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Bd. 10: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Zweiter Teil


Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin

Kapitel 2: Das Nahen des Weltkrieges   (Forts.)

4. Serajevo und der Zwang zum Kriege.   (Forts.)

Kaiser Wilhelm II. war von der Nordlandreise zurückgekehrt, als nach der serbischen Beantwortung des Ultimatums die diplomatischen Beziehungen zwischen Österreich und Serbien abgebrochen waren. An demselben Tage hatte die Vermittlung eingesetzt, von London waren Anträge auf Fristverlängerung, die [809] bereits überholt war, und auf Vermittlung des österreichisch-russischen Konflikts durch die vier unbeteiligten Mächte eingetroffen; dieser Antrag war von Berlin nach Wien weitergegeben worden. Am 27. Juli, als der Reichskanzler zur Berichterstattung vor dem Kaiser erschien, häuften sich ernsthafte Vorschläge der Vermittlung. Auf der einen Seite erweiterte England seine Anregung einer Vermittlung der Vier auf den Vorschlag einer Konferenz zu Vieren in London, aber unter Einbeziehung auch des österreichisch-serbischen Konfliktes; auf der anderen Seite wurde von Petersburg die Einleitung direkter Besprechungen zwischen dem österreichischen und dem russischen Kabinett angekündigt. Die deutsche Regierung zog diesen zweiten Weg, auf dem sie die Möglichkeit unmittelbarer Einwirkung hatte, dem ersten Wege vor.36

Bethmann Hollweg hatte bisher an der etwas starren Taktik festgehalten, die er seit Beginn der Krisis verfolgte, und nicht minder an den Illusionen, die dieser Taktik zugrunde lagen. Der Ausgangspunkt war die Lokalisierung des Krieges; entsprechend strenge und formelle Zurückhaltung der deutschen Politik (namentlich aus den Einzelheiten des österreichischen Vorgehens); auch die Abwesenheit des Kaisers sollte dieses Nichtbeteiligtsein akzentuieren. Sein Endziel war friedlich. Noch in den letzten Tagen urteilte der englische Botschafter, er sei davon überzeugt, "daß sowohl der Kanzler als auch Jagow einen allgemeinen Krieg vermeiden möchten - das ist nicht nur meine Ansicht, sondern auch die der meisten Diplomaten".37 Wenn aber der Russe (dessen Angriffswillen man unterschätzte) die Lokalisierung des Krieges durchbrach, dann wollte man ihn auf sich zukommen lassen und fest zu Österreich-Ungarn stehen: nur gezwungen sich in den großen Krieg verwickeln lassen.38 Dabei hoffte man in Berlin - und [810] hier saß das Zentrum der Illusion -, diesen großen Krieg doch auf den Kontinent beschränken zu können. Man lebte in dem Irrglauben, nach den nicht ungünstigen Erfahrungen der beiden letzten Jahre, selbst nach gewissen Eindrücken der letzten Tage, daß England sich aus dem Kontinentalkriege heraushalten werde. So verkannte man den politischen Nerv, von dem in Wahrheit die Staatskunst Englands gelenkt wurde, und glaubte es durch Entgegenkommen im Kleinen von seiner großen Linie ablenken zu können; bezeichnend ist, wie der Kanzler noch am 25./26. Juli - unter durchaus berechtigter Kritik seitens des Kaisers - sich für die Nichtheimsendung der Flotte und die Nichtrückkehr Wilhelms II. einsetzte, um England nicht zu verstimmen. Jedenfalls meinte Jagow noch am Abend des 27. Juli von dem gut funktionierenden Draht zwischen Deutschland und England sprechen zu dürfen.39

Der Vortrag des Kanzlers vor dem Kaiser in den ersten Nachmittagstunden des 27. Juli scheint noch allzu optimistisch abgetönt gewesen zu sein. Aber eben jetzt begann sich das Bild zu verändern. Am Abend des 27. Juli traf eine Depesche40 Lichnowskys ein, die bei Grey, unter dem Eindruck der serbischen Antwort, eine starke Verstimmung, wenn nicht gar eine Wendung ankündigte; zunächst aber die Bitte, die deutsche Regierung möge in Wien darauf hinwirken, daß man die Antwort "entweder als genügend betrachte oder aber als Grundlage für Besprechungen". Von jetzt an überfiel den Kanzler die doppelte Sorge, die englische Haltung könne sich doch anders enthüllen, als er bisher angenommen hatte, und eine Ablehnung der Londoner Anregung würde, wenn es zum Weltkriege kommen sollte, die Mittelmächte statt Rußland mit dem Odium belasten. Also lenkte er ein. Der starre Grundsatz, sich in den österreichisch-serbischen Konflikt nicht einzumischen, wurde damit von deutscher Seite aufgegeben. Es ist begreiflich, daß man mit dieser Einwirkung in Wien fast ängstlich den Schein des Druckes zu vermeiden suchte und sich zunächst auf das bloße Weitergeben der Anregung beschränkte.41

Immerhin, die Wendung war unverkennbar: der Kanzler eröffnete die Reihe seiner mahnenden Einwirkungen auf das österreichische Kabinett. In gemessenem Tone erklärte er: "Nachdem wir bereits einen englischen Konferenzvorschlag abgelehnt haben, ist es uns unmöglich, auch diese englische Anregung a limine abzuweisen. Durch eine Ablehnung jeder Vermittlungsaktion würden wir von der ganzen Welt für die Konflagration verantwortlich gemacht und als die eigentlichen [811] Treiber zum Kriege hingestellt werden. Das würde auch unsere eigene Stellung im Lande unmöglich machen, wo wir als die zum Kriege Gezwungenen dastehen müssen." Dem entsprach die Auffassung, die Kaiser Wilhelm II. persönlich von der serbischen Antwort hatte. Er hatte sofort, wie seine Randbemerkung zeigt, den Eindruck: "Das ist mehr als man erwarten konnte! Ein großer moralischer Erfolg für Wien, aber damit fällt jeder Kriegsgrund fort." Somit schlug er dem Staatssekretär vor, den Österreichern zu dem demütigenden Rückzug Serbiens zu gratulieren und ihnen zu sagen, daß ein Kriegsgrund jetzt nicht mehr vorhanden sei; es werde sich nur noch darum handeln, Garantien für die Ausführung der Versprechungen zu erhalten; etwa auf der Basis einer vorübergehenden Besetzung eines Teiles von Serbien gedachte er zu vermitteln.

