Bd. 10: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Zweiter Teil
Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin
Kapitel 2: Das Nahen des Weltkrieges
(Forts.)
1. Politisch geistige Atmosphäre
um 1910. (Forts.)
Das von England in der Wendung von 1904 begründete politische System
ist von deutscher Seite - vielleicht war der Kaiser einer der ersten, der
dieser Empfindung den Namen
verlieh - als Einkreisungspolitik bezeichnet worden. Gegen diese
Charakterisierung haben sich schon damals, mit besonderem Eifer, die englischen
Staatsmänner verwahrt, wohl weil sie den offensiven Nebenton des
Begriffes vermieden wissen wollten. Aber auch die englische
Geschichtschreibung nach dem Kriege lehnt die "Einkreisungspolitik" ab, mit der
nun einmal ein höheres Maß englischer Verantwortlichkeit am Lauf
der Weltgeschichte anerkannt werden müßte, und beruft sich darauf,
daß sich auch in den amtlichen Dokumenten weder der Ausdruck noch der
Sinn einer bewußten "Einkreisung" Deutschlands nachweisen lasse.19
Was in den Dokumenten nicht mit Buchstaben zu belegen ist, spricht vernehmlich
aus der sinnvollen Kette politischen Handelns. Schon als die englische Politik von
der französischen Entente (der das Bündnis mit Japan schon
vorangegangen war) zu der russischen Entente überging, wurde diese
Konzeption von Anfang an von der Vorstellung eines dadurch zu erreichenden
Druckes auf Deutschland geleitet. Wenn die deutsche Politik zur Abwehr dieser
Gefahr die Drahtleitung nach Petersburg um jeden Preis von neuem zu legen
suchte, folgte sie einem natürlichen Defensivbedürfnis, nicht einem
frevelhaften Hang zur Intrigue. Freilich, wenn es ihr gelungen wäre, die
russische Freundschaft zu einem
russisch-französisch-deutschen Kontinentalbunde zu steigern, so
würde sie mit dieser Gruppierung England gerade so isoliert haben, wie
England seiner- [670] seits Deutschland zu
isolieren trachtete - nur daß England bei seiner natürlichen
Lage eine solche, lange Zeit sogar als Naturform der insularen Politik gepriesene
Isolierung nicht gerade als eine Einkreisung empfunden haben würde. Aber
das war nun einmal die Anschauungsform, in der sich dem Deutschen bei
seiner geographischen Lage in Mitteleuropa die Summe der englischen
Politik darstellte. Denn diese verband die beiden Flügel der
russisch-französischen Zweifrontenlage durch den Riegel ihrer
überlegenen Seemachtstellung zu einem riesigen Dreiviertelkreis, der vom
Oberrhein abwärts bis in den Kanal, dann über
Nord- und Ostsee hinweg, von Litauen bis an die untere Donau reichte, wenn
nicht gar bis an die Isonzolinie und in die Dolomiten. Welche unerwartete
Lebenskraft, welche Verführung zum Handeln wurde dem Zweibunde
durch diese Verbindung, durch diesen den Völkern der Erde nicht
verborgen bleibenden Willen des englischen Weltreiches zugeführt!
Jede diplomatische Kraftäußerung dieser Entente hatte die
dynamische Wirkung, diese Einkreisung zu verstärken. Dazu diente die
Angliederung Serbiens, die Auflockerung der italienischen
Dreibundstellung - wir sehen, welche Hoffnungen man in London auf
Racconigi setzte. Dazu diente auch das leise und behutsame Zerren an der
Bundestreue Österreich-Ungarns, das Vorschieben der publizistischen
Angriffslinien in den Nationalitätenbestand der Doppelmonarchie. Immer
wieder erörterte die englische Presse, es sei eine "neue Lage" für
England dadurch geschaffen, daß man diese Festigkeit des
Bündnisses, diese Intimität mit Berlin habe erleben müssen.
Nach der bosnischen Krisis wollte die Times die Wiederaufnahme
vertrauensvoller Beziehungen davon abhängig gemacht wissen, daß
die Politik Österreich-Ungarns mit der Deutschlands "nicht identisch" sein
werde.20 Die österreichischen
Nationalitätenkämpfe boten genug Gelegenheit, im Sinne des
Angriffprogramms von Crowe, das englische Interesse für die
Unabhängigkeit der kleinen Völker wie in den Tagen Palmerstons zu
beleben. Wie der Franzose Denis der historische Vorkämpfer des
Tschechentums, so wurde der Engländer Seton Watson zum publizistischen
Anwalt des Südslawentums. Alles, was dem obersten Leitgedanken dieser
politischen Isolierung Deutschlands und der Mittelmächte diente, war
schließlich eingebettet in jene größere
Einkreisungsunternehmung, die wir seit Jahren schon nach Amerika
übergreifen sehen. In dem internationalen Handel mit "Publizität"
war ein Zusammenschluß der englischen und französischen Betriebe
mit ihrem Einfluß auf den amerikanischen Nachrichtenmarkt für die
bewußte Formung der Weltmeinung von unabsehbarer Bedeutung.
Aus dem Kreise der Führer der englischen Politik verschwand in dieser Zeit
die Persönlichkeit, die vielen Menschen als die Seele der "Einkreisung"
erschien: König Eduard VII. starb am 7. Mai 1910. Das Maß
des persönlichen Anteils, [671] das dem König
an der weltgeschichtlichen Wendung in seiner kurzen Regierungszeit
zugeschrieben wird, ist zwar sehr umstritten.21 Wenn die englische konstitutionelle
Auffassung es liebt, seinen Anteil über Gebühr
herabzudrücken, so neigt die deutsche Auffassung dazu, ihn allzu stark
aufzubauschen. Die große Wendung selber ist nicht sein Werk, aber er
hieß sie von Anfang an willkommen und stellte sich unbedingt in ihren
Dienst. Nicht zwar in den eigentlichen geschäftlichen Verhandlungen, die
gar nicht seine Sache waren, wohl aber in den vielen vorbereitenden
Vorgängen in der Atmosphäre der Höfe, in deren Behandlung
er Meister war. Wenn er bei einer Zusammenkunft in Italien im Juni 1909
beiläufig von der Wahrscheinlichkeit eines baldigen Konflikts zwischen
England und Deutschland sprach, so erschütterte er seine aufhorchenden
Hörer, die sich den Zusammenstoß doch nicht als so unmittelbar
bevorstehend vorgestellt hatten.22 Bei seinen Besuchen am Hofe Kaiser
Franz Josephs mußte er zwar vorsichtiger sein, aber der Eindruck, daß
er zur Auflockerung des Bündnisses zu wirken versucht habe, blieb
trotzdem zurück, so sehr man auch von London bemüht war, ihn
auszulöschen.23 Von englischer Seite ist besonders
seine Fähigkeit überliefert, auf seine Berater einzuwirken, indem er
sich beraten ließ. Auch der Kaiser wußte, daß sein englischer
Oheim zwar die englische Politik nicht gemacht, aber sie durch eine ganz
gefährliche, persönliche Note verstärkt habe. Vielleicht hat
sein Selbstbewußtsein die ihm verwandte, aber letzten Endes
überlegene Art des andern schmerzhaft empfunden: in ihm sah er den
persönlichen Gegenspieler, an dem ein gutes Teil seiner eigenen
Aspirationen in der Welt gescheitert war. So liest man mit innerem Anteil seine
Randbemerkung: "Eine hervorragende politische Persönlichkeit
verschwindet plötzlich von der europäischen Bühne, eine
merkbare Lücke lassend. In solchem Augenblick verzeiht man manches.
Die englische Politik im ganzen ex officio wird sich nicht viel
ändern. Wohl aber wird sich die Tätigkeit remüanter
Intrigenwirtschaft etwas legen, die Europa in stetem Atem hielt und nicht zum
Genuß friedlicher Ruhe kommen lassen sollte. Die persönlich
inszenierten Kombinationen werden, beim Fehlen des Hauptes,
zerbröckeln, denn sie wurden zusammengehalten durch den Zauber des
persönlichen Einflusses und überzeugender Redegabe."24 Ein Urteil, das seine letzte
erschütternde Steigerung findet bei Ausbruch des Krieges, wo dem Kaiser
die Gestalt seines siegreichen Gegenspielers vor Augen trat in einer Stunde
innerer Unsicherheit und qualvollen Zweifels an allem, was er erstrebt hatte.
Die englische Politik erfuhr durch das Ausscheiden König Eduard VII.
keine Veränderung. Der neue König, Georg V., der ein
persönliches Gewicht gar [672] nicht zur Geltung zu
bringen hatte, ging ohne weiteres mit dem Strome.25 Der verwandtschaftliche Verkehr mit
dem Berliner Hofe nahm überhaupt etwas Entfernteres an, übrigens
nicht zum Schaden der normalen Beziehungen.
Viel bedeutsamer war, daß die deutschfeindliche Politik des Foreign
Office gleich darauf eine ausgesprochene Verstärkung erfuhr. Der
Botschafter in Petersburg, Sir Arthur Nicolson, wurde als Nachfolger
Hardinges an die Stelle des permanenten Unterstaatssekretärs berufen. Die
unansehnliche Erscheinung des kleinen Mannes, dem die große Politik
Lebenszweck und Lebensinhalt bedeutete, verkörperte fortan, in engem
Zusammenwirken mit Sir Eyre Crowe, die Deutschfeindlichkeit der
Behörde. Er glaubte an die deutsche Gefahr als an eine "Existenzgefahr"
für das britische Reich. Da er es für unmöglich hielt, auf die
Dauer sogar in der Flottenfrage gleichen Schritt zu halten, so ergab sich ihm die
"logische Konsequenz der wünschenswerten Schwächung durch
kontinentale Komplikationen" von selbst.26 Sein nächstes Ziel war, die
Entente mit Frankreich und Rußland - deren Haltbarkeit
gegenüber der deutschen Außenpolitik nicht
genüge - zu Bündnissen auszugestalten. Gegenüber der
eingestandenen Einkreisungsabsicht Nicolsons und Crowes hielt Sir Edward Grey daran fest, das Problem vornehmlich vom
parlamentarischen Standpunkt aus zu betrachten: es sei für ihn wichtig, in
der Lage zu sein, bestimmte Fragen im Unterhause durch ebenso bestimmte
Erklärungen zu beantworten. In seiner Partei paßte der radikale
Flügel dem Außenminister - wenn auch
vergeblich - immer auf die Finger, ob er sich nicht in außenpolitische
Verpflichtungen gegen andere Mächte verstricke, während er auf der
anderen Seite mit seinen Bedenklichkeiten den aktiveren Treibern im Foreign
Office niemals genug tat. Er ging mitten durch und bestätigte sich
selbst durch seine formalistische Methode, daß er weder eine Politik der
Einkreisung noch der bündnismäßigen Verpflichtungen treibe,
sondern allein - nach englischer
Tradition - eine Politik der freien Hand und des Friedens verfolge.
Es war für diese Politik charakteristisch, daß sie die Bereitschaft
zeigte, mit jedem Volk der Erde zu einem Abkommen in überseeischen
Interessensphären zu gelangen, mit Ausnahme des Deutschen Reiches.
Lange Zeit wurde dafür geltend gemacht, daß es leider nur an
geeigneten Schauplätzen fehle, auch mit Deutschland Vereinbarungen
dieser Art zu treffen, aber wo die Möglichkeit vorlag, wie in der
Bagdadbahn, wurde sie vermieden, oder die Methode des positiven
Ausschließens des deutschen Wettbewerbes vorgezogen.
Das persische Beispiel mag diese Methode erläutern. Die deutsche
Regierung hatte gegen das englisch-russische Abkommen von 1907, das Persien
in eine eng- [673] lische und eine
russische Interessensphäre (neben einer neutralen Sphäre) zerlegte,
keinen Einspruch erhoben. Als man aber in Berlin Anfang 1910 von einer
Verabredung erfuhr, außer englischen und russischen Beratern nur
Franzosen als Finanzberater in persischen Diensten zuzulassen, machte man an
beiden Stellen Vorhaltungen und erinnerte an den Grundsatz der offenen
Tür. Schon sah sich Grey - auch wenn er auf die Ruhe und
Mäßigung Bethmann Hollwegs
hoffte - an den Marokkofall erinnert.27 Er sah das Wesen des Abkommens
nicht darin, Eisenbahnbauten zu unternehmen, sondern nur in dem Einvernehmen,
sich Eisenbahnbaukonzessionen zu reservieren, mit andern Worten: deutsche
Konzessionen zu verhindern. Nach seinem eigenen Geständnis
würden deutsche Eisenbahnbauten in Persien die Bedeutung der
Konvention in Frage stellen.28 Da die beiden Mächte auf die
amtliche deutsche Frage eine jener formell einwandfreien, aber in der Sache
ausweichenden Auskünfte erteilten, kam die deutsche Regierung
zunächst auf die Frage nicht wieder zurück, die ihren aktuellen Wert
eingebüßt hatte. Die Sache selbst war damit aber nicht aus der Welt
geschafft. Nun war für die vorsichtige Persienpolitik Greys der Russe ein
unbequemer, weil viel zu brutal ausgreifender Partner, der ihm vor der
öffentlichen Meinung in England genügend zu schaffen machte.
Aber selbst auf diesem persischen Schauplatz galt nur ein oberster Grundsatz,
wenn ein Zipfel der deutschen Fahne auftauchte. Er unterbreitete im Oktober 1912
der russischen Regierung den Vorschlag,29 ein für allemal die
unerwünschten Anschläge Deutschlands auf die neutrale Zone
auszuschalten, indem Rußland von der persischen Regierung die Option
zum Bau der Eisenbahnlinie
Teheran - Ispahan erhalte, und
England/Rußland gemeinsam für die Strecke
Ispahan - Mohammesan. Damit sei keine Verpflichtung gegeben,
wirklich zu bauen, sondern nur vorgesehen, "Deutschland aus der neutralen Zone
zu verdrängen, wo nach einem solchen Abkommen keine einzige für
den Deutschen irgendwie anlockende Konzession übrigbleiben
würde." Diese feindselige Umsicht ging sogar so weit, daß sie
für gewisse Anstellungen die neutralen Schweizer nur dann für
zulässig erklärte, wenn sie nicht den
deutsch-schweizerischen Kantonen angehörten und unter Schutz der
deutschen Gesandtschaft ständen.30 Ein englischer Diplomat trug damals
nicht die geringsten Bedenken, einem deutschen Kollegen die Naturnotwendigkeit
solcher Methoden zu erläutern: "Deutschland sei verspätet auf dem
Schauplatz gelangt und erwarte, ohne Einsatz von Gut und Blut, wie es mit
England seit Jahren der Fall gewesen sei, in die vorderste Reihe der
Kolonialmächte zu treten. Es könne, wie der zu spät
gekommene Arbeiter im biblischen Weinberg, nicht erwarten, dieselbe Stellung in
Persien einzunehmen, wie der russische Nachbar [674] und England. In
Persien müsse Deutschland, außer hinsichtlich reiner Handelsfragen,
von Rußland und England wie eine Art Wilderer betrachtet werden."31
Diese politische Praxis war längst in der Entwicklung gewesen, bevor der
eigentliche Flottengegensatz eine größere Rolle spielte. Aber seitdem
diese aufreizende Rivalität hinzugekommen war, hatte sich das, was die
Deutschen, mit Recht oder Unrecht, Einkreisungspolitik nannten, offensichtlich
verschärft. Von der englischen Seite her gesehen, wurde das System der
Ententen ausgebaut und die Maschine der Einkreisung in Bewegung gesetzt, um
mit ihrem Druck dieser kostspieligen und auf die Dauer gefährlichen
Rivalität eine Grenze zu setzen. Von der deutschen Seite her gesehen, war
der Flottenbau gerade darum eine Lebensnotwendigkeit, weil dieser überall
in der Welt feindlichen Politik Englands ein achtunggebietendes Instrument der
Verteidigung und Abwehr entgegengesetzt werden mußte. Daß diese
beiden Argumentationen sich wechselseitig bis ins Endlose steigern ließen
und dadurch eine wirkliche Gefahr für den Weltfrieden erzeugen konnten,
lag auf der Hand.
Gewiß bestand die Gefahr für England nicht darin, daß
Deutschland mit seiner im weiten Abstand schwächeren Flotte eines Tages
einen "Angriff" auf das Inselreich unternehmen würde; die Invasionsangst
und die Flottenpanik wurden auch in England nicht von denjenigen geglaubt, die
sie veranstalteten. Aber auch für Deutschland bestand die Gefahr nicht
darin, daß England seinerseits zum Angriff und Überfall schreiten
oder zu diesem eingestandenen Zwecke eine Offensivallianz gegen uns
zustandebringen würde;32 diese politische Idee würde
Sir Edward Grey aus Überzeugung verworfen haben. Wohl aber
konnte es dazu kommen, daß England ohne direkt feindliche Handlung den
deutschen Interessen an allen Punkten außerhalb Europas oder an dessen
Peripherie unbequem wurde und das Deutsche Reich in vielen Fragen, die an sich
das deutsche Lebensinteresse nicht direkt berührten, vor die Alternative
stellte, entweder eine diplomatische Niederlage einzustecken oder den Krieg zu
erklären.33 Und dahinter drohte dann die weitere,
in diesen Jahren erst in Umrissen erkennbare Gefahr, daß England durch die
letzte Zielsetzung seiner Politik die Glieder seiner Ententen in ihrem eingeborenen
kriegerischen Lebenswillen so sehr bestärkte, daß sie eines Tages die
Führung der Offensive an sich rissen und das Inselreich hinter sich
herzogen.
Diesen ernsten Aussichten gegenüber ergab sich für die deutsche
Politik das Gebot, in ihren Beziehungen zu England, die in den Mittelpunkt des
Weltzusammenhangs gerückt waren, einen Versuch wirklicher
Entspannung zu unter- [675] nehmen. Bethmann
Hollweg übernahm nur die Erbschaft Bülows, wenn er, im
Einverständnis mit dem Kaiser, wenige Wochen nach seinem Amtsantritt
dem englischen Botschafter eröffnete, daß er zu einem
Flottenabkommen im Rahmen einer allgemeinen Verständigung bereit
sei.34 Der Reichskanzler griff also sofort
das zentrale Problem der deutschen Außenpolitik auf. Er hatte sich dabei
schon der Mitarbeit des (damals noch in Bukarest weilenden) Gesandten von
Kiderlen-Wächter versichert, dessen Denkschriften, Dokumente politischen
Weitblicks und diplomatischer Erfahrung, vor allem einen ehrlichen und von allen
zweideutigen Hintergedanken freien Verständigungswillen bezeugen.35 Auch Kiderlen ging davon aus,
daß ein bloßes Flottenabkommen ohne nebenherlaufende politische
Verständigung keine wirkliche Besserung bringen würde. Er sah das
Problem nur politisch und wünschte, bevor die Einzelheiten der
Flottenfrage der Hartnäckigkeit der "Techniker" überlassen
würden, das politische Terrain vorzubereiten: "Das politische Gebiet ist
elastischer als das militärische." Sein Ziel war, so gestand er offen ein,
überhaupt zu einem Abkommen zu gelangen, sei es auch noch so
unbedeutend. Er wollte verhindern, daß so wie England bisher den
deutschen Gegensatz zu Frankreich ausgenutzt habe, der Franzose, der sich mit
England verständigt hatte, den deutschen Gegensatz zu England ausnutze.
Nach dieser Vorbereitung kam am 14. Oktober eine erste einleitende Aussprache
des Reichskanzlers mit dem englischen Botschafter zustande.36 Nach dieser Eröffnung
erklärte sich England am 4. November bereit, neben der Verhandlung
über eine Flottenabrüstung auch in eine freundschaftliche
Besprechung über die allgemeine Orientierung der gegenseitigen Politik
einzutreten. Freilich war von vornherein nicht zu verkennen, daß diese
Kombination von den beiden Parteien sehr verschieden gesehen wurde:
während England von einem politischen Abkommen ohne
Flottenabrüstung nichts wissen wollte, kam für Deutschland keine
Flottenabrüstung ohne politisches Abkommen in Frage. Wer in die Akten
beider Lager blickt, ist erstaunt über das Maß von gehässigem
Mißtrauen, mit dem das englische Auswärtige Amt den ehrlichen
Absichten von Bethmann Hollweg und
Kiderlen-Wächter begegnete.37 Gewiß hatte auch der [676] Kanzler den Kaiser und
Tirpitz
nicht für immer hinter sich,38 gewiß stellte sich sogleich
heraus, daß die englische Seite eine andere Vorstellung von der
Rüstungsbeschränkung hatte als die deutsche Seite, aber es war doch
überraschend, daß Sir Edward Grey schon am 17. November
die Verhandlung mit Rücksicht auf die bevorstehenden Unterhauswahlen
unterbrach, zunächst bis Ende Januar 1910. Erst im Sommer 1910 sollten
die Verhandlungen wieder in vollem Umfange aufgenommen werden. Wir werden
in einem andern Zusammenhange auf sie zurückkommen.
Schon bei Beginn der Flottenbesprechung war man in Paris unruhig geworden,39 und Grey hatte sich sofort beeilt,
Pichon wissen zu lassen, daß, wenn bei den Verhandlungen etwas mehr als
allgemeine Versicherungen des Wohlwollens herauskämen, er sich darauf
verlassen könne, daß Grey sich mit der französischen
Regierung ins Benehmen setzen würde, ehe er sich festlege. Schon im Jahre
1906 hatte Graf Metternich, wie wir uns erinnern, dem Engländer
vorausgesagt, daß die Gestaltung des
deutsch-englischen Verhältnisses abhängig sein werde von der
französischen Interpretation der deutschen Politik. Ein Mann wie Lord
Rosebery gestand in den nächsten Jahren dem österreichischen
Botschafter wiederholt: was ihn am meisten beunruhige, sei die
übertriebene Hinneigung der englischen Außenpolitik zu Frankreich.
Wenn Paris in einem deutsch-französischen Konflikt die englische
Unterstützung verlange, so werde England sie gewähren und sich in
einen schweren Kampf hineinziehen lassen.40 Je höher die Germanophobie
anstieg, desto mehr verstärkte sie die tatsächliche
Abhängigkeit von Frankreich. Die Franzosen aber wußten von
diesem unsichtbaren Wechselverhältnis Gebrauch zu machen. Wenn
schärfere Auseinandersetzungen mit Deutschland auftauchten, suchten sie
das Band der englischen Verpflichtungen fester zu ziehen. Wenn aber in ruhigeren
Zeiten die Zeichen auf deutsch-englischer Entspannung standen, dann wurde man
in Paris nervös.41 Das Barometer der Revanche ging auf
und ab, je nachdem von London ein Hoch oder Tief gemeldet wurde.
In der französischen Politik dieser Jahre ist die Frage nach dem Stande der
Revanche und nach der Rolle Elsaß-Lothringens nicht mit einem Worte zu
beantworten. Man wird die beiden Zeugen Clemenceau und Tardieu nicht
ab- [677] lehnen können.
In einer Unterhaltung mit dem deutschen Diplomaten
Frhr. v. d. Lancken im Sommer 1908 gestand Tardieu: an
Revanche dächten ernst zu nehmende Leute überhaupt nicht mehr;
für Dinge eine Vergeltung zu suchen, die vierzig Jahre
zurücklägen, habe man seiner Ansicht nach kaum ein Recht.42 Kurz zuvor, in einem Zeitraum
politischer Ruhe, hatte Sir Edward Grey dem Ministerpräsidenten
Clemenceau die Frage vorgelegt, ob
Elsaß-Lothringen noch immer ein Hindernis für jede wirkliche
Annäherung zwischen Frankreich und Deutschland wäre.
Clemenceau antwortete: Elsaß und Lothringen seien ein Hindernis, und
mehr denn je. Das Volk in Elsaß und Lothringen wäre genau so
französisch in Sympathien und Gefühl, als es je gewesen sei. Solange
dies der Fall sein werde, würde - obgleich gute Beziehungen
zwischen Frankreich und Deutschland bestehen und laufende Geschäfte
freundlich erledigt werden könnten - keine Abmachung
möglich sein, die definitiv wäre.43
Die beiden Aussagen widersprechen sich nicht nur, sondern sie ergänzen
sich. Und beide lassen sich durch tausende und abertausende von Belegen
vervielfältigen. Mochten die Franzosen sich in ihrem Innern abgefunden
haben (wie sich auch die
Elsaß-Lothringer abgefunden hatten), nach außen hin war die
französische Unversöhnlichkeit ein eherner Bestand, ein sicherer
Wechsel für jede andere Regierung. Nach außen hin mußte die Legende vom
französischen Elsaß um jeden Preis aufrechterhalten
werden, obgleich man unter sich keinen Hehl daraus machte, wie weit der
Prozeß der Wiederverdeutschung schon vorgeschritten war. Mußten
doch die Franzosen jetzt mit ansehen, daß die Reichsregierung die
elsaß-lothringische Verfassung ins Leben rief, die der Bevölkerung
mehr politische Selbstbestimmung gab, als sie jemals während ihrer
Zugehörigkeit zu Frankreich besessen hatte; und daß das Land unter
deutscher Verwaltung einen Aufschwung genommen, wie es ihn vor der
Annexion gar nicht gekannt hatte, wurde nicht nur von Männern wie
Hervé offen anerkannt. Die Stimme des Volkes, die zu den Franzosen
hinüberdrang, war so eindeutig wie möglich. Noch wenige Wochen
vor Serajewo hielt der Mülhauser Pfarrer Scheer, ein Altelsässer mit
französischen Sympathien, in Lyon eine Rede: "Es handelt sich für
uns nicht darum, zu wissen, ob das Elsaß wieder einmal französisch
wird oder nicht. Wir nehmen die vollzogene Tatsache an. Das Elsaß
wünscht mit allen Kräften eine
deutsch-französische Annäherung." Unmittelbar vor dem Weltkrieg
kündigte dieses eindeutige Dokument das Ende des Protestes an.
Die französische Politik aber blieb fest entschlossen, die vollzogene
Tatsache nicht anzuerkennen. Ihre Stellung in Europa bestand darin, daß sie
es nicht tat. Von dieser Haltung war die französische Politik nicht
abzubringen gewesen, durch alle Freundlichkeiten nicht, mit denen
Wilhelm II. vermeinte, den Prozeß [678] des Verzichtes
erleichtern zu können,44 und auch nicht durch die
stärkeren Druckmittel, die von der Berliner Politik gelegentlich zur
Anwendung gebracht wurden. Sie wußte, daß in der Idee der
Revanche - auch wenn sie in der Seele der einzelnen nicht mehr lebendig
war - ihre starke einheitliche Linie, ihr
Begehrt- und Umworbensein lag.45 Denn jeder Gegensatz gegen
Deutschland fand hier Aufnahme und Widerhall, und der Franzose konnte mit
Hilfe der Sympathien, die ihm aus dieser Quelle zuwuchsen, seine Stellung in der
Welt, in den Kolonien erweitern und im übrigen der
verhängnisvollen Stunde gewärtig sein, von der die Pariser
Presse - dem Worte Gambettas zum
Trotze - immer zu sprechen liebte.
Wenn die französische Politik während der bosnischen Krisis
zurückgehalten hatte, so hatte neben der Besonnenheit Pichons auch die
nüchterne Erkenntnis mitgespielt, daß die Schlagfertigkeit des
russischen Heeres noch längst nicht so weit wiederhergestellt sei, um ein so
gefährliches Bluffspiel bis zum Ende durchzuführen.
Denn der russische Machtfaktor war in dem unglücklichen Anlauf
Iswolskis von 1908/09 verfrüht in die europäische Politik
zurückgeführt worden. Diese Erkenntnis erfüllte nach der
bosnischen Krisis die russischen Staatsmänner und vor allem den Minister
Sasonow, der im September 1910 die Nachfolge Iswolskis angetreten hatte und
nunmehr die Wiederherstellung des von seinem Vorgänger
vernachlässigten guten Verhältnisses zum Deutschen Reiche
anstrebte. Wenn die russische Politik eine ruhige Zeit der Kräftesammlung
brauchte, pflegte sie immer ein gutes Verhältnis zum Deutschen Reiche zu
schätzen, das insofern auch in der russischen Gesellschaft als eine Kraft der
Erhaltung gewürdigt wurde. Der erste selbständige Schritt Sasonows
war die Herbeiführung einer Zusammenkunft der beiden Monarchen in
Potsdam am 3./4. November 1910. Das überraschte Europa erfuhr
plötzlich, daß es hier über die Erhaltung des status quo
in der Türkei und in Persien zu einem Meinungsaustausch von nicht
geringer Tragweite gekommen war. Der Kaiser und der Reichskanzler (nach dem
Rate Kiderlen-Wächters) gaben dem Zaren die Erklärung ab,
daß das Deutsche Reich weder verpflichtet noch gewillt sei, eine expansive
Balkanpolitik Österreich-Ungarns zu
unterstützen - zur großen Beruhigung der Russen, die sich
darüber merkwürdigen Schreckbildern hingaben. Die
Gegenerklärung des Zaren bestand darin, daß er nicht verpflichtet sei
und nicht die Absicht habe, eine deutschfeindliche Politik Englands zu
unterstützen. Neben diesen allgemeinen Erklärungen lief [679] eine besondere
Übereinkunft: die Russen zeigten sich erbötig, dem
Bagdadbahnprojekt keine Schwierigkeiten zu bereiten, vielmehr einen
künftigen Anschluß ihrer persischen Bahn an die Bagdadbahn ins
Auge zu fassen, wogegen man deutscherseits mit der vorwaltenden politischen
Einflußstellung Rußlands in Nordpersien einverstanden war und sich
nur auf reine Handelsinteressen beschränken zu wollen erklärte. In
einer Reichstagssitzung vom 10. Dezember bestätigte der Reichskanzler
von Bethmann Hollweg den Austausch der Erklärungen mit der farblos
verallgemeinernden Formel, "daß die beiden Regierungen sich in keinerlei
Kombination einlassen würden, die eine aggressive Spitze gegen den
anderen Teil haben könnte"; er begrüßte es, daß "das alte
vertrauensvolle Verhältnis zwischen uns und Rußland bestätigt
und bekräftigt sei". Der Eindruck war allgemein, daß die
Entfremdung der letzten Jahre geschwunden sei, ja, man fragte sich, ob das alles
nicht nach einer grundsätzlichen Rückkehr in längst verlassene
Bahnen der Politik klinge.46
So war es begreiflich, daß man in London und in Paris diese Entwicklung
mit höchster Anspannung verfolgte. In England war der Eindruck
anfänglich so stark, daß Sir Edward Grey, über die
russische Annäherung an Deutschland tief enttäuscht, von der
Absicht seines Rücktritts sprach.47 Vor allem fühlte er sich durch
das einseitige Vorgehen Rußlands in Sachen der Bagdadbahn verletzt.
Schon klagte ein Publizist von dem Range Garvins, daß in der Frage dieser
Bahn, die das Lebensinteresse Englands mehr als irgendeiner anderen
europäischen Großmacht berührte, der Dreiverband absolut
aufgehört habe zu existieren.
Noch beunruhigender wirkten die Potsdamer Nachrichten in Paris, wo man vor
allem an die Festigkeit des Bündnisses dachte. Zornig vertraute der
französische Botschafter in Berlin seinem englischen Kollegen an,
daß er zwar amtlich jede Störung der russischen
Bündnisbeziehungen bestreite,
aber - "soll ich Ihnen meine Meinung sagen, nun, sie lautet, daß das
russisch-französische Bünd- [680] nis zum T..... ist".48 Er sah Sasonow schon in den
Fängen der Kiderlenschen Verführung, und selbst der
maßvolle Pichon schalt über den russischen Außenminister:
"Dieser Mensch ist unerträglich." So setzte von Paris aus die
Gegenwirkung auf weitverzweigten amtlichen und nichtamtlichen Kanälen
ein.
Nun kam es allerdings darauf an, ob die in Potsdam geknüpften
Fäden wirklich weitergesponnen wurden. Die allgemeinen
Erklärungen verpflichteten die Partner zu nichts Geringem, aber sie boten
jedem auch eine wertvolle Gegengabe. Von berufener russischer Seite ist
später zugestanden worden, daß es der deutschen Diplomatie
schwergefallen sein würde, noch weiter in der Anerkennung der russischen
Forderungen im nahen Osten zu gehen.49 Es versteht sich, daß auf der
anderen Seite Kiderlen-Wächter betonte, daß die auf das
Verhältnis zu England bezügliche russische Zusicherung für
ihn das A und O der ganzen Abmachung sei.50 Nun erklärte Sasonow nach
seiner Rückkehr nach Petersburg sich wohl bereit, den Inhalt der
Erklärungen in einem zu vereinbarenden Notenaustausch festzulegen. Als
man jedoch von Berlin aus einen formulierten Entwurf vorlegte, begann er, von
der russischen und ausländischen Politik unsicher gemacht, mehr und mehr
auszuweichen. Er zeigte ein wirkliches Interesse nur noch für das
Spezialabkommen über
Nordpersien-Bagdadbahn, - aus diesem sollte dann nach sehr langwieriger
Verhandlung der Abschluß eines Staatsvertrages am 19. August 1911
hervorgehen.51 Was aber jene allgemeinen
Erklärungen anging, so trat er plötzlich mit dem Einwand hervor, er
könne die schriftliche Formulierung nicht annehmen, da die beiden
Verpflichtungen nicht gleichwertig seien. Er gestand schließlich offen ein,
daß er den Eindruck in England fürchte; die Sache würde sehr
bald in London bekannt sein und man würde noch mehr dahinter suchen,
als wirklich dahinter stecke; er besorge, den ganzen Erfolg des
russisch-englischen Abkommens von 1907 in Frage zu stellen. Man konnte daraus
die Melodie entnehmen, auf die Grey seine (von der Rücktrittsdrohung
begleiteten) Vorhaltungen in Petersburg gestimmt hatte.
Die deutsch-russische Verhandlung sollte nun nicht vollends scheitern. Sasonow
brachte sie dadurch zu einem Abschluß, daß er eine Entscheidung des
Zaren mitteilte. Sie besagte, daß in den Augen des Zaren die beiden
zwischen den Souveränen ausgetauschten Erklärungen mehr wert
seien, als ein schriftlicher Notenaustausch; der Zar verlasse sich auf das Wort
Kaiser Wilhelms II. und rechne darauf, daß auch ihm Vertrauen
geschenkt werde. Das war eine Bestätigung, wie man sie nur
wünschen konnte, aber nach dem diplomatischen Vorspiel [681] auch wieder eine
Einschränkung. War das Ergebnis von Potsdam, trotz des feierlichen
Zarenwortes, durch den Mann, der es amtlich zu vertreten hatte, nicht doch zu
einem guten Teile durchlöchert worden?52 Noch neuerdings hat russische Kritik
den Fehler Sasonows stark getadelt. Wenn es ein neuerliches Versprechen des
Zaren gab, das dem Vorschlag der deutschen Diplomatie entsprach, so lag
für den Minister keine Veranlassung vor, der wechselseitigen Verpflichtung
der Souveräne nicht auch eine schriftliche Form zu geben. In der Sache
bedeutete seine Weigerung offenbar, daß die russische Regierung es
vorziehe, die Hände frei zu behalten; seine Sorge, durch dieses geheime
Papier in England bloßgestellt zu werden, mußte eigentlich ein
zweifelhaftes Licht auf das bestehende
russisch-englische Verhältnis werfen.53
Die Hand, die man soeben vertrauensvoll drückte, entzog sich doch wieder,
wenn auch mit herzlichem Gegendrucke, nur nicht so unvermittelt, wie in den
beiden kritischen Höhepunkten des Verhältnisses in den Jahren 1904
und 1905. Aber die diesmal geschicktere Regie der Gegenseite gab doch zu
denken. Man fühlt sich noch einmal an die beiden Rußland erinnert,
die schon in den achtziger Jahren in der Außenpolitik des Zarenreiches sich
die Waage hielten. Und wenn man den Geist erwog, in dem Iswolski, der jetzt den
Botschafterposten in Paris antrat, das genaue Gegenteil der Politik von Potsdam
sich zur Aufgabe setzte, so mochte man zweifeln, an welcher Stelle der
Schwerpunkt lag. Man war in Berlin weit entfernt, sich Illusionen über die
russische Politik zu machen, in deren Hintergründe man dauernd einen
geheimen Einblick hatte,54 aber man kam doch nicht um die
Lehre herum, daß eine russische Annäherung nur auf
Zeit - solange das russische Erholungsbedürfnis der aktiven
Rückkehr in die große Politik im Wege
stand - und im Rahmen der englischen Rücksicht gemeint sei, und
darum als eine wahrhaft zuverlässige Unterlage der deutschen Politik nicht
in Betracht kommen könne.
Wenn somit die politischen Nachwirkungen der Potsdamer Zusammenkunft um
die Wende des Jahres 1910/11 doch nicht die von der einen Seite erhoffte, von der
anderen aber befürchtete Tragweite annahmen, so wurde an einer Stelle
eine dem Geist von Potsdam direkt entgegengesetzte Wirkung ausgelöst.
Die französische öffentliche Meinung war über die unbedingte
Schlagfertigkeit des russischen Bündnisses um so mehr beunruhigt worden,
als auch enttäuschende Nachrichten [682] über russische
Truppenverschiebungen an der Westgrenze in Paris einliefen. Das alles war Grund
genug für die leitenden Politiker, einen Sturz des Ministeriums Ende
Februar 1911 zu benutzen, um den Außenminister Pichon, der nunmehr seit
fünf Jahren sein Amt mit Besonnenheit geleitet und auch eine Entspannung
gegenüber Deutschland ermöglicht hatte, nicht wiederkehren zu
lassen. Der französische Tatendrang verlangte instinktiv, wenn das
Bündnis auf der einen Seite noch nicht recht wirksam gemacht werden
könne, das System der Entente auf der andern Seite aufzufrischen durch
den befreienden Luftzug der Tat, d. h. durch eine politische Unternehmung,
die in erster Linie die aktiven Kräfte des französischen
Lebenswillens wieder gegen die Front, an die jeder im stillen dachte, in Bewegung
setzte. So kompliziert der Zusammenhang erscheinen mag, er wird durch mehr als
einen diplomatischen Zuschauer bestätigt:55 Das Erlebnis von Potsdam
führte die Franzosen zu dem Vormarsch nach Fez, zum erneuten Aufrollen
der Marokkofrage und zu einer Kraftprobe der Entente auf einem anderen
Schauplatz. Und wenn der Potsdamer Austausch von Erklärungen
gleichsam ein Riegel zugunsten des Friedens gewesen war, so war der
französische Vormarsch nach Fez allerdings eher dazu angetan, das Tor des
Krieges wieder eine Hand breit zu öffnen.
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