Bd. 10: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Zweiter Teil
Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin
Kapitel 2: Das Nahen des Weltkrieges
(Forts.)
4. Serajevo und der Zwang zum Kriege.
(Forts.)
[800a]
Präsident Poincaré bei Zar Nikolaus II.
in Petersburg, Ende Juli 1914.
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Schon bevor das österreichische Ultimatum in Belgrad überreicht
wurde (23. Juli) und bevor seine Bedingungen bekannt waren, war in Petersburg
so gut wie unwiderruflich die Entscheidung für den Krieg gefallen. Wenn
irgendwie noch ein Zweifel über die Richtung der nunmehr zu fassenden
Entschlüsse geherrscht hatte, so schwand er in den Tagen, als der
Präsident der französischen Republik, Poincaré und der
Ministerpräsident Viviani als Gäste am Zarenhofe weilten.
Das denkwürdige Ergebnis dieses feierlichen Staatsaktes, der das
eigentliche Eingangstor zu dem Weltkriege geworden ist, verteilt sich auf die
politischen Beschlüsse der Staatsmänner und auf die unsagbar
persönliche Bekräftigung, die vor allem der leitende Franzose den
Verpflichtungsformeln zu geben wußte. Man stellte
zunächst - in der üblichen
Weise - die vollkommene Gemeinsamkeit der Ansichten über die
Probleme fest, denen sich die beiden Mächte in bezug auf die Erhaltung des
allgemeinen Friedens und des Gleichgewichts der Kräfte in Europa,
insbesondere im Osten, gegenüber gestellt sähen: ein Bekenntnis zur
absoluten Solidarität. Dazu gesellte man die Forderung an Wien, alle
Schritte und Anforderungen zu vermeiden, "die einer Einmischung in die inneren
Angelegenheiten Serbiens gleichkämen und die Serbien berechtigterweise
als einen Angriff auf seine Souveränität und Unabhängigkeit
betrachten könnte". Das war die Verpflichtung zur solidarischen Deckung
Serbiens, ja, noch mehr, zur aktiven Unterstützung jeden serbischen
Verhaltens gegen einschneidende Forderungen Österreichs.
Und dem entsprach die persönliche Haltung des Präsidenten
Poincaré: sie atmete Kriegsbereitschaft und Kriegswillen. In den farbig
erzählten und doch sehr vorsichtig redigierten Memoiren des Botschafters
Paléologue sind wenigstens einige Bilder des äußeren
Auftretens überliefert,20 mit dem der kalt entschlossene
Lothringer, den unsichtbaren Kriegshelm auf dem Haupte tragend, durch die
Pracht des letzten Friedensfestes des Zarismus schreitet. Er geht durch den Kreis
der Botschafter. Mit dem Deutschen kein Wort über Politik. Zu dem
Engländer eine unzweideutige Mahnung, endlich die Notwendigkeit einer
Umwandlung des Dreiverbandes in einen Dreibund zu begreifen. Zu dem
Vertreter der habsburgischen Monarchie, Grafen Szápáry, die
Frage des Augenblicks: "Haben Sie Nachrichten von Serbien?" Der Magyare
kühl: "Die gerichtliche Untersuchung nimmt ihren Lauf." Poincaré
aber, wie von einem inneren Trieb, zu provozieren, gestachelt: "Die Ergebnisse
dieser Untersuchung können nicht umhin, mich zu beunruhigen, Herr
Botschafter, denn [799] ich erinnere mich
zweier früherer Unternehmungen, die Ihre Beziehungen zu Serbien nicht
gebessert haben. Sie erinnern sich, Herr
Botschafter, - die Angelegenheit Friedjung und die Angelegenheit
Prochaska." Der ätzende Hohn, der diese beiden mißlungenen
Rekriminationen trüben Angedenkens auf eine Linie mit der Ermordung
des Erzherzogs stellt, ist nicht zu
übertreffen - er verrät, in dieser Weltlage und in diesem
Moment, schließlich nur eine gemeine Seele. Würdig wahrt
Szápáry seine Sache: "Wir können nicht dulden, Herr
Präsident, daß eine fremde Regierung auf ihrem Territorium Attentate
gegen unsren Souverän vorbereiten läßt." Aber der Franzose
mahnt streng zur Vorsicht: "Mit ein wenig gutem Willen laßt sich diese
serbische Angelegenheit leicht regeln. Aber leicht wird sie sich auch
gefährlich entwickeln. Serbien hat sehr warme Freunde im russischen Volk.
Und Rußland hat einen Alliierten: Frankreich. Welche Verwicklungen sind
da zu befürchten!" Und dann tritt er in den Kreis der übrigen, mit
Händedrücken und Liebenswürdigkeiten, mit sympathischen
Trostworten für den serbischen Gesandten. Seine Drohung mit dem
Weltkrieg hatte der Gast des Hauses dem Botschafter
Österreich-Ungarns in der herausforderndsten Weise ins Gesicht
geworfen.
Und noch ein anderes Bild aus dieser Welt altfürstlichen Glanzes, die seit
dieser Stunde von der französischen Revanche in die Tiefe des Abgrunds
gezerrt wird. Das Festmahl zu Ehren Poincarés bei dem
Großfürsten Nicolai Nicolajewitsch und der Großfürstin
Anastasia; die Kapellen spielen nur "Marche Lorraine" und "Sambre et
Meuse"; die Tische sind geschmückt mit lothringischen
Disteln - von solchen Festen, in ein kriegerisches Aroma getaucht, pflegte
Ludwig XIV. in den Krieg zu ziehen. Und inmitten ihrer Gäste die
Herrin des Hauses, die Montenegrinerin Anastasia, zu dem französischen
Botschafter Paléologue gewandt, ihm ihre Bonbonnière mit der
lothringischen Erde zeigend, von dem Telegramm ihres Vaters Nikita sprechend
(...vor Ende des Monats Krieg... welcher Held, mein Vater!... er ist der Ilias
würdig!) und dann, sich überstürzend in atemlos
zugeflüsterten Zukunftsbildern: "Der Krieg wird ausbrechen... von
Österreich wird nichts übrig bleiben... unsere Truppen werden sich in
Berlin vereinigen... Deutschland wird vernichtet sein." Bis ein Blick des Zaren auf
die Erregte fällt und sie zur Mäßigung
zwingt. - Zwei Momentbilder aus der Rolle des Kriegsbringers
Poincaré. Als das Kriegsschiff "La France" am 23. Juli den Hafen
von Kronstadt verließ, war sein Werk, soweit es an ihm lag, getan.
An demselben 23. Juli, nachmittags 6 Uhr, überreichte der
österreichisch-ungarische Gesandte dem serbischen Außenminister
die "Begehrnote", die in zehn Punkten die Maßregeln gegen die
großserbische Propaganda, die Ergreifung bestimmter verdächtiger
Persönlichkeiten und die Anordnung einer Untersuchung in Belgrad
forderte, an der österreichische und ungarische Delegierte teilnehmen
sollten. Die Antwort war bis zum 25. Juli 6 Uhr erbeten; wenn [800] sie ausbleibe oder
unzureichend sei, werde der
österreichisch-ungarische Gesandte Belgrad verlassen. Wenn man den
Forderungen der Begehrnote vorwirft, sie seien mit der Würde eines
unabhängigen Staates unvereinbar, so ist dem entgegenzuhalten, daß
Serbien sich gegen die Pflichten dieser Unabhängigkeit schwer vergangen
hatte, vor und nach dem Morde; daß völkerrechtlich schon analoge
Forderungen gestellt worden sind, ist ebenso unbestreitbar wie die Tatsache,
daß ein großer Teil der Londoner Presse sie schwer, aber angemessen
fand.
Als die österreichische Note in Belgrad überreicht wurde, war auch
schon eine deutsche Note vom 21. Juli an die Mächte unterwegs, gleichsam
die internationale Parallele und die eigentliche Verstärkung der Begehrnote;
am 24. Juli wurde sie von dem Botschafter Pourtalès dem russischen
Außenminister verlesen.
Die von Jagow gezeichnete Note des Reichskanzlers war dadurch von Bedeutung,
daß sie die Aussprache der Mächte eröffnete und für sie
den Takt und den Ton angab. Sie ging von der Tatsache aus, daß sich schon
aus den bisherigen Veröffentlichungen ergebe, daß die Fäden
der Mordverschwörung zum mindesten unter Konnivenz von
Angehörigen der Regierung und Armee in Belgrad
zusammenliefen - so wie es der Wahrheit entsprach. Daran knüpfte
sie einen geschichtlichen Rückblick über die Rolle der
großserbischen Propaganda seit fünf Jahren, die Zurückhaltung
Österreichs, das Einschreiten der Großmächte, das
Gelöbnis Serbiens - und trotzdem diese stillschweigende Duldung
der Verschwörung durch die amtlichen serbischen Stellen. Das alles war
richtig, wurde freilich von andern Großmächten politisch ganz anders
bewertet. Aus dieser Vorgeschichte zog die Note den Schluß, daß es
weder der Würde noch der Selbstachtung der
österreichisch-ungarischen Monarchie entspreche, diesem Treiben, das ihre
Sicherheit dauernd bedrohe, tatenlos zuzusehen.
So gründete die deutsche Reichsregierung auf diese Voraussetzungen ihr
Urteil: Vorgehen und Forderungen Österreich-Ungarns sind billig und
maßvoll. Sie ging sogar noch einen Schritt weiter. Da leider zu erwarten sei,
daß Serbien die Forderungen nicht erfüllen, sondern in seiner
herausfordernden Stellung fortfahren werde, so werde für
Österreich-Ungarn nichts andres übrig bleiben, als seine Forderungen
durch einen starken Druck und nötigenfalls unter Ergreifung
militärischer Maßnahmen durchzusetzen, "wobei ihr die Wahl der
Mittel überlassen bleiben muß". Man erklärte sich also nicht
nur bereit, Vorgehen und Forderungen
Österreich-Ungarns zu decken, sondern auch den Eventualfall einer
Exekution mit ihren Folgen: das großmächtliche Gewicht
Deutschlands wurde mit ernstem Nachdruck eingesetzt. Den Mächten
gegenüber vertrat man die Anschauung, daß es sich um eine lediglich
zwischen Österreich-Ungarn und Serbien zum Austrag zu bringende
Angelegenheit handele: Lokalisierung des Konflikts. Diese Formel wurde mit der
zumindest warnenden Begründung empfohlen, "weil jedes Eingreifen einer
anderen Macht infolge [801] der verschiedenen
Bündnisverpflichtungen unabsehbare Konsequenzen nach sich ziehen
würde".
An diese Möglichkeit dachten alle Mächte: eine
Einschüchterung konnte von ihr nicht ausgehen. Wenn man den Deutschen
einen Vorwurf daraus macht, daß ihre Art der Stellungnahme für
Österreich-Ungarn das unbedingte "auf jede Gefahr" in die
Auseinandersetzung eingeführt hatte, so läßt er sich nicht
halten; denn die Warnung war gerade an die beiden Mächte gerichtet, die
sich in eben diesen Tagen schon auf jede Gefahr gegen die Mittelmächte
verbanden und statt auf die Lokalisierung von vornherein auf die Weltausdehnung
des Konfliktes abzielten. Man könnte eher beanstanden, daß der
deutsche Sekundant, der so früh und scharf einsprang, mit der
Unbedingtheit seines Programmes auch in der Form die Wege versperrte, die
selbst in so ernsthaften Aktionen die Aussichten auf einen möglichen
Ausgleich und die Segnungen des Friedens eröffnet hätten. Wenn die
deutsche Note sich eine Wirkung davon versprach, daß sie die Russen an
die Solidarität der monarchischen Interessen erinnerte, so gab sie sich einer
Täuschung hin. Der Zar aller Reußen sollte vielmehr mit dem
Argument der Gefahr für seinen Thron gerade in das entgegengesetzte
Lager getrieben werden. Alles aber hing an der Frage: entsprach die Note vom 21.
Juli noch der Weltlage, in der die Gruppierungen inzwischen Zeit gefunden
hatten, sich auf ihre Macht und ihre Interessen zu besinnen?
Es hatte allerdings einen Augenblick den Anschein, als wenn die serbische
Entschließung über Annahme oder Ablehnung der Begehrnote sich
ohne den Einfluß der Weltlage vollziehen würde. Schon am Abend
des 24. Juli meldete der Vertreter der Frankfurter Zeitung den
Eindruck, daß Serbien kein anderer Ausweg offen stehe, als die
Forderungen Österreich-Ungarns trotz ihrer Schwere anzunehmen. Am
andern Morgen sprachen das Regierungsorgan, das Wolffsche
Telegraphenbüro und Berliner Zeitungen dieselbe Ansicht aus. Schon
erging ein Befehl zur Verhaftung des Majors Tankosić; man sah
Pašić persönlich bemüht, den radikalen Klub und die
öffentliche Meinung für das Nachgeben zu gewinnen; selbst in dem
Punkt, der am schwersten anzunehmen war, der Zulassung österreichischer
Beamter zu der Untersuchung. Das ist eine Tatsache von außerordentlicher
Bedeutung.21 Schon neigte sich um den Mittag des
25. Juli der allgemeine Glaube der Erhaltung des Friedens zu. Da erging um
3 Uhr plötzlich der Befehl zur Mobilmachung der serbischen Armee
und in den folgenden Stunden verbreitete sich die Gewißheit, daß ein
Umschwung eingetreten sei. Alles sprach davon, daß man auf
Rußland und Frankreich rechnen könne und daß somit den
Österreichern eine nicht völlig befriedigende Antwort gegeben
werden würde.
[802] Was war geschehen?
Am 24. Juli hatte der Kronprinz Alexander einen Hilferuf an den Zaren ergehen
lassen, dessen Gesinnung ihm bekannt war.22 Im Laufe des Vormittags des 25. Juli
waren die Antworttelegramme in Belgrad eingetroffen. Das erste enthielt nur die
Mitteilung, daß man sich bereit halten oder mobilisieren sollte. Das zweite
Telegramm (Zarentelegramm) brachte die ersehnte Zusicherung der russischen
Hilfe und gab nähere Anweisung, wie man sich den österreichischen
Forderungen gegenüber zu verhalten habe. Schon in den Morgenstunden
des 25. Juli empfing Pašić den russischen
Geschäftsträger, der die entsprechende Bestätigung gab.
Daraufhin beschloß der unter Vorsitz des Kronprinzen bis zwei Uhr tagende
serbische Ministerrat: das Ultimatum nur unter Bedingungen anzunehmen, sofort
zu mobilisieren, die Skupčina nach Niś einzuberufen und die
Regierung nach Niś zu verlegen. Damit wurde den schon zur Unterwerfung
geneigten serbischen Gemütern durch den Zaren selbst die Richtung auf
den Krieg gegeben.
Schon am 24. Juli hatte die militärische und diplomatische Maschinerie der
Russen sich auf einen Ausgang einzustellen begonnen, der den Weltkrieg in dem
ganzen Umfang dieses Begriffes entschlossen in Rechnung setzte.23 Als der
österreichisch-ungarische Botschafter Graf Szápáry dem Ministerpräsidenten Sasonow am 24. Juli das Ultimatum zur Kenntnis
brachte, hatte dieser seiner schärfsten Ablehnung unverhohlenen Ausdruck
gegeben. Er ging auf allen Wegen zur Aktion vor. Er hätte
gewünscht, den ganzen Druck des Dreiverbandes vom ersten Augenblick
hinter diese Aktion zu stellen. Somit trat er mittags um ½1 Uhr in
der französischen Botschaft mit den Botschaftern der Westmächte,
Paléologue und Buchanan, zusammen, um eine
Solidaritätserklärung zu vereinbaren; zur Empfehlung einer solchen
Solidaritätsformel ließ sich, weil sie den absoluten Ernst zeige, das
Scheinargument geltend machen, daß sie als einziges Mittel den Frieden
noch erhalten könne. Aber der Engländer war weit entfernt, sich in
diesem Stadium schon an eine so folgenreiche Sache binden zu lassen; er glaubte
mit dem Vorschlag der Fristverlängerung noch die mittlere Linie innehalten
zu können.
Die zweite Aktion war die der militärischen Vorbereitung. Eine Sitzung des
Ministerrates um 3 Uhr24 genehmigte die in dem weiteren
Verlauf einzuschlagende Politik Sasonows (Fristverlängerung; Rat an die
Serben, sich bei österreichischem Einmarsch ohne Widerstand
zurückzuziehen). Des weiteren wurde dem Kriegsminister und dem
Marineminister anheimgegeben, nötigenfalls die [803] Genehmigung des
Zaren zu erbitten, nach Maßgabe der Ereignisse die Mobilmachung der vier
Militärbezirke Kiew, Odessa, Moskau und Kasan, der Baltischen und der
Schwarzen-Meer-Flotte anzuordnen - also wenigstens in den Formen eines
Eventualbeschlusses der erste Schritt auf dem Wege zur großen
Rüstung! Die maßlose Erregung Sasonows am Abend des 24. Juli
verriet die Flut von Anklagen, mit denen er beim Empfang des deutschen
Botschafters die Politik Österreich-Ungarns überhäufte.
Nach Serbien aber ergingen nicht nur die - durch die anfängliche
Zurückhaltung Englands
bedingten - vorsichtigen diplomatischen Ratschläge, sich vor dem
Einmarsch der Österreicher friedlich zurückzuziehen und der
Entscheidung der Großmächte zu vertrauen, sondern vor allem auf
unmittelbarem Wege jene beiden Telegramme, die den Umschwung in Belgrad,
wie wir gesehen haben, herbeiführten: die militärische Ermutigung
durch die Person des Zaren fiel schwerer ins Gewicht als alle Einzelheiten
diplomatischer Beratung. Der Ernst der militärischen Aktion in Petersburg
erwies sich auch dadurch, daß sie schon in den nächsten Stunden
einen Schritt weiter vorwärts ging. Ein Ministerrat, der am 25. Juli morgens
10 Uhr tagte, bestätigte nicht nur das Sonderprotokoll des
Ministerrats vom Tage zuvor, sondern bestimmte angesichts der diplomatischen
Lage nunmehr, vom folgenden Tage ab die Vorschrift für die
Kriegsvorbereitungsperiode25 für das gesamte Reichsgebiet in
Kraft treten zu lassen.
[816a]
Präsident Poincaré und Ministerpräsident
Sasonow
beschließen den Krieg, Petersburg, Ende Juli
1914.
|
Während der 24 Stunden vom Vormittag des 24. bis zum Vormittag des 25.
Juli hatte Rußland sich durch die Gesamtheit seiner Schritte schon so
festgelegt, daß ein Einlenken kaum noch möglich war. Mit scharfem
Blicke stellte das noch am 24. Juli ein Vermerk von Sir Eyre A. Crowe
fest: "Der Augenblick ist vorüber, als es vielleicht noch möglich war,
die französische Unterstützung für einen Versuch,
Rußland zurückzuhalten, zu gewinnen. Es ist klar, daß
Frankreich und Rußland entschlossen sind, den hingeworfenen Handschuh
aufzunehmen." So ist es. Es handelt sich um eine gemeinsame Verantwortung, die
Rußland und Frankreich schon für die Einleitung ihrer Aktion tragen:
sie wäre ohne die bedingungslose Solidarität der beiden undenkbar
gewesen. Wer die diplomatische Politik Rußlands, als den Krieg wollend,
verurteilt, belastet den französischen Kriegswillen in derselben
Höhe. Daneben ist die taktische Nüchternheit bezeichnend, mit der
auch der englische Diplomat am Abend des 24. Juli nur ein wirksames
Mittel weiß, um auf seine Weise den Frieden zu retten: die ganze englische
Flotte unverzüglich auf Kriegsfuß zu setzen! Dieser Schritt, so liefen
seine Gedanken, möge denkbarerweise Deutschland die Augen über
den Ernst der Gefahr öffnen, der es ausgesetzt sei, falls England am Kriege
teilnehme. Daß dieser Schritt zugleich eine unbegrenzte Ermutigung
[804] für die
russisch-französische Aktion bedeuten würde, statt einer Vermittlung
von friedensfreundlichem Charakter eine einseitige drohende Parteinahme,
machte ihm nicht das geringste Kopfzerbrechen. Es scheint ihm und seinen
Gesinnungsgenossen eine selbstverständliche Vorstellung, daß bei
dem Beginn der Krisis die aktiven Formen kriegerischer Vorbereitung, soweit sie
vom Dreiverband ausgehen, allein als friedensichernde Maßregeln zu
bewerten sind.
Die österreichische Regierung hatte die ungenügende serbische
Antwort ihrer Ankündigung gemäß mit dem Entschluß
des Abbruchs der diplomatischen Beziehungen erwidert. Da der eine Teil schon
mit der Mobilmachung vorangegangen war, konnte die Frage der
Kriegserklärung nur eine Frage von Tagen sein. Und indem sich die
Umrisse russischer "Kriegsvorbereitung" und die Eventualität der
"Teilmobilmachung" dazu gesellten, erhob sich hinter dem
österreichisch-serbischen Konflikt bereits unabwendbar der
österreichisch-russische Konflikt, der die Gefahr des Weltkrieges bedeutete.
Die deutsche und europäische Politik stand seit dem 25. Juli nachmittags
6 Uhr vor einer neuen und gefährlichen Problemstellung.
So kommen wir denn zunächst noch einmal zu der deutschen
Stellungnahme zum österreichischen Ultimatum und zu der Verwerfung der
serbischen Antwort zurück.
Als der Staatssekretär v. Jagow den amtlichen Text des Ultimatums
kennenlernte,26 erschien er ihm "als reichlich scharf
und über den Zweck hinausgehend"; er hätte wohl gern noch
eingewirkt, erfuhr aber, daß es schon nach Belgrad abgegangen sei; es war
also "nichts mehr zu machen". Er sprach dem Botschafter sein "Befremden" aus,
daß er so spät benachrichtigt worden sei und keine Möglichkeit
mehr habe, Stellung zu nehmen. Auch Bethmann Hollweg fand die Note "zu
scharf". Man fühlt heraus, daß man in der Wilhelmstraße von
dem unsicheren Gefühl beunruhigt war, von einem rücksichtslosen
Partner auf einer Reise zu einem unbekannten Ziele mitgenommen zu werden.
Wenn die deutsche Seite in die Fassung des Ultimatums nicht mehr eingreifen
konnte, so hätte sie sich doch unter allen Umständen sofort eine
Mitwirkung bei der Behandlung der serbischen Antwort ausbedingen sollen. Das
ist aber, so viel man sieht, nicht geschehen. Im Gegenteil, man ist in Berlin, wo
man zu allererst hätte orientiert sein sollen, nicht auf dem schnellsten Wege
unterrichtet worden. Wenn die Politik des Ballhausplatzes ihrem serbischen
Gegner 48 Stunden zur Entschließung ließ, so wäre es
nicht unbillig gewesen, dem Bundesgenossen - dessen überragende
Macht der eigentliche Einsatz des Wiener Vorgehens
war - wenigstens 24 Stunden zu bewilligen, um die serbische
Antwort zu prüfen. Es war nicht zu billigen, daß man in Wien diese
Antwort sogar zurückhielt und auf wiederholtes Drängen nicht
herausgab, so daß man in Berlin den Wortlaut erst am 27. Juli von
serbischer Seite erfuhr. Denn schon hatten [805] die Ereignisse ein so
vehementes Tempo angenommen, daß die deutsche Reichsregierung
überhaupt von Glück sagen konnte, wenn es ihr noch gelang, in die
Speichen des abwärtssausenden Wagens einzugreifen.
Die am 28. Juli 11 Uhr vormittags erfolgende Kriegserklärung
Österreich-Ungarns an Serbien setzte die bereits eingeleiteten kriegerischen
Vorbereitungen Rußlands sofort in stärkere Bewegung. Diese
Entschließungen, mit denen die Möglichkeit eines zu lokalisierenden
österreichisch-serbischen Konfliktes endgültig verschwindet und das
große Ungewitter heraufzieht, sind von der höchsten
Verantwortlichkeit und schon darum der schärfsten Nachprüfung
unterzogen worden.27
Der erste Beschluß einer (gegen Österreich gerichteten)
Teilmobilmachung in den Militärbezirken Kiew, Odessa, Kasan, Moskau
war prinzipiell im Ministerrat schon am 24. Juli gefaßt worden, blieb aber
nach der Formulierung des Ministerrats vom 25. Juli an die Genehmigung des
Zaren gebunden. Am 28. Juli gab die russische Regierung in Berlin die
Erklärung ab, daß am folgenden Tage die Teilmobilmachung
erklärt werden würde. Inzwischen hatte schon der Gedanke der
allgemeinen Mobilmachung, die auch die (gegen Deutschland gerichteten)
Militärbezirke Warschau, Wilna, Petersburg und die asiatischen
Militärbezirke umfaßte, um sich gegriffen; die Art und Weise, wie
die Befehle zur Teilmobilmachung von den Befehlen zur Generalmobilmachung
abgelöst wurden bzw. in diese übergehen, ist nicht völlig
durchsichtig. Jedenfalls wies Sasonow schon am 28. Juli den Generalstabschef
Januschkewitsch auf die Notwendigkeit hin, mit der Gesamtmobilmachung nicht
länger zu zögern. Und schon am folgenden Vormittag gelang es dem
ungebändigten Kriegswillen der
militärisch-politischen Häupter, dem Zaren die Unterschrift zu
entreißen.
Am folgenden Tage, dem 29. Juli zwischen 12 und 2 Uhr mittags, übergab
Januschkewitsch dem General Dobrorolski, Chef der Mobilmachungsabteilung,
den Befehl des Zaren für die allgemeine Mobilmachung (mit 30. Juli als 1.
Mobilmachungstag); er fand sich um 3 Uhr noch berechtigt, dem deutschen
Militärattaché eine Erklärung zu übermitteln,
daß sich nichts verändert habe. Aber unmittelbar hernach, nach
3 Uhr, erfolgte zwischen Sasonow, Suchomlinow und Januschkewitsch das
Einverständnis über die allgemeine Mobilmachung, und auf
telephonischem Wege die Genehmigung dieses Beschlusses durch den Zaren. In
den Abendstunden, nach 7 Uhr, benachrichtigte Sasonow die russischen
Vertretungen in Paris und London, daß er die Rüstungen
beschleunige und mit der Unvermeidlichkeit des Krieges rechne. Als aber
Dobrorolski gegen 9 Uhr nach Erledigung der vorgeschriebenen Formalien
auf dem Haupttelegraphenamt in Petersburg erschien und die Bereitstellung von
einigen Dutzend Apparaten zum Abtelegraphieren anordnete, wurde er im letzten
Augenblick von einem Generalstabshauptmann mit der kaiserlichen Weisung
aufgehalten: nicht allgemeine [806] Mobilmachung,
sondern nur Teilmobilmachung (Kiew, Odessa, Moskau,
Kasan) - in dieser Form liefen gegen Mitternacht die Befehle über
den Draht.
Noch einmal war es, als ob das Schicksal, dem die Welt schon verfallen schien,
den Atem anhielte. Am 29. Juli 6 Uhr 30 war in Potsdam ein
Telegramm Kaiser Wilhelms aufgegeben worden, das seinen Eindruck auf den
Zaren nicht verfehlte. Er wiederholte die österreichische Erklärung,
daß Österreich nicht beabsichtige, irgendwelche territorialen
Eroberungen auf Kosten Serbiens zu machen; natürlich würden
drohende militärische Maßnahmen ein Unheil beschleunigen, das sie
beide zu vermeiden trachteten, und seine Stellung als Vermittler gefährden.
Der Zar stand anscheinend unter dem Gefühl, daß er den Ton dieser
Annäherung nicht mit der Gesamtmobilmachung beantworten könne,
von der er selber wußte, daß sie für Deutschland dasselbe
bedeutete und für beide Länder den Krieg. So dankte er dem Kaiser
sofort um 8 Uhr 20 für das versöhnliche und
freundliche Telegramm, das von der Sprache des deutschen Botschafters zu
Sasonow unterschieden sei, bat, diesen Zwiespalt zu erklären, und regte
leichthin an, das österreichisch-serbische Problem der Haager Konferenz zu
übergeben - diesem Schritt entsprach die bereits erwähnte
Zurücknahme des Befehls zur Gesamtmobilmachung.28
Daß diese Wendung, in den militärischen Kreisen in Petersburg
katastrophal wirkend, darum doch nicht eine in den Frieden zurücklenkende
Maßregel bedeutete, weil sie gleichzeitig die gegen Österreich
gerichtete Teilmobilmachung vollzog und es Kaiser Wilhelm II. damit
unmöglich machte, seine Vermittlung zwischen Österreich und
Rußland fortzusetzen, sei schon vorweg betont. Aber auch von dieser
Zweideutigkeit abgesehen, die dem Schritte des Zaren innewohnte, kam alles
darauf an, ob die augenscheinlich von dem Selbstherrscher ohne Fühlung
mit seinen Beratern unternommene Aktion tatsächlich von Bestand war,
oder ob sie eine Episode blieb, die über die Stunden der Nacht und des
Vormittags nicht hinausreichte.
Denn es blieb nicht aus, daß die Kriegspartei, die während der Nacht
den Dingen ihren Lauf lassen mußte,29 sich am anderen Morgen von neuem
sammelte, um sich des ihr entglittenen Befehls zur Gesamtmobilmachung wieder
zu bemächtigen.30 Politik und Kriegführung
stimmten darin überein, daß die
General- [807] mobilmachung
absolute Notwendigkeit sei: darüber waren Sasonow, Suchomlinow und
Januschkewitsch in einer Besprechung um 11 Uhr einig. Sie trauten sich
anscheinend zu, das aufgetauchte Kriegshindernis wieder aus dem Wege zu
räumen. Etwa um 11 Uhr erging von Januschkewitsch an
Dobrorolski die telephonische Mitteilung: "Es besteht Hoffnung auf
Besserung (!) der Situation. Halten Sie sich bereit, auf meinen Anruf gleich
nach Mittag mit allen meinen Dokumenten bei mir vorzusprechen." Aber der erste
Ansturm, den man telephonisch versuchte, schlug fehl. Der Zar, der sich
gegenüber Berlin in mehrfacher Form festgelegt hatte, lehnte entschieden
ab, er erklärte dem Grafen Fredericks noch einmal, er sei fest entschlossen,
seinen Weg weiter zu verfolgen und keinem Drucke nachzugeben. Erst um Mittag
begab sich Sasonow persönlich nach Peterhof, und schon um 1 Uhr
konnte er an Januschkewitsch telephonieren, der Zar habe es für richtig
befunden, "auf Grund der letzten Nachrichten aus Berlin", die allgemeine
Mobilmachung der gesamten Armee und Flotte zu verfügen.
Daß von Berlin aus weder deutsche noch russische Meldungen inzwischen
eingetroffen waren, die für den Zaren die Lage der Nacht irgendwie
verschoben hätten, ist durch die Forschung einwandfrei erwiesen
worden.31 Der schwache Wille des Zaren ist
durch andere Mittel gebrochen worden.
Die Gründe, die Sasonow für die Gesamtmobilmachung gegen die
Teilmobilmachung anführte, bestanden zum Teil in diplomatischen
Finessen: die Teilmobilmachung sei eine Verletzung der Bündnispflicht
gegen Frankreich, weil der Kaiser sie benutzen würde, den Franzosen das
Versprechen der Neutralität abzutrotzen.32 Es ist aber aus guter Quelle
beglaubigt, daß Sasonow im äußersten
Moment - um den Krieg
durchzudrücken - noch viel stärkere Mittel angewandt hat.
Schon in der Nacht vom 29. zum 30. Juli hatte er dem Grafen Pourtalès
gegenüber das bedenkliche Argument gebraucht, "keine Regierung
würde ohne ernste Gefahren für die Monarchie eine solche Politik
hier führen können", und dieses Schlagwort "Gefahr für die
Monarchie" scheute er sich nicht, dem Zaren ins Gesicht zu verwenden. Nach dem
Zeugnis des dem Auftritt beiwohnenden Hausministers Grafen Fredericks hat
Sasonow den entscheidenden Stoß mit der Erklärung geführt:
"daß ein Krieg mit Deutschland außerdem das einzige Mittel
für ihn sei, sein Leben und den Thron für seinen Sohn zu [808] erhalten".33 Diese Sprache, die am Zarenhofe
nicht so unmöglich war, wie man sich das im vorrevolutionären
Rußland gewöhnlich vorstellt, konnte sich allerdings auf eine gewisse
Resonanz berufen. Eben in diesen Stunden, um 2 Uhr mittags, erschien der
Dumapräsident Rodzianko mit dem Kriegsminister bei Sasonow, um als
Haupt der Volksvertretung die entscheidende Erklärung abzugeben,
daß das russische Volk der Regierung eine Verzögerung der
Mobilmachung, die verhängnisvoll für das Reich werden
würde, niemals verzeihen würde. Es war nichts anderes, als was zwei
Großfürsten schon dem Zaren drohend angekündigt hatten:
daß ein feiger Friede die Revolution entfesseln würde. Es waren die
Kräfte des russischen Nationalismus, die in dieser Stunde ihr struppiges
Karyatidenhaupt vor dem Zarismus erhoben und sein Schicksal bestimmten.
Immer wieder hatte die russische Autokratie sich ihrer bedient, um immer tiefer in
die Abhängigkeit von ihnen zu geraten. Und so scheitert denn die letzte
schwächliche Episode eines Aufflackerns des zaristischen
Selbstherrscherwillens zwischen dem Abend des 29. Juli und dem Mittag des 30.
Juli - an diesen Kräften der Tiefe. So wie Zar Nikolaus im Herbst
1904 und im Sommer 1905 die Hand des deutschen Kaisers zu friedlicher
Gemeinschaft hatte ergreifen wollen und jedesmal wieder abgedrängt
worden war, so verfiel seine schattenhafte Figur jetzt für immer einer
Unterwerfung, die er nicht wieder abschütteln konnte.
Ob die formelle Unterschrift schon um 1 bis 2 Uhr oder erst zwischen 3
und 4 Uhr vollzogen wurde - genug, von etwa 6 Uhr an
ergingen die Telegramme aus Petersburg, die den Befehl für die
Gesamtmobilmachung in Europa und Asien enthielten.34 Es waren die Maßnahmen, die
mit unausbleiblicher Konsequenz auch die deutsche und dann die
französische Mobilmachung nach sich zogen und die Welt für mehr
als vier Jahre in den ungeheuersten aller Kriege hineinrissen.35 Alle Beteiligten, der Russe voran,
wußten, daß Mobilmachung praktisch gleichbedeutend mit
Kriegserklärung sei. So begann sich von diesem Augenblick an, wo die
russische Gesamtmobilmachung im Vertrauen auf den Dreiverband vollzogen
wurde, der Zwang zum Kriege auf alle Entschließungen der deutschen
Politik zu senken.
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