Die deutschen Schritte wurden durch die Nachricht durchkreuzt, daß Österreich-Ungarn Serbien den Krieg erklärt und den englischen Vorschlag als verspätet abgelehnt habe. Die Reichsregierung verständigte sofort die Kabinette, daß die Kriegserklärung an der von ihr unternommenen Vermittlung nichts ändere. Sie schlug zu diesem Zwecke der österreich-ungarischen Regierung vor, sie möge wiederholt in Petersburg erklären, daß ihr territoriale Erwerbungen in Serbien fernlägen und daß ihre militärischen Maßnahmen nur eine vorübergehende Besetzung von Belgrad ("Halt in Belgrad") zu Garantiezwecken beabsichtigten. Auch sagte man dem Österreicher, um ihn zum Einlenken zu veranlassen, es handle sich um ein Vorgehen, welches das Ziel der Wiener Politik, der großserbischen Propaganda den Lebensnerv zu zerstören, ermögliche, ohne gleichzeitig einen Weltkrieg zu entfesseln, und wenn dieser schließlich nicht zu vermeiden sei, die Bedingungen, unter denen er zu führen sei, für uns tunlichst verbessern würde. Der Reichskanzler war jedoch weit entfernt, seinerseits sich auf diesen Eventualfall einzurichten, er versicherte vielmehr unmittelbar hernach dem englischen Botschafter seine feste Absicht, mit England im Interesse des Friedens zusammenzuarbeiten: "ein Krieg zwischen uns Großmächten muß vermieden werden".

Der folgende Tag, der 29. Juli, stand bereits unter dem Eindruck der sich häufenden militärischen Maßnahmen in Rußland (und auch in Frankreich), so daß die Reichsregierung sich genötigt sah, in den Nachmittagstunden bereits in Petersburg sehr ernst darauf hinzuweisen, daß ein weiteres Fortschreiten dieser russischen Maßnahmen auch Deutschland zur Mobilmachung nötigen und daß dann ein europäischer Krieg kaum noch aufzuhalten sein werde. Aus dieser Sorge entstand das Telegramm Kaiser Wilhelms II. an den Zaren vom Nachmittag des 29. Juli; in versöhnlichem Tone legte er dem alten Freunde ans Herz, daß er die deutsche Verständigung zwischen Petersburg und Wien fortsetze, daß aber militärische Maßnahmen seine eigene Stellung als Vermittler gefährden würden. Wir haben gesehen, daß dieses Telegramm zwar die bereits befohlene Gesamtmobilmachung noch unterbrach, wenn auch nur für etwa 18 Stunden, [812] nicht aber die Teilmobilmachung gegen Österreich, deren Befehle in den nächsten Stunden über den Draht liefen.

Nur wenige Stunden, solange man von diesen Vorgängen nichts ahnte, konnte man sich in Berlin dem Glauben hingeben, daß der Wille des Zaren einen anderen Weg einschlage. Der Kanzler vervielfältigte seine Bemühungen, die Russen zur Einstellung ihrer militärischen Maßnahmen zu veranlassen, noch während diese in Wirklichkeit schon in der Ausführung begriffen waren; gleichzeitig aber suchte er die Österreicher über den Fortgang seiner Bemühungen zu beruhigen und verhandlungsgeneigt zu machen. Denn obgleich zwischen Berlin und London in diesem Augenblick über den Weg der Vermittlung (Vermittlung der Vier, Halt in Belgrad) keine wesentliche Differenz bestand, hielt Grey es schon für angezeigt, die Warnung auszusprechen, daß England zwar in einem russisch-österreichischen Konflikt abseits stehen könne, nicht aber, wenn Deutschland und Frankreich hineingezogen würden. In der Nacht vom 29. zum 30. Juli - also in einer Zeit, wo man noch hoffen durfte, den Zaren zurückzuhalten - gingen in den ersten drei Morgenstunden von Berlin nach Wien fünf ernsteste Mahnungen ab. Sie gipfeln in der scharfen Mahnung: "Wir können Österreich-Ungarn nicht zumuten, mit Serbien zu verhandeln, mit dem es im Kriegszustande begriffen ist. Die Verweigerung jedes Meinungsaustausches mit St. Petersburg aber würde ein schwerer Fehler sein. Wir sind zwar bereit, unsere Bündnispflicht zu erfüllen, müssen es aber ablehnen, uns von Wien leichtfertig und ohne Beachtung unserer Ratschläge in einen Weltbrand hineinziehen zu lassen." Auf das dringendste empfahl der Kanzler die englische Anregung, die Wiederaufnahme der russischen Vermittlung unter vorläufiger Einstellung der Feindseligkeiten anzunehmen, und malte, jetzt zum ersten Male, die Weltlage so wie sie war: daß "England gegen uns, Italien und Rumänien nach allen Anzeichen nicht mit uns gehen würden und wir 2 gegen 4 Großmächte stehen würden". Man glaubt den verzweifelten Unterton zu spüren, wenn die Note schließt: "Unter diesen Umständen müssen wir der Erwägung des Wiener Kabinetts dringend und nachdrücklich anheimstellen, die Vermittlung zu den angegebenen ehrenvollen Bedingungen anzunehmen. Die Verantwortung für die sonst eintretenden Folgen wäre für Österreich und uns eine ungemein schwere."

Die deutsche Diplomatie hat immer mit Recht betont, daß sie in Formen gemahnt hätte, welche bis an das äußerste dessen gingen, was mit den Bundesverhältnissen verträglich sei, und man kann nur bedauern, daß diese Sprache nicht schon in einem früheren Stadium geführt worden ist, sondern erst in einem Augenblick, wo der rapide Ablauf der Dinge ihnen bereits eine eigentliche Wirkung versagen mußte. Aber auch wenn man dem Wiener Kabinett den berechtigten Vorwurf machen darf, daß es im Laufe des 30. Juli die deutschen Mahnungen ablehnend und verzögernd behandelt habe, so muß man ihm zugute halten, daß auch ein anderes Verhalten den Gang der Dinge vermutlich nicht mehr [813] verändert haben würde. Denn seit den Mittagsstunden des 30. Juli war ja die russische Gesamtmobilmachung von neuem beschlossen worden; in den Nachmittagstunden setzten ihre Befehle einen Erdteil unter die Waffen.

Die diplomatische Auseinandersetzung hatte überhaupt schon einen Punkt erreicht, an dem rein technisch die Dinge sich so rapide steigerten, daß ein Schritt der einen Seite, wenn er der anderen Seite zur Entschließung vorlag, bereits durch Schritte Dritter oder durch militärische Handlungen überholt oder durchkreuzt war; die Beteiligten waren gezwungen, ihren immer ohnmächtiger werdenden Apparat zu bedienen, ohne daß sich der einzelne mit durchgreifendem Entschlusse in eine höhere Ebene hätte erheben können, wie denn auch der persönliche Telegrammwechsel der Monarchen in den immer höher ansteigenden Orkan des diplomatischen Geschäftsverkehrs hineingezogen wurde. Alle Worte wichen immer mehr zurück hinter der Unbedingtheit der militärischen Maßregeln, hinter den vollendeten Tatsachen, die sich weder aufhalten noch rückgängig machen ließen, sondern ihr eigenes Gesetz in sich trugen und schließlich den Primat des Handelns an sich rissen.

Die amtliche Nachricht der russischen Gesamtmobilisierung sollte erst gegen Mittag des 31. Juli nach Berlin gelangen. Als der Kaiser den nächtlichen Bericht des Grafen Pourtalès aus der zweiten Morgenstunde des 30. Juli in die Hände bekam, konnte er von der Gesamtmobilmachung noch nichts wissen. Aber schon die Nachricht von der Teilmobilmachung ließ ihn jetzt die ganze Unaufhaltsamkeit eines wie ein Weltenbrand daherstürmenden Schicksals erkennen - wenn der Zar auch nur durch die Teilmobilmachung ihm die Vermittlung mit Österreich unmöglich machte, dann zerrann ihm alle Möglichkeit, die Dinge zum Stehen zu bringen, unter den Händen. In den Abendstunden des 30. Juli - in denen der Zar sich bereits hatte weitertreiben lassen - stand für den Kaiser das Ergebnis in großen Zügen bereits fest: die Verabredung der Mächte des Dreiverbandes, den österreichisch-serbischen Konflikt zum Vorwand zu nehmen, um einen Vernichtungskrieg gegen Deutschland zu führen. In tiefster Erregung sah er den Kampf gegen die Entente, sein ganzes Schicksal und sein ganzes Leben, in einem einzigen großen Zusammenhange:42

      "Also die berühmte »Einkreisung« Deutschlands ist nun doch endlich zur vollsten Tatsache geworden, trotz aller Versuche unserer Politiker und Diplomaten, sie zu verhindern. Das Netz ist uns plötzlich über dem Kopf zugezogen, und hohnlächelnd hat England den glänzendsten Erfolg seiner beharrlich durchgeführten pure antideutschen Weltpolitik, gegen die wir uns machtlos erwiesen haben, indem es uns isoliert im Netze zappelnd aus unserer Bundestreue zu Österreich den Strick zu unserer politischen und ökonomischen Vernichtung dreht. Eine großartige Leistung, die Bewunderung erweckt, selbst bei dem, der durch sie zugrunde geht! Eduard VII. ist nach seinem [814] Tode noch stärker als ich, der ich lebe."

Man fühlt den inneren Zusammenbruch eines Herrschers, der im Grunde seiner Seele zu jeder Zeit ein Friedensfürst hatte sein wollen - trotz aller kriegerischen Worte und Gesten - und der sich weltgeschichtlich als Besiegter empfindet, als er sein Volk in das Ungeheure dieses Krieges führen muß. Weiter als er kann man nicht von den Phantasien der Welteroberung entfernt sein, die ein Teil der Welt ihm zuschreibt.

Wenn die diplomatische Kunst der Kabinette in der letzten Woche überwiegend dem Zweck der Manöver dient, um die für sie richtige Position beim Eintritt in den Weltkrieg einzunehmen, so gilt dies namentlich für England, das allein seine Hände von formaler Bindung frei zu haben meinte. Insofern liegt auch für die deutsche Politik nach dieser Seite hin die letzte Auseinandersetzung mit einer, wenn auch nicht wirklich, so doch scheinbar großen Unbekannten, die letzte Möglichkeit, den Charakter und Umfang des großen Krieges einzuschränken, wenn nicht gar, von hier aus den ganzen Zusammenstoß zum Stillstand zu bringen. Unter diesem Gesichtspunkt hat die historische Kritik später jede einzelne Äußerung Greys, jedes Wort und jede Andeutung mit Andacht daraufhin durchleuchtet, ob in ihnen haltbare Fäden zur Rettung des Weltfriedens zu entdecken seien, die von einem willigen und gewandten Gegenspieler hätten aufgegriffen werden können. Gerade die deutsche Politik ist der Nachprüfung an diesem Maßstabe unterworfen worden.

In Wirklichkeit kam das alles für diejenigen weltgeschichtlichen Entscheidungen, die zu vollziehen Sir Edward Grey sich jetzt anschickte, gar nicht in Frage. Von dem Augenblick an, wo der Ausbruch eines großen Krieges auch nur wahrscheinlich wurde, sah er seine Aufgabe nicht darin, diese Wahrscheinlichkeit - was er gekonnt hätte! - abzuwenden oder auch nur zu verringern, sondern er war gewillt, den Dingen ihren Lauf zu lassen und England seine aktive Stellung dazu anzuweisen. Als vollends die kontinentalen Mobilmachungen automatisch aufeinanderfolgten, kam für ihn nur noch in Frage, in dem jetzt unabwendbaren Zusammenstoß England an der Seite seiner Genossen in den Krieg zu führen; - seine Aufgabe war fortan nicht mehr, ob, sondern wie er im Kabinett und in der öffentlichen Meinung die Widerstände überwand, um die Politik der freien Hand von der ersten Stunde an aktiv an dem Weltkriege zu beteiligen.

