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[Bd. 1 S. 205]
Die Meister von Straßburg, Bamberg und Naumburg, 13. Jahrhundert, von Werner Hager

Der Engelspfeiler im Straßburger Münster.
Detail: der Engelspfeiler
im Straßburger Münster (13. Jh.).
[Nach wikipedia.org.]

Der Bamberger Reiter.
Detail: der Bamberger Reiter.
Standbild im Bamberger Dom, 13. Jh.
[Nach fotomarburg.de.]

Stifterfigur der Gerburg.
Detail: Stifterfigur der Gerburg
im Westchor des Naumburger Doms, 13. Jh.
[Nach fotomarburg.de.]
Nicht zu allen Zeiten ist es den Völkern gegönnt, ihr Menschentum in großgeformter Gestalt künstlerisch wiederzugeben. Lange Vorbereitung ist erforderlich, bis der bildnerische Wille seine Mittel sammelt und ihrer sicher wird. Daß er aber im vollrunden, lebensgroßen Standbild sich verdichtet, setzt außer einem entwickelten Anschauungsvermögen noch ein anderes, einen in sich gestalthaft geordneten Lebenszustand voraus. Große Plastik kann entstehen, wenn jugendlich kraftvolle Völker zur Reife und damit zum Gefühl von Wert und Schönheit ihres Seins kommen. Dieses ruhige Selbstgefühl, dem ein freies weitschauendes Weltgefühl entsprach, gewannen die Deutschen in der Zeit der Staufer. Noch einmal stand das alte Reich auf der Höhe der Macht. Als seine Träger waren die Deutschen damals ein Volk, das die Welt im Griff hatte, ein politisches, also ein geformtes und formendes Volk. Die um Erhaltung und Neugründung hart kämpfende Salierzeit hatte sich in der herben, enthaltsamen Größe des Speyrer Doms ihr Denkmal gesetzt. Ihr folgte mit dem fortschreitenden zwölften Jahrhundert eine herrliche Entfaltung des mittelalterlichen Lebens zur Reife, überstrahlt von dem Glanze der großen Kaisergestalten. Das dreizehnte kennzeichnet in allen Dingen seines reichblühenden Geisteslebens der glückliche Besitz des in langem Ringen Erworbenen. Während nun die Macht des Reiches sich neigt, bis sie endlich im Sturze des Interregnums zerbricht, entstehen in rascher Folge, im Laufe weniger Jahrzehnte, die Bildwerke der Dome zu Straßburg, Bamberg und Naumburg, in denen das deutsche Menschentum jener Zeit der Höhe uns in Stein überkommen ist. Die Namen bezeichnen zugleich drei Stufen der Entwicklung, aber jede ist in sich vollendet, eine eigene Deutung der geschichtlichen Wirklichkeit, die wir in ihrer Zusammenschau ahnend erfassen.

In jeder dieser bildnerischen Gesamtschöpfungen spüren wir die Hand eines beherrschenden Meisters. Wir wissen nichts von dem Leben dieser Männer, außer was wir aus ihren Werken ablesen, daher können wir sie nicht im neuzeitlichen Sinne biographisch erfassen und schildern. Wohl aber tritt uns im Umkreis ihres Schaffens das Walten ihrer Persönlichkeit in einer Weise entgegen, wie dies so geschlossen und deutlich sich in der Kunst der vorangehenden Jahrhunderte nirgends findet. Die Werke dieser Namenlosen lehren uns, sie unter die Größten unseres Volkes zu zählen.

Die Deutschen kamen spät zur Plastik. Mühsam war das Ringen um die [206] Anfänge bildnerischen Könnens. Galt es doch, ein künstlerisches Ausdrucksmittel wiederzugewinnen, dessen sich die abendländische Mehrheit seit dem Sinken des Altertums fast gänzlich entwöhnt hatte. Die Spätantike, bei deren müder Kunst die jungen nordischen Völker in die Lehre gehen mußten, besaß das Gegenteil einer körperhaften bildenden Gesinnung. Das Christentum lehrte, die sichtbare Welt nur als ein Gleichnis des Überirdischen anzusehen, und kam damit dem Triebe des nordischen Menschen entgegen, sich im Gewirr und Gewebe schmückender Linien auszuleben. Infolgedessen entkörperte sich der bildnerische Ausdruck. Auch als die Darstellung des Menschen wieder in Übung kam, blieb sie ganz überwiegend der Fläche verhaftet. An Wänden und Gewölben reihten sich die Bilderfolgen, die Handschriften schmückten sich mit Malerei; Figuren von tastbarer Wölbung jedoch zeigten sich nur in der Kleinkunst. Mit dem Anfang des elften Jahrhunderts nun regte sich allenthalben ein neuer Wille, die Menschengestalt als in sich geschlossene Einheit plastisch wiederzugeben. Das Empfinden ist in stärkstem Maße von der Körperlichkeit der Dingwelt ergriffen. Der erste Schritt auf diesem Wege zum Monumentalen heißt Beschränkung und Festigung, Aufgabe der malerischen Freiheiten, die der von der Malerei herkommenden flächengebundenen Kleinkunst angemessen gewesen waren. In anfangs unbeholfenen Versuchen vollzieht sich das Erlebnis der körperlichen Form. Die ganze Aufmerksamkeit richtet sich auf die entscheidende Aufgabe, den Block in seiner Geschlossenheit zu umgreifen und aus ihm die Gestalt als in sich ruhende Einheit tastbar hinzustellen. Diese Zielsetzung erklärt, entwicklungsgeschichtlich gesehen, die eigentümliche Strenge der hochromanischen Bildhauerei, die bis zur abweisenden Härte geht. Doch war ein solches Wiedererwachen nicht möglich ohne Aufnahme des Erbgutes, das die Antike hinterlassen hatte. Seine Vermittlung geschah durch die aus Ostrom eingeführten Kleinkunstwerke, die überall in den Händen der Künstler gewesen sein müssen und in denen das Wissen der Alten um die Gestalt, wenn auch in einer durch die langen Jahrhunderte erstarrten Form, doch im Kerne richtig und nutzbar enthalten war. Diese langsam und gleichmäßig sich vollziehende Auflockerung durch die byzantinischen Vorbilder bereiteten den Boden, auf dem danach die Saat der Gotik aufging.

Das elfte und zwölfte Jahrhundert ist in Hinsicht auf das Werden des Plastischen eine Zeit der Vorbereitung. In reicher Vielfalt wächst die Kunst, von der Provence bis nach Sachsen, aus landschaftlicher Gebundenheit hervor. Dies zu wissen ist wichtig, weil sich in Deutschland auch in der darauffolgenden Zeit die stammesmäßige Eigenständigkeit siegreich gegen das Vereinheitlichende der aus Frankreich andringenden gotischen Formensprache durchsetzt. Mit dieser Erhaltung des Gewachsenen stellt sich Deutschland schon damals in Gegensatz zum Westen. In klar erkennbarer Weise teilen sich nun die Aufgaben im künstlerischen Gesamthaushalt der Völker Europas. Frankreich faßt die vielfältigen Ansätze, die seine Landesteile aufweisen, zu einer im ganzen gesehenen einheitlichen Bewegung [207] zusammen, die sich im Kernland des politisch erstarkenden Königtums verdichtet. Im Bildnerischen macht sich die französische Gotik die Entwicklung der Figur aus der Gesetzlichkeit des Kirchenbaues zur Aufgabe. Breite Entfaltung gleichmäßiger Folgen plastischen Schmucks an den Außenwänden, ein immer reicherer, immer sinnvoller durchgliederter Aufbau der Schauseiten kennzeichnen von Anfang an dieses Kunstwollen. Das Hauptstück, an dem seine Sprache sich ausbildet, ist das mit Statuen besetzte, stufenförmig vertiefte Säulenportal. Die gotische Kunstweise verkörpert, das ist der Grund ihrer Überlegenheit über das Vorangegangene, einen Erkenntnisfortschritt hinsichtlich der Natur. Der romanische Sinn dachte in Massen, sein Bauen war Schichtung und sein Ausdruck Schwere. In dieser Gebundenheit hatte er seine Grenzen, aber auch seine unerreichte Würde. In der Bildung der Figur ging er nicht vom kubischen Block als Grundform ab. Die Gotik hingegen gewann die Einsicht wieder, daß der Körper eine gegliederte Einheit ist, die als das Zusammenwirken von Kräften dargestellt werden muß. Damit war die Möglichkeit natürlicher Bewegung des Körpers gewonnen. Es liegt auf der Hand, daß dieser Fortschritt nicht ohne die Anschauung der damals in Frankreich noch zahlreicher als heute vorhandenen römisch-griechischen Bildwerke zustande kam. Auch Deutschlands bewahrende Art konnte sich ihm auf die Dauer nicht verschließen. So gingen die Deutschen hinüber, arbeiteten in den Bauhütten als Lernende, sicher aber auch als gleichberechtigte Mitarbeiter, und trugen den Gewinn in die Heimat zurück. Die Einbürgerung der Gotik vollzog sich in einzelnen großen Stößen; Magdeburg, dessen Erzbischof die Hohe Schule von Paris besucht hatte, ist einer der Orte ihres frühesten Niederschlags.

Der Engelspfeiler im Straßburger Münster.
Der Engelspfeiler im Straßburger Münster.
[Nach bglaa.ac.at.]
Um 1230 folgte Straßburg. Das romanische Querhaus des Münsters birgt eine Gruppe von Bildwerken, deren Meister sich an der Kathedrale von Chartres gebildet hatte. Das bedeutendste unter ihnen ist der sogenannte "Engelspfeiler", von dem hier vor allem die Rede sein soll. In dieser sehr eigenartigen Schöpfung tritt uns das Wesen des deutschen Kunstgeistes in seiner Auseinandersetzung mit dem fremden Gut schon völlig deutlich entgegen. Der Pfeiler steht frei im hohen Raum und stützt die Mitte der Wölbung. Sein sehr schlanker achteckiger Kern ist mit Runddiensten besetzt. An ihnen stehen in drei Kreisen übereinander die Evangelisten, darüber vier Engel, die mit dem Schall der Posaune den Anbruch des Gerichts verkünden. Zu Häupten thront der Weltenrichter, um ihn drei Engel, die die Leidenswerkzeuge tragen. Also eine Darstellung des Jüngsten Gerichtes – aber keineswegs von der Art, wie sie an französischen Portalen vorgebildet war. Wie aufgeschlagene Bücher empfangen diese die Herantretenden, der die Vorgänge in anschaulichster Erzählung auf ihnen ablesen kann. Diese Breite der Anordnung, diese vollständige Entfaltung des Inhaltlichen bedeutete dem deutschen Meister nichts, er hat sie preisgegeben. Besonders die Auferstehung der Toten und die Scheidung in Selige und Verdammte, an deren volkstümlich lebhaften Schilderung sich die Bogenfelder der Portale sonst nicht genug tun [208] können, ist bei ihm auf ganz wenige Figürchen zu Füßen Christi zusammengeschmolzen. Nicht auf den Vorgang selbst will der Meister hinaus; was er sucht, ist der Sinn, der sich in bedeutsamen Gestalten kundtut. Niemals vorher und nachher kommt diese Weise der Darstellung des Gerichtes als rein geistiges Ereignis wieder vor. Dem klaren, ausführlichen Satzbau der französischen Erzählung antwortet aus deutschem Munde das unwiederholbare, das dichterische Wort. Zwar ist diese Lösung nicht ganz aus freien Stücken erfolgt, sondern ein Ausweg, um das wichtigste einer Kirche des dreizehnten Jahrhunderts gebührende Heilsthema zu zeigen, obwohl an dem bestehenden Bau kein Portal mehr dafür frei war. Das ändert jedoch nichts an der unvergleichlichen Bedeutung des hier über alles Gewohnte hinaus gelungenen schöpferischen Aufschwungs.

Engelskopf am Gerichtspfeiler des Straßburger Münsters.
[208a]      Engelskopf am Gerichtspfeiler
des Straßburger Münsters.

1. Häfte 13. Jahrh.

[Bildquelle: Kunstgeschichtliches Seminar
der Universität Marburg.]
Die Gestalten des Pfeilers sind Menschenbilder von höchster geistiger Gewalt. Zu unterst noch die irdischen, aber ganz von Erleuchtung durchglühten Künder der Wiederkunft des Herrn. Ein jeder in seiner Wesensart vom andern unterschieden, so wie die Evangelien sie uns kennen lehren, umschreiten sie den Pfeiler mit hoheitsvoller Würde. Bewegung und Gegenbewegung der Figuren ist so angelegt und durch die Wagrechten der reichgebildeten Fußstützen und Baldachine unterstützt, daß der Blick nicht durch das steile Übereinander ungehemmt in die Höhe gerissen wird, sondern in Kreisen aufsteigt. Die Posaunenengel als die eigentlich Handelnden sind stärker, ruckartiger bewegt, aber ihre weitausgebreiteten mächtigen Flügel zeigen ihre überirdische Herkunft an. Diese Erhabenheit steigert sich in den vollkommen ruhig dastehenden Gestalten des obersten Kreises zu wahrhaft außerordentlicher Erscheinung. Es gibt kein zweites Werk der bildenden Kunst, das in solcher Vollendung wie dieses aussagt, was die christliche Idee des Engels im Tiefsten bedeutet. Denn diese Wesen von unantastbarer Reinheit und Hoheit sind doch keine unfaßbaren Phantasiegebilde, sondern Jünglinge und darum wirkliche Vermittler zwischen Himmel und Erde. Sie zeigen in der rein idealen Sprache dieser Stufe, die wir einmal die frühklassische der deutschen Plastik nennen wollen, die hohen Gedanken, die jene Zeit über Wesen, Maß und Haltung adliger Jugend hegte. Darin sind sie über die Zeiten hinweg und ohne jeden ursächlichen Zusammenhang Brüder der steinernen Epheben des griechischen fünften Jahrhunderts. Hier leuchtet in nie übertroffener Klarheit für einen Augenblick die geheime Verwandtschaft deutschen und hellenischen Wesens auf, die uns zutiefst bewegt, ohne daß wir sie ganz deuten können.

Dem Straßburger Meister ist alle Schöpfung geisterschaffen, darum sind seine Gestalten nicht als etwas Andersartiges in den Bau des Pfeilers hineingestellt, sondern Teile seiner geformten Substanz, nur in höherem Grade belebt als die stumme Form. Dieses Einssein mit dem Ganzen hält die Figuren in jener schwebenden Entschwerung, die bei aller zunehmenden Naturbeobachtung den christlichen Vorbehalt ausdrückt, niemals den Menschen rein aus seiner natürlichen Erschaffenheit zu deuten. Die Ströme der geistigen Schöpferkraft durchdringen das ganze Werk [209] und strahlen durch die Figuren in den Raum hinaus. Dieser ist mit plastischer Energie, mit Schwingung und Schwebung erfüllt. Was sich an den Kathedralen des Westens nach außen entlädt, vollzieht sich hier im Innern des mächtig, fast unförmig lastenden Baugehäuses: die Verklärung der Materie ins Geistige.

Das Hinüberwirken über den Raum hinweg, das lautlose Gespräch, ist das Geheimnis auch des berühmten Figurenpaares der Ekklesia und Synagoge, die außen zu Seiten des Portales stehen. Wir erkennen in dieser Raummächtigkeit einen Grundzug der deutschen Kunst. Kraft ihrer Versenkung in das Seelische verleiht sie ihren Gestalten eine Ausdruckskraft, die raumüberwindend wirkt. Die Durchdringung mit innerlichen Kräften erhebt den Naturraum zum Gleichnis des Seelenraums.

Das Münster zu Straßburg.
[200b]      Das Münster zu Straßburg.
Ansicht von Westen 13.–15. Jahrh.

[Bildquelle: Staatliche Bildstelle, Berlin.]
In den gotischen Domen Frankreichs entstand Architektur und figürlicher Schmuck in einem Zuge; Baukörper und Bauschmuck waren dort Früchte eines Gedankens. Die deutschen Meister, die in dem ausgebreiteten Schulbetrieb der Bauhütten mitgearbeitet hatten und nun, ohne Kenntnis voneinander, als vereinzelte Vorkämpfer des neuen Stils in die Heimat zurückkehrten, fanden nirgends die Möglichkeit zu derartig umfassenden Planungen vor. Jene Jahrzehnte waren in Deutschland voll von unvollendeten Ansätzen und halben Lösungen. Die deutschen Dome, die der Vollendung und des Schmuckes harrten, waren romanisch, als geschichtliche Masse empfunden; breitflächtig, boten sie mehr Gelegenheit für Reliefschmuck oder Malerei als für eine aus dem Grundgedanken des Gegliederten geborene Statuenkunst. Die Durchführung ganzheitlicher gotischer Gebäude, wie des Straßburger Langhauses mit seiner Westfassade, gehört erst der Zeit nach der Jahrhundertmitte an.

Westfassade des Straßburger Münsters.
Hochgotisches Hauptportal der Westfassade des Straßburger Münsters.
[Nach blogpeda.ac-bordeaux.fr.]      [Vergrößern]

Der Bamberger Reiter.
[208b]      Der Bamberger Reiter.
Um 1237. Bomberg, Dom.

[Bildquelle: Walter Hege, Naumburg.]
War es dem Straßburger gelungen, durch seine plastische Erfindung den bestehenden Raum schöpferisch im Sinne des Neuen umzudeuten, so stehen wir gerade bei den Hauptwerken des Bambergers offenbar vor einer gescheiterten Gesamtplanung. Der Reiter ist vielleicht am beabsichtigten Orte aufgestellt, Maria und Elisabeth wohl sicher nicht, ohne daß wir auch nur ahnten, welcher Zusammenhang gewollt war. Der Bamberger Meister kam von der Bauhütte der französischen Krönungsstadt Reims zurück. Er traf in Bamberg auf das Schaffen eines Bildhauers, von dem wir annehmen müssen, daß er älter war, und der ihm an Gewalt und Größe nichts nachgab. Die Gestaltenwelt der Schranken des Georgenchors ist noch der Fläche verhaftet, aber von stärkstem plastischen Willen hervorgetrieben. Fremd auf den ersten Blick und doch, gemessen an der Kunst des Westens, ihnen eng verwandt, stehen die Werke des Jüngeren daneben.

Der Bamberger Dom.
Der Bamberger Dom, wie er heute aussieht.     [Nach welt.de.]

Der Bamberger Dom von Osten
[211]      Der Bamberger Dom von Osten,
erstes Drittel des 13. Jahrhunderts.

[Bildquelle: Margarete Schmedes, Berlin.]
Wir kennen die Dinge, an denen er sich geschult hat. Bei der Heimsuchungsgruppe können wir Vorbild und Neuschöpfung unmittelbar vergleichen. So ergreifen wir etwas, und zwar Entscheidendes, von seinem Werden; stärker als den Straßburger oder den älteren Bamberger erfühlen wir ihn als Menschen. Das liegt aber nicht nur an unserem umfassenderen geschichtlichen Einblick, sondern [210] auch an der Art seiner Kunst. Straßburg zeichnete erhabene und adlige Lebenszüge in eine Bildwelt von überirdischer Geistigkeit ein. Im Bamberg tut die deutsche Plastik den Schritt zur heldischen Größe des Menschen.

Weltfreude grüßt uns hier, wie bei den Dichtern der Zeit, bei Walther und Wolfram. Das scheue Entzücken an der Schönheit des weiblichen Körpers in der Mädchengestalt der Synagoge, das einzigartige Wagnis, das erste Menschenpaar überlebensgroß an weit sichtbarem Orte in völliger Nacktheit darzustellen, setzt die Natur in ihre Rechte ein, wie sie die Reife der Zeit ihr zusteht. "Der Reiter ist die schönste und lebensvollste Verkörperung des idealen Ritters, noch umschwebt von dem romantischen Schimmer der Kreuzfahrerzeit, höfisch wohlerzogen und doch ein Held in dem lässig vornehmen Sitz, dem freien, stolz getragenen Haupt, dem willenskräftigen Kinn, dem übermütigen Mund, dem in die Ferne spähenden Blick." Diese Worte Georg Dehios bezeugen, welche Selbstsicherheit das Menschliche in der Bamberger Kunst gewonnen hat. Aber diese wunderbare Entfaltung des Wissens um den Menschen führt nicht zu seiner Selbstherrlichkeit, wie sie später die Renaissance brachte. Weder das Heldische des Reiterkönigs, noch das Seherische der Elisabeth gilt hier als Letztes; alles hat sein Maß von den Ordnungen gottgebundener Schöpfungsgemeinschaft her.

Mit diesen Gestalten ist in der deutschen Kunst ein völlig neuer Maßstab dessen gesetzt, was ein Bildwerk zu sein hat. Die Idee des plastischen Körpers als einer in sich ruhenden, gegliederten Einheit wurde fruchtbar. Vor allem hat sich das Verhältnis von Körper und Gewand geändert. In Straßburg noch begleiteten die Faltenzüge das Spiel der Glieder, ohne von diesen trennbar zu sein, und so entstanden jene mehr gleichnishaften als wirklichen Formen, die die Frühstufe kennzeichnen. An der Bamberger Elisabeth hingegen ist in der Weise, wie der Mantel über den Leib hinübergerzogen ist und dann schwer herabfällt, das Deckende stofflich empfunden und vom Tragenden gelöst. So ist die Möglichkeit der freien Bewegung wie des Gegenspieles von Leib und Hülle wiedergewonnen, die die Antike besessen hatte. Dies sind die Mittel; sie kamen uns von den Nachbarn. Was daraus wurde, erschuf der deutsche Genius. Es gehört zum Höchsten der Bildnerei aller Zeiten.

Alle gewonnene Freiheit des Natürlichen ist wieder eingeschmolzen in den Ausdruckswillen einer tieferregten inneren Schau. Die unerhörte Kühnheit des Faltensturzes vom Arm der Elisabeth herab überschreitet das Gesetz der Schwere, gleichwie eine Bachsche Fuge den Naturlaut verwandelt. Von gegenüber antwortet die angespannte Knickung des Gelenkes der edelwillensvollen Hand, über der sich ein Faltenbausch aufkräuselt, wie von einem Windstoß gehoben. Das Mittelalter hatte die Frau als geistiges Wesen entdeckt, hier aber ist weit über alles hinausgegriffen, was in dem schönen fraulichen Gedanken der Heimsuchung liegt, in die zeitlose Höhe, wo dem nordischen Menschen das Weib als Seherin erscheint.

Der Westlettner des Naumburger Doms.
[213]      Der Westlettner des Naumburger Doms,
um 1255–1260.

[Bildquelle: Georg Massias, Berlin.]
[211] Äußerlich glücklichere Verhältnisse als in Bamberg haben in Naumburg vorgelegen. Hier fand die klassische Spanne der deutschen Plastik in einer einheitlich durchgeführten Unternehmung ihre Krönung und ihren Abschluß. Gegen das Jahr 1250 hin faßte der Bischof Dietrich von Wettin den Plan, den fürstlichen Stiftern, die das Bistum bei seiner Gründung mit Gütern ausgestattet hatten, eine Gedächtnisstätte zu erbauen. Der Gedanke lag im Ahnenkult der Zeit begründet; [212] einzig bleibt der Umfang und die Art der Ausführung. Der Dom wurde um einen gotischen Chor erweitert, in dem die Stifterbilder ihren Standort haben. Dieser Raum, der zugleich dem Gottesdienst und dem Gedächtnis dient, ist gegen das Schiff hin durch einen Lettner abgeschlossen, den die Reliefs mit der Leidensgeschichte Christi bekrönen. Der Mittelpfosten der Durchgangspforte trägt den Gekreuzigten, zu Seiten im Gewände stehen die Klagenden, Maria und Johannes. Bau und Bildwerk sind einheitlich, vielleicht im Umriß vom Bauherrn selbst erdacht, die Ausführung beherrschte durchgehend der Geist des einen Künstlers, der auch das meiste eigenhändig vollendet hat. Auch er kam aus [der Lehre in] Frankreich. Daß er in Amiens arbeitete, scheint sicher, Reims muß er gekannt haben. Auf seiner Rückwanderung schuf er am Mainzer Lettner eine Darstellung des Jüngsten Gerichts. Dies und die Stetigkeit seines Wirkens in Naumburg macht, daß wir ihn in noch höherem Maße als den Bamberger von der zeitlichen Abfolge her erfassen können. Weiter trägt zum Eindruck seiner Persönlichkeit bei, daß wir diese immer mehr als stammesgebunden erkennen. Dieser Mann muß ein Sohn der sächsisch-thüringischen Landschaft gewesen sein, die sein Hauptwerk besitzt.

Die seelische Bewegtheit, die starke vielfältige Ausdrucksform ist ein Merkmal der Kunst zwischen Weser und Elbe; die derbe trotzige Kraftfülle, die sich hier so großartig mit der geistigen Grundhaltung der Zeit verbindet, gehört dem deutschen Osten an.

Die nach innen gerichtete schöpferische Raumphantasie tritt uns in Naumburg in ihrer reifsten Form entgegen. Von klaren Wandflächen ist der feierlich durchlichtete Chor begrenzt, seine strengen Gliederungen verdichten sich gleichsam zu höchster Bedeutsamkeit in den selbst wieder baulich empfundenen, vom Ganzen unlösbaren Figuren. Diese sind durch Bewegungsmotive so verbunden, daß der Betrachter an ihnen hingeführt wird und so den Raum als bewegt und belebt erfährt. Doch mehr noch: es gehen über ihn hin von den Figuren Ströme lebendigen Gefühls aus. Die Gestalten sind in einer gemeinsame Empfindung vereinigt, deren Vermittler eben der Raum ist. Dadurch wird dieser zum Mitspieler. Das aber ist ein Zug, den fortan die nordische Kunst anhaltend weiterbildet, im Altarschrein wie endlich im gemalten Bildraum. Ein solcher Schrein also, in den wir freilich noch selbst eintreten können, ist schon der Naumburger Chor. Das Empfinden dieser geheimnisvollen Verbundenheit der Figuren hat zu Versuchen geführt, einen bestimmten geschichtlichen Zusammenhang zu finden, der ihr zugrunde liegen soll. Jedoch ist das zu modern gedacht; diese Gemeinschaft besteht nur ideal, dem Sinne nach.

Die Naumburger Welt ist in Antlitz, Tracht und Haltung bedeutend wirklichkeitsnäher als die Bamberger. Es sind Fürsten, Ritter und Edelfrauen der Zeit, genauer gesagt: Vertreter des kriegerischen Führerstandes des sächsischen Ostens. Das eigentlich Höfische tritt zurück, aber eine ungesuchte Vornehmheit ist auch den Derberen unter ihnen mitgegeben.

Stifterfiguren: Markgraf Hermann und seine Gemahlin Reglindis.
[216a]      Markgraf Hermann und seine Gemahlin Reglindis. Mitte 13. Jahrh.
Im Westchor des Naumburger Domes.

[Bildquelle: Staatliche Bildstelle, Berlin.]
Stifterfigur: Markgraf Ekkehard.
[216b]      Markgraf Ekkehard.
Mitte 13. Jahrh.
Im Westchor des Naumburger Domes.

[Bildquelle: Walter Hege, Naumburg.]

[213] In aller Gehaltenheit und Zucht aber und in der unlöslichen Bindung an den frommen Sinn ihrer Gegenwart an diesem Orte, welcher Reichtum des Seelischen, welche Fülle des Menschentums! Eckehart und Uta, der willensstarke kämpferische Fürst und seine zarte hochmütige Gattin, deren Hand schon in einem so weltlichen Sinn schön ist, wie dies in Bamberg noch undenkbar war; ihm gegenüber der jugendlich weichere Hermann mit Reglindis, der lächelnden Polin; die würdevoll nonnenhafte Gepa und Gerburg, das liebenswerteste Frauenbild des Mittelalters. Die Reihe der Krieger, von wechselndem Temperament, vom dumpfen Trotz über die gelassene Kraft bis zu Wilhelm von Kamburgs herrlicher Hingegebenheit an die Macht des Gefühls. Es ist, mit Pinders schönem Wort, eine "Seelenlandschaft", die sich hier auftut.

Man hat den Naumburger angesichts des Umfangs und der Tiefe seiner Ausdruckswelt mit Rembrandt verglichen. Dies darf nicht mehr als ein Hinweis sein, ist aber insofern treffend, als er den Durchbruch aus der allgemeinen Idealität ins Volksmäßige vollzieht und damit eine neue Sicht auch des Seelischen eröffnet. Mehr noch als die Charakterzeichnungen der Chorstatuen erweisen das die Passionsreliefs. Die packende Wucht ihrer Erzählung verdichtet das Augenblickliche in schlagender Vereinfachung zu sprechendsten Zügen. Sie verfällt nicht in die oft- [214] mals etwas kindliche Scheidung der Guten und Bösen, wie sie in den moralisierenden Darstellungen der Zeit so oft vorkommt, sondern läßt auch denen, die Unrecht tun, eine eigene Würde. Im Judas erreicht diese tiefsinnige Deutung menschlicher Verstrickung die Höhe echter tragischer Schuld. Möglich wird die in ihrer Zeit einzigartige Stärke der handelnden Verknüpfung der Gestalten untereinander wiederum durch das durchaus Räumliche dieser Reliefs. Wie eine Schale schließt sich die Reihe um den Verräter Judas und den Hohenpriester, der ihm die Silberlinge ins Gewand schüttet und dabei auf das verschwörerische Tuscheln hört, das hin und her geht.

Passionsrelief am Westlettner des Naumburger Doms.
[Linke Hälfte; nach deutschefotothek.de.]
Passionsrelief am Westlettner des Naumburger Doms.
[Rechte Hälfte; nach deutschefotothek.de.]
Passionsrelief am Westlettner des Naumburger Doms.

Kreuzigungsgruppe am Westlettner des Naumburger Doms
Kreuzigungsgruppe am Westlettner
des Naumburger Doms.

[Nach mdr.de.]
In der Kreuzigungsgruppe bricht die Gefühlsschwere dieser Kunst in so ungehemmtem Ausbruch hervor, daß damit die Überschreitung der Grenze strenger Gemessenheit sich ankündigt, die die hohe Gotik um sich gezogen hatte. Andachtsstimmungen der kommenden Mystik sind hier vorausgenommen, indem die menschliche Seite des Heilsvorganges, das Leiden, nun räumlich und im Ausdruck den Triumph des Erlösers zu überwiegen beginnt.

Die Deutschen sind als Volk kaum je größer und begnadeter gewesen als in der Zeit, die an dieser Wende ihren Abschluß findet. Sie haben auch, wenn man das Beste der Dürerzeit ausnimmt, nie wieder so Hohes an bildender Kunst geschaffen. Hier wurde in einer kurzen Spanne der Reife aus vollem Wissen um sich selbst die Summe gezogen aus dem vielhundertjährigen Werden des deutschen Menschen unter den Kaisern. In ihrer Grundstimmung hat uns diese Kunst viel zu sagen, wahrscheinlich mehr als irgendeine andere heute. Ihre Zucht und Haltung bei so tieftönender Schwingung des Gefühls, ihr im Symbol des Raums sich aussprechender Wille zur Gemeinschaft bei so kraftvoller Ausbildung der Persönlichkeit, ihr unbedingter Drang zur Größe bei frommer Bescheidung vor dem Göttlichen und nicht zuletzt die siegreiche, wenn auch opfervolle Überwindung der schweren Aufgabe, vor die wir als Volk der Mitte auch in unserem Kunstschaffen gestellt sind, dies geht uns unmittelbar an.




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Die großen Deutschen: Neue Deutsche Biographie.
Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz