Bd. 10: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Zweiter Teil
Von Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität
Berlin
[824]
Ausblick
Wir halten in diesem Augenblick den Atem an. Das deutsche Geschlecht, das aus
der europäischen Existenz des Deutschen Reiches und aus den wachsenden
Gegnerschaften gegen das Werk Bismarcks
hinüberschritt in die einem
unabwendbaren Schicksal gleich sich entfaltende "Vorgeschichte" des
Weltkrieges, diesen Begriff in seinem universellen Sinne
genommen - das Geschlecht, das den heroisch bestandenen
vierjährigen Vernichtungskrieg des größten Teiles der Welt
gegen das Reich in dem tödlichen System der Friedensschlüsse, in
diesem Versuch einer Verewigung von Kriegführung und Kriegsgesinnung,
ausmünden sah -, dieses Geschlecht wird niemals aufhören,
dieses ganze Geschehen als einen sinnhaften und zweckerfüllten
Zusammenhang von durchgreifender Einheit zu empfinden. In so tiefgefurchten
Linien hat sich dieses erschütternde Erleben, in unser aller, der
Volksgemeinschaft wie jedes einzelnen Dasein, als sein innerster Kern
eingegraben, es läßt bis zum heutigen Tage nicht ab, in unserm
Wesen unauslöschbar aufzugehen. So wird eine Fortsetzung dieses Werkes,
die durch die politische Geschichte des Krieges und den endlosen Ablauf der
Friedensabwicklung reicht, den natürlichen Abschluß bilden
müssen.
Unmittelbar nach dem Zusammenbruch konnte es kaum anders sein, als daß
die Miterlebenden zunächst nur den Untergang empfanden, nur die
abgrundtiefe Scheide der Zeiten, nur die Notwendigkeit, Staat und Gemeinschaft,
die zu versinken drohten, aus ganz neuen Quellen des Lebens wiederaufzubauen.
Mochte es doch manchem im Dröhnen des Umsturzes so erscheinen, als ob
vordem ganz andere politische, wirtschaftliche und sittliche Gesetze auf dieser
Erde geherrscht hätten, und als ob insbesondere die Deutschen vordem ein
ganz anderes Volk gewesen seien, als sie nunmehr, nach unsagbaren
Prüfungen, zu werden sich anschickten. Erst als das Gefühl dieses
Bruches, durch das ein Jeder, der die Dinge tiefer nahm, qualvoll hindurch
mußte, irgendwie überwunden war, brach in der deutschen
Menschheit die Erkenntnis wieder durch, daß dieses ganze Erleben, die
Gegenwart und die nahe, selbst die fernere Vergangenheit, sich doch wieder in
einer grandiosen Einheitlichkeit zu einem Zusammenhange von tiefstem
Sinne - das besagt das Wort Schicksal, das wir hier frei von allen
fatalistischen Nebentönen anwenden - zusammenfüge und
verschmelze.
Das Mächtigste in dem Leben großer Völker ist das Geheimnis
dieser inneren Einheit, das Kontinuum, das dieses Ganze ihrer Sendung
durchzieht und [825] durchleuchtet. Daher
werden zur höchsten Geltung immer diejenigen Völker inmitten der
andern gelangen, die der ihnen eingeborenen Kontinuität dieses
Besitzes - der häufig ein tragischer Besitz von
schmerzlich-süßer Allgegenwart
ist - sich wesenhaft bewußt sind, die aus ihr sich zu deuten und zu
bestimmen die Kraft haben. Auch der Deutsche der Gegenwart, der aus allem
"Unerhörten" in den Nöten seiner Tage den Blick zurücklenkt,
wird sein wahres historisches Selbst erst dann erfassen können, wenn er
über alle innern und äußern Kämpfe, über alle
Stufen des letzten Reiches hinweg, über 1890 und 1870/71, über
1866 und 1815 sich den ganzen Bedingungen seines historischen Gewordenseins
hingibt. Erst aus dem Strom der säkularen Entwicklung wird ihm eine
Antwort auf die Frage auftauchen: Sag, was will das Schicksal uns bereiten?
So haben wir in dieser Darstellung den Ausgang weiter zurückliegend, als
die Sache vielleicht zu fordern schien, genommen. In den naturgegebenen
Bedingungen unseres Volkstums und in den ersten Anfängen unseres
Staates, in der Verbindung von höchster Universalität und tiefster
Besonderung, aus denen dann in schweren Erschütterungen das ebenso
weitgreifende wie in sich aufgelockerte, dieses so ganz einmalige Heilige
Römische Reich Deutscher Nation sich erhebt, ein Mikrokosmos der
großen Staatengesellschaft in sich, eine Zusammenfügung kleiner
Zwerggebilde und zukunftsreicher großer Staaten, in der Tiefe der Nation
wurzelnd und doch wieder von einem modernen Nationalstaat weiter entfernt als
alle andern. Bis dann schließlich, im Zeitalter der französischen
Revolution, eine neue Riesenwelle der Erschütterungen dieses regelwidrige
Gebilde der Mitte in seinem äußeren Bestande und in seinen
seelischen Untergründen am tiefsten durchknetete. Denn das Schicksal des
Erdteils wurde immer von seiner Mitte aus am Individuellsten durchlebt. Wo man
von außen her den tiefsten Eingriffen unterlag, wurde man in das Innerste
der Widerstandskräfte zurückgedrängt, und schöpfte aus
der Idee der Nation, so allgemein und verschwommen sie bisher auch begriffen
war, den Antrieb, sie gegen die bedrohende europäische Umwelt nach
außen zu wenden und, um der Macht zu begegnen, sie in Macht zu
verwandeln.
So sollte das Deutschland des 19. Jahrhunderts durch eine Entwicklung
hindurchgehen, deren historisches Gelingen von vornherein gar nicht einmal so
feststand. Daß sich in der Mitte Europas doch noch ein geschlossener
Nationalstaat nach dem Beispiel der andern bildete, daß das
Verspätete doch noch, trotz aller Hemmungen von innen wie von
außen gelang, das war nicht ohne ein denkwürdiges Zusammentreffen
möglich. Eine große Persönlichkeit und ein historischer
Moment mußten sich vereinen, um das erhoffte Ideal in seiner Wirklichkeit
erstehen zu lassen, die vielleicht dieses Ideal nicht vollkommen erfüllte,
aber ihm nahe kam und die Gewähr eines bleibenden und starken Lebens in
sich trug. Immerhin unter erschwerten Bedingungen, inmitten von
Gegnerschaften, die, ringsum in Jahrhunderten emporgekommen, wohl
gezwungen werden [826] konnten, der nationalen
Selbstbestimmung der Deutschen freien Raum zu gönnen, aber in die damit
gegebene Machtverschiebung Europas sich um keinen Preis finden wollten.
Dergestalt, daß an der entscheidenden Stelle eine unauslöschliche
nachbarliche Feindschaft zurückblieb.
Der deutsche Nationalstaat hatte die Kraft aufgebracht, die frische
Zusammenfassung seiner Elemente durchzusetzen, er mußte jetzt die Macht
entwickeln, seine Autonomie in der Mitte des Kontinents zu behaupten, sein
eigenes Dasein - wie in den großen staatlichen Lebensprozessen
immer das eine aus dem anderen zu folgen
scheint - gegen die das Reich der Mitte flankierenden Gewalten wehrhaft
abzusetzen. Immer sichtbarer wurde schon frühzeitig ein doppeltes
Lebensgesetz, das im Grunde bereits hinter den Schicksalsstürmen des
Mittelalters verborgen lag. Diese Mitte muß stark sein, um sich an ihrer
Stelle nach ihrem Gesetz behaupten zu können; sei sie aber auch noch so
stark, sie wird immer an ihrer Stelle und unter ihren Lebensbedingungen auch
einem höheren Risiko unterliegen, die errungene Macht wieder
einzubüßen. Wenn sie ungewöhnlich stark wurde, erwies sich
bald, daß eine Überlegenheit der Mitte von den anderen nicht zu
ertragen war, sondern mit neuen gegnerischen Kombinationen, wie sie von der
Lage begünstigt wurden, beantwortet wurde. Und wenn das Reich in seiner
gesicherten Mittelstellung dazu überging, die verlorenen Jahrhunderte auch
draußen in der Welt nachzuholen, einen ihm entsprechenden Anteil auch
auf den überseeischen Schauplätzen zu gewinnen, so konnte das nur
auf die Gefahr hin geschehen, die nahen Gegnerschaften auf allen Seiten gegen
den Kern seiner Existenz zusammenzuschließen.
Die eigentümliche Polarität dieser außerpolitischen Probleme
ist für das mittelalterliche Kaiserreich schon von dem großdeutschen
Historiker Julius Ficker erkannt worden: "Die Lage des deutschen Volkes in
Mitteleuropa erfordert einen gewissen Einfluß auf seine
Nachbarn - so allein kann es der Gefahr begegnen, von allen
bekämpft zu werden." Und den preußischen Staat, der diese
Mittelstellung erbte, glaubte der englische Historiker Seeley mit der Formel zu
kennzeichnen: "Der Staat konnte sich nicht sicher fühlen, ohne zugleich
gefährlich zu sein." Wenn eine solche "Gefährlichkeit" auch des
neuen Deutschen Reiches in Frage käme, so war sie durch die Tatsache
seiner großmächtlichen Flankierung restlos kompensiert, und man
muß zugeben, daß sie weder gegen große noch gegen kleine
Nachbarn jemals mißbraucht wurde. Auch die deutsche Weltpolitik lief nur
darauf hinaus, das Schwergewicht in der Mitte zu benutzen, um als
ebenbürtiger Anwärter an der letzten Erschließung der Erde
teilzunehmen.
Dieses Deutsche Reich, so mochte es den andern sich darstellen, schien unter dem
Gesetz zu stehen, zwar von größeren Schwierigkeiten als die andern
umgeben zu sein, aber sie durch einen höheren Aufwand von
bewußter Energie doch wieder auszugleichen - und dieses
Gefühl der stärkeren Anspannung, [827] die ihr Ziel erreicht,
erregte das Mißgefühl der Rivalen. Wenige Wochen vor dem
Weltkriege sehen wir den russischen Ministerpräsidenten einmal
aufschäumen, daß dieses Deutsche Reich, das an
ursprünglicher, elementarer Gewalt seinem russischen Nachbar unterlegen
sei, nur durch seine Organisation und Disziplin den Stärkeren vorzustellen
instandgesetzt werde - man weiß aus der russischen Literatur, wie tief
gerade diese Abneigung gegen den disziplinierten Deutschen und seine
Eigenschaften im russischen Volkscharakter begründet ist, und wird sich
nicht wundern, daß sogar die Anklage auf Hegemonie auf diesem Boden in
dieser Verbrämung erscheint. Die Engländer, die Franzosen werden
sie anders und auf ihre Weise begründen. Damit soll nicht abgewiesen
werden, daß an dem, was hier als ein großer allgemeiner Prozeß
geschildert wird, auch die Menschen ihren Anteil haben. Das deutsche Volk
selbst, in einer sprunghaften Umbildung seiner äußeren staatlichen
und inneren gesellschaftlichen Lebensformen - fast zu
rasch - durch wechselnde Entwicklungsphasen hindurchgetrieben, zu
Reichtum, Macht und Selbstgefühl gelangt, entwickelte nicht gerade die
Tugenden, die Anderen mit seiner Erscheinung auszusöhnen.
Mißgriffe, Überspannungen und Veräußerlichungen
blieben nicht aus, und diejenigen, die sich in sorglosem Besitze wiegten,
gestanden sich nicht unbarmherzig genug ein, daß jener erste Aufstieg des
Reiches unter der ungewöhnlichen Führung des Genius in einmaliger
Konjunktur sich vollzogen hatte, daß aber nichts dafür spreche, ob
sich beides auch für den Fall einer erneuten Prüfung wiederholen
werde.
Die Voraussetzungen, unter denen das Deutsche Reich seine Existenz in der Mitte
Europas führte, machten es aber unwahrscheinlich, daß das Reich,
das im frühen Mittelalter eine universale Rolle zu spielen vermocht hatte,
eine annähernd hegemonische Laufbahn noch einmal würde
einschlagen können. Die eigentlichen Weltmächte, die auf sicheren
und uneinnehmbaren Plätzen saßen, verfügten über
einen Vorsprung, den einzuholen uns nach unsern ganzen Lebensbedingungen
auch bei höchster Energie versagt blieb. Man wußte in den
gegnerischen Kabinetten genau genug, innerhalb welches europäischen
Radius das Deutsche Reich eine fast unangreifbare Macht ersten Ranges war, und
auf welchen außereuropäisch-peripherischen Schauplätzen es
doch nur eine Macht zweiten Ranges vorstellte. Nachher hat der vierjährige
Abwehrkampf der Deutschen im Weltkrieg, als Leistung unseres Volkes etwas
Unvergleichliches, immer wieder die Vorstellung erwecken können, als
wenn doch die gefährlichsten Möglichkeiten grenzenloser
Machtentfaltung hier geschlummert hätten - es wird dabei nur
außer acht gelassen, daß viel bedrohlichere Möglichkeiten
fundamentaler Gefährdung, von einer Art, wie sie den andern
führenden Staaten niemals zuteil werden konnte, dicht daneben lagen.
Es ging für die Deutschen im Weltkriege - und das unterschied ihre
Schicksalslage von fast allen ihren großen und kleinen
Gegnern - in ganz anderem Umfange um das Ganze ihrer Existenz, nicht
nur um die Höhenlinie ihrer Macht [828] und ihrer Wohlfahrt,
sondern um die Behauptung fast aller Grundlagen ihres historisch erwachsenen
Daseins. Die gesamten Jahrhunderte deutscher Geschichte standen auf dem
Spiele: eines solchen Siegespreises war der Kreis der Feinde, wie seine
Kriegsziele bezeugen, sich bewußt.
Als die Deutschen in den Weltkrieg eintraten, ein Schicksal auf sich nehmend, das
sie nicht gesucht hatten, stellte sich sehr bald heraus, daß sie für diese
unglaubliche Leistung ein Kriegsziel, das sie hätte locken oder
mitreißen können, überhaupt nicht besaßen; ja, sie
wußten - in einer fast verwirrenden
Weise - kaum, wo sie es hätten suchen sollen; allein die Erhaltung
der deutsch-slawisch-magyarischen Großmacht
Österreich-Ungarn konnte kaum als ein fortreißendes und erlebtes
Ziel für ein großes Volk bezeichnet werden. Was aber später
an Kriegszielen auftauchte, waren militärische Konsequenzen aus
bestimmten Kriegslagen oder historische Reminiszenzen publizistischer
Liebhaber. Das amtliche Kriegszielkonto der politischen Reichsleitung im
Weltkriege ist von einer realpolitischen Enthaltsamkeit ohne gleichen.
Wenn man bei Kriegsausbruch auf deutscher Seite nach einem historischen
Vergleiche suchte, so war es im geheimen doch, auch von Kaiser
Wilhelm II. tief empfunden, die Situation des siebenjährigen Krieges
und die Hoffnung, nach dem Beispiel des großen Friedrich durch
heldenhafte Anspannung alle Unterlegenheiten auszugleichen: der Zwang zu
siegen, um nicht untergehen zu müssen, klang als Unterton in manches
heroische Wort. Als aber die einzige militärisch vorgesehene
Möglichkeit, die Ungunst der gesamten Machtverhältnisse wahrhaft
auszugleichen, in der Marneschlacht verschwand, da blieb nur die
äußerste Zusammenfassung aller Mittel, sich in der Abwehr siegreich
zu behaupten; die Not des nächsten Tages und wie man ihrer Herr wurde,
verschlang fast alle Kräfte; so ruhmvoll die Reihe der Siege über die
einzelnen Gegner anwuchs, die Frage, wie man den Krieg beendigen wollte, lag
fortan im Dunkel. Auf der feindlichen Seite aber wurde das innere Gefühl
einer Überlegenheit, die auf die Dauer nicht unterliegen könne, trotz
aller Niederlagen niemals ernstlich erschüttert. Schon als der Dreiverband
Rußland - Frankreich - Großbritannien sich bei
Kriegsbeginn zusammenschloß, flankiert durch die beiden Balkanstaaten
Serbien und Montenegro, und verstärkt durch Belgien, war der Eindruck
der Welt weit überwiegend, daß nicht bei den Mittelmächten
(und der militärischen Schlagfertigkeit des ersten Momentes) die
eigentliche Überlegenheit liege, sondern bei der Summe ihrer Gegner und
der ihnen aus der ganzen Welt zuwachsenden Machtmittel, Sympathien und
Möglichkeiten - gegen diese Rechnung vermochten auch die
deutschen Erfolge im Felde kaum aufzukommen.
Die Gegner wußten in ihrem Überlegenheitsgefühl vom ersten
Augenblicke an sehr wohl, was sie wollten, und stimmten auch darin
überein, daß es nicht [829] um Teile, sondern um
das Ganze gehen sollte. Eine Vorgeschichte des Weltkrieges wäre
unvollkommen, wenn sie nicht noch einen letzten Blick hinauswürfe auf
die in den Kabinetten und in der öffentlichen Meinung immer höher
steigenden Kriegsziele der Franzosen, Russen, Engländer, und dann der
Italiener, Polen, Tschechen, Belgier usw. Was da in den Köpfen der
Staatsmänner sofort lebendig wurde - und nur von diesen
"amtlichen" Kriegszielen ist hier die Rede - läßt wohl einen
Rückschluß auf die wahren Ursachen des Krieges zu: alle tieferen
Instinkte, in der diplomatischen Sprache der Vorkriegszeit vorsichtig
verhüllt, brechen jetzt in greller Nacktheit durch. So fällt von diesen
Kriegszielen, wie sie amtlich im geheimen formuliert oder auch der
Öffentlichkeit zugestanden wurden, noch ein Licht zurück auf die
eigentlichen Motive, die in den Jahren vor dem Kriege den Machtwillen der
gegnerischen Großmächte lenkten.
Das französische Programm war am geschlossensten und weitreichendsten,
denn es war historischer Natur. Handelte es sich doch hier überhaupt um
den einzigen Gegensatz, der aus langer Vorgeschichte etwas von dem Geruch der
Erbfeindschaft an sich trug - zumal für den Deutschen kreisten fast
alle ihre lebendigen Kriegserinnerungen um Krieg mit Frankreich. Und auch
dieses Mal lag hier die Entscheidung. Wohl gab es im August 1914 deutsche
Politiker, die den scheinbar einleuchtenden Rat gaben, nach einem (erwarteten)
entscheidenden Siege über Frankreich mit diesem Gegner sofort einen
Sonderfrieden auf der Grundlage des status quo zu
schließen - wie verkannten doch diese wohlmeinenden
Doktrinäre die elementarste der historischen Gegnerschaften, die
Unbedingtheit des französischen Machtwillens, sobald der Deutsche in
Frage kam. Als der Krieg zu Ende ging, täuschten sich selbst die erfahrenen
angelsächsischen Völker, die mit ihrem Blute den Widerstand der
französischen Heere aufrechterhalten hatten, über die
militärische Situation auf dem Kontinent. Nur solange der Deutsche noch
aufrechtstand, konnten Engländer und Amerikaner hoffen, einen
maßgebenden militärisch-politischen Einfluß auf ihren
Verbündeten auszuüben; sobald der Waffenstillstand vollzogen war,
waren sie selbst für ihren Verbündeten entbehrlich, und auf dem
Kontinent konnte fortan - mit dem Ausscheiden der großen
Militärmächte - der französische Machtwille schalten,
wie er es selbst auf der Höhe Napoleons kaum vermocht hatte. Das war die
Entscheidung, die dieses Mal mit dem Blute fast der ganzen Welt
herbeigeführt worden war.
Bis zum Kriegsausbruch hatte das amtliche Frankreich sich sehr selten
öffentlich zur Revanche bekannt, aber Freund und Feind waren über
sein Kriegsziel nicht im unklaren. Ohne daß dieses Ziel in einem Vertrage
mit Namen genannt oder nur angedeutet wurde, es stand doch wie eine für
jeden lesbare Geheimschrift über der französischen Geschichte seit
1871: hier lag der Sinn, die verborgene Triebkraft ihrer Politik. Erst in den letzten
Jahren gewöhnte man sich in Paris, auch in der amtlichen Sprache die
Dinge bei ihrem Namen zu nennen. Ein [830] französischer
Diplomat bezeichnete damals als Zielsetzung des russischen Bündnisses:
"Konstantinopel und die Meerengen bilden das Gegenstück zu
Elsaß-Lothringen - dies ist in keinem bestimmten Abkommen
ausdrücklich schriftlich festgelegt, ist aber das oberste Ziel des
Bündnisses, das man als unerläßlich feststehend ansieht."1 Es war daher eine entscheidende
Wendung, als Frankreich unter den Auspizien Poincarés, die bisherige
Zurückhaltung in der Orientpolitik aufgebend, sich dem Russen
bedingungslos zur Verfügung stellte: dieser Übergang zum
Aktivismus verpflichtete auch die andere Seite auf das Programm der Revanche.
Das wurde auch von der russischen Seite während der Mission
Delcassés im Jahre 1913 vertraglich anerkannt, und damals schon war die
Rückgabe von Elsaß-Lothringen mit dem Ausblick auf die
"notwendige Vernichtung von Deutschlands politischer und wirtschaftlicher
Macht" in einen Zusammenhang gebracht. Auf diese Formel griffen die Franzosen
bei Sasonows Frage im Oktober 1914, während ihre Regierung noch in
Bordeaux saß, unbedenklich zurück. Es liegt im Wesen eines solchen
Programms, daß es sich mit politischen, wirtschaftlichen,
militärischen Motiven ins Uferlose steigern ließ, und so hatte denn
der Umfang dieser Begehrlichkeiten zwischen der französischen und der
russischen Regierung damals bereits die folgende amtlich festgelegte Grenze
erreicht. Voran Elsaß-Lothringen, aber schon nicht mehr in dem Umfange,
in dem es bis 1870 zu Frankreich gehört hatte, sondern "mindestens bis
zum Umfange des früheren Herzogtums Lothringen ausgedehnt", wobei
nach französischen Wünschen die strategischen Notwendigkeiten
und die wirtschaftlichen Bedürfnisse (das ganze Eisenerzrevier Lothringen
und das ganze Kohlenrevier des Saarbeckens) zu befriedigen
waren - alles was die Historie irgendwie decken mochte oder Schwert und
Industriekapital für wünschenswerte Abrundung erklären
würden. Alles übrige linksrheinische Gebiet, jetzt zum Bestande des
Deutschen Reiches gehörig, soll von Deutschland ganz abgelöst und
von jeder politischen und wirtschaftlichen Abhängigkeit von Deutschland
befreit (!) werden. Dergestalt, daß dieses linksrheinische Gebiet, so
weit es Frankreich nicht einverleibt wird, ein autonomes und neutrales
Staatswesen bilden und so lange von den Franzosen besetzt bleiben soll, bis die
feindlichen Reiche endgültig alle Friedensbedingungen und Garantien
erfüllt haben werden. Also Aufteilung des ganzen linksrheinischen
Deutschlands in ein Gebiet französischer Einverleibung und ein Gebiet
unabsehbarer französischer Besetzung.
Auf dieser Forderung beharrten alle französischen Regierungen
während des Krieges. Am 12. Januar 1917 bezeichnete Briand als "volle
Sicherheit" für Frankreich nicht nur die Angliederung des Elsaß und
des um das Saargebiet zu vergrößernden Lothringens, sondern auch
die Lostrennung des ganzen linken Rheinufers von Deutschland; und am 27.
Februar 1917 gestand das schon von der Revolution bedrohte Rußland alle
diese Forderungen einschließlich [831] der "Befreiung" des
linken Rheinufers zu. Noch am 11. März empfing der Zar als Gegenleistung
"die volle Freiheit, seine westlichen Grenzen nach Ermessen zu bestimmen". Der
erobernde Franzose trug keine Bedenken, die Rheingrenze mit einer
deutsch-russischen Odergrenze zu bezahlen.
Dem Historiker sind diese Kriegsziele nicht unbekannt. Es sind im wesentlichen
dieselben Ziele, die dem Kaiser Napoleon III. in den Jahren vor 1870
vorschwebten und ihn schließlich in den Krieg trieben: beide Male
bedeutete die Rheingrenze zugleich die Zurückwerfung Preußens am
Rhein, die Zertrümmerung der preußischen Führerstellung in
Deutschland, eine Rückbildung des deutschen Staates nach dem
Bedürfnis nachbarlicher Machtspekulationen. Diese Kriegsziele des
Weltkrieges erneuerten nichts anderes als die historische Rheinpolitik der
Franzosen; die ganze Kette des Geschehens, die vom 17./18. Jahrhundert
bis in unsere Gegenwart reicht, setzt sich in ihnen fort; die
Brückenköpfe, die schon König Ludwig XIV. und seine
Generäle am Oberrhein anstrebten, von Freiburg bis Philippsburg kehren,
zum System erhoben, auch in den Denkschriften der französischen
Generäle des Weltkrieges wieder; und die Erinnerungen der napoleonischen
Zeit übten einen unwiderstehlichen Anreiz aus, um alles das mit der Welt
verbündet wiederzugewinnen, was man einst den siegreichen
europäischen Mächten hatte herausgeben müssen. Vor allem
hoffte man auf diese Weise, die preußische militärische Wacht am
Rhein, die verhaßteste Erinnerung an den Wiener
Kongreß, wieder zu
beseitigen, und mit diesem Stoß gegen Preußen zugleich den
bisherigen politischen Aufbau des Reiches über den Haufen zu werfen.
Als man von diesen großen Zielen in Versailles infolge des
angelsächsischen Widerspruchs entfernt blieb, unternahm es die
französische Politik - in der niemals zu sühnenden Geschichte
von 1919 bis 1924 -, ihr Kriegsziel mitten im Frieden zu erreichen, und mit
Hilfe der Besatzungen und der Reparationen, mit brutaler Gewalt und gemeiner
Verlockung sich doch noch zum Herrn des Rheinlandes zu machen.
Schon im Juni 1922 glaubte Poincaré befriedigt feststellen zu
können, daß man der dauernden Besetzung des linken Rheinufers
entgegengehe: "Ich für mein Teil ziehe die Besetzung und die Eroberung
den Reparationen vor. Das einzige Mittel, den Versailler
Vertrag zu retten, besteht darin, es so zu arrangieren, daß unsere
Gegner, die Besiegten, ihn nicht einhalten können." Für das
Programm der Ruhrbesetzung von 1923 war es kennzeichnend, daß von
diesen Positionen an Rhein und Ruhr aus der eigentliche Vorstoß auf das
Ganze des deutschen Staates gerichtet war. Schon während des
Einmarsches in den Ruhrbezirk schrieb die Action française am 9.
Februar 1923:
"Solange die Auflösung des
deutschen Staates nicht in Berlin ausgesprochen ist, wird es schwer, wenn nicht
unmöglich sein, im Rheinlande besonderes zu erreichen. Die
Schwierigkeiten kommen daher, daß Deutschland noch eine Einheit ist und
noch eine geord- [832] nete Regierung besitzt.
Diese Regierung, diese Ordnung, dieses Gesetz, diese Einheit müssen
zerschlagen werden."
Das war gewiß eine unsinnige Stimme der Leidenschaft, für die die
Gesamtheit der Franzosen nicht verantwortlich zu machen ist; aber würde
es in Frankreich eine Partei gegeben haben, die damals Kraft und Mut besessen
hätte, sich diesem Vorgehen entgegenzuwerfen, wenn es sich
ungestört durch Europa hätte verwirklichen lassen?
Im Vergleich mit Frankreich konnten Kriegsmotiv und Kriegsziel der Russen
gegen Deutschland eine historische Begründung überhaupt nicht
aufbringen. Denn wenn man die ganz vereinzelte Episode des
siebenjährigen Krieges ausnimmt, waren russische und deutsche Fronten
noch niemals feindlich aufeinandergestoßen; und auch in jenem Vorgang
haftete die weltgeschichtliche Erinnerung nicht an dem Tage von Zorndorf,
sondern an dem russischen Übertritt von der Großen Koalition zu
Friedrich
dem Großen, dem "miracle de la maison de Brandebourg".
Es war das erste Vorspiel eines russisch-preußischen Zusammengehens, das
damals für vier, fünf Generationen begründet wurde. Der
Aufstieg des preußisch-deutschen Staates sollte sich geradezu unter der
Rückendeckung der russischen Freundschaft vollziehen.
So war denn im Weltkrieg ein sachliches und unmittelbares Kriegsziel auf
deutschem Boden nicht zu finden. Nur damit der russische Imperialismus die
seiner Eroberung entgegenstehenden Hindernisse auf der Front von Galizien bis
zu den Meerengen überrennen könnte, brachen die russischen Heere
in Ostpreußen ein, sollte die deutsche Macht vernichtend getroffen werden:
das Kriegsziel war die Zerstörung des deutschen Bundesgenossen
Österreich-Ungarn. Daraus erklärt sich, daß die russischen
Kriegsziele, soweit sie auf deutschen Boden gerichtet waren, einer innern
Planmäßigkeit entbehrten: sie hatten mit dem politischen
Lebenswillen der Großmacht nichts zu tun, sondern schleppten eher einige
verblaßte dynastische Erinnerungen mit sich. Um so bezeichnender war es,
daß gerade Sasonow bald nach dem Kriegsbeginn, unbekümmert um
den Ausgang der Schlacht bei Tannenberg, die Kriegszieldebatte mit den
Westmächten am 14. September 1914 zu eröffnen sich beeiferte.2 Es verstand sich, daß er das
Niederbrechen der deutschen Macht als solcher als Hauptziel nahm und insofern
allen westlichen Wünschen der Franzosen
entgegenkam - die machtlose Mitte Europas war jetzt die stärkste
Machtvoraussetzung, die Rußland glaubte auch für sich
wünschen zu sollen. Darüber hinaus forderte Rußland das
östliche Ostpreußen, und unter dem Decknamen Polen das
östliche Posen, Schlesien,
Galizien - was die Aufrollung des gesamtpolnischen Bereiches, aber auch
alter deutscher historischer Kulturlandschaften bedeutet haben würde. Aber
die russische Phantasie schweifte, augenscheinlich durch rein dynastische Motive
angeregt, noch weiter; sie wünschte
Schleswig-Holstein für Dänemark, [833] eine ansehnliche
Vergrößerung Belgiens und die Wiederherstellung des
Königreiches Hannover. Wenn der Franzose die Revision des Frankfurter
Friedens von 1871 vornahm, mochte der Russe das Werk Bismarcks an zwei
namhaften Errungenschaften von 1864 und 1866 wieder zu zerschlagen suchen.
Daß man auch die Aufteilung der deutschen Kolonien unter England,
Frankreich und Japan anregte, geschah wohl mehr, um hier die russische
Enthaltsamkeit zu betonen. Sasonow besaß so viel Einsicht, daß er
selbst seine Vorschläge als "Skizze eines Gemäldes, dessen
Leinwand noch nicht gewebt sei", bezeichnete; aber man sieht den Zaren noch
gegen Ende November 1914 mit den Umrissen dieses Planes eifrig
beschäftigt. Da hat inzwischen Belgien in der Richtung auf Aachen eine
bedeutende territoriale Vergrößerung erhalten, und es wird eine
Stärkung des Friedens davon erwartet, "wenn wir Hannover neu erstehen
lassen und einen kleinen Staat zwischen Rußland und den Westen (!)
legen". Man könnte an eine Erneuerung der deutschen Grenzgestaltung an
Nord- und Ostsee im Zeitalter von 1648 denken, wenn man nicht dem
geographischen Vorstellungsvermögen des Zaren einiges zugute halten
müßte. Jedenfalls haben wir hier noch nicht die letzte Spur der
russischen Kriegsziele auf deutschem Boden, sie sind in dem Blut der russischen
Niederlagen von 1915 zugrunde gegangen, aber sie werden trotzdem noch in den
ersten Monaten des Jahres 1917 zwischen Frankreich und Rußland
verhandelt, und sie würden ohne den revolutionären Zusammenbruch
Rußlands ihre Rolle auf dem Friedenskongreß gespielt haben. Was
davon erhalten bleibt, wird in dem polnischen Wiederherstellungsprogramm des
Dreiverbandes wieder auftauchen.
Auch der deutsche und der englische Geschichtsverlauf hatten bisher weder ernste
Reibung noch kriegerischen Gegensatz gekannt. Gerade in den neueren
Jahrhunderten hatte vielmehr eine gewisse Gemeinschaft der politischen
Interessen und der Gegensätze überwogen; in der ganzen Epoche, da
der säkulare englisch-französische Gegensatz die Welt beherrschte,
war zuerst das Haus Habsburg, dann der preußische Königsstaat oder
auch beide die Verbündeten des Inselreiches gewesen. Eben diese
Traditionen waren es gewesen, die besonders auf deutscher Seite fast eine
Undenkbarkeit des Bruches erzeugten, und auch wenn man das Wort "Blut ist
dicker als Wasser" drüben nicht so häufig wie bei uns im Munde
führte, so wäre ein Krieg gegen Deutschland noch um 1900 in
England als ein fremdartiger Gedanke verworfen worden. In der Vergangenheit
fehlte es an jeder Anknüpfung.
Wenn man die englischen Kriegsziele mit denen der anderen Feinde vergleicht, so
haben sie zwar den Vorteil, ihre Phantasie nicht so weitgehend mit deutschem
Land und Leuten zu sättigen, sie beschäftigten sich höchstens
mit Schleswig-Holstein und dem Nordostseekanal. Aber sie werden darum nicht
minder mörderisch ausgreifen. Die Kriegführung brachte es mit sich,
daß eine systematische [834] Ausrottung der
deutschen Industrieausfuhr und des deutschen Überseehandels eingeleitet
wurde. Und da England die öffentliche Meinung in der Welt am
stärksten beherrschte, verfügte es gegenüber dem von dieser
Welt völlig abgeschnittenen Deutschland über alle Mittel, den
Gegner auch durch eine systematische Propaganda der deutschen Greuel
moralisch zu diskreditieren und damit für die Nachkriegszeit
wirtschaftlich-gesellschaftlich zu verfehmen und auszuschließen. Das
Thema der kolonialen Greuel verfolgte dabei den besonders
lohnenden Zweck, die Ausschließung der Deutschen aus ihrem kolonialen
Besitz beizeiten, aber auch aus Gründen der Menschlichkeit und den
Pflichten der kolonisierenden weißen Völker zu Liebe, restlos
einzuleiten. So setzte dann alsbald die Eroberung des deutschen Kolonialbesitzes
ein, sowohl soweit er aus der Periode Bismarcks stammte, als soweit er in der
wilhelminischen Zeit hinzugewonnen war. England konnte vor allem in
Südafrika, das man noch im Sommer 1914 mit den Deutschen hatte teilen
wollen, an die Verwirklichung der imperialistischen Träume denken, die
Cecil Rhodes einst erfüllt hatten. Im übrigen mochte das Inselreich
sich bescheiden und damit rechnen, daß die deutschen Festlandsgegner ihre
Ziele erreichen würden - wenn obendrein der Deutsche die gesamten
Lasten des Krieges trug, dann war kaum zu erwarten, daß dieses, um die
kontinentalen Kriegsziele verkleinerte und ausgepumpte Land, aus der See, den
Kolonien, dem Weltwettbewerb gewaltsam hinausgetrieben, jemals wieder die
Wege der englischen Weltmacht kreuzen würde.
Obgleich der Dreiverband der Welt schon beim Kriegsausbruch als die
überlegene Partei erschien, hat er den Sieg nur dadurch davontragen
können, daß er während des Kriegsverlaufes den weitaus
größten Teil der neutralen Welt auf seine Seite
hinüberzuziehen vermochte. Jenseits der militärischen Geschichte
des Weltkriegs im engeren Sinne, in der es der Mitte Deutschland,
Österreich-Ungarn, Türkei und Bulgarien gelingt, in einem weit
hinaus geschobenen Umkreis sich militärisch zu behaupten, vollzieht sich,
schließlich mit einer gewissen Zwangsläufigkeit, wie sie sich aus der
Absperrung der Mitte von der übrigen Welt ergibt, der Anschluß von
großen und kleinen Mächten an dasjenige Lager, dessen Endsieg als
der wahrscheinlichere Ausgang angesehen wird, und damit werden auch die
Kriegsziele, die gegen die Mitte gerichtet sind, in ununterbrochenem Wachstum
bleiben, über alle ausbeutbaren Möglichkeiten der Befriedigung
hinaus.
Gleich nach Kriegsausbruch hatte der Verbündete Englands, Japan, sich,
wie zu erwarten war, der großen Angriffsfront angeschlossen. Sein
begrenztes Kriegsziel war die - an sich auf ein
deutsch-chinesisches Rechtsverhältnis
gegründete - deutsche Position in Kiautschou und Schantung. Einst
der Ausgangspunkt, von dem die Deutschen im Fernen Osten die Wege des
Imperialismus beschritten hatten, vorbildlich und aussichtsreich, konnte sie sich in
ihrer völligen [835] Isolierung nicht halten.
Es ging dabei von vornherein nicht um die deutsche Stellung in Schantung allein,
sondern um ihre ganze
politisch-wirtschaftlich-kulturelle Einflußsphäre im Fernen Osten
überhaupt. Um dieser auf weitere Sicht hin sich erstreckenden Ziele willen
geschah es, daß die Entente im August 1917 auch das von schweren inneren
Krisen heimgesuchte China trotz seines Widerstrebens zur Kriegserklärung
gegen Deutschland nötigte.
Eine weitere Gruppe der Verstärkung des Feindverbandes ergab sich
daraus, daß die beiden Glieder des Dreibundes, die das Bestehen der
Bündnisverpflichtung für sich nicht anerkannt hatten, im weiteren
Verlaufe allmählich auf die andere Seite hinübertraten: Italien und
Rumänien. Nicht weil sie auf dieser andern Seite ein höheres Recht
sahen. Italien hatte sogar nach den ersten Kriegswochen noch einmal geschwankt;
als die Deutschen sich Paris näherten, hatte die italienische Politik sogar
einen kurzen Anlauf genommen, eine gemeinsame
italienisch-österreichische Aktion in Albanien einzuleiten und damit
vorsichtig zum Bündnis zurückzukehren; erst als der
Rückschlag der Marneschlacht erkennbar wurde, begann sie langsam, aber
endgültig von dem alten Verbündeten abzuschwenken. Der alte
König Karl von Rumänien konnte wenigstens, so lange er lebte, den
Parteiwechsel vermeiden; erst sein Nachfolger vollzog ihn, als die Aussichten des
Sieges sich ihm zu verschieben schienen. Schon ein Blick auf die Kriegskarte
lehrt, daß der Hinzutritt Italiens und dann Rumäniens zu der
russisch-serbischen Front gegen Österreich-Ungarn eine
Verlängerung nach Westen wie nach Osten fügte, den ehernen Ring
der Einkreisung um die von jetzt an um ihr Dasein kämpfende
Donaumonarchie schloß. Die den neuen Fronten entsprechenden
Kriegsziele liefen zunächst auf die Herauslösung der italienischen
und rumänischen Bestandteile der Monarchie hinaus, indem sie sich mit
dem russisch-serbischen Kriegsziel und den innerpolitischen Gegensätzen
der Tschechen und Polen verbanden, mündeten sie in dem Endziel der
nationalen Zerschlagung Österreich-Ungarns. Dabei stellte sich sofort
heraus, daß der Vorstoß der Nationalitäten von allen Seiten sich
nicht auf den diesen Nationalitäten eigentümlichen Boden
beschränken würde, sondern alsbald, um nur für Italien und
Rumänien die nächste Konsequenz zu nennen, mit Bozen und
Hermannstadt in die alten historischen und kulturellen Sitze deutschen Volkstums
erobernd einzubrechen bereit war.
Gewiß gab die Kriegslage noch lange Zeit solchen Hoffnungen keinen
Raum, sondern schien sogar zu einem entgegengesetzten Ergebnis zu
führen. Serbien und Rumänien wurden völlig von den
siegreichen Mittelmächten überrannt, die Russen waren für
immer weit hinter die polnisch-litauisch-baltische Front zurückgeschlagen,
und die italienischen Isonzofronten begannen zu erstarren; rein militärisch
gesehen, waren die Kriegsfronten
Österreich-Ungarns zuletzt größtenteils entlastet. Aber jenseits
dieser Kriegskarte lag noch eine Weltkarte, [836] auf der die Gestirne
ungünstiger standen. Die Summe der nationalen Spannungen in der
habsburgischen Monarchie - die zu den Russen desertierten tschechischen
Legionen blieben ein düsteres
Vorzeichen - kennzeichnete die Lebensgefahr, in der sie schwebte; und alle
Gunst von Paris, London und bald auch Washington blieb ihren inneren und
äußeren Gegnern zugewandt. Wenn der Ausgang des Weltkrieges
gegen die Mittelmächte entschied, mußte man mit dem Ende
Österreich-Ungarns rechnen.
Vom deutschen Standpunkt aber mußte man sich sagen, daß dieses
Ergebnis eine doppelte Bedeutung hatte. Es vernichtete eine Großmacht, die
der deutsche Bundesgenosse war, und traf insofern auch die deutsche
großmächtliche Stellung. Aber sie löste zugleich ein
ehrwürdiges historisches Gebilde auf, das ursprünglich aus dem
deutschen Staatsleben hervorgewachsen, auch in seinen späteren
Entwicklungsstadien der Träger einer deutschen Kulturmission gewesen
war; und wenn auch bei einem Auseinanderbruch die Tschechen und Polen,
Südslaven und Rumänen zunächst ihre nationalen
Volksanteile aus dem Gesamtkörper herausreißen mochten, so
ließ sich doch voraussagen, daß dieser Prozeß nicht ohne
zahllose blutende Schnittflächen für den Leib des über
Österreich und Ungarn hin sich erstreckenden deutschen Volkstums
durchgeführt werden könne. Auch hier vereinigten sich alle
Kräfte der Zerstörung gegen die deutsche Nation.
Eine besondere Rolle spielte unter diesen Nationalitätenfragen das
polnische Problem, in das die Mittelmächte sich gleichsam mit dem
Schwerte hineinerobert hatten, und dessen friedliche Lösung sie jetzt
für spätere Zeiten vorbereiten mußten; zumal wenn sie den
polnischen Boden, den sie militärisch beherrschten, und die polnische
Bevölkerung für ihre Kriegszwecke organisieren wollten, konnten sie
sich dieser Aufgabe nicht entziehen. So hatten sie die Wiederherstellung Polens
auf ihr Programm geschrieben, in einer staatlichen Form und in einem Umfange,
wie sie meinten, sie ungefährdet kontrollieren zu können. Das
mochte als gewagtes Spiel erscheinen, aber das letzte Urteil darüber, ob es
falsch oder richtig war, hing im Grunde von der Entscheidung Sieg oder
Niederlage ab, in der alles andere aufging. Als aber die Westmächte auf das
weit zurückgeworfene und von der Revolution ergriffene Rußland
keine Rücksicht mehr zu nehmen brauchten, konnten sie das
mittelmächtliche Programm der Wiederherstellung Polens weit
überbieten; wenn sie im Augenblick den Polen auch das Land ihrer
Träume selbst nicht geben konnten, so konnten sie für die Zukunft,
für den Fall des Sieges, mit den Grenzen von 1772 und noch mehr
verschwenderisch locken.
Schon längst hatte sich eine russische Abart des polnischen Nationalismus
entwickelt, die ihre Hoffnungen - ursprünglich im Rahmen des
russischen Reiches, dann aber von ihm
abgelöst - weit über das begrenzte Angebot der
Mittelmächte schweifen ließ. Hier begnügte man sich nicht, die
Gebiete aller [837] drei polnischen
Teilungen - einschließlich der deutschen und der gemischten
Bestandteile - zurückzuverlangen; man erhob Ansprüche auch
da, wo der nationale Charakter oder die historische Vergangenheit eindeutig
dagegen sprach. So scheute man sich nicht, die reindeutsche
Stadt Danzig auf die Liste der Eroberung zu setzen und einen
territorialen Eingang zur See zu fordern; man ging dazu über, seine
Ansprüche auch auf
die Landschaft Oberschlesien, die seit dem
11. Jahrhundert in keiner Beziehung zum polnischen Staate gestanden
hatte, auf Grund der Sprachverhältnisse in der gemischten
Bevölkerung auszudehnen; einmal auf diesem Wege, ergossen diese
Rückforderungen sich hemmungslos über einen großen Teil
des deutschen Kolonisationsgebietes vom 12. bis 14. Jahrhundert. Hinter
diesem Kriegszielkomplex blieben die früheren russischen Pläne
weit zurück. Was von den Deutschen einst zwischen Elbe und Weichsel
besiedelt und kultiviert worden war, wurde von dieser Publizistik in Frage
gestellt; und schon begannen sich auch die Tschechen (obgleich sie in
Böhmen selbst einem Drittel deutscher geschlossener Bevölkerung
gegenüberstanden) an diesen Streifzügen der historischen Phantasie
zu beteiligen. Vor allem war es die französische Politik, die im Kampf
gegen den "deutschen Drang nach dem Osten" das Erbe des Panslavismus
übernahm und die Feindschaft zwischen "Germanentum und Slaventum" in
den Dienst ihrer Vernichtungspolitik
stellte - von dem Gesichtspunkt der französischen Rheinpolitik aus
konnte auch Polen gar nicht groß genug wiederhergestellt werden. So sah
der Deutsche angesichts dieser Eroberungsphantasie, die erst im Moment des
Zusammenbruches ganz ungezügelt durchbrach, das Erbe von
Jahrhunderten ins Wanken kommen.
In der Ausdehnung der Kriegsfronten war der Eintritt der Vereinigten Staaten in
den Krieg die Entscheidung. Ein langer Weg hatte die letzte Großmacht der
Erde, nach anfänglicher wohlwollender Neutralität für die
Entente, zu einer praktisch weitreichenden finanzpolitischen und
wirtschaftspolitischen Unterstützung unserer Feinde geführt, und von
dem schiedsrichterlichen Willen, der sich in dem Präsidenten Wilson zumal
seit seiner Neuwahl mehr und mehr befestigte, war nicht zu erwarten, daß er
unter günstigen Zeichen für die deutsche Seite stehen würde.
Der deutsche Übergang zum Unterseebootkrieg, der den Eintritt Amerikas
in den Krieg unabwendbar machte, soll hier nicht diskutiert werden; daß
selbst eine Intervention Amerikas, die uns schwere Opfer auferlegt haben
würde, gegenüber einer durch Amerika herbeigeführten
Siegentscheidung weitaus das geringere Übel gewesen wäre, kann
von keiner nüchternen politischen Erwägung geleugnet werden.
Die praktischen und moralischen Wirkungen der Kriegserklärung Amerikas
trugen ein Risiko in sich, das auszugleichen jenseits aller Wahrscheinlichkeit lag.
Sie half alle erschütterten Gegner über das Ausscheiden
Rußlands infolge der Revolution hinweg, sie sicherte ihnen nun vollends
den Menschenreichtum und [838] die Wirtschaftsmacht
eines mächtigen Landes und erfüllte sie mit einem
unzerstörbaren Kapital an Zuversicht, dem furchtbaren deutschen Gegner
am letzten Ende überlegen zu bleiben.
Für Deutschland und seine Verbündeten schloß dieser Eintritt
Amerikas in den Krieg die Welt vollends zu. Nur der Vollständigkeit halber
sei hier erwähnt, daß auch fast alle mittelamerikanischen und eine
Reihe von südamerikanischen Republiken dem Kriegsentschlusse der
Union sich mehr oder minder freiwillig
anschlossen - man hat nur die Namen derer, die sich heraushielten, und
nicht derer, die mitgingen, im Gedächtnis behalten. Und es sei nicht
verschwiegen, daß in jenem Prozeß der Wirtschaftszerstörung,
der seit Jahren schon die deutsche Arbeit in einem großen Teile der Welt
ausrottete, nunmehr noch weitere unabsehbare Kriegsschauplätze
hinzugewonnen wurden. Dieses Gebiet einer fast die ganze Welt umfassenden
Kriegführung wird in einer tiefen Herabdrückung der
wirtschaftlichen Lebensbedingungen des deutschen Volkes verewigt bleiben.
Freilich, diese amerikanische Welt verfolgte nicht ihr eigentümliche
Kriegsziele. Präsident Wilson wollte ja weiter nichts, als die Welt zu einem
sichern Heim der Demokratie
machen - in jener merkwürdigen Mischung von ausgesprochenen
Instinkten der Abneigung und Zuneigung, von gutem Glauben und
persönlichem Ehrgeiz und von nackten Interessen, die seine unsicheren
Schritte leitete. Wenn der Präsident in dem zweiten seiner 14 "Punkte" sich feierlich dafür
einsetzte, daß "Völker und Provinzen nicht von einer
Souveränität zur anderen verschachert werden dürfen, gerade
als ob sie bloße Gegenstände oder Steine im Spiele wären", so
hätte er im Kreise seiner Verbündeten Gelegenheit genug gehabt,
ihre Absichten auf deutsches Land und Volkstum auszumerzen, aber es ist nicht
bekannt, daß er bei seinem Eintritt in den Krieg eine Revision dieser
Eroberungsprogramme sich
ausbedungen hätte - für den Gesichtskreis eines
amerikanischen Politikers lagen nun einmal solche Territorialfragen
außerhalb der Sachkunde und des inneren Anteils. Letztlich wollte Amerika
in den Kampf um eine neue Weltordnung so eingreifen, daß seine eigenen
Interessen in der neuen Gruppierung irgendwie auf ihre Kosten kämen. So
ließ sich der amerikanische bewaffnete Schiedsrichter in einen Krieg
hineintreiben, den er als Letzter mit seinem Schwergewicht im Felde entscheiden
konnte, aber zu einem wahrhaften Frieden zu gestalten außerstande war.
[832a]
"The big three", Clemenceau, Wilson, Lloyd George
während der Friedensverhandlungen in Paris
1919.
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Es konnte nicht anders sein, als daß der Gewaltfriede von
Versailles hinter der Summe der Kriegsziele, die hier erläutert
wurden, doch wesentlich zurückblieb; waren doch während des
Weltkriegs Karten der Aufteilung Deutschlands vertrieben worden, bei denen
vermöge der Ausplünderung von allen Seiten her nur in der innersten
Mitte ein Rest oder gar nichts mehr übrig blieb. Und der Geist des
Vernichtungswillens war allerdings nicht weit von [839] solchen
Wünschen entfernt; glaubte man doch in Versailles den Unterlegenen so
grenzenlos mit dem Ersatz für möglichst alle Kriegskosten belasten
zu können, daß man schon nach einem Jahrzehnt selber einsehen
mußte, wie man Gefahr lief, mit solchen Gewaltmitteln die
Wirtschaftszerstörung der Welt zu verewigen. Diese Pläne verdienen
dasselbe Urteil wie jene phantastischen Karten.
Wenn die Neuordnung von Versailles ihr Werk rechtfertigen wollte, berief sie
sich darauf, daß sie an Stelle früherer Zeiten, in denen Blut und Eisen
geherrscht hätten, nun die Gerechtigkeit als Norm einer geordneten
Völkergesellschaft einführen wolle. So ließ man es sich
angelegen sein, viele der Umgestaltungen mit dem Grundsatz einer
Selbstbestimmung der Völker zu rechtfertigen. An der einen
Stelle aber, wo dieses staatenbegründende Prinzip in seinen Folgen zu einer
Verstärkung des deutschen nationalen Elementes hätte führen
müssen, da wurde es in vollem Umfang verleugnet, ja unter Verbot gestellt:
Der
Anschluß Deutsch-Österreichs an das Deutsche Reich, des
Rumpfstaates, der nach Zerschlagung der Monarchie lebensunfähig in sich
selber zurückgeblieben war, wurde an eine Reihe von Bedingungen
geknüpft, die einem Verbote gleichkamen. Und wiederum war es
Frankreich, das als der herkömmliche Gegner der deutschen
nationalstaatlichen Einigung auf einem Gebiete die Führung
übernahm, auf dem ein rechtzeitiger Ausgleich, unmittelbar nach dem
Abschluß des Weltkrieges vollzogen, viel zur
Völkerversöhnung hätte beitragen können. Aber die
Franzosen hatten alles daran gesetzt, in Versailles wie nachher, die deutsche
staatliche Einheit, soweit es möglich war, zu
zerstören, - wie hätten sie es zulassen sollen, daß sie
sich vollende! So verhinderten sie den Anschluß auf die Gefahr, damit das
hohe Prinzip der Selbstbestimmung der Völker an der bedeutsamsten Stelle
zu durchbrechen. Aus demselben Grunde, aus dem man die Rheinlinie wollte und
ein möglichst tief nach Deutschland hineingeschobenes Polen, aus
demselben Grunde mußte man das verunglückte Experiment der
Mainlinie wiederholen und einen Abgrund zwischen dem Deutschen Reiche und
Deutsch-Österreich aufreißen. Wenn man den Bestand des Deutschen
Reiches als solchen nicht von außen wesentlich antasten konnte, sollte er
wenigstens von innen so vernichtend wie möglich gelähmt werden.
Und so stoßen wir noch einmal auf den tiefsten Grund jener weit
zurückreichenden historischen Rivalität, auf den
eifersüchtigen und streitbaren nationalen Lebenswillen der Franzosen, der
sich dem werdenden Nationalstaat des Deutschen Reiches in den Weg stellte und
damit Auftakt und Richtung eines neuen Zeitalters bestimmte.
Aber wie es um die Friedensbestimmungen im einzelnen stehe, alles, was den
Deutschen im Versailler Frieden genommen und ihnen auferlegt wurde, ist
tödlich vergiftet worden durch den Vorwurf, daß sie mit dieser
Sühne eine gerechte Strafe für eine schwere Schuld auf sich
nähmen; für eine Allein- [840] schuld oder doch eine
überwiegende Schuld an dem Weltkriege, an seinem Ausbruch oder an
seiner Vorgeschichte oder an dem Geiste des Zeitalters, aus dem er hervorging, je
nachdem die angeblich historisch beweisbare Anklage an dem
äußerlichen Einzelvorgang haften sollte oder in dem Innersten des
Volkstums verwurzelt wurde. Es war nichts anderes, als den Geist der
antideutschen Vorkriegspublizistik und Kriegspropaganda, die immer nur die
Stimme der Partei vertreten hatten, nunmehr in die höchste Instanz eines
völkerrechtlich unfehlbaren Richterspruches zu erheben. Dabei handelte es
sich nicht um eine schuldhafte Diplomatie etwa in den letzten acht Tagen vor
Kriegsausbruch oder in den letzten Jahren der wachsenden Kriegsgefahr, sondern
der Sinn dieser verächtlichen Kriegsschuldthese richtete sich gegen den
ganzen Aufstieg des Deutschen Reiches im letzten Menschenalter, ja gegen unsere
ganze geschichtliche Existenz in der europäischen Staatenentwicklung,
gegen unser So-und-Nichtanderssein nach außen wie nach innen.
Es hat auch nicht an französischen Historikern gefehlt, die, das letzte
Geheimnis heraussagend, dem Deutschen Reiche vorwarfen, daß es durch
sein bloßes Emporkommen (seul en existant) zum Störenfried
Europas geworden sei, so wie man den Reichsgründer beschuldigte,
daß er erst die unheilvollen Methoden der Macht, die Politik des Blut und
Eisen, in eine friedlich und ethisch gerichtete geordnete Staatengesellschaft
eingeführt hätte. Der überhebliche Geist dieser Anklage ist
auch in dem allmählichen Urteil eines englischen Staatsmannes von
vorübergehendem Range zu Worte gekommen: Die deutsche Geschichte
der letzten hundertundfünfzig Jahre sei überhaupt ein einziger
Fehlgriff gewesen. Von hier gelangt man ohne Mühe zu den verzerrten
Geschichtsbildern der finnischen Völker des Ostens, die den deutschen
Besitz der Länder östlich der Oder oder gar der Elbe, als gewaltsamer
Eroberung verdankt, am liebsten in einem Zuge bestreiten möchten.
Immer wieder kehren wir zu der Tatsache zurück, daß der
"Vernichtungskrieg" nicht nur ein Wort, sondern buchstäblich gemeint war.
Die Summe der Kriegsziele und Anforderungen steigerte sich so hoch, daß
das Ganze der deutschen geschichtlichen Existenz darüber zertreten und
zerstückelt wurde. Nicht nur das Deutschland Wilhelms II. und seine
weitausgreifende Arbeit in der Welt, auch das Deutschland Wilhelms I. und
Bismarcks,
seine Macht und Sicherheit, die deutschen Positionen des 18. und
19. Jahrhunderts im Osten und Westen, das ganze geschichtliche Gebilde
der deutschen Großmacht Österreich und ihrer kulturellen und
staatlichen Mission im Südosten, ja ein guter Teil deutscher Kulturarbeit
des Mittelalters sollte verschlungen werden. So daß man vor der Frage
stand, ob nicht der ganze Ablauf der deutschen Geschichte seinen innersten Sinn
damit verlieren sollte.
Niemals hat in älteren und neueren Zeiten ein Volk gegen eine so weither
angelegte Verneinung seiner geschichtlichen Existenz, eine aus so vielen Quellen
[841] sich nährende
Verunglimpfung sich zu verwahren gehabt, wie sie in Versailles beschlossen
wurde - beschlossen zu dem Zwecke, das Gewaltwerk dieses Friedens mit
einem Schein des Rechtes zu umgeben. Die Kriegsschuldthese ist zwar langst in
einem Verfall begriffen, wie andere Teile dieser Friedensakte sich auch als
unausführbar erwiesen haben. Aber man täusche sich darüber
nicht, daß sie nicht auf das einzelne geht, in dem sie zu widerlegen, zu
diskutieren, zu "entscheiden" wäre. Sie geht gegen den geschichtlichen
Anteil der Deutschen an der europäischen Staatenentwicklung.
Und so haben wir, auch wenn wir die einzelne Anklage aufnehmen und in sich
auflösen, dem Geiste dieses Angriffs doch nur das ganze Bild unseres Seins
entgegenzustellen, zu stolz, vor den anderen zu rechtfertigen, daß unsere
Rolle in der Geschichte diese und keine andere gewesen sei und zu bleiben
fortfahre. Denn in dem Besitze dieser Geschichte, dieses Aufsteigens und
Niedergehens, dieses Tuns und Lassens, dieses Gebens und Nehmens, dieses
Handelns und Leidens sind wir so unsterblich unter den Völkern dieser
Erde, wie überhaupt von einer Unsterblichkeit der Völker gesprochen
werden kann. In diesem ganzen Besitze aber, eingeschlossen die höchsten
Höhen und die tiefsten Tiefen, auf die wir zurückblicken, sind wir
uns bewußt, daß das Leben des deutschen Volkes so ungebrochen in
seinen seelischen Energien und in seinem Glauben an sich selber ist wie je zuvor.
Auch für die Gemeinschaft eines Volkes gilt, wie für das Leben des
einzelnen: was Not und Leiden zerstörten, wird aufgewogen durch das, was
Not und Leiden an neuen Kräften ins Leben rufen, zeugungskräftig
und unwiderstehlich.
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