Darüber war Grey sich sofort unerbittlich klar. Sobald die Wendung erkennbar einsetzte und von Petersburg der Ruf zur Solidarität der Entente kam, berief er eine Sitzung des Kabinetts ein. In dieser Sitzung (um den 26. Juli)43 [815] entwickelte Grey das Bild der Weltlage: es werde ein Krieg zwischen Rußland - Frankreich und Deutschland - Österreich ausbrechen, und England werde in diesen Krieg verwickelt werden. Es sei daher für England der Augenblick gekommen, sich entweder aktiv auf die Seite der Ententemächte zu stellen oder aber in absoluter Neutralität beiseitezustehen. Von vornherein ließ Grey keinen Zweifel darüber bestehen, daß er selbst eine solche Politik der Neutralität nicht führen werde, sondern er erklärte, für einen solchen Fall die Kabinettsfrage stellen zu müssen. Er hatte Partei genommen, wie es niemanden nach der Entwicklung dieser acht Jahre überraschen konnte. Unerschütterlich stand für ihn fest, wie er in diesen ersten Tagen einmal im Kabinett formulierte: Deutschlands Politik sei die eines großen europäischen Angreifers, "der so schlecht sei, wie Napoleon".44 Er bekannte sich jetzt amtlich, wie das Foreign Office seit langem, zu dem in dem napoleonischen Bilde sich spiegelnden Weltgegensatz und wollte im Zeichen dieser Tradition die Engländer in den Krieg führen.45

Unter diesem Gesichtspunkt, als irgendwie doch jener letzten, vorgefaßten Entscheidung untergeordnet, sind alle seine Äußerungen und Schritte in den folgenden Tagen zu beurteilen. Man geht auch wohl nicht zu weit, wenn man behauptet, daß von dieser inneren Einstellung aus auch das Tun und Lassen Greys in den Tagen vorher entscheidend bestimmt gewesen ist, vor allem das Unterlassen jeder im Sinne des Friedens ernsthaften Einwirkung auf Sasonow. Wir sahen, daß alle Äußerungen nach der deutschen Seite hin vorsichtig auf diesen Ton abgestimmt waren. Von hier wird dann weiter der wahre Vermittlungswert seines Vorschlages zu bemessen sein, die Behandlung des österreichisch-russischen Konflikts in die Hände der vier Mächte England, Frankreich, Italien und Deutschland zu legen (25. Juli), als die einzige Möglichkeit, den Krieg zu vermeiden. Wenn man diesen Vorschlag in Berlin ablehnte zugunsten einer direkten Vermittlung zwischen Rußland/Österreich, so wies man nicht etwa den Geist einer wahren Friedensvermittlung ab, sondern ein englisches Positionsmanöver, bei dem der Zeitgewinn für die russische Seite eine sichere Sache war. Und wenn Grey durch Nicolson und Tyrrell dem deutschen Botschafter am Abend des 26. Juli seinen Konferenzplan empfahl, den österreichischen Einmarsch als für Rußland untragbar bezeichnen ließ und damit die beglückende Perspektive verband: "gelänge es dem Kaiser im Verein mit Grey den europäischen Frieden zu retten, so seien die deutsch-englischen Beziehungen für alle Zeiten auf eine sichere Grundlage gestellt", so erinnert die Lockung wohl an den Ölzweig vom Oktober 1912, aber sie gibt noch kein Recht, in Grey das Bild einer Friedenstaube [816] zu sehen. Wenn er diese Vision in seinem eigenen Kabinette geäußert hätte, so würde die Mehrheit ihn mit ihren Segenswünschen auf diesem Wege begleitet haben; er hütete sich wohl, vor Lord Morley und seinen Freunden einen Zipfel solcher Hoffnungen zu lüften.

Jedenfalls verflüchtigte sich der blasse Schein dieses Lichtleins sofort, wenn der Ausbruch des Kontinentalkrieges unvermeidlich wurde. Das war es, was der deutsche Reichskanzler verkannte, der die friedliche Stimmung Greys zur Nichtteilnahme Englands an diesem Kriege führen zu können meinte. Bethmann Hollweg hielt sich an die Formel, daß es England eigentlich nur daran liege, daß Frankreich nicht zertrümmert werde. Darauf baute er seinen merkwürdigen Neutralitätsvorschlag auf - mit dem er vielleicht glaubte, den Ölzweig Greys aufnehmen zu können. Der Vorschlag, bald nach Mitternacht des 29./30. Juli durch den Botschafter Goschen expediert,46 bestand in folgendem Angebot: 1. Keine Zertrümmerung Frankreichs - also Verzicht auf jeden deutschen Gebietserwerb. 2. Neutralität und Integrität Hollands. 3. Integrität Belgiens nach dem Kriege garantiert, und 4. auf dieser Grundlage weitere Verständigung. Crowe meinte, der Vorschlag werfe ein sehr schlechtes Licht auf den Staatsmann, der ihn mache. Der gute Wille, in dem entscheidenden Punkte entgegenzukommen, war unbestreitbar, aber der innerste Charakter der englisch-französischen Entente und ihre Stellung im weltpolitischen System Englands konnten kaum gröber verkannt werden.

Wir greifen noch einmal alle Fäden der deutschen Bemühungen in letzter Stunde auf, die wir einzeln schon in Händen hielten: alles, was in der Nacht vom 29. zum 30. Juli die Seele Kaiser Wilhelms II. und seines Kanzlers bewegte. Am Spätnachmittag war der persönliche Appell des Kaisers an den Zaren voraufgegangen, im Moment von Erfolg, während der Nacht sich scheinbar verdichtend; dann während derselben Nacht die ganze Kette der mit wachsendem Druck einsetzenden Einwirkungen auf Wien, und schließlich noch dieses Neutralitätserbieten an England. Mochten die einzelnen Schritte zu spät kommen, überholt sein, sich in den Mitteln vergreifen - das Ganze ist ein schlüssiger Gegenbeweis gegen die Annahme eines vorbedachten deutschen Kriegswillens, es ist das ergreifende Bild eines ohnmächtigen Ringens, das Schicksal zum Stehen zu bringen. Gegenüber dieser eindeutigen Haltung Bethmann Hollwegs sind die taktischen Wendungen und letzten Gedanken Greys allerdings nicht so überzeugend auf eine klare Formel zu bringen.

Seine politische Stellung war verwickelt genug. Er stand vor der doppelten Aufgabe, die diplomatischen Möglichkeiten der Friedenserhaltung auszuschöpfen, wie die öffentliche Meinung seines Landes und der Welt es von ihm erwartete, und zugleich, den von ihm für unvermeidlich gehaltenen Eintritt in den Krieg unter möglichst günstigen Umständen für sich und seine Freunde herbeizuführen. [817] Wenn das sein Endziel war, so ist nicht abzuweisen, daß er im Zweifelsfalle die Diplomatie des Vordergrundes von den politischen Instinkten der Tiefe bestimmen ließ; und daß er zugleich bestrebt sein mußte, der Opposition im Kabinett und in seiner eigenen Partei die Friedensargumente aus der Hand zu nehmen. Er sah sich im Kabinett einer Opposition von 8 bis 9, schließlich von 10 bis 11 Mitgliedern gegenüber, und noch am 1. August sprach Lloyd George davon, daß 95% des englischen Volkes gegen den Eintritt in den Krieg seien. Die Opposition suchte allen Schritten in den Weg zu treten, die den Bruch unheilbar machten; sie kam den Bemühungen Bethmann Hollwegs und Lichnowskys entgegen, jede Möglichkeit einer Aufrechterhaltung des Friedens zwischen Deutschland und England aufzugreifen. Grey hatte im Innersten seine Front gegen beide zu nehmen: während seine diplomatische Maschinerie die Verhandlung mit Deutschland fortsetzte, suchte er sich vor allem klar zu werden, auf welche Weise, aus welchem Anlaß und mit welchen Motiven er den Eintritt in den Krieg vollziehen könne.

Diese Entscheidung rückte für England in dem Augenblick näher, wo Deutschland durch die russische Gesamtmobilmachung gleichfalls zur Mobilmachung genötigt wurde (Zustand drohender Kriegsgefahr 31. Juli; Mobilmachung 1. August 5 Uhr NM.), und gleichzeitig die entsprechenden französischen Maßnahmen ergingen (Befehl zur Aufstellung des Grenzschutzes vom 30. Juli; Mobilmachung 1. August 4 Uhr 30 NM.). In dieser Stunde, da der Franzose den Tempel des Janus öffnete, klopfte er zugleich mit allen seinen Wechseln in der Hand an die Tür des englischen Schuldners.47 Denn in den Übereinkünften der beiden Generalstäbe war seit 1911/12 die gleichzeitige Anordnung der Mobilmachung vorgesehen - auf dieser Voraussetzung ruhten die gemeinsamen kriegerischen Operationen.

Grey aber, der eine solche Zwangslage wohl niemals durchdacht hatte, war im bedenklichsten Rückstande. Noch war er weit entfernt, die Opposition im Kabinett für ein annehmbares Kriegsmotiv zu gewinnen, so daß es eher schien, als werde es zur Sprengung der Partei kommen, und ein zündendes Schlagwort, mit dem die öffentliche Meinung Englands in den Krieg hineingerissen werden konnte, war nirgends zu erblicken. Man hatte zwar in Berlin am 31. Juli angefragt, ob Deutschland die Neutralität Belgiens respektieren werde, aber die ausweichende Antwort ließ sich als Kriegsgrund nicht verwenden.

So erteilte Grey dem französischen Botschafter notgedrungen eine negative Auskunft: Frankreich müsse jetzt seine eigenen Entschlüsse fassen, ohne auf die Hilfe zu rechnen, die England zu versprechen jetzt nicht in der Lage [818] sei.48 Cambon verwies auf die unverteidigten französischen Küsten und berief sich auf den Briefwechsel vom 22. November 1912 ("mon petit papier"), Grey vertröstete ihn auf eine deutsche Verletzung der belgischen Neutralität. Der Franzose erklärte, seiner Regierung die englische Antwort nicht übermitteln zu können; er geriet darüber in eine grenzenlose Aufregung. Nicolson, der aus vollem Herzen auf seiner Seite stand, hat geschildert, wie er am Nachmittag des 1. August totenblaß in sein Zimmer wankte - "ils vont nous lâcher" - und, so beherrscht er sonst war, seiner Erbitterung Luft machte. Zu einem Journalisten: er möchte wissen, ob das Wort "Ehre" aus dem englischen Wörterbuch gestrichen werden müsse. So auch zu einem konservativen Abgeordneten, Mr. G. Lloyd: Ehre - weiß denn England überhaupt, was Ehre ist! Schon wagte er daran die Drohung zu knüpfen: wenn Rußland und Frankreich als Sieger aus dem Kampf hervorgehen würden, so würden sie England nie verzeihen; und würden sie geschlagen, so würden sich die Dinge noch weit schlimmer gestalten.

Und nun organisiert sich von der Flanke her ein Widerstand gegen einen Außenminister, der anscheinend keinen Entschluß fassen kann, und gegen ein Kabinett, das diesen Entschluß verhindern will - auf einem Wege, der immer denkwürdig für die englische Geschichte bleiben wird. Der französische Botschafter; dann General Wilson, ganz Energie und Leidenschaft; nationalistische Journalisten wie Maxse und Steed, konservative Abgeordnete wie Amery und Lloyd - aus diesen Elementen bildet sich eine Liga, den gefährdeten Krieg zu retten und die Friedensmöglichkeit zu ersticken. Ihnen gelingt es, in den Abend- und Nachtstunden, die am Sonntag auf dem Lande verstreuten Führer der Konservativen, Lansdowne, Bonar Law, Balfour, Austin Chamberlain in die Stadt zu berufen.49 In der Nacht trennen sie sich, nicht über das Ziel, sondern nur über den Weg uneinig, noch planlos. Am Vormittag des 3. August finden sie sich wieder zusammen und um 11 Uhr überreichen Lansdowne und Bonar Law dem Ministerpräsidenten Asquith ein Schreiben, in dem die Opposition sich für den Krieg zur Verfügung stellte. Sie betonten nachdrücklich, daß jedes Zaudern in der augenblicklichen Unterstützung Frankreichs und Rußlands für die Ehre und die zukünftige Sicherheit Englands verhängnisvoll sein würde. Damit war für den äußersten Fall eine Kriegsreserve der Abstimmung für Greys Politik der freien Hand bereitgestellt und der Widerstand im liberalen Kabinett von innen her lahmgelegt.

[819] Für die Politik Greys seit 1906 hatte die konservative Opposition in der Hinterhand immer eine Art von unsichtbarer Deckung geliefert, jetzt rückte sie in die Front ein. Lord Lansdowne hat einmal ausgesprochen, es sei das Unglück der Deutschen gewesen, unter einer liberalen Regierung in England in den Krieg zu gehen; eine konservative Regierung würde unter ähnlichen Umständen niemals eine entsprechende Zusicherung von den Liberalen für den Krieg haben erlangen können. Die kriegswillige Minorität der Liberalen aber konnte - trotz aller Schwierigkeiten - ihr Ziel erreichen. Wer freilich das ganze Spiel dieser Kombinationen überschaut, wird noch nachträglich von tiefem Zweifel erfaßt, ob die politische Elastizität dieser Nation sich durch Neutralitätsformeln, wie sie dem deutschen Reichskanzler im Frühjahr 1912 vorschwebten, im Ernstfalle hätte binden lassen.

Inzwischen war Grey auf seinem Wege, auf der Jagd nach einem Kriegsanlaß vorangegangen. Er hatte zunächst am Nachmittag des 1. August dem deutschen Botschafter als Ergebnis des Ministerrats einen Vorschlag gemacht, der anscheinend bezweckte, "die große Katastrophe zu verhindern": wenn die Deutschen Gewehr bei Fuß den Franzosen gegenüber stehenblieben, so würde England die französische Neutralität verbürgen können.50 Dieses nicht völlig durchsichtige Zwischenspiel, schon nach wenigen Stunden von Grey und Lichnowsky als Mißverständnis bezeichnet, sollte wohl eine Art Deckung für die Franzosen beschaffen, konnte ihnen aber nicht viel helfen, weil sie ihre Bündnisverpflichtung Rußland gegenüber einzuhalten hatten. Denkwürdig ist dieser Verlegenheitseinfall Greys nur deshalb, weil er im Berliner Königsschloß, eine halbe Stunde nach dem Mobilmachungsbeschluß, bei dem Kaiser und dem Reichskanzler einen letzten Hoffnungsschimmer hervorrief, man möchte den Krieg auf den Osten beschränken können - mit einer fast verhängnisvollen Wirkung für den damaligen Stand der Mobilmachung!51 Wie dieses Scheingebot in Wirklichkeit zu beurteilen ist, geht daraus hervor, daß Grey in derselben Minute, wo man in Berlin dieser trügerischen Hoffnung nachhing, nach Paris telegraphierte: "Ich habe endgültig alle Anträge abgelehnt, Deutschland irgendein Neutralitätsversprechen zu geben, [820] und werde keinen derartigen Vorschlag in Erwägung ziehen, es wäre denn unter Bedingungen, die für Frankreich wirklich vorteilhaft zu sein schienen".52

So blieben als Kriegsanlaß nur Belgien und die französische Nordküste, und so lange der Deutsche nicht an Belgien rührte, mußte man es mit dem letzten Mittel probieren. Am Abend des 2. August erging eine Warnung an Deutschland: wenn Deutschland die französischen Küsten oder französische Schiffe im Kanal oder in der Nordsee angreife, so werde England solchen Vorgängen vor seiner eigenen Tür nicht gleichgültig zusehen. Auch die Mehrheit des Kabinetts wollte für diesen Fall eine englische Verpflichtung (auf Grund des Marineabkommens und des Briefwechsels von 1912) gelten lassen. Aber Deutschland erklärte sich am Morgen des 3. August bereit, die französischen Nordseeküsten zu respektieren, um dem Spiele Greys auch diese Karte zu nehmen. Grey fand jedoch die deutsche Erklärung "zu eng", und gleich darauf trat dieses Kriegsmotiv überhaupt hinter dem längst erwarteten stärkeren Anlaß zurück.

In denselben Stunden des 3. August, in denen der deutsche Botschafter die Antwort überbrachte, daß die deutsche Reichsflotte die französischen Kanalküsten respektieren würde, erfuhr man in London, daß die deutsche Reichsregierung am Abend des 2. August (7 Uhr 30) ein zwölfstündig befristetes Ultimatum an Belgien: einfacher Durchmarsch und wohlwollende Neutralitat, gerichtet habe, und daß die Belgier das Ultimatum abgelehnt und die gewaltsame Abwehr des Durchmarsches in Aussicht gestellt hätten, auch von den Franzosen unterrichtet seien, daß diese mit fünf Armeekorps zum Einmarsch in Belgien bereitstünden.

Damit ergab sich für die englische Politik die langersehnte Möglichkeit, sich nunmehr aktiv an dem Kriege zu beteiligen, ohne die Einheit des Kabinetts und der Partei auf das Spiel zu setzen; vielmehr in der Gewißheit, um diesen Kriegsanlaß das ganze Volk einmütig zu versammeln. Das große Schlagwort eines uneigennützigen, vom Völkerrecht und von englischer Tradition geheiligten Kriegsanlasses war gefunden, wenn England sich jetzt entschloß, das Schwert zu ziehen.

Die Grenzen, in denen die englische Politik sich in diesem Bilde darstellen darf, sind in Wahrheit so eng wie möglich. Man war weit entfernt, eine englische Verpflichtung zum Schutze Belgiens oder der Heiligkeit des Völkerrechts irgendwie anzuerkennen, sondern dachte darüber in London höchst realpolitisch. Wir haben gesehen, daß in den englisch-französischen militärischen Verhandlungen immer wieder der kombinierte Einmarsch in Belgien als Kern der gemeinsamen Operationen angesehen wurde, und daß man auf englischer Seite erst im Jahre 1912 davon zurückkam. Aber man war gar nicht gewillt, einen allgemeingültigen Maßstab des Rechts auf diesem Boden anzuerkennen. Als im Jahre 1908 Sir Eyre Crowe in einem amtlichen Memorandum die Verpflichtung Englands zum Schutze der Neutralität Belgiens vertrat, hatte der Unterstaatssekretär [821] Hardinge Einspruch erhoben und betont, daß die Erfüllung einer solchen Verpflichtung durch England abhängig sein müsse von der englischen Politik der gegebenen Zeit und von den Umständen des Augenblicks. Unbedenklich unterschied er: wenn Frankreich die Neutralität Belgiens in einem Kriege gegen Deutschland verletzen würde, so sei es unter den jetzigen Umständen zweifelhaft, ob England oder Rußland zu ihrem Schutze auch nur einen Finger rühren würden: wenn die Neutralität durch Deutschland verletzt werden würde, so würde wahrscheinlich das Gegenteil der Fall sein.53 Grey selber aber hatte damals die Denkschrift Crowes gebilligt, aber zugleich amtlich festgestellt, daß auch die Bemerkung Hardinges den Kern träfe, und man hat keinen Grund zur Annahme, daß er im Jahre 1914 anders dachte als im Jahre 1908.

Die Tragweite dieser soeben erst möglich gewordenen Feststellung besteht darin, daß sie die tiefe Unwahrheit der politischen Ethik Greys enthüllt, die sich so gern über die realpolitische Praxis Deutschlands erhob. Auf der nervösen Suche nach brauchbaren Kriegsgründen griff er wie erlöst nach der belgischen Neutralitätsverletzung durch die Deutschen, während er derselben Verletzung durch die Franzosen mit Gemütsruhe zugesehen haben würde. Der deutsche Einmarsch in Belgien flickte das auseinanderbrechende liberale Kabinett noch einmal zusammen, machte die Reservestellung der Opposition unnötig und einigte das englische Volk über das Motiv, aus dem es - angeblich - in den Krieg ging. Der Machtkrieg, den das englische Imperium nach der Vorbereitung eines Jahrzehnts zu entfesseln half, konnte von diesem Augenblick an auch noch die Fahne der Verteidigung des Völkerrechts und der Menschlichkeit aufziehen. So kläglich die Rolle Greys in den letzten Tagen gewesen war, jetzt ging er doch noch mit der hohen Flut, die bei seinem Volke so oft die robusteste Machtentfaltung mit dem Nimbus einer großen ethischen Angelegenheit umgeben hatte. Der französische Einmarsch in Belgien würde ein schweigendes England und demgemäß eine zulassende Welt vorgefunden haben; - wer erwägt, welche Welt von sittlichen Anklagen unter dem Schlagwort "Belgien" von dieser Stunde an unter englischer Führung gegen Deutschland geschleudert wurde, wird sich mit Ekel von diesem Ausgang der Politik der freien Hand abwenden. Ein Engländer selbst, der redliche alte Morley, hat über die unsaubere Rolle dieses Arguments das harte Wort gesprochen:

      "Das übereilige Auflodern über Belgien war weniger der Empörung über die Verletzung eines Vertrages als der natürlichen Empfindung zu verdanken, daß die Berufung darauf einen guten Grund für eine Intervention zugunsten Frankreichs, für die Entsendung eines Hilfskorps und für alles übrige liefern würde. Belgien mußte den Platz einnehmen, welchen früher Marokko und Agadir als Grund zu einem Kriege eingenommen hatten".

[822] Noch in dieser letzten Woche herrschte im englischen Außenamt die Auffassung vor, daß die deutsche Politik in dieser Krisis mit gewohnter Planmäßigkeit vorgehe. Wie immer ihre Ziele zu bestimmen sind - und es mag dabei von einem materiellen Werturteil über Motive und Absichten ganz abgesehen werden -, gerade die planmäßige Sicherheit läßt sich den Händen der deutschen Leitung nicht nachsagen. Das ewig Denkwürdige besteht vielmehr darin, daß die Führer des deutschen Staates und Volkes, indem sie mit dem Eintritt in den Weltkrieg einen Schritt von einer auf Jahrhunderte nachwirkenden Wagnisgefahr vollziehen, in der Technik ihrer diplomatischen Aktion gar nicht eine führende und den Gang der Verhandlungen bestimmende Rolle spielen. Während des ganzen Ablaufs dieser Krisis liegt vielmehr der Schwerpunkt derjenigen weltgeschichtlichen Entscheidungen, die das Folgende unwiderruflich beherrschen, abwechselnd bei den verschiedenen Großmächten. Zunächst bei Österreich-Ungarn, dem gegenüber die deutsche Politik anfangs zwischen Zurückhaltung und Anspornung wechselt, um dann, sobald der Horizont der Weltgefahr sich geöffnet hat, einen bewußt einlenkenden und schließlich scharf bremsenden Charakter anzunehmen. Dann springt die Entscheidung nach Rußland hinüber, das mit seiner Teil- und Gesamtmobilmachung die den Krieg so gut wie unwiderruflich machenden Tatsachen schafft; auch hier wechselt die Tonart der deutschen Bemühungen, um in dem ernsthaften Vermittlungsversuch des Kaisers, der nur dem russischen Losbruch gegenüber zu spät kommt, zu gipfeln. In den letzten Tagen aber rückt der Schwerpunkt der Weltgeschichte nach England, in den Kampf um Krieg und Frieden, der sich in London abspielt; und hier beobachten wir vollends, daß die deutsche Außenpolitik, in einer Reihenfolge von sich anpassenden Bemühungen und Bereitwilligkeiten, durchweg nicht der führende, sondern der folgende Teil in einer Auseinandersetzung ist; der Höhepunkt dieses dynamischen Verhältnisses ist vielleicht darin zu sehen, daß eine leere Blase, die einige Stunden lang aus dem diplomatischen Verlegenheitsspiel Sir Edward Greys aufsteigt, imstande ist, für einen Moment bei der deutschen Staatsleitung die Möglichkeit eines bloßen Ostkrieges und des dafür erforderlichen Herumwerfens des ganzen Mobilmachungsplanes auszulösen. Wenn in der Liste dieser "Schwerpunkte" der Entscheidungen Frankreich fehlt, so nur deshalb, weil es sich vom ersten Augenblick so unlöslich auf Gedeih und Verderb mit Rußland vereinigt hat, daß es mit diesem als eins in allen Absichten und Verantwortlichkeiten zu beurteilen ist.

An der Stelle aber, an der nachher die richtende Welt den höchsten Maßstab der Verantwortlichkeiten anlegte, ist weder die Einheitlichkeit der Absichten noch die Entschlossenheit der Durchführung, die jener Voraussetzung entsprechen würde, zu beobachten - von einem überragenden Führerwillen, der ein Schicksal so oder so wenden will, ist - zumal im Verhältnis zu den gegnerischen Mächten - nicht die Rede. Und wenn man über das Jahrzehnt bis Algeciras zurückblickt, so kommt man zu dem Ergebnis, daß in der Führerinstanz längst organische und [823] persönliche Hemmungen lagen, von denen eine Lähmung der höchsten Einheitlichkeit und Geschlossenheit ausging. Das dauert bis an den Rand des Weltkriegs und doch wohl in den Weltkrieg hinein. Neben der ungeheuren Leistung, die das deutsche Volk, in allen seinen Stämmen, in allen seinen Schichten und Klassen, in allen seinen Parteien, in Einheit während der Kriegsjahre vollbracht hat - steht die Tatsache, daß in den führenden Organen des Reiches die entsprechende Einheit, Klarheit und Härte des Willens nicht jederzeit vorhanden war. So wurde der Krieg für die Deutschen ein gigantischer Versuch, durch das Ganze der Leistung und Opfer auch diese Lücke in ihrer staatspolitischen Erziehung in einem Daseinskampf ohnegleichen auszugleichen.


36 [1/809]Übrigens hatte Grey selbst am 23. Juli zu Mensdorff erklärt: "Das Beste wäre wohl, wenn zwischen Wien und Petersburg direkter Gedankenaustausch geführt werden könne." ...zurück...

37 [2/809]Vgl. Goschens unvollendetes Schreiben an Nicolson vom 31. Juli 1914, übersandt am 5. Sept. 1914. Brit. Dokum. Ausbruch, S. 548 ff. ...zurück...

38 [3/809]"Wenn der Kanzler den Krieg führt, dann nur, weil er gezwungen wird." Ebenda. ...zurück...

39 [1/810]Österr.-Ung. Außenpol. 8. Nr. 10 793. ...zurück...

40 [2/810]Die Depesche (Deutsche Dokum. 245) traf um 4,37 in Berlin ein. ...zurück...

41 [3/810]In dem Erlaß Jagows an Tschirschky, 27. Juli, 9,15 Nachm. (s. o.), bestimmt vor allem, die Sprache des Botschafters zu regeln, tritt diese Taktik fast befremdend hervor. Auch Grey beanstandete die Form dieses diplomatischen "Weitergebens". Jagow war augenscheinlich, wie er auch dem englischen Botschafter sagte, besorgt, durch eine allzu deutliche Einwirkung die Österreicher zu einem Vorgehen auf eigene Faust zu verleiten. ...zurück...

42 [1/813]Randbemerkung Wilhelms II. zum Bericht von Pourtalès vom 30. Juli; vormittags im Ausw. Amt entziffert; 7 Uhr abends in Händen des Kaisers. ...zurück...

43 [1/814]Viscount Morley hatte in seinem Memorandum (vgl. Die Kriegsschuldfrage 1929, S. 1 bis 29) ursprünglich den 26. Juli, später aber aus Vorsicht: 24. - 27. Juli geschrieben. Daß der 24. Juli, an dem das Telegramm Buchanans (s. o. S. 802) um  8 Uhr abends im Foreign Office eintraf, noch zu einer Kabinettsitzung geführt haben sollte, ist unwahrscheinlich. ...zurück...

44 [1/815]Der ehrliche Morley warf ein: "Ich bin kein Deutschenfreund, aber Sie geben uns keine Beweise." ...zurück...

45 [2/815]Dieser inneren Einstellung Greys entspricht die Tatsache, daß unmittelbar darauf, schon am 27. Juli, Churchill die vorgesehene Demobilmachung der zu einer Probemobilmachung versammelten Flotte einstellte. ...zurück...

46 [1/816]Über die Entstehung vgl. Goschen an Nicolson, 8. September 1814. ...zurück...

47 [1/817]Die inhaltlich völlig falsche Nachricht, die Cambon noch am 31. Juli, kurz vor Mitternacht, mitteilte, daß die Deutschen die französische Grenze überschritten hätten (H. Nicolson, a. a. O., S. 418), sollte wohl dem Zweck dienen, den englischen Entschluß zu erleichtern. ...zurück...

48 [1/818]Grey an Bertie, 1. August 1914. Brit. Dok. Ausbruch 2, 390 f., 399 f. Der Satz Greys: "Jetzt wäre die Lage so, daß Deutschland bereit sei, Frankreich nicht anzugreifen, wenn Frankreich im Fall eines Krieges zwischen Rußland und Deutschland neutral bleibe. Wenn Frankreich daraus keinen Nutzen zu ziehen vermöge, dann deshalb, weil es durch ein Bündnis gebunden sei, an dem wir nicht beteiligt waren", deckt das Motiv dieses Zwischenspiels (s. u. S. 819) eindeutig auf. ...zurück...

49 [2/818]Chamberlains Memorandum über Englands Eintritt in den Krieg, Deutscher Text: Berliner Monatshefte, Februar 1930, S. 143 - 149. (Hier Mr. George Lloyd wiederholt irrtümlich mit Lloyd George verwechselt.) Vgl. Caldwell, Wilson I, 157. ...zurück...

50 [1/819]Telegramm Lichnowsky 562 (11 Uhr 14), 590 (2 Uhr 10), 596 (5 Uhr 47), 608 (8 Uhr 26); dazu Brit. Dok. Ausbruch S. 385 f., 390, 409. Der Aufsatz von A. Bach, "Das angebliche »Mißverständnis« des Fürsten Lichnowsky vom 1. August 1914" (Berliner Monatshefte April 1930), verkennt das Motiv Greys und wirft Lichnowsky fälschlich vor, die tatsächlich von Grey fallengelassene Sache seinerseits nicht verfolgt zu haben. ...zurück...

51 [2/819]Vgl. Generaloberst H. v. Moltke, Erinnerungen, Briefe, Dokumente 1877 - 1916 (1922), S. 19-23. Kaiser Wilhelm II. an König Georg V., 1. August 7,05 NM. Die erste Folgerung des Kaisers war: "Also marschieren wir einfach mit der ganzen Armee im Osten auf." Moltke setzte nur mit Mühe die Aufrechterhaltung des Aufmarsches durch; der Vormarsch der 16. Division auf Luxemburg blieb sistiert; erst gegen Mitternacht wurde diese Folge beseitigt. Moltke war überzeugt, daß der Kaiser die Mobilmachungsorder nicht unterzeichnet haben würde, wenn die Depesche Lichnowskys eine halbe Stunde früher gekommen wäre. ...zurück...

52 [1/820]Grey an Bertie 1. August 1914, 5 Uhr 25 NM. Ausbruch Nr. 419. ...zurück...

53 [1/821]Brit. Dok, 8, Nr. 311 (englische Ausgabe); dazu Berliner Monatshefte, Dezember 1932, S. 1229-1235. ...zurück...


Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte