liegt in der unbedingten
Abneigung Wiens gegen vertragsmäßige Festlegung zugestandener
Eroberungsziele. Schon am 1. März 1869 stellte Metternich ironisch
fest: "Die Germanen ihrerseits werden im Text den Rhein nicht erwähnt
finden, was ich nur mit einer gewissen Mühe habe durchsetzen
können; sie werden kein Geschrei erheben können über eine
gemeinsame Kriegsunternehmung von uns und dem Ausland gegen »die
deutschen Brüder«." Wieviel Wert auf diese formelle
Unterdrückung der geheimsten Triebkraft der ganzen Unternehmung zu
legen ist, wird in dem weitern Verlauf bis zum Kriegsausbruch hin deutlich
werden.
So erreichte Napoleon sein erstes Ziel. Die Politik der Verhinderung der
deutschen Einheit fand fortan Deckung und Verstärkung in einem
Bündnissystem, das, wenn es in Kraft trat, allerdings eine neue Ordnung der
Dinge, freilich auch einen europäischen Krieg von unabsehbaren
Dimensionen heraufführen mußte. Einer der österreichischen
Unterhändler urteilte mit Recht, bis zur Heiligen Allianz müsse man
zurückgehen, um eine Konzeption von ähnlicher
Allgemeinbedeutung zu finden, denn der Dreibund der drei Monarchen, der
hundert Millionen regiere und über beinahe drei Millionen Bajonette
verfüge, werde den einstigen Bund der Ostmächte ablösen und
ein neues politisches System in Europa begründen; vermöge der
Identität des Glaubens, der inneren Gefahren und der gemeinsamen
Interessen im Orient wie im Okzident verbürge er die Dauer dieser
politischen und geographischen Dreieinigkeit und sei der besten Traditionen eines
Kaunitz würdig.
Napoleon III. hatte einst den Maximen seiner Außenpolitik einen modernern
Anstrich dadurch gegeben, daß er sich zu dem Nationalitätsprinzip
als einer unwiderstehlichen Macht des Jahrhunderts bekannte und ein
Bündnis mit diesen Kräften suchte. Jetzt warf er sich der
mächtigsten Nationalitätenbewegung seiner Zeit, der
heraufziehenden deutschen Einheit, den Donnerkeil der Kriegsdrohung kaum
verbergend, in den Weg, weil sie dem französischen Machtinteresse
widersprach. Diese Tatsache, im heutigen geschichtlichen Bewußtsein viel
zu sehr verblaßt, ist einer der entscheidenden Wendepunkte der neueren
Geschichte bis zum Weltkriege.
Es war, als ob die ganze Geschichte der deutsch-französischen
Beziehungen im 17. und 18. Jahrhundert sich noch einmal aufrollte.
Für die französische Politik war es, wie wir uns erinnern, ein
Glaubenssatz seit dem 17. Jahrhundert, daß die wahre Sicherheit
Frankreichs allein dadurch gewährleistet sei, daß das Deutsche Reich
möglichst locker, am besten in einem ständischen Chaos ohne
[99] zentrale Führung
organisiert sei. Seitdem wurde den Franzosen ihre Sicherheit zur Unsicherheit des
andern, zu einem formelhaften Ausdruck für einen konkreten
Machtanspruch, der damit in das verschönernde Licht einer sittlichen
Notwendigkeit oder einer natürlichen Ordnung der Dinge gerückt
ward. Das Sicherheitsmotiv war auch der Sprache und der Praxis der andern
Mächte nicht fremd. Aber die Sicherheitspolitik der Siegermächte
von 1815, deren Aufgabe war, ihre Neuordnung gegen Frankreich dauernd zu
schützen, war ausschließlich in das nichtfranzösische Gebiet
verlegt, es war eine echte, nicht verkleidete, eine wirklich defensive
Sicherheitspolitik. Wenn aber Napoleon III. Sicherheitspolitik trieb, wie in
den rheinischen Kompensationsforderungen des August 1866 oder jetzt in dem
Verbot des Anschlusses des Südens, so verlegte er die Anwendung des
Sicherheitsmotivs in das Gebiet, in den Körper und die Seele einer
benachbarten Nation. Das war eine unechte, eine offensive Sicherheitspolitik, nur
ein verschämter Name für eine Machtpolitik, die man nicht
einzugestehen wagte; in dem politischen Sprachgebrauch mancher Franzosen
liefen Rhein und Sicherheit harmlos durcheinander. In Wahrheit hatte der
englische Premierminister Mr. Gladstone recht, wenn er in einer
Unterredung mit dem Botschafter Grafen Bernstorff vom 6. Dezember 1868 "die
schlechte traditionelle Politik der Franzosen" verurteilte, welche von jeher gewollt
habe, daß Frankreich "nur von schwachen Staaten umgeben sei"; mit dieser
Eifersucht auf die Einheit der Nachbarn zögen sie im Grunde nur sich
selber herab, "weil sie, vermöge ihrer glänzenden geographischen
Lage, der Homogenität ihrer Bevölkerung, des Reichtums ihres
Bodens und des militärischen Geistes ihres Volkes sehr wohl imstande
wären, sich gegen jeden Angriff von außen zu verteidigen und
infolgedessen niemand zu fürchten haben".
Man kann in dieser Frage Napoleon nicht von der französischen Nation
trennen, und wie sich die "Schuld" auf den einen und die andere verteilt, ist nicht
mit einem Worte zu sagen. Bis zum Sommer 1866 hatte der Kaiser in der
Führung gestanden, die Seele der Franzosen mit dem Spiel der
Kompensationen, mit den rheinischen Möglichkeiten erfüllend. Seit
Königgrätz, vollends seit dem Ausgang der Luxemburger Frage, war
er in die Defensive gegenüber den nationalen Leidenschaften
gerückt. Denn jetzt begann man auf allen Seiten zu drängen. Da war
seine Gemahlin und seine alten Getreuen; da war die Armee, die Fleury, Niel,
Ney, Ducrot, Bazaine, Bourbaki, da war auch die Opposition, mochte sie
legitimistisch oder orleanistisch oder republikanisch sein. Die ganze Nation
empfand in gleicher Weise. Man hatte 1866 auf den Rhein und die Vermehrung
der Sicherheiten, auf ein wildes deutsches Gegeneinander gehofft; man hatte keine
Kompensationen erhalten, sondern sah jetzt die deutsche Einheit heraufziehen,
wie einen Einbruch in die eigene Sicherheit. Man
ahnte - das lag auf dem tiefsten Grunde in dem Empfinden eines stolzen
und eitlen Volkes - das Ende der französischen Präponderanz.
Es fehlte der [100] französischen
Nation an der inneren Freiheit und Objektivität, einen natürlichen
und unabwendbar heraufziehenden geschichtlichen Prozeß hinzunehmen
und danach ihre Politik einzurichten. Der deutsche Nationalstaat, stark und
unangreifbar in sich selber, widersprach allzu sehr dem Bilde französischer
Größe und den Traditionen, die man mit ihr verband. Man legte sich
niemals die Frage vor, ob die von so viel inneren Spannungen und
Gegensätzlichkeiten durchzogene deutsche Volksgemeinschaft nicht gerade
durch das Verhältnis, das die französische Politik zu ihr einnahm,
fester zusammengeschweißt und in sich selber ausgeglichen werde, ob also
eine Fortsetzung des Widerspruches gegen den unvermeidlichen Ausgang diesen
nicht eher zu beschleunigen berufen sei. Der deutsche Partikularismus, wenn auch
ins Hintertreffen geraten gegenüber der nationalen Bewegung, war
immerhin noch eine Macht - nichts aber war ihm so schädlich als der
Ruf, daß er sich des Pariser Wohlwollens erfreue. Das Schlagwort des
Rheines diente den Preußen und der Nationalpartei dazu, die
Franzosenfreunde vor der öffentlichen Meinung zu brandmarken; und
selbst ein so ausgesprochen franzosenfreundlicher Mann wie der
Großherzog von Hessen flehte seine Freunde immer an, nur ihre
Rheinpolitik aufzugeben. Napoleon und Frankreich fuhren fort, nur das ihnen
vermeintlich gefährliche Aufsteigen Preußens zu sehen,
während es sich darum handelte, ob die deutsche Nation, nach langem
Ringen sich selber vollendend, auf friedlichem Wege eine ihrer Vergangenheit
würdige Stellung einnehmen würde.
Die Staatsleitung des Norddeutschen Bundes hat den ganzen Umfang der Gefahr,
die sich seit den Dreibundverhandlungen im tiefsten Dunkel heranschlich, nicht
gekannt. Sie konnte nur einzelne beunruhigende Symptome aufgreifen und daraus
ihre Schlüsse ziehen. Wenn Bismarck es für gut hielt, einen
warnenden Ton in der Presse anzuschlagen, zog er vor, das Ziel nach Wien zu
verlegen; das führte wohl dazu, daß Napoleon sofort dem Grafen
Beust die wärmsten Versicherungen abgab, Österreich gegen jede
preußische Unfreundlichkeit zu unterstützen. Im übrigen hielt
Bismarck auch jetzt an seinem Programm des kalten Blutes fest: Zuversicht und
keine Übereilung, den Süden nicht drängen, sondern kommen
lassen, die Franzosen nicht provozieren. Ein Erlaß an seinen Vertreter in
Frankreich vom 19. Februar 1869 fand sich mit der von dunklen Drohungen
erfüllten Atmosphäre in Paris ab: "Wir können ihnen
gegenüber nichts anderes tun, als im Bewußtsein unserer
Stärke die vollste Ruhe bewahren, um auch jenseits des Rheines den
Eindruck immer fester wurzeln zu lassen, daß man uns nicht
einschüchtern kann." Dieselbe Haltung bewahrte auch König
Wilhelm I., wenn er etwa seinen im Sinne des Anschlusses
drängenden Schwiegersohn, den Großherzog Friedrich von Baden,
auf den Kaiser der Franzosen als den Mann des Schicksals hinwies: "Diese
Auslegungen transrhenanischer Natur muß ich leider stets vor Augen haben,
um in keinerlei Art den geringsten Vorwand zu einer rupture zu geben,
sondern alles anzuwenden, daß, wenn sie [101] doch einmal eintritt,
die Welt mir nicht den Stein wirft. So wenig ich einen solchen Moment
fürchte als Soldat, so wenig kann ich ihn gleichgültig kommen sehen
bei dem Bedürfnis nach Frieden in unserer neuen Schöpfung im
Norden, daher muß es dahin geleitet werden, daß die ganze Welt den
Stein über den Rhein wirft. Kommt Zeit, kommt Rat!" Dieses Wort
friedlichen Selbstvertrauens fällt in die Zeit, wo in Paris die
Dreibundsverhandlungen mit dem Ziel der Zertrümmerung in vollem Zuge
waren. Aber der preußische Militarismus steht Gewehr bei Fuß und
der Führer der deutschen Nationalpolitik, auf den alle Blicke gerichtet sind,
gebietet den Wogen stille zu stehen.
Die innerste Natur dieses Mannes, die manche seiner Gegner in dem Wort
über die Blut- und Eisenpolitik erschöpft wähnen: die
Verbindung von realpolitischer Rechnung und sittlicher Verantwortlichkeit, ja
noch mehr, die von ihm vollzogene Einordnung seines weltgeschichtlichen
Handelns in einen über ihm waltenden höheren Zusammenhang,
enthüllt sich in dem Momente, wo er, auf dem Wege zu seinem Ziele
notgedrungen einhaltend, seinen eigenen Mitarbeitern und Anhängern, vor
allem der stürmisch drängenden Nationalpartei, nicht genug zu tun
scheint. Wer in sein Inneres blicken will, möge die Sätze lesen, die in
einem Erlaß Bismarcks vom 26. Februar 1869 an den preußischen
Gesandten in München, Freiherrn von Werthern, sich finden:
"Daß die deutsche Einheit durch
gewaltsame Ereignisse gefördert werden würde, halte auch ich
für wahrscheinlich. Aber eine ganz andere Frage ist der Beruf, eine
gewaltsame Katastrophe herbeizuführen, und die Verantwortlichkeit
für die Wahl des Zeitpunktes. Ein willkürliches und nach subjektiven
Gründen bestimmtes Eingreifen in die Entwicklung der Geschichte hat
immer nur das Abschlagen unreifer Früchte zur Folge gehabt; und
daß die deutsche Einheit in diesem Augenblick keine reife Frucht ist,
fällt meines Erachtens in die Augen. Wenn in der Richtung auf dieselbe die
kommende Zeit ebenso fortschreitet wie die seit dem Regierungsantritt Friedrichs
des Großen verflossene und namentlich wie die seit 1840, dem Jahre, wo
zuerst seit den Befreiungskriegen wieder eine nationale Bewegung fühlbar
wurde, so können wir der Zukunft mit Ruhe entgegensehen und unsern
Nachkommen das Weitere zu tun überlassen. Wir können die Uhren
vorstellen, die Zeit geht aber deshalb nicht rascher und die Fähigkeit zu
warten, während die Verhältnisse sich entwickeln, ist eine
Vorbedingung praktischer Politik."
Man kann den Ton dieser Worte nicht auf sich wirken lassen, ohne in Gedanken
das Innere seines Gegenspielers Napoleon aufzusuchen.
Es drängt sich geradezu die Frage auf, welche Mittel Bismarck gegen das
gewaltige Spiel der Einkreisungspolitik ins Feld zu führen hatte. Man
vergegenwärtige sich, daß in der erdrückenden
Machtanhäufung des Dreibundes
Frankreich-Österreich-Italien als vierter Bundesgenosse Dänemark
vorgesehen und verständigt war; man nehme hinzu, daß die
französische Diplomatie auch schwedische Sympathien zu gewinnen sich
bemühte und sogar den einzigen [102] wohlwollenden Freund
Preußens, den Zaren, durch die nordschleswigsche Frage abspenstig zu
machen suchte; man nehme weiter hinzu, daß England durch das klug
berechnete Eingehen Napoleons auf seine Abrüstungsvorschläge
zum mindesten beschäftigt wurde - der europäische
Aktionsradius für diplomatische Gegenaktionen Bismarcks war wirklich
sehr beschränkt. Er mußte sich sagen, daß das
Zusammenwirken des Drei- oder Vierbundes auch in dem innerdeutschen Lager
der Besiegten von 1866 manche schlummernden Kräfte, zumal bei
Anfangserfolgen, in Bewegung setzen würde. Er hatte
pflichtmäßig alles auf das sorgfältigste zu verfolgen, was die
freie Hand Napoleons irgendwie einengen oder auch den Tatendrang
Österreichs, etwa vom Balkan her,
eindämmen konnte - viele Möglichkeiten waren
überhaupt nicht gegeben. Als im September 1868 die spanische Revolution
ausbrach, rechnete man in Berlin sofort damit, daß sie Napoleon etwas
beschäftigen würde und zugunsten des Friedens wirken könne;
als im Herbst 1869, zunächst wohl ganz überraschend, die
Thronkandidatur eines Hohenzollern in Madrid auftauchte, horchte Bismarck
scharf auf und griff zu; als die Sache im Februar 1870 ernst wurde, setzte er seine
ganze Energie dahinter, um das Unternehmen gegen alle Widerstände zu
fördern. Diese spanische Politik Bismarcks, bis in die letzte Falte des
Geheimnisses untersucht und heute wie ein taghell durchleuchtetes Intrigenspiel
vor uns liegend, ist sehr verschieden beurteilt worden. Daß Bismarck die
spanische Episode nicht erfunden, sondern nur das, was ihm entgegengetragen,
benutzt hat, liegt auf der Hand - aber hat er sie wie ein machiavellistisches
Ungeheuer benutzt, um schließlich den unglücklichen Napoleon in
eine mit raffiniertestem Geschick aufgestellte Falle laufen zu lassen? Ich bin der
Meinung, daß bei manchem Forscher und Zuschauer sich dieser Zug des
Unternehmens ins Überlebensgroße gesteigert und diese Dinge im
Verhältnis zu ihrer wirklichen Rolle vollkommen verzerrt hat. Da die
deutsche Politik dieser Jahre durch den Ausgang des Krieges von 1870/71 vom
Erfolg gekrönt wurde, so erscheint sie auch im einzelnen auf den
Gesamtverlauf bewußt angelegt. Während die überlegene und
bedrohliche Kraft der Initiative in Wahrheit bei Napoleon lag, wirkt Bismarck, der
sich den Zügen des Gegners in der Abwehr anzupassen hatte,
nachträglich viel zu sehr als der zielbewußtere Spielpartner. Die
Fäden, an denen die spanische Thronkandidatur aufgezogen wurde, waren
ziemlich dünn, und das ganze höchst unsichere Unternehmen wog
federleicht gegen die massive Maschinerie des Dreibundes.
Daß die Spanier bei französischem Gegendruck festbleiben
würden, war kaum zu erwarten; daß die Sache auf einen Krieg
hinauslaufen würde, war sehr unwahrscheinlich und im Grunde, als ein
wenig glücklicher Anlaß, nicht einmal wünschenswert. Man
konnte also nur mit der Möglichkeit rechnen, daß aus der spanischen
Thronkandidatur der Hohenzollern dem Kaiser Napoleon Schwierigkeiten oder
Prestigeverluste erwachsen und ihn - wie etwa einst seine mexikanischen
Sorgen - im friedlichen Sinne beeinflussen würden, wie [103] Bismarck
überhaupt die Möglichkeiten einer friedlichen Erziehung Napoleons
durch innere und äußere Schwierigkeiten eher
überschätzt als unterschätzt hat. Wenn man ganz
unvoreingenommen die Politik der beiden gegnerischen Lager vergleicht,
muß man gestehen, daß im Vergleich zu der gewaltigen Minenanlage,
die Napoleon von langer Hand her in das unterirdische Gestein Europas vortrieb,
der einzelne Gegenstollen, den Bismarck hier anlegte, nur ein Unternehmen
zweiten Ranges war; ein Nebenspiel, wie im Jahre 1866 die Verbindung mit der
ungarischen Revolution - wenn nicht Napoleon es aufgriff. Wenn der
siegreiche Ausgang der andern Seite zugefallen wäre, würde auch ihr
überlegenes Vorbereitungsspiel in eine strahlende Beleuchtung
gerückt sein, vor der dann die unsichern Züge eines abenteuerlichen
Hasardeurs als ohnmächtiges Gegenspiel in einem verdienten Dunkel
versunken wären.
Jedenfalls war Bismarck seit Anfang des Jahres 1870 stärker im
Gedränge als zuvor. In der Nationalpartei wuchs das Gefühl des
Mißbehagens darüber, daß der Fortgang der nationalen Einheit
zu versanden drohe. In dieser Lage hat Bismarck vorübergehend auch die
Annahme einer norddeutschen Kaiserwürde durch König Wilhelm
(anstatt der farblosen Amtsbezeichnung Bundespräsidium) erwogen, um
dann den Gedanken, der anscheinend sofort Unruhe in Paris erregte, aus manchen
sachlichen Erwägungen wieder fallen zu lassen. Er konnte sich nicht
verhehlen, daß die Widerstände auf seinem Wege anwüchsen;
schon ließ der Kampf um den casus foederis in den bayerischen
Kammern und der Sturz Hohenlohes stille Hoffnungen in Paris aufsteigen; auch
die englischen Anregungen einer Rüstungsverminderung konnten, ganz
abgesehen von ihrer französischen Herkunft, in dieser Weltlage in Berlin
nicht als ein nützliches Mittel zur Erhaltung des Friedens betrachtet
werden.
So war es Bismarck sehr unbequem, durch einen Antrag der
national-liberalen Fraktion im Norddeutschen Reichstage überrascht zu
werden, der auf Eintritt Badens in den Norddeutschen Bund abzielte: sich
drängen zu lassen von jenen, die sichtbar das nationale Banner trugen, und
genötigt zu werden, vor Europa sich zur deutschen Frage zu
äußern! Mochte er auch in seiner Antwort über den Tatendrang
der Antragsteller spotten, denen anscheinend zumute sei wie Shakespeare den
Heißsporn Percy schildere, der, nachdem er ein halbes Dutzend Schotten
umgebracht, über das langweilige Leben
klage - er wußte genug, daß sein Programm des Abwartens die
unruhigen Gemüter nicht beflügeln könne, ein Aufruf zur Tat
aber sofort den französischen Einspruch auslösen würde: nach
beiden Seiten war das Feld der Motivierung für ihn eingeengt. So
begnügte er sich in seiner Antwort im Norddeutschen Reichstag mit der
scherzhaften Warnung, den (badischen) Milchtopf abzusahnen und das
übrige sauer werden zu lassen, und mit dem nachdenklichen Zweifel, ob es
ratsam sei, Bayern und Württemberg vor dem Westwind durch den
(badischen) Mantel zu schützen. So wenig er die großen Worte liebte,
mit stolzem Ausblick [104] verwies er die
Ungeduldigen und Unzufriedenen auf die tatsächliche Einheit, wie sie in
militärischen und wirtschaftlichen Fragen jetzt schon erreicht sei: "Ich kann
dreist behaupten: übt nicht das Präsidium des Norddeutschen Bundes
in Süddeutschland ein Stück kaiserlicher Gewalt, wie es im Besitze
der deutschen Kaiser seit fünfhundert Jahren nicht gewesen ist?" In seinen
Erlassen sprach er sich deutlicher aus über die Rücksichten, die er zu
nehmen gezwungen war, auf den König von Bayern, auf Frankreich und
sein neues konstitutionelles System. Es komme darauf an, die öffentliche
Meinung, namentlich in Frankreich, allmählich damit vertraut zu machen,
daß die Einigung Deutschlands unser natürliches,
rechtmäßiges und durch die Verträge nicht untersagtes Ziel sei.
Er hoffte auf eine günstige Gestaltung der Verhältnisse und wollte
sie nicht gewaltsam durch einen Krieg lösen: "Ich bin von der Sorge
ziemlich frei, daß wir einen Krieg mehr als andere zu fürchten
hätten; ich habe volles Vertrauen zu unserer Fähigkeit zu siegen,
wenn uns der Krieg gebracht wird; aber ich halte selbst einen siegreichen Krieg
für ein Mittel, welches zur Erreichung von Zwecken, die sich auch ohne
einen solchen zweifellos erfüllen werden, von gewissenhaften Regierungen
nicht angewendet werden sollte." Daß die Erwartungen, die Bismarck auf
das konstitutionelle System im napoleonischen Frankreich setzte, nicht zutrafen,
mochte schon der freundschaftliche Rat verraten, den der neue
Außenminister Graf Daru dem norddeutschen Botschafter gab, das beste sei,
die deutsche Einheit ad calendas graecas zu vertagen. Es sollte sich bald
herausstellen, daß in dem parlamentarischen System die chauvinistischen
Stimmungen ganz neue Entladungsmöglichkeiten fanden.
Die kriegerische Gesinnung begann über die militärischen und
amtlichen Kreise hinauszudrängen. In den nächsten Wochen gewann
Fürst Metternich aus Gesprächen mit dem ehemaligen Staatsminister
Rouher und mit Adolphe Thiers den Eindruck, "daß sie beide, wenn sie zur
Macht kämen, daran denken würden, Krieg zu machen und den
Rhein zu nehmen; der eine zur Wiederherstellung der autoritären Regierung
des 2. Dezember, der andere zugunsten seines eigenen Ruhmes und seiner Figur
in der Geschichte." Als dem Botschafter auch der Republikaner Bethmont von
dem Glück sprach, mit Österreich zu marschieren, notierte dieser:
"Das ist der Republikaner, der wie Rouher, der Absolutist, und Thiers, der
Parlamentarier, mit Wohlgefallen an einen Krieg an unserer Seite denkt. Ich
weiß wohl, der Rhein ist der große Zauberer, der die Anziehung auf
die Nation ausübt - unsere schönen Augen spielen wenig dabei
mit."
Bismarcks Ansichten über Krieg und Frieden aber empfangen eine
denkwürdige Beleuchtung durch die Tatsache, daß eben in jenen
Tagen ein Besuch des Erzherzogs Albrecht in Paris erfolgte, der die
militärischen Besprechungen über einen gemeinsamen Feldzugplan
eröffnete. Die Grundzüge des zwischen dem Kaiser und dem
Erzherzog festgestellten Planes sind bekannt: Eröffnung [105] des Krieges durch
einen gleichzeitigen Angriff von je 100 000 Mann der drei
verbündeten Mächte auf Süddeutschland (der Italiener auf
München), Konzentrierung der gesamten Streitkräfte in der Richtung
auf der Linie Würzburg - Nürnberg - Amberg,
Vormarsch nach den Plänen Napoleons von 1806 und
Entscheidungsschlacht bei Leipzig, schließlich Erzwingung des Friedens in
Berlin. Diese Kriegführung, die Einkreisung aus dem Diplomatischen ins
Militärische übersetzend, würde allerdings in großem
Stil alles das in die Tat umgesetzt haben, was die Diplomaten in den
Verhandlungen des Vorjahres als Ziel einer künftigen Umgestaltung
Europas sich erträumten. Wenn es den verbündeten Truppen gelang,
in einem konzentrischen Angriff gleichzeitig am Rhein und an der Saar,
über den Brenner hinweg, von Böhmen aus und in der
Nord- und Ostsee loszubrechen, dann mußte die Macht der Mitte zum
mindesten zur Teilung ihrer Streitkräfte genötigt werden, wenn nicht
die Süddeutschen vollends unter solchem Druck abgeschnürt und
lahmgelegt wurden. Mochte das militärische Programm auch
zunächst einen akademischen Charakter tragen, Napoleon war dazu
übergegangen, hinter den Kulissen der parlamentarischen Ära, ohne
Wissen der in seine Bündnispolitik noch gar nicht eingeweihten Minister
Ollivier und Daru, die politischen Bindungen von 1869 nach der
militärischen Seite zu vertiefen.
Jeder Schritt des Kaisers scheint fortan den Eindruck zu erwecken, als ob er sich
der Aktion zu nähern beginne. Durch das im Plebiszit vom 8. Mai 1870
erlangte Vertrauensvotum glaubte er sein persönliches Regiment von
neuem befestigt. Unmittelbar darauf ernannte er zum Leiter der
Außenpolitik den Botschafter in Wien, Herzog von Gramont, von dessen
hochfahrender und unbeherrschter Haltung alle Welt damals eine schärfere
Tonart erwartete; nachdem er in Wien durch Beust am 18. Mai in den ganzen
Umfang der geheimen Bündnisverhandlung eingeweiht worden war, trat er
sein Amt mit einem kaum verhehlten Tatendrang an; er verschmähte es
nicht, das sehr reizbar gewordene parlamentarische Aktionsbedürfnis in
seine Politik einzuspannen, nahm in den letzten Tagen des Juni einen
geringfügigen Anlaß wahr, um an Mainzer Befestigungsfragen zu
rühren, und kündigte am 1. Juli dem norddeutschen Botschafter an,
unter nachdrücklicher Anspielung auf den Prager Frieden, daß in den
Kammern eine Erörterung der deutschen Fragen bevorstehe.
Gleichzeitig gingen die militärischen Erwägungen fort. Ein
französischer Kriegsrat unter Vorsitz des Kaisers hatte die strategischen
Pläne Erzherzog Albrechts einer Prüfung unterzogen und die
Durchführbarkeit des gleichzeitigen Angriffs beanstandet. Napoleon
entsandte den General Lebrun nach Wien, um diese Bedenken zur Sprache zu
bringen. Am 14. Juni 1870 stand der Franzose vor Kaiser Franz Joseph in
Laxenburg, um aus seinem Munde die diplomatische, aber doch vielsagende
Erklärung zu vernehmen, wenn er den Krieg mache, müsse er dazu
gezwungen sein, aber wenn Napoleon mit seinem Heere, nicht [106] als Feind, sondern als
Befreier in Süddeutschland stehe, dann werde er seinerseits gezwungen
sein, gemeinsame Sache mit ihm zu machen. In der letzten Juniwoche erstattete
der französische General seinem Kaiser Bericht über etwaige
Abänderungen an dem Plane des Erzherzogs; vor allem wurde dabei
erwogen, daß schon die ersten militärischen Demonstrationen
Österreichs, wenngleich unter dem Schein der Neutralität, eine starke
moralische Wirkung auf die preußische Heerführung üben und
zu Deckungen an den Grenzen Sachsens und Schlesiens nötigen
würden. Mit diesen Dingen war das amtliche Frankreich, war die Seele des
Kaisers beschäftigt, als - wenige Tage
später - die Meldung kam, daß die spanische Regierung dem
Prinzen Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen die Königskrone
angeboten habe.
Von der ersten Stunde an, wo die Nachricht von der spanischen Thronkandidatur
in Paris eintraf, faßten Kaiser Napoleon und seine Minister den
Entschluß, diesen Anlaß zu einer großen Krisis, gegebenenfalls
bis zum Kriege zu steigern, um mit diesem Hebel endlich in die "Deutsche Frage"
wirksam eingreifen zu können. Es ist bemerkenswert, daß in dem
sofort vom Herzog von Gramont eingeleiteten Pressefeldzug schon in den ersten
Tagen Stimmen laut wurden, die den Rhein forderten. Der Heißsporn
Granier de Cassagnac, der einige Tage vorher, am 1. Juli, im Gesetzgebenden
Körper ausgerufen hatte: "Nehmen wir den Rhein, dann können wir
die Armee um 100 000 Mann verringern", veröffentlichte am 5. Juli
im Pays einen Artikel "Le Rhin français", in dem es
hieß: "Der Besitz des linken Rheinufers ist für Frankreich nicht nur
ein Anfall von Ehrgeiz, der strafbar, nicht eine Herausforderung an die deutsche
Nation, die lächerlich sein würde, sondern ein Gedanke der
Sicherheit, der vertretbar und legitim ist. Es gibt heute zwischen Preußen
und uns nicht mehr Pufferstaaten und einen Bund, die unser Schutz nach dieser
Seite waren; an der Stelle dieser verschwundenen Sicherheit brauchen wir eine
andere. Der erste Kanonenschuß wird sie uns wiedergeben."
Gewiß, das war der vorzeitig-unvorsichtige Losbruch eines monarchischen
Außenseiters, aber er verriet eine richtige Witterung für den Weg, zu
dem die kaiserliche Regierung sich entschloß. Der unter Vorsitz Napoleons
im Ministerrat fertiggestellte Wortlaut der Rede im Gesetzgebenden
Körper, mit der Herzog von Gramont am 6. Juli die amtliche Aktion
eröffnete, war eine solche Anhäufung wohlberechneter
Herausforderungen, daß die jedem diplomatischen Brauch widersprechende
Absicht, alle Brücken abzubrechen, sich kaum verbergen ließ; und
nicht minder sprach für solche Absicht, wenn Ollivier, der einstige Pazifist,
sich zu den (später unterdrückten) Worten übersteigerte,
jedesmal wo Frankreich sich fest gezeigt, habe Europa sich vor seinem Willen
gebeugt. Mit Recht hat Bismarck noch in einem der letzten von ihm
überlieferten Gespräche des Alters betont, daß die
französische Kriegserklärung schon in den Verhandlungen der
Kammer am 6. Juli enthalten gewesen sei, und auf die Zeugnisse von
Glais- [107] Bizoin und Arago
verwiesen, die schon damals gesagt hätten, daß dies keine Debatte,
sondern eine Kriegserklärung gewesen sei.
Und tatsächlich, es liegt heute eine Reihe von Zeugnissen ersten Ranges
vor, daß dies der geheime Sinn der Kundgebung und die bewußte
Absicht war, von der die verantwortlichen Männer geleitet wurden. Als der
österreichische Botschafter Fürst Metternich, fortan der vornehmste
Zeuge, sich noch während der Kammersitzung in die Tuilerien begab, fand
er den Kaiser mit einem entzückten, ja freudig erregten Gesicht, die
Kaiserin dermaßen zugunsten des Krieges gestimmt, daß sie ihm, bei
dem Gedanken an einen politischen Triumph oder den Krieg, um zehn Jahre
verjüngt erschien. Napoleon konnte die Frage nicht unterdrücken, ob
er denn wirklich glaube, daß man in Berlin angesichts dieser höchst
energischen Art des Vorgehens unmittelbar zurückweichen könne,
um dann sofort die Gewissensfrage folgen zu lassen: "Können wir auf
Österreich rechnen?" Als der Botschafter dann Ollivier aufsuchte, glaubte
dieser, des säbelrasselnden Tones noch ungewohnt, dem Österreicher
den Sinn seiner Drohworte pathetisch auslegen zu sollen: "Es sind nicht mehr die
Rouher und La Valette, die Frankreichs Politik zu leiten haben. Ich bin es,
ein Minister des Volkes, hervorgegangen aus dem Volke, fühlend mit dem
Volke, ich, ein der Nation verantwortlicher Minister, der diese Sache mit der
patriotischen Entschlossenheit, die Sie an mir kennen, geführt hat. Wir
haben einmütig den Entschluß gefaßt, daß man
marschieren muß, wir haben die Kammer fortgerissen, wir werden die
Nation fortreißen. In vierzehn Tagen haben wir 400 000 Mann an der
Saar, und wir werden den Krieg machen, wie 1793, wir werden das Volk
bewaffnen, das zu den Grenzen strömen wird." Der Herzog von Gramont
vollends, dem Metternich auf den Kopf zusagte, er sei einfach blindlings in die
Gelegenheit hineingesprungen, um entweder einen diplomatischen Erfolg
davonzutragen oder den Krieg auf einem Terrain zu führen, das nicht den
deutschen Geist gegen Frankreich in Bewegung
setze - Gramont antwortete mit dem geschmeichelten Selbstgefühl
des verblendeten Toren: "Das ist ausgezeichnet gesagt, weihen Sie nur den
Reichskanzler in das Geheimnis des Würfelspiels ein. Herr von Beust wird
zufrieden mit mir sein, er mußte auf einen Wurf von meiner Art
gefaßt sein."
Das sind die Geheimnisse derer, die in der Krisis des Juli 1870, in der falschen
Rechnung auf Österreichs sichern Beistand, von der ersten Stunde an
leichten Herzens die Verantwortlichkeit für einen Krieg auf sich nehmen, in
dem Gerichtstag über ihre Politik gehalten werden sollte. Selten setzt eine
große Krisis mit einem so offen zur Schau getragenen und überlegten
Kriegswillen der einen Seite ein. Seit dem 7. Juli, urteilte der
österreichische Militärattaché in Paris, stellte man sich
ausschließlich auf den Boden der allgemeinen Notwendigkeit, den Krieg
mit Preußen herbeizuführen und endlich auszutragen. Dieser
Kriegswille wußte, daß die spanische Thronkandidatur, die den
äußern [108] Anlaß bilde, sehr
bald verschwinden würde, und war darauf gefaßt, dann den
eigentlichen Streitgrund in den Vordergrund zu stoßen. Und so begann
sofort durch den dünnen
spanisch-dynastischen Vorhang die Frage durchzubrechen, die seit Sadowa alle
politischen Gedanken der Franzosen beherrschte:
Rückgängigmachung der deutschen Einheit. Schon am 9. Juli stellte
Émile de Girardin den Preußen die Wahl: Kongreß oder
Krieg - aber Kongreß mit der Tagesordnung einer Schleifung
deutscher Festungen (Mainz, Köln, Landau): "Wenn die Preußen
nicht wollen, gut, dann werden wir sie mit Kolbenstößen in den
Rücken zwingen, über den Rhein zurückzugehen und das linke
Ufer zu räumen." Schritt für Schritt wurde die Basis des Konfliktes
verbreitert. Nur in der Form diplomatischer, nahm anderntags der amtliche
Moniteur das Thema auf und bezeichnete als Mindestmaß der
"Genugtuung" die restlose Ausführung des Prager Friedens nach Wortlaut
und Sinn, die Freiheit der Südstaaten (d. h. die Aufhebung der
Schutz- und Trutzbündnisse), die Räumung von Mainz, den Verzicht
Preußens auf jeden Einfluß südlich der Mainlinie,
schließlich die Regelung der nordschleswigschen Frage: wenn diese
Forderungen nicht erfüllt würden, könnten die
Ansprüche Frankreichs sich nur noch weiter steigern. Schon pflanzte sich
am 11. Juli die Forderung in die Kammer fort und führte zu dringlicher
Mahnung an den Minister, "andere
Fragen" - das war die deutsche Frage, die sie alle
erregte - in den Konflikt hineinzutragen. Der Ministerpräsident
Ollivier war, nach dem Urteil des österreichischen Botschafters, sogar mehr
als der jetzt bedenklichere Gramont, bereit, die "andern Fragen"
hinzuzufügen, "um den Krieg unvermeidlich zu machen". Er schrieb zur
selben Stunde an den Kaiser, daß die Rechte laut dränge,
Preußen vor die Alternative eines Kongresses (mit dem Programm der
deutschen Frage) oder des Krieges zu stellen, daß auch auf der Linken sich
ähnliche Stimmen (Gambetta) erhöben und von beiden Seiten mit
einem Angriff auf das Kabinett gedroht würde. Er erreichte auch durch
dieses Drängen, daß der Kaiser, stark beeindruckt, noch vor
Mitternacht dem österreichischen Botschafter die Gewissensfrage zuschob,
ob er es nicht auch für nötig halte, "die Frage zu komplizieren". Als
Metternich dringend abriet, da das Auswerfen der deutschen Frage gerade die
Wirkung haben würde, die man in Wien dringend zu vermeiden
wünschte, nämlich die Deutschen einmütig um Preußen
zu scharen, wich Napoleon zwar zurück, aber erklärte, daß er
es jetzt mit einem neuen Mittel versuchen werde: "Er wird
morgen" - so meldete der Botschafter seinem Chef einige Stunden nach
Mitternacht - "die Mobilmachung ersten Grades anordnen, ohne den Stand
der Frage zu verändern, und glaubt, daß das den Krieg unvermeidlich
machen würde." Wie man den Krieg unvermeidlich
mache - darin sieht Metternich als scharfsichtiger und empfänglicher
Zuschauer den Schlüssel zu allen Schritten der Beteiligten, und nur eine
einzige Sorge klingt aus seinen Berichten wieder: daß man sich nur den
Krieg nicht entgleiten lasse.
[128a]
Ministerium des Krieges Ollivier, Juli 1870.
|
[109] Da kam am Mittag des
12. Juli die Nachricht von der Entsagung des Prinzen Leopold, und damit die
Nötigung für den französischen Kriegswillen, wenn er sein
Ziel weiter verfolgen wollte, einen veränderten Weg der Entladung zu
suchen. Als Ollivier mit der Nachricht in die Kammer kam, tönte ihm
schon der Ruf entgegen: "Und der Prager Friede?", und alsbald fragte eine
Interpellation drängend, welche Garantien das Kabinett erwirkt habe oder
zu erwirken gedenke, um die Wiederkehr von Verwicklungen mit Preußen
zu vermeiden - jetzt meldeten sich die Geister, die man gerufen hatte.
Gleichzeitig riet Beust, wie schon Metternich getan hatte, auf das dringendste
davon ab, eine Garantieforderung auf dem delikaten Gebiet der deutschen Frage
zu suchen. In diesem Dilemma verfiel Gramont auf die unglückselige Idee,
die Garantie in einem persönlichen Sühnebrief König
Wilhelms an den Kaiser zu suchen, der die spanische Thronkandidatur aus der
Welt schaffen solle. Nicht aus Sorge vor dieser Kandidatur, deren
Wiederauftauchen kein Mensch auf der Welt für möglich gehalten
hätte; nicht aus einem Bedürfnis, die Person des Königs
hereinzuziehen und zu demütigen, sondern um irgendwie Garantien gegen
Wiederkehr vorzeigen zu können, wenn sie auch von dem politischen
Gebiet der deutschen Frage, das man in Wien nicht betreten wollte, auf das
scheinbar harmlosere dynastische Gebiet abgeschoben werden mußten.
Gegenüber dem tobenden Ausbruch der Kammer, umgeben von der bis zur
Weißglut erregten Stimmung bei Hofe und im Militär, billigte der
Kaiser den neuen Vorschlag Gramonts, der den Gegenschlag herbeiführen
sollte.
|
Bismarck hatte bis zu diesem Augenblicke zurückgehalten. Erst jetzt
entschloß er sich, auf das unerhörte Ansinnen der
französischen Regierung in einem so gemessenen und bestimmten Tone zu
antworten, wie es der Summe der französischen Herausforderungen seit
dem 6. Juli entsprach: das war die Emser Depesche. Die geschichtliche Rolle der
Emser Depesche ist in dem letzten Menschenalter einem beispiellosen
Mißbrauch ausgesetzt worden. Sie geriet in den Ruf, durch einen
wohlberechneten diplomatischen Offensivvorstoß, ja durch die
Verfälschung eines harmlosem Vorgangs, eine friedlich angelegte
Verhandlung zerrissen zu haben. In Wirklichkeit hat sie ein auf den Krieg und
nichts anderes berechnetes Intrigenspiel der Franzosen, die um ihres
Rüstungsvorsprunges willen die Verhandlung hinzuschleppen suchten,
schneidend durchkreuzt. Daß dies der historische Zusammenhang und sein
Geheimnis ist, kann durch keinen bessern Kronzeugen als den Herzog von
Gramont selbst bewiesen werden. Er erklärte am 18. Juli, fünf Tage
nach der Emser Depesche, dem dänischen Gesandten, den er durch das
Angebot Schleswigs in den Krieg an der Seite des Dreibundes
hineinzureißen suchte: "Wir haben zehn oder elf Tage Vorsprung vor den
Preußen hinsichtlich der militärischen Vorbereitungen; wir
würden noch mehr gehabt haben, wenn wir, so wie wir es wünschten,
die Dauer der Verhandlungen noch hätten hinziehen können;
unglücklicherweise ist es zu einer [110] Insulte seitens des
Königs von Preußen gekommen, und diese Tatsache hat zur Folge
gehabt, auf der Stelle die Verhandlungen abzubrechen." Die Emser Depesche hat
also (daß keine Insulte erfolgt ist, bedarf keines Nachweises) die Franzosen
nur genötigt, den Übergang zum Kriege einige Tage früher zu
vollziehen, als ihnen nützlich schien, und das kriegerische Programm
durchzuführen, das, seit dem 6. Juli mit Vorbedacht angelegt, zeitweilig in
den Plänen einer Aufrollung der deutschen Frage vollends aufgedeckt war.
Weshalb Gramont gern noch einige Tage gehabt hätte, hatte er schon am
17. Juli dem österreichischen Reichskanzler Beust gestanden: "Wenn ich
die Stunde der Aktion hätte wählen können, so würde
ich natürlich nicht verfehlt haben, unsere Verträge fertig zu machen."
Wie seine innere Stimmung aussah in den Stunden, wo die Kriegserklärung
nach Berlin abging, verrät der pathetische Zuruf, den er in demselben
Schreiben an Beust richtete: "Niemals wird sich eine gleiche Gelegenheit von
neuem bieten, niemals werdet Ihr eine so wirksame Hilfe finden, niemals wird
Frankreich so stark sein wie heute, niemals besser bewaffnet und
ausgerüstet, von höherem Enthusiasmus erfüllt. Im Moment,
wo ich schreibe, fühle ich, daß der Geist, der mich beseelt, der Geist
ganz Frankreichs, der Geist des Kaisers und der Armee ist."
Auch als die Hoffnung auf den österreichischen Verbündeten
schwand, machte Gramont kein Hehl aus dem bewußten Willen, mit dem er
in den Krieg getrieben. Als am 27. Juli der bisherige französische Gesandte
in Stuttgart, Graf Saint-Vallier, bei ihm eintraf, voll lebhafter Sorgen und Klagen
über die Politik seines Chefs, erwiderte er: Er hätte den Krieg
zwischen Frankreich und Preußen schon längst als unvermeidlich
betrachtet; deshalb hätte er Zeit und Gelegenheit so ausgesucht, "wie sie
für uns günstig wären". Ja in seiner Verblendung schloß
er mit den Worten: "Was nun aber die süddeutschen Königreiche
betrifft, so irrten Sie sehr, wenn Sie meinten, wir wünschten deren
Neutralität; wir wollen sie gar nicht haben; unsere militärischen
Operationen würden durch sie nur gehemmt werden; wir brauchen die
rheinpfälzische Ebene für den Aufmarsch unserer Armee." Das ist
eins der letzten Worte, das unmittelbar vor den ersten Schlachten uns in die Tiefe
des Grundes blicken läßt. Die Kriegführung, und man darf
hinzusetzen, die Kriegsziele der Franzosen bedurften der ganzen deutschen Nation
als eines Gegners - im trügerischen Glauben an die große
Bündnisvorbereitung vermaß man sich, ihr im Felde zu begegnen.
Noch hatte der unglückliche Verlauf des Krieges nicht die Flucht aus den
wahren Verantwortlichkeiten eingeleitet. Ein Mann wie Thiers, der die
Zusammenhänge tief durchschaute, dachte, wie Ranke erzählt, in
ihren vertrauten Unterredungen im November 1870 nicht daran, Bismarck, den er
auf das Höchste bewunderte, oder den Deutschen überhaupt die
Schuld am Kriege zuzumessen. Und Kaiser Napoleon hat noch am 2. März
1871 einer Vertrauten gestanden: "Ich erkenne an, daß wir die Angreifer
gewesen sind."
[111] Nur scheinbar war der
Krieg, der jetzt begann, von einem Streit der Mächte um fernabliegende
Fragen ausgelöst, nur scheinbar ging der Krieg aus dem kunstvollen Spiel
der Diplomatie hervor, die im letzten Stadium herkömmlich um die
Legitimation des Kriegsausbruches vor der öffentlichen Meinung
rang - jetzt ging es wirklich um ein Völkerschicksal, das seit
Jahrhunderten zu einem europäischen Problem geworden, vor vier Jahren
vor der letzten Entscheidung unterbrochen und vertagt, nach dem Willen der
Franzosen nicht ohne Anrufen des Kriegsgottes endgültig seiner letzten
Bestimmung entgegengeführt werden sollte. Die Schlachten dieses Krieges
sind nicht nur Siege über einen tapferen Gegner, sondern ein Ringen eines
Volkes um seine nationale Selbstbestimmung. Der tiefere Sinn, der sich aus dem
positiven Ziel des Unternehmens herleitet, scheint auch dem englischen Historiker
Seeley vorzuschweben, wenn er im Jahre 1878 das Urteil niederschrieb: "Die
Hauptkriege Preußens seit seinem großen Zusammenbruch, die von
1813, 1866 und 1870, haben einen Charakter von Größe, wie keine
andern modernen Kriege. Sie haben in gewisser Weise die moderne Welt mit dem
Kriege ausgesöhnt, denn sie haben diesen als Förderer der
Zivilisation und als eine Art moralischer Energie gezeigt." Es war der Eindruck
des gerechten Krieges, der in der damaligen Weltmeinung, die seine
Vorgeschichte in den letzten vier Jahren miterlebt hatte, weit überwog und
noch nicht, wie ein Menschenalter später, durch eine berechnete
Umwertung aller Werte verfälscht war. Wir kennen die großen
konzentrischen Kriegspläne des Dreibundes auf dem deutschen Boden,
Entwürfe, nach denen die französische Macht, wie alle Welt
erwartete, über den deutschen Mittelrhein vorstoßen
sollte - nur die Überlegenheit der
preußisch-deutschen Organisation ermöglichte es ihr, die Waffen auf
den Boden des Feindes zu tragen und ihrerseits zu der "Invasion" zu schreiten, die
sich einem spätern Geschlechte in dem "Überfall" eines friedlichen
Volkes durch einen verschlagenen und von langer Hand her rüstenden
Gegner darstellte.
Die Gemeinsamkeit des Kampfes aller deutschen Stämme, das war schon
die Idee des neuen Reiches in der Tat verwirklicht - wie hätte man,
wenn nicht geschlagen, überhaupt in die frühere Unfertigkeit der
staatlichen Ordnung zurückkehren können! Die Gefangennahme
Kaiser Napoleons, das war mehr als ein Kriegsereignis, es war der symbolhafte
Vorgang des Ausscheidens der Macht, die sich dem deutschen Staate in den Weg
gestellt hatte. So herrschte bald Einmütigkeit darüber, noch
während der Fortgang des Krieges den Widerstand der Franzosen vollends
brach, das Deutsche Reich mit allem, was sein Inhalt und seine Form bedurfte, zu
vollenden. Also verflocht sich die Vollendung des Reiches mit den kriegerischen
Ereignissen. Bald nach Sedan begannen die Verhandlungen zwischen Norden und
Süden; in den Wochen nach dem Fall von Metz kamen die Versailler
Verträge über den Anschluß zustande, und wenige Wochen vor
dem Fall von Paris wurde in dem Schlosse Ludwigs XIV., von dem so
[112] viele kriegerische
Unternehmungen gegen das alte Reich ausgegangen waren, eine neue
Kaiserwürde begründet.
Es entsprach der Beharrlichkeit der Kräfte im deutschen Staatsleben,
daß dieser letzte Abschluß unserer staatlichen Lebensform sich nicht
vollzog, ohne daß noch ein später Nachklang der großen innern
Gegensätze der letzten Menschenalter in die Verhandlungen hineinspielte.
Die Süddeutschen traten in das Reich ein, aber sie waren darauf bedacht,
bei diesem Eintritt sich gewisse Sonderrechte vorzubehalten und ihre
Eigenstaatlichkeit noch ein Stück weiter sicherzustellen, als es in der
Norddeutschen Bundesverfassung von 1867 für die Gliedstaaten
vorgesehen war. Trotzdem trug Bismarck kein Bedenken, ihnen in den Versailler
Verträgen des Novembers 1870 die geforderten Reservatrechte zu
bewilligen, obgleich dadurch die im Norden bereits erreichte Einheitsform des
Reiches tatsächlich oder scheinbar wieder durchlöchert wurde. Die
Unitarier der Nationalpartei waren schwer enttäuscht; der preußische
Kronprinz hatte mit dem Gedanken gespielt, daß man durch stärkern
Druck mehr im Sinne der Einheit hätte erreichen können, und
spottete über das "kunstvoll gefertigte Chaos" des Verfassungswerkes; und Heinrich von Treitschke
machte, wie seine leidenschaftlichen Briefe aus diesen
Tagen zeigen, kein Hehl aus seinem tiefen Groll "über das elende
Flickwerk von Versailles". Auf der andern Seite waren die Verträge in
Bayern nur unter großen Schwierigkeiten durchzusetzen; bis zuletzt
bedrängten die Prinzen des wittelsbachischen Hauses den König
Ludwig II. wegen seiner Preisgabe wesentlicher
Souveränitätsrechte, und auch der bayrische Landtag nahm die
Verträge nur mit zwei Stimmen über die erforderliche
Zweidrittelmajorität an. Bismarck hatte jeden Versuch, durch
stärkeren Druck ein reineres Ergebnis zu erzielen, von der Hand gewiesen,
weil ihm, mitten in dem Kriege und in den vom neutralen Auslande drohenden
Gefahren, der rasche und freiwillige Beitritt des Südens wertvoller war als
alles andere. So nahm er seinen Weg mitten durch die enttäuschte Kritik
der liberalen Unitarier und das ohnmächtige letzte Aufbäumen des
Partikularismus. Er vertraute auf die natürlichen Kräfte des
lebendigen Fortschritts, die in den nationalen Einrichtungen lagen, und ließ
sich die Schönheitsfehler der Form wenig kümmern, die ihm von der
staatsrechtlichen Doktrin niemals so recht verziehen wurden. Vielmehr trug er der
politischen Situation Rechnung, wie sie sich aus der Anwendung der
Schutz- und Trutzbündnisse im Juli 1870 entwickelt hatte, und um keinen
Preis wollte er auf der Gegenseite das Gefühl aufkommen lassen, in dem
großen Entscheidungskampfe die Pflicht eines Bundesgenossen
erfüllt zu haben und trotzdem wider Gebühr vergewaltigt zu sein.
Nur eine Entschließung aus Freiheit behielt in dieser Stunde dauernden
Wert.
Gewiß wurden Bayern und Württemberg Reservate zugebilligt, die an
sich die strenge Geschlossenheit des bundesstaatlichen Aufbaus störten.
Aber dieser Bundesstaat hatte nun einmal durch die überragende Stellung
des Gliedstaates [113] Preußen von
Hause aus eine irreguläre Form erhalten, die in keinem bundesstaatlichen
Körper der Erde seine Analogie fand; nur die führende Stellung
Hollands in den Generalstaaten des 17. und 18. Jahrhunderts könnte
zur Not als Parallele herangezogen werden. Diese Verbindung des
größten Gliedstaates Preußen mit dem Reiche war ja die
eigentliche Singularität des neuen Gebildes, die für die Zukunft ihre
Probleme, ihre Aufgaben und Schwierigkeiten in sich schloß. Im Moment
lag es in dem geschichtlichen Hergang dieser Entstehung tief begründet,
daß das neue Reich gerade diese Gestalt gewann. Es war nun einmal ein
Bundesstaat, der durch die Macht eines seiner Glieder, durch seine Waffen und
seine Politik geschaffen worden war; und in den Reservaten spiegelte sich doch
nur der Teilvorgang, daß diese süddeutschen Staaten freiwillig und
auf eigene Verantwortung dem Krieg und dem Bunde des Nordens beitraten. So
war die Form des neuen Reiches gewiß an den Moment gebunden, in dem
sie ihre Prägung erhielt, aber sie stand zugleich in dem Strom des Lebens,
in dem die Entwicklung der Nation fortschritt. Schwerer als alles wog eine einzige
Tatsache: seit Jahrhunderten war es das erste Mal, daß der deutsche Staat,
aus seinem eigenen Willen heraus und ohne Einwirkung des umgebenden
Auslands, sich autonom und souverän selber gestaltete.
Auf den Eintritt der Süddeutschen in den Nordbund folgte die Annahme
des Kaisertitels: die Krönung des Gebäudes aus dem Geiste der
deutschen Geschichte. Einst hatte das Frankfurter Parlament den König von
Preußen zum Kaiser eines Reiches gewählt, das man auf dem Grunde
der Souveränität der Nation zu errichten gedachte, jetzt waren es die
deutschen Fürsten, die unter Führung König Ludwigs von
Bayern an den Hohenzollern die Aufforderung richteten, den Namen eines
deutschen Kaisers in dem aus ihren Verträgen erwachsenen Reiche
anzunehmen. Es war gleichsam der Geist des Staatsrechts des alten Reichs, das
fürstliche Privileg der Großen, das noch einmal den Sieg über
das neue Staatsrecht der souveränen Nation davontrug. Und doch sollte
man die beiden Hergänge so entgegengesetzten Ursprungs, den
national-revolutionären von 1849 und den
historisch-konservativen von 1871, in einem Atemzuge nennen, weil sie
zusammen erst das ganze Bild der Lösung der deutschen Frage ergeben.
Beide Male waren die irdischen Kleinlichkeiten nicht ausgeblieben, ohne die sich
auch die großen Dinge der Geschichte selten vollstrecken: lagen sie damals
in dem Handel der Parlamentsparteien und der geringfügigen
Abstimmungsmehrheit, so hafteten sie jetzt an dem Spiel der höfischen
Diplomatie, mit dem Bismarck die schwere und schwankende Seele des
Bayernkönigs in Bewegung setzte. Aber wenn die Hand Bismarcks selbst
den Entwurf des Schreibens aufsetzte, in dem Ludwig seinen königlichen
Vetter zur Annahme des Kaisertitels aufforderte, so war auch dieser kleine
Nebenumstand nur ein wundersam symbolischer Ausdruck dafür, daß
die mächtigen Züge dieses ganzen großen Geschehens die
geheime Handschrift des Kanzlers trugen.
[114] Wie er es dem
König von Bayern erleichterte, in dieser geschichtlichen Stunde eine seines
Staates würdige Rolle zu spielen, so hatte er zugleich die noch schwierigere
Aufgabe zu erfüllen, den König von Preußen über sich
selbst zu erhöhen. Dieser schwere Kampf zwischen dem König und
seinem Staatsmann gipfelte schließlich in der Titelfrage, die nicht etwas
Äußerliches, sondern die feinste Essenz des ganzen
preußisch-deutschen Problems war: der jetzt im deutschen Reiche
aufgehende preußische Staatsgedanke, der sich 1848 behauptet hatte, von
Bismarck selbst im Konflikt befestigt und zum Siege geführt worden war,
ließ sich nicht ohne innersten Kampf herbei, mitten in der Erhebung des
Sieges hinter der höhern Idee der Nation zurückzutreten. An diesem
18. Januar 1871, dem Jahrestage der Annahme des Königstitels durch den
Kurfürsten von Brandenburg, atmete König Wilhelm, umgeben von
den Prinzen seines Hauses und den Generalen seiner Armee, hinter sich die
Fahnenträger des 1. Garderegiments zu Fuß und des
Königs-Grenadierregiments Nr. 7, noch einmal in vollen
Zügen die preußische Luft: aber ihn überwältigte, wie er
Bismarck vorhielt, zugleich das Gefühl, daß er das preußische
Königtum zu Grabe trage. Das Bild des Preußenkönigs, der
eine große Tradition sich selbst vollendend versinken sieht und an dem Tag
der Kaiserproklamation wort- und danklos an dem Schöpfer des Reiches
vorbeischreitet, bringt doch nur das
Schmerzlich-Tragische zum Ausdruck, das für die beteiligten Personen
eines großen geschichtlichen Dramas niemals ausbleibt. Der
militärische Zuschnitt der ganzen Feier ließ den alten Rechtssatz des
"exercitus facit imperatorem" wieder zur Geltung kommen, und wer in
dem prunkvollen Bilde des höfischen "Ordensfestes" die
volkstümlichen Züge suchte, mochte sie in den Abordnungen der
Regimenter erblicken, die das Volk in Waffen vertraten. Das alles wirkt
symbolisch, wie auch der erste huldigende Zuruf aus dem Munde des
Großherzogs von Baden, des fürstlichen Bundesgenossen der
Nationalpartei. Freilich die nationale Idee, mit ihrem Ethos und ihrem Glauben,
erscheint vor den Männern der Tat zurückgedrängt. Sie kommt
an diesem Tage so wenig zu Worte wie sie in den kurzen Beratungen des
Reichstages einen vollen Ausdruck fand: ihre Größe war
vorweggenommen und bedarf am Tage des Siegesfestes keiner Bestätigung.
Aber Großherzog Friedrich von Baden, der alle diese Dinge intensiv
miterlebte, schrieb an diesem Abend in sein Tagebuch das Gelöbnis nieder:
daß diese Kraft fortan nur zum Guten angewandt werde, das soll die Lehre
sein, welche unser junges deutsches Reich aus den geschichtlichen Erinnerungen
des Schlosses von Versailles nach der Heimat bringt.
Der Friede war die erste Aufgabe, die dem neuen Reiche oblag. Unmittelbar nach
der Kaiserproklamation leiteten die Franzosen Schritte zur Aufnahme der
Friedensverhandlungen ein. Damit begann für Bismarck der zweite Teil
seiner eigentlichen Kriegsaufgabe. Der Krieg von 1864 hatte gleichsam die
machtpolitische Auseinandersetzung mit Österreich unter dem Herzen
getragen; [115] in dem Kriege von
1866 hatte unsichtbar der mächtige Schatten Kaiser Napoleons hinter allen
Entscheidungen gestanden; in dem Kriege von 1870/71 war Bismarcks eigentliche
Sorge, daß ein Kreis der Neutralen in die Friedensverhandlung eingreifen
möchte. Aus diesem Grunde war er entschlossen, den Abschluß des
Friedens unter allen Umständen mit der Kapitulation von Paris zu
verbinden und möglichst zu beschleunigen; während die
führenden Militärs einem Diktatfrieden zuneigten, wollte Bismarck
einen Verständigungsfrieden mit den Franzosen, denn er blickte sorgenvoll
in die Umwelt Europas und in die Zukunft voraus. Nach schweren
Kämpfen im Hauptquartier gelang es ihm, auch bei König Wilhelm
den Sieg davonzutragen und den Militärs den Frieden aus der Hand zu
nehmen. Nicht in allem und jedem, aber doch in den Hauptzügen war der
Präliminarfriede vom 26. Februar das Werk seines festen und dann doch
wieder elastischen Willens.
[160a]
Abschlußsitzung des Frankfurter Friedens, Mai
1871.
|
Der Frankfurter
Friede, der auf der Grundlage dieses Präliminarfriedens
geschlossen wurde, war mehr als das Ende dieses Krieges. Er brachte die durch
die Jahrhunderte gehende Auseinandersetzung zwischen Frankreich und
Deutschland dergestalt zum Abschluß, daß das Schwergewicht der
Macht von der französischen auf die deutsche Seite überging. So
verband sich die Begründung des deutschen Reiches mit dem Sieg
über Frankreich, während die Franzosen aus dem Kriege das bittere
Erlebnis heimtrugen, in der Existenz der nachbarlichen Großmacht, deren
Aufstieg sie zu durchkreuzen versucht hatten, nun erst die eigene Niederlage in
einem weltgeschichtlichen Prozeß gleichsam verkörpert zu sehen.
Also waren die von jeher sich so tief berührenden Geschicke der einander
nahe verwandten und aufeinander angewiesenen Länder durch die
unglückselige Politik Napoleons III. ineinander verkettet worden,
daß ihr Glück und Unglück fortan immer wieder aneinander
gemessen, sich wechselseitig vertiefend und, wie etwas immer untrennbarer und
immer gegensätzlicher Werdendes, schicksalsmäßig das
Gesicht Europas bestimmten.
Das Symbol der jetzt eingetretenen Machtverschiebung war die Annexion des
Elsaß und einiger anschließender Teile Lothringens,
einschließlich Metz, durch das Reich.
Die deutsche amtliche Politik begründete die Abtretung mit dem
staatspolitischen Motiv der Sicherheit. Dieses und kein anderes Motiv, obgleich
es die Frage des von der Abtretung betroffenen Volkstums noch gar nicht
berührte, wollte Bismarck als primär und entscheidend gelten lassen.
Er konnte sich auf die Geschichte der Jahrhunderte, er konnte sich insbesondere
auf die Politik der Kompensationen und Interventionen, der Drohungen und des
Anschlußverbotes unter Napoleon III. berufen. Dieser Eindruck war
damals noch stark und lebendig in Europa. Schon am 12. Oktober 1870
äußerte sich der amerikanische Gesandte Bancroft im
Auswärtigen Amte zu Berlin: "daß die leitenden Staatsmänner
und die öffentliche Meinung in Amerika den jetzigen Krieg wesentlich als
einen [116] Akt der Notwehr von
deutscher Seite ansähen, wobei es hauptsächlich darauf ankomme,
Deutschland vor neuen Angriffskriegen seiner westlichen Nachbarn, wie deren die
Geschichte der drei letzten Jahrhunderte eine so große Anzahl aufweist,
durch eine bessere Abgrenzung dauernd zu schützen." Weithin in der Welt
wurde der Krieg von 1870 als ein gerechter Krieg empfunden, und einem
großen Teil der öffentlichen Meinung schien auch die Gerechtigkeit
des Friedens - soweit man in den Machtauseinandersetzungen irdischer
Gewalten derartige ethisch-juristische Begriffe verwenden
darf - durch die Abtretung nicht belastet.
Dazu trug die Tatsache bei, daß das staatspolitische Motiv der Sicherheit
noch durch andere tiefere Motive verstärkt wurde: durch die
einstige geschichtliche Zusammengehörigkeit dieser Gebiete mit dem alten
deutschen Reiche, durch die weitüberwiegende deutsche Sprache und
Kultur ihrer Bevölkerung. Von dem historischen Argument
allerdings wollte Bismarck niemals viel wissen, er suchte seine Geltung und
Anwendung bewußt als Professorenidee zu diskreditieren. Weitblickend
und verantwortungsvoll, sagte er sich mit Recht, daß ein neuerstandenes
deutsches Reich, das alsbald die historischen Rechtstitel des alten deutschen
Reiches auszugraben Neigung zeige, nur mit Mißtrauen, nicht wie er wollte
mit Vertrauen, in den Kreis der Mächte aufgenommen werden
würde, ja leicht als eine allgemeingefährliche Bedrohung für
die andern, für die geltende Rechtsordnung der Staatengesellschaft
empfunden werden könne. Was der die Jahrhunderte überfliegende
Blick des Historikers als eine Einheit zusammenfaßt, wie es auch in dem
berühmt gewordenen Worte Rankes
zu Adolphe Thiers geschah, darf
darum doch nicht von dem Politiker zur Begründung von
Ansprüchen und Gewaltmaßregeln ins Feld geführt
werden.
Anders stand es mit dem Motiv der deutschen Sprache und der deutschen Kultur
im Elsaß. Dadurch konnte allerdings der Annexionshergang eine tiefere und
innere, nicht vor den Kabinetten, sondern auch vor den Völkern vertretbare
Begründung finden. Diesem Gedankengange, wenn auch nur in
sekundärer Anwendung, verschloß sich auch Bismarck nicht. Er
würde das Sicherheitsargument nicht in solchem Umfange geltend gemacht
haben, wenn es nicht durch das Deutschtum des Elsasses eine
Unterstützung erfahren hätte. Aus diesem Grunde widerstrebte er
auch der Annexion von Metz als einer Aneignung fremdnationalen Gebietes,
dessen Bevölkerung, schwer verdauliche Elemente, wie er sie nannte, doch
nur ein dauernder, allein aus militärischen Gründen zu
rechtfertigender Fremdkörper im Reiche bleiben würde. Strategische
Rücksichten, so sagte er vertraulich zum Großherzog von Baden,
dürften nicht allein gegenüber politischen Notwendigkeiten
entscheiden.
Das Deutschtum der Elsässer, was ihre Sprache und den Kern ihrer Kultur
anging, stand außer Frage. Der dem kronprinzlichen Hofe nahestehende
englische Diplomat Sir Robert Morier, der Anfang Oktober 1870 eine
Infor- [117] mationsreise in das
Elsaß unternahm, um den Charakter von Land und Leuten festzustellen,
kehrte mit dem Ergebnis zurück, daß das Elsaß eine "rein
deutsche Provinz" sei. Der im Grunde seines Herzens den Deutschen kaum
wohlgesinnte Führer der Polen, Herr von Zoltowski,
begrüßte im Deutschen Reichstage die Rückkehr der
Elsässer als einen Sieg des Nationalitätenprinzips, "weil das
historische Recht und das Nationalitätsprinzip den Sieg über faktisch
und rechtlich jahrhundertelang bestehende Verhältnisse davongetragen hat".
Und konnte es anders sein, als daß die deutsche öffentliche Meinung,
im Vollgefühl der nationalen Idee, die nun endlich alle Stämme zur
Einheit zusammenführe, sich begeistert an dem Gedanken erhob, daß
hier ein entfremdeter deutscher Bruderstamm in das Vaterhaus der Nation
zurückkehre? Gerade jene Beschäftigung mit dem altdeutschen
Literatur-, Kunst- und Kulturgut, die in der Erneuerung des nationalen
Empfindens eine so große Rolle spielte, ließ angesichts des
überreichen Anteils des Elsaß die Herzen höher schlagen. Mit
Otfried von Weißenburg fing die deutsche Literaturgeschichte an. Im
Religiösen, das immer die innerste Art eines Volkstums offenbart,
führt eine Linie von dem Straßburger Dominikaner Johannes Tauler,
hinweg über die Prediger der Reformationszeit, Martin Bucer aus
Schlettstadt und Wolfgang Capito aus Hagenau, bis zu Philipp Jakob Spener aus
Rappoltsweiler, dem Haupt des deutschen Pietismus: so viel umfaßt der
elsässische Einschlag in das Gewebe deutscher religiöser
Innerlichkeit ! Deutsch waren die Künstler im Elsaß, auch da, wo sie
französischen Einflüssen sich öffneten, Gottfried von
Straßburg, der Dichter, der im romanischen Gewande die deutsche
Innerlichkeit durch die höfische Form hindurchbrechen läßt;
Erwin von Steinbach, der Erbauer des Straßburger Münsters, in dem
übernommene fremde Form und deutscher Gefühlsinhalt
zusammengehen; und Johann Fischart, der größte deutsche Satiriker,
der einen deutschen Rabelais in einem überquellenden, phantastischen,
tudesquen Reichtum der Form und Sprache zu schaffen unternahm. Im
Elsaß hatten die beiden Schlettstädter Jakob Wimpheling und Beatus
Rhenanus, der eine die erste deutsche Geschichte (1505) in dem neuen nationalen
Stile der Humanisten geschrieben, der andere die erste wissenschaftliche
germanische Altertumskunde (1531) verfaßt; von den bedeutendsten
elsässischen Malern der Epoche stammte der Colmarer Martin Schongauer
aus Augsburg und Hans Baldung Grien aus einer
Schwäbisch-Gmünder Familie. Genug, von einer
französischen Kultur war in dem Alemannenlande bis in das
17. Jahrhundert nicht die Rede, wohl aber gab es nirgends einen so reichen
Anschauungsstoff für die Blätter "Von deutscher Art und Kunst",
wie ihn der junge Goethe als Straßburger Student gerade auf diesem
deutschen Boden in sich aufnahm. Und sollte alles das, einst uns entfremdet, da
wir nichts in der Welt vermochten, nicht wieder auferstehen in einer Zeit, da der
deutsche Name wieder zu Ehren kam? So war der Glaube der deutschen
Nationalpartei gewillt - und in welchem andern großen Volke in
ähnlicher Lage wäre es anders
gewesen -, [118] diese Frage aus
ehrlicher Überzeugung zu bejahen. Den Deutschen war im Laufe ihrer
geschichtlichen Entwicklung, die wir verfolgt haben, die innere Kontinuität
eines nationalen Geschichtsbesitzes, wie ihn glücklichere Völker als
nationales Heiligtum verehren, fast aus dem Bewußtsein geschwunden. Ist
es zu viel gesagt, daß die Deutschen, wenn sie die Annexion von
Elsaß-Lothringen begrüßten, gleichsam ein Stück
Geschichte, das ihnen allen gemeinsam, dem Ganzen und nicht seinen Teilen
angehörte, ein Stück ihrer schmerzvollsten Erinnerungen sich wieder
einverleibten und gleichsam den ganzen Sinn ihres Werdens in den letzten
Jahrhunderten damit für sich selber zu erobern vermeinten?
Dabei übersah man freilich, daß auch deutsche Sprache und
deutsches Volkstum allein noch nichts aussagen über den politischen
Lebenswillen einer Bevölkerung. Man mußte es hinnehmen,
daß die lebende Elsässer Generation das politische Band, das sie mit
Frankreich verknüpfte, nicht zerschneiden wollte, und sich dessen
getrösten, daß erst die kommende Generation die Wiedervereinigung
auch aus eigenem Willen gutheißen würde. Heute wird sich niemand
dagegen verschließen, daß die jetzt geltenden
ethisch-politischen Maßstäbe dem Plebiszit in der politischen
Verschiebung von Menschen aus dem einen Staate in einen anderen Staat einen
größern Raum zuweisen. Die Frage aber, ob Napoleon bei den
wechselnden Listen seiner rheinischen Kompensationsforderungen oder gar in den
Friedensbedingungen nach einem siegreichen Kriege seinerseits ein solches
Plebiszit auf deutschem Boden zur Anwendung zu bringen bereit gewesen
wäre, wird jeder Kenner der französischen Rheinpolitik ohne
Schwierigkeit zu beantworten wissen. Und wer wollte die weitere, immer wieder
aufgeworfene Frage zu entscheiden wagen, ob ein Frankreich, das, ohne jeden
Gebietsverlust aus dem Kriege hervorgegangen, seine ganze überlegene
militärische Stellung am Oberrhein behauptet hätte, aus diesem
Grunde den Neigungen zur friedlichen Nachbarschaft den Vorzug vor seinem
historischen Machtwillen gegeben haben würde? Die französische
Geschichte bis zum heutigen Tage fährt fort, den Stoff zur Beantwortung
dieser Frage zu liefern.
Ein französischer Historiker hat einmal die scheinbar schlagende Antithese
aufgestellt: die Deutschen hätten im 19. Jahrhundert den edlen
Gedanken (la noble idée) ihrer nationalen Einigung verfolgt, aber
die erste Anwendung, die sie von der gewonnenen Einheit gemacht hätten,
habe darin bestanden, Franzosen aus dem französischen Staate
herauszureißen: das sei ein Fehler und ein Verbrechen gewesen. Dabei wird
nur die entscheidende Tatsache außer acht gelassen, daß die
französische Generation von 1860 bis 1870 den deutschen Einigungswillen,
weit entfernt ihm die Wertschätzung einer "noble idée"
zuteil werden zu lassen, auf Tod und Leben, durch die Erneuerung der
historischen Rheinpolitik und die Anmaßung des Anschlußverbotes,
bekämpft und eben dadurch den Krieg mit seinen
Rückschlägen ausgelöst hat. Hätten Napoleon und seine
[119] Leute jene tiefere
Einsicht gehabt, auf die Bismarck immer wieder hoffte, dann wäre
allerdings der Krieg vermieden worden, das Reich ohne die schweren Opfer von
1870/71 zustande gekommen und den Franzosen der Frankfurter Friede erspart
geblieben. Wer also von Fehlern und Verbrechen spricht, die an dem Geiste des
Jahrhunderts begangen seien, muß sie in der Vorgeschichte des Krieges
suchen und danach den Prozeß eröffnen. An dem Geiste der
französischen Politik der sechziger Jahre müssen letzten Endes auch
die Mittel gemessen werden, mit denen die Deutschen, den säkularen
Umweg ihrer Geschicke beschließend, sich gegen die Wiederkehr des
Erlittenen auf die Dauer sicherzustellen suchten.
Miteinander sind die Wiederherstellung des Reiches und der Frankfurter Friede
die Grundlage eines neuen Zeitalters, das unter diesem doppelten Zeichen sich
eröffnet. Was das Deutsche Reich für die europäische
Geschichte bedeutet, wird nicht nur von dem Wege seiner Entstehung, sondern
vor allem von seiner Stellung und Leistung inmitten der Staatengesellschaft
abhängig sein.
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