[Bd. 1 S. 205]
In jeder dieser bildnerischen Gesamtschöpfungen spüren wir die Hand eines beherrschenden Meisters. Wir wissen nichts von dem Leben dieser Männer, außer was wir aus ihren Werken ablesen, daher können wir sie nicht im neuzeitlichen Sinne biographisch erfassen und schildern. Wohl aber tritt uns im Umkreis ihres Schaffens das Walten ihrer Persönlichkeit in einer Weise entgegen, wie dies so geschlossen und deutlich sich in der Kunst der vorangehenden Jahrhunderte nirgends findet. Die Werke dieser Namenlosen lehren uns, sie unter die Größten unseres Volkes zu zählen. Die Deutschen kamen spät zur Plastik. Mühsam war das Ringen um die [206] Anfänge bildnerischen Könnens. Galt es doch, ein künstlerisches Ausdrucksmittel wiederzugewinnen, dessen sich die abendländische Mehrheit seit dem Sinken des Altertums fast gänzlich entwöhnt hatte. Die Spätantike, bei deren müder Kunst die jungen nordischen Völker in die Lehre gehen mußten, besaß das Gegenteil einer körperhaften bildenden Gesinnung. Das Christentum lehrte, die sichtbare Welt nur als ein Gleichnis des Überirdischen anzusehen, und kam damit dem Triebe des nordischen Menschen entgegen, sich im Gewirr und Gewebe schmückender Linien auszuleben. Infolgedessen entkörperte sich der bildnerische Ausdruck. Auch als die Darstellung des Menschen wieder in Übung kam, blieb sie ganz überwiegend der Fläche verhaftet. An Wänden und Gewölben reihten sich die Bilderfolgen, die Handschriften schmückten sich mit Malerei; Figuren von tastbarer Wölbung jedoch zeigten sich nur in der Kleinkunst. Mit dem Anfang des elften Jahrhunderts nun regte sich allenthalben ein neuer Wille, die Menschengestalt als in sich geschlossene Einheit plastisch wiederzugeben. Das Empfinden ist in stärkstem Maße von der Körperlichkeit der Dingwelt ergriffen. Der erste Schritt auf diesem Wege zum Monumentalen heißt Beschränkung und Festigung, Aufgabe der malerischen Freiheiten, die der von der Malerei herkommenden flächengebundenen Kleinkunst angemessen gewesen waren. In anfangs unbeholfenen Versuchen vollzieht sich das Erlebnis der körperlichen Form. Die ganze Aufmerksamkeit richtet sich auf die entscheidende Aufgabe, den Block in seiner Geschlossenheit zu umgreifen und aus ihm die Gestalt als in sich ruhende Einheit tastbar hinzustellen. Diese Zielsetzung erklärt, entwicklungsgeschichtlich gesehen, die eigentümliche Strenge der hochromanischen Bildhauerei, die bis zur abweisenden Härte geht. Doch war ein solches Wiedererwachen nicht möglich ohne Aufnahme des Erbgutes, das die Antike hinterlassen hatte. Seine Vermittlung geschah durch die aus Ostrom eingeführten Kleinkunstwerke, die überall in den Händen der Künstler gewesen sein müssen und in denen das Wissen der Alten um die Gestalt, wenn auch in einer durch die langen Jahrhunderte erstarrten Form, doch im Kerne richtig und nutzbar enthalten war. Diese langsam und gleichmäßig sich vollziehende Auflockerung durch die byzantinischen Vorbilder bereiteten den Boden, auf dem danach die Saat der Gotik aufging. Das elfte und zwölfte Jahrhundert ist in Hinsicht auf das Werden des Plastischen eine Zeit der Vorbereitung. In reicher Vielfalt wächst die Kunst, von der Provence bis nach Sachsen, aus landschaftlicher Gebundenheit hervor. Dies zu wissen ist wichtig, weil sich in Deutschland auch in der darauffolgenden Zeit die stammesmäßige Eigenständigkeit siegreich gegen das Vereinheitlichende der aus Frankreich andringenden gotischen Formensprache durchsetzt. Mit dieser Erhaltung des Gewachsenen stellt sich Deutschland schon damals in Gegensatz zum Westen. In klar erkennbarer Weise teilen sich nun die Aufgaben im künstlerischen Gesamthaushalt der Völker Europas. Frankreich faßt die vielfältigen Ansätze, die seine Landesteile aufweisen, zu einer im ganzen gesehenen einheitlichen Bewegung [207] zusammen, die sich im Kernland des politisch erstarkenden Königtums verdichtet. Im Bildnerischen macht sich die französische Gotik die Entwicklung der Figur aus der Gesetzlichkeit des Kirchenbaues zur Aufgabe. Breite Entfaltung gleichmäßiger Folgen plastischen Schmucks an den Außenwänden, ein immer reicherer, immer sinnvoller durchgliederter Aufbau der Schauseiten kennzeichnen von Anfang an dieses Kunstwollen. Das Hauptstück, an dem seine Sprache sich ausbildet, ist das mit Statuen besetzte, stufenförmig vertiefte Säulenportal. Die gotische Kunstweise verkörpert, das ist der Grund ihrer Überlegenheit über das Vorangegangene, einen Erkenntnisfortschritt hinsichtlich der Natur. Der romanische Sinn dachte in Massen, sein Bauen war Schichtung und sein Ausdruck Schwere. In dieser Gebundenheit hatte er seine Grenzen, aber auch seine unerreichte Würde. In der Bildung der Figur ging er nicht vom kubischen Block als Grundform ab. Die Gotik hingegen gewann die Einsicht wieder, daß der Körper eine gegliederte Einheit ist, die als das Zusammenwirken von Kräften dargestellt werden muß. Damit war die Möglichkeit natürlicher Bewegung des Körpers gewonnen. Es liegt auf der Hand, daß dieser Fortschritt nicht ohne die Anschauung der damals in Frankreich noch zahlreicher als heute vorhandenen römisch-griechischen Bildwerke zustande kam. Auch Deutschlands bewahrende Art konnte sich ihm auf die Dauer nicht verschließen. So gingen die Deutschen hinüber, arbeiteten in den Bauhütten als Lernende, sicher aber auch als gleichberechtigte Mitarbeiter, und trugen den Gewinn in die Heimat zurück. Die Einbürgerung der Gotik vollzog sich in einzelnen großen Stößen; Magdeburg, dessen Erzbischof die Hohe Schule von Paris besucht hatte, ist einer der Orte ihres frühesten Niederschlags.
Dem Straßburger Meister ist alle Schöpfung geisterschaffen, darum sind seine Gestalten nicht als etwas Andersartiges in den Bau des Pfeilers hineingestellt, sondern Teile seiner geformten Substanz, nur in höherem Grade belebt als die stumme Form. Dieses Einssein mit dem Ganzen hält die Figuren in jener schwebenden Entschwerung, die bei aller zunehmenden Naturbeobachtung den christlichen Vorbehalt ausdrückt, niemals den Menschen rein aus seiner natürlichen Erschaffenheit zu deuten. Die Ströme der geistigen Schöpferkraft durchdringen das ganze Werk [209] und strahlen durch die Figuren in den Raum hinaus. Dieser ist mit plastischer Energie, mit Schwingung und Schwebung erfüllt. Was sich an den Kathedralen des Westens nach außen entlädt, vollzieht sich hier im Innern des mächtig, fast unförmig lastenden Baugehäuses: die Verklärung der Materie ins Geistige. Das Hinüberwirken über den Raum hinweg, das lautlose Gespräch, ist das Geheimnis auch des berühmten Figurenpaares der Ekklesia und Synagoge, die außen zu Seiten des Portales stehen. Wir erkennen in dieser Raummächtigkeit einen Grundzug der deutschen Kunst. Kraft ihrer Versenkung in das Seelische verleiht sie ihren Gestalten eine Ausdruckskraft, die raumüberwindend wirkt. Die Durchdringung mit innerlichen Kräften erhebt den Naturraum zum Gleichnis des Seelenraums.
Weltfreude grüßt uns hier, wie bei den Dichtern der Zeit, bei Walther und Wolfram. Das scheue Entzücken an der Schönheit des weiblichen Körpers in der Mädchengestalt der Synagoge, das einzigartige Wagnis, das erste Menschenpaar überlebensgroß an weit sichtbarem Orte in völliger Nacktheit darzustellen, setzt die Natur in ihre Rechte ein, wie sie die Reife der Zeit ihr zusteht. "Der Reiter ist die schönste und lebensvollste Verkörperung des idealen Ritters, noch umschwebt von dem romantischen Schimmer der Kreuzfahrerzeit, höfisch wohlerzogen und doch ein Held in dem lässig vornehmen Sitz, dem freien, stolz getragenen Haupt, dem willenskräftigen Kinn, dem übermütigen Mund, dem in die Ferne spähenden Blick." Diese Worte Georg Dehios bezeugen, welche Selbstsicherheit das Menschliche in der Bamberger Kunst gewonnen hat. Aber diese wunderbare Entfaltung des Wissens um den Menschen führt nicht zu seiner Selbstherrlichkeit, wie sie später die Renaissance brachte. Weder das Heldische des Reiterkönigs, noch das Seherische der Elisabeth gilt hier als Letztes; alles hat sein Maß von den Ordnungen gottgebundener Schöpfungsgemeinschaft her. Mit diesen Gestalten ist in der deutschen Kunst ein völlig neuer Maßstab dessen gesetzt, was ein Bildwerk zu sein hat. Die Idee des plastischen Körpers als einer in sich ruhenden, gegliederten Einheit wurde fruchtbar. Vor allem hat sich das Verhältnis von Körper und Gewand geändert. In Straßburg noch begleiteten die Faltenzüge das Spiel der Glieder, ohne von diesen trennbar zu sein, und so entstanden jene mehr gleichnishaften als wirklichen Formen, die die Frühstufe kennzeichnen. An der Bamberger Elisabeth hingegen ist in der Weise, wie der Mantel über den Leib hinübergerzogen ist und dann schwer herabfällt, das Deckende stofflich empfunden und vom Tragenden gelöst. So ist die Möglichkeit der freien Bewegung wie des Gegenspieles von Leib und Hülle wiedergewonnen, die die Antike besessen hatte. Dies sind die Mittel; sie kamen uns von den Nachbarn. Was daraus wurde, erschuf der deutsche Genius. Es gehört zum Höchsten der Bildnerei aller Zeiten. Alle gewonnene Freiheit des Natürlichen ist wieder eingeschmolzen in den Ausdruckswillen einer tieferregten inneren Schau. Die unerhörte Kühnheit des Faltensturzes vom Arm der Elisabeth herab überschreitet das Gesetz der Schwere, gleichwie eine Bachsche Fuge den Naturlaut verwandelt. Von gegenüber antwortet die angespannte Knickung des Gelenkes der edelwillensvollen Hand, über der sich ein Faltenbausch aufkräuselt, wie von einem Windstoß gehoben. Das Mittelalter hatte die Frau als geistiges Wesen entdeckt, hier aber ist weit über alles hinausgegriffen, was in dem schönen fraulichen Gedanken der Heimsuchung liegt, in die zeitlose Höhe, wo dem nordischen Menschen das Weib als Seherin erscheint.
Die seelische Bewegtheit, die starke vielfältige Ausdrucksform ist ein Merkmal der Kunst zwischen Weser und Elbe; die derbe trotzige Kraftfülle, die sich hier so großartig mit der geistigen Grundhaltung der Zeit verbindet, gehört dem deutschen Osten an. Die nach innen gerichtete schöpferische Raumphantasie tritt uns in Naumburg in ihrer reifsten Form entgegen. Von klaren Wandflächen ist der feierlich durchlichtete Chor begrenzt, seine strengen Gliederungen verdichten sich gleichsam zu höchster Bedeutsamkeit in den selbst wieder baulich empfundenen, vom Ganzen unlösbaren Figuren. Diese sind durch Bewegungsmotive so verbunden, daß der Betrachter an ihnen hingeführt wird und so den Raum als bewegt und belebt erfährt. Doch mehr noch: es gehen über ihn hin von den Figuren Ströme lebendigen Gefühls aus. Die Gestalten sind in einer gemeinsame Empfindung vereinigt, deren Vermittler eben der Raum ist. Dadurch wird dieser zum Mitspieler. Das aber ist ein Zug, den fortan die nordische Kunst anhaltend weiterbildet, im Altarschrein wie endlich im gemalten Bildraum. Ein solcher Schrein also, in den wir freilich noch selbst eintreten können, ist schon der Naumburger Chor. Das Empfinden dieser geheimnisvollen Verbundenheit der Figuren hat zu Versuchen geführt, einen bestimmten geschichtlichen Zusammenhang zu finden, der ihr zugrunde liegen soll. Jedoch ist das zu modern gedacht; diese Gemeinschaft besteht nur ideal, dem Sinne nach. Die Naumburger Welt ist in Antlitz, Tracht und Haltung bedeutend wirklichkeitsnäher als die Bamberger. Es sind Fürsten, Ritter und Edelfrauen der Zeit, genauer gesagt: Vertreter des kriegerischen Führerstandes des sächsischen Ostens. Das eigentlich Höfische tritt zurück, aber eine ungesuchte Vornehmheit ist auch den Derberen unter ihnen mitgegeben.
[213] In aller Gehaltenheit und Zucht aber und in der unlöslichen Bindung an den frommen Sinn ihrer Gegenwart an diesem Orte, welcher Reichtum des Seelischen, welche Fülle des Menschentums! Eckehart und Uta, der willensstarke kämpferische Fürst und seine zarte hochmütige Gattin, deren Hand schon in einem so weltlichen Sinn schön ist, wie dies in Bamberg noch undenkbar war; ihm gegenüber der jugendlich weichere Hermann mit Reglindis, der lächelnden Polin; die würdevoll nonnenhafte Gepa und Gerburg, das liebenswerteste Frauenbild des Mittelalters. Die Reihe der Krieger, von wechselndem Temperament, vom dumpfen Trotz über die gelassene Kraft bis zu Wilhelm von Kamburgs herrlicher Hingegebenheit an die Macht des Gefühls. Es ist, mit Pinders schönem Wort, eine "Seelenlandschaft", die sich hier auftut. Man hat den Naumburger angesichts des Umfangs und der Tiefe seiner Ausdruckswelt mit Rembrandt verglichen. Dies darf nicht mehr als ein Hinweis sein, ist aber insofern treffend, als er den Durchbruch aus der allgemeinen Idealität ins Volksmäßige vollzieht und damit eine neue Sicht auch des Seelischen eröffnet. Mehr noch als die Charakterzeichnungen der Chorstatuen erweisen das die Passionsreliefs. Die packende Wucht ihrer Erzählung verdichtet das Augenblickliche in schlagender Vereinfachung zu sprechendsten Zügen. Sie verfällt nicht in die oft- [214] mals etwas kindliche Scheidung der Guten und Bösen, wie sie in den moralisierenden Darstellungen der Zeit so oft vorkommt, sondern läßt auch denen, die Unrecht tun, eine eigene Würde. Im Judas erreicht diese tiefsinnige Deutung menschlicher Verstrickung die Höhe echter tragischer Schuld. Möglich wird die in ihrer Zeit einzigartige Stärke der handelnden Verknüpfung der Gestalten untereinander wiederum durch das durchaus Räumliche dieser Reliefs. Wie eine Schale schließt sich die Reihe um den Verräter Judas und den Hohenpriester, der ihm die Silberlinge ins Gewand schüttet und dabei auf das verschwörerische Tuscheln hört, das hin und her geht.
Die Deutschen sind als Volk kaum je größer und begnadeter gewesen als in der Zeit, die an dieser Wende ihren Abschluß findet. Sie haben auch, wenn man das Beste der Dürerzeit ausnimmt, nie wieder so Hohes an bildender Kunst geschaffen. Hier wurde in einer kurzen Spanne der Reife aus vollem Wissen um sich selbst die Summe gezogen aus dem vielhundertjährigen Werden des deutschen Menschen unter den Kaisern. In ihrer Grundstimmung hat uns diese Kunst viel zu sagen, wahrscheinlich mehr als irgendeine andere heute. Ihre Zucht und Haltung bei so tieftönender Schwingung des Gefühls, ihr im Symbol des Raums sich aussprechender Wille zur Gemeinschaft bei so kraftvoller Ausbildung der Persönlichkeit, ihr unbedingter Drang zur Größe bei frommer Bescheidung vor dem Göttlichen und nicht zuletzt die siegreiche, wenn auch opfervolle Überwindung der schweren Aufgabe, vor die wir als Volk der Mitte auch in unserem Kunstschaffen gestellt sind, dies geht uns unmittelbar an.
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