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Mitteldeutschland - Hermann Goern

Obersachsen

So klar begrenzt der obersächsische Raum im Süden nach Böhmen hin durch die mächtige Schranke des Erzgebirges ist, so unbestimmt fließen seine Grenzen nach den übrigen Richtungen. Die westliche möchte man am ehesten in der Saalelinie sehen und ist von der Geschichte aus dazu berechtigt, da die deutsche Wiederbesiedelung von hier ihren Ausgang nahm. Aber die Thüringer haben diese "Grenze" überschritten und da sie unter den Kolonisatoren des Neusiedellandes den Hauptbestandteil bilden, die Landschaft auch keine wesentlichen Unterschiede aufweist und die politischen Grenzen überholt sind, so bleibt diese Trennungslinie unklar. Nach Osten rundet die Schwarze Elster den Raum ab, der mit Wittenberg am weitesten nach Westen vorstößt. Also die gesamte östlich der Saale ausgebreitete und von der Elbe entwässerte Landschaft, deren Grundstock mit Abstrichen im Osten (Oberlausitz) und Hinzufügungen im Norden (von der Provinz Sachsen) das Hoheitsgebiet des ehemaligen Freistaates Sachsen bildet.

Die Vielgestaltigkeit des mitteldeutschen Raumes zeigt sich gerade in dieser Landschaft am ausgeprägtesten. Außer Hochgebirge und Meer sind alle Möglichkeiten der Bodenformung auf engstem Raum zusammengedrängt: Tiefebene, Moränen- und Heidelandschaften, Hügelland und Mittelgebirge. Sogar Seen und Moore sind vorhanden. Vom schweren, Fruchtbarkeit spendenden Lößboden des Elbtales verringert sich die Ertragfähigkeit bis zu den kargen Äckern des Erzgebirges. Aber diese beträchtlichen Unterschiede liegen nicht hart neben- oder durcheinander, sondern gehen fast unmerklich ineinander über, verbunden durch eine einzige, gemächlich bis zum Kamm des Gebirges ansteigende dachförmig nach Norden geneigte "Ebene". So kommt es, daß man selbst in beträchtlichen Höhen weniger den Eindruck eines Gebirges als vielmehr den eines Hügellandes hat und nur die tiefeingeschnittenen sehr malerischen Waldtäler der nordwärts ziehenden Flüsse geben den eigentlichen Maßstab an. Verwischt wird der sonst für alle Teile Deutschlands gültige Gegensatz zwischen Ebene und Gebirge besonders noch dadurch, daß die Besiedelung nicht vor den Bergen Halt macht oder nachläßt, sondern in unverminderter Dichte fast bis zum Kamm hinaufsteigt.

In diesem Raum ist der Mensch durch vereinzelte Werkzeugfunde schon für die ältere Steinzeit bezeugt. Der Ort Markkleeberg bei Leipzig mit seinen [438] Feuersteingeräten im Pleißeschotter gibt hier den Namen für die früheste auf Jagd, Fischfang und Sammeln beruhende Kultur der sogenannten Saale-Eiszeit. In der mittleren Steinzeit beginnend und die jüngere beherrschend hat die Kultur der Bandkeramiker in den fruchtbaren Lößgegenden des Elbtales zahlreiche Zeugnisse hinterlassen. Die Verfertiger der mit bandförmigen Ornamenten verzierten meist kugeligen Gefäße waren nach ihrer Bevorzugung fruchtbarster Böden schon Ackerbauer und Viehzüchter. Diese wohl von den Donauländern her eingewanderten Stämme werden gegen Ende der Jungsteinzeit von den Schnurkeramikern verdrängt, deren nordisch bestimmte Kultur sich nach allen Seiten hin weit und schnell verbreitet. Die mittlere Bronzezeit bringt mit der Lausitzer Kultur von Osten her neuen Zustrom. Um 600 v. Chr. gehört der Raum bereits den Germanen. Die Namen der Stämme wechseln. Sueben und Burgunden überlassen ihre Wohnsitze den Hermunduren. Das große Thüringer Reich entsteht, vergeht, und in das nun von Germanen entblößte Gebiet dringen erst langsam und dann immer stärker im Gefolge von unstäten Hunnen und Awaren die Slawen ein. Im neunten Jahrhundert haben sie unter dem Namen Sorben die Saale erreicht. Gegen sie gründet Karl der Große als Grenzschutz die Mark Thüringen, die später als sorbische Grenzmark dem Frankenreiche angegliedert wird. Die zunächst friedliche Wiedergewinnung alten germanischen Bodens wird kriegerisch, als unter dem Sachsenkönig Heinrich I. im gesamten ostelbischen Gebiet der große Wendenaufstand ausbricht. 928 fällt die sorbische Burg Gana in der Gegend von Lommatzsch, und im gleichen Jahre gründet Heinrich die Burg Meißen, von der aus unter dem Markgrafen Gero die große Ostkolonisation ihren Weg nimmt. Die Bistümer Zeitz, Merseburg, Meißen, Brandenburg und Havelberg entstehen als mutige Gründungen christlicher Ritterschaft, wo der Krummstab mit dem Schwerte geht. Unter Kaiser Otto I. werden dann alle diese Grenzposten seiner Lieblingsgründung dem Erzbistum Magdeburg unterstellt. Rückschläge bleiben freilich nicht aus. Die Böhmen erobern 1002 unter Herzog Boleslaus dem Kühnen Meißen. Aber Markgraf Ekkehard schlägt sie zurück, - jener berühmteste unter den Naumburger Stiftern, der nach der Kaiserkrone trachtete - und macht die bisher freie sorbische Bevölkerung "zu Knechten". Der Polenherzog Miesko dringt sogar bis zur Weißen Elster vor, ohne sich jedoch lange behaupten zu können. Wiprecht von Groitzsch, die sagenumkränzte Heldengestalt dieses Raumes, vereinigt zum letzten Male das gesamte Gebiet der Ostmark unter seiner starken Hand. Nach ihm kommt die Teilung, die bis in die Neuzeit hinein das politische Schicksal des deutschen Ostraumes bestimmt hat: den südlichen Teil erhält Markgraf Konrad von Meißen, mit dem das Geschlecht der Wettiner an die Herrschaft gelangt; und mit dem nördlichen Teil wird Albrecht der Bär belehnt.

Unter Heinrich dem Erlauchten stellten die wettinischen Lande die Großmacht im Herzen des Reiches dar. Die reichten von der Oder bis zur Werra, vom Harz bis zum Erzgebirge. Durch Gebietszuwachs aus dem aufgeteilten Herzogtum Sachsen Heinrichs des Löwen kam das Mittelelbland mit der Kurwürde an den Markgrafen von Meißen, der den ruhmvollen Namen Sachsen, mit dem [439] ja auch das Erzmarschallamt verbunden war, für das Hauptland Meißen übernahm. Von da an geht das Mißverständnis um die Bezeichnung "Sachsen", die einmal den niederdeutschen Altstamm und zugleich das mitteldeutsche Neusiedelland meint, durch die Geschichte. Erbschaftsteilung und dauernde Streitigkeiten darum lassen das Haus Wettin für alle Zeiten seiner großen politischen Sendung im Reiche entsagen, die sich nun, in zielbewußtere Hände gelegt, mit dem Namen Brandenburg-Preußen verband. Die wesentlichste Aufgabe Obersachsens aber sollte sich auf geistig-kulturellem Gebiet erfüllen, als mit der von hier ausgehenden Reformation deutscher Glaube verlorenes Herzland zurückeroberte. Daß es auch hier nicht zur heiß erstrebten Einigung, sondern wieder zu leidvoller Spaltung der deutschen Seele in zwei Bekenntnisse kam, ist dunkles Verhängnis, das sich so oft in unserer Geschichte faustisch vollzog.

Wenn auch hier darauf verzichtet werden muß, eine Darstellung der Geschichte Sachsens zu geben, so verdient doch seine Ostpolitik besonders hervorgehoben zu werden, für die seit Augusts des Starken Zeiten noch keine Generation soviel Verständnis aufbringen konnte wie die unsere. Wenn diese Politik Sachsens nicht von dem erstrebten Erfolg gekrönt worden ist, liegt es allein daran, daß die übrigen deutschen Länder die ihrige nach dem Westen einrichteten und außerdem eifersüchtig darüber wachten, daß Sachsen nicht zu mächtig wurde. Der Mißerfolg Sachsens aber hatte über das Schicksal des deutschen Ostraumes bereits vor dem Weltkrieg entschieden. Die Gebietsverluste im Osten und die Absonderung Ostpreußens durch das Friedensdiktat ist schließlich das Ergebnis lange vorher verpaßter Gelegenheiten, die allein Sachsen gesehen hatte, aber nur ergreifen konnte mit Unterstützung der anderen Fürsten - und die versagten sie. An Warnungen hat es nicht gefehlt. Der Vorstoß der Polen und Böhmen in das Herz der Mark Meißen war die erste. Später kamen die Hussitenzüge. In beiden Fällen hat Sachsen für das Reich geblutet und die Grenze gehalten. Aber einmal war die Verwirklichung sächsischer und damit gemeindeutscher Ostpläne dem Ziele ganz nahe, als nach dem Tode des Königs Johann Sobieski August der Starke an Stelle des französischen Bewerbers die polnische Königskrone für sich gewann. Die sächsische Herrschaft über Polen zu behaupten konnte freilich nur gelingen und Sinn haben, wenn Sachsen unmittelbar an Polen gegrenzt hätte. Aber dazwischen lag der "Korridor" des mittleren Odergebiets, das zu Preußen und Österreich gehörte, also das später im Siebenjährigen Krieg von Friedrich dem Großen eroberte Schlesien. Verhandlungen über Gebietsaustausch, um die Brücke nach Polen schlagen zu können, blieben erfolglos, und die Festigung Preußens wurde mit dem Verlust einer großzügigen Ostpolitik, die damals noch möglich gewesen wäre, bezahlt, wobei man freilich vergaß, daß nur mit Sachsens Hilfe Pommern den Schweden entrissen und für Preußen zurückerobert wurde. Das übervölkerte Sachsen blieb auf sich verwiesen und an Stelle versäumter, für Preußen noch nicht nötiger Ostkolonisation trat die polnische Westkolonisation, die zu den heute gezogenen Grenzen und zum Weichselkorridor führen sollte.

[440] Während der großen Kriege in Deutschland war Sachsens Mittellage und das dadurch bedingte Schwanken zwischen den streitenden Mächten sein Verhängnis. Am schlimmsten hat es wohl der dreißigjährige Krieg betroffen und als Gegner Preußens, der siebenjährige nicht minder. 1806 kämpft es noch gegen den Korsen, weiß sich aber einen günstigen Frieden zu sichern und tritt - als Königreich von Napoleons Gnaden, wie Bayern und Württemberg - dem Rheinbund bei. Nach der Völkerschlacht wird der Vasallenfürst Friedrich August I. gefangen genommen und sein Land auf das heutige Gebiet begrenzt.

Die Beteiligung aller deutschen Altstämme, heute noch nachklingend in den verschiedenen Mundarten, an der Rückgewinnung des einst an die Slawen verlorenen Raumes gibt dem darin entstandenen Neustamm der "Meißner" (Nadler) sein nach Körper, Geist und Seele so vieldeutiges Erscheinungsbild, das den Fremden immer wieder in Erstaunen versetzt. Den Hauptbestandteil der Bevölkerung bilden Thüringer und Mainfranken, die das ihnen von der alten Heimat her gewohnte Wald- und Bergland besiedelten. In den ebenen Landschaften der Leipziger Gegend bis zur Elbe hin breiteten sich Niedersachsen und Rheinfranken aus, von denen die letzteren ihre in den Niederlanden gewonnenen Erfahrungen bei der Trockenlegung der weiten sumpfigen Gebiete gut verwerten konnten. Bis auf die großen Waldgebiete im Süden trafen die Kolonisten überall auf sorbische Bevölkerung und ihre zunächst friedliche Unterwerfung führte zur Blutmischung auch mit ihnen. Der Gang der Besiedelung läßt sich von den Dorfformen und Ortsnamen ablesen. Endungen auf ‑itzsch, ‑itz, ‑witz, ‑bog und ‑luck kennzeichnen den sorbischen Siedelraum mit seinen Rundlingsdorfanlagen. In der Ebene trifft man oft das Straßendorf, das von allen Gehöften aus bequemen Zugang zu den Feldern erlaubt, und im Hügellande, die Bergtäler hinauf ziehen sich die langen Reihendörfer. Als Haus- und Hofform hat sich die fränkische durchgesetzt. Überall begegnet man auf den Drei- und Vierseithöfen der fruchtbaren Landschaften und in den Parallelhöfen der ertragsärmeren Gebiete dem für Mitteldeutschland typischen Fachwerkbau. Äußerer Schmuck und Zierhölzer an den Häusern, wodurch das Siedlungsgebiet des Nordharzes und Hessenlandes so ungemein reizvoll erscheint, finden sich in Obersachsen kaum. Hier ist alles nüchterner. Wo aber - wie im Altenburger Land, bei Chemnitz und Leipzig - für die Schwellen und Türpfosten Rochlitzer Porphyr verwendet wird, da steht sein lebhaftes Rot in schöner Wirkung zum Schwarz-weiß des Fachwerks. Bezeichnend für den Neusiedelraum ist die regelmäßige Stadtanlage, die durch das Kreuz der nach den vier Stadttoren führenden Straßen gegliedert wird. An ihrem Schnittpunkt liegt der Markt mit dem Rathaus in der Mitte.

Dem Menschen dieses Raumes, der es an Beweisen seines tüchtigen, alle Krisen und Niederlagen unverdrossen überwindenden Deutschtums wahrlich nicht hat fehlen lassen, ist es nicht erspart geblieben, der oft reichlich beißenden Spottlust seiner Nachbarn als Zielscheibe zu dienen. Blättert man in diesem sehr aufschlußreichen Kapitel der Kulturgeschichte weiter zurück, so erfährt man, daß es anderen Stämmen - von den Städten (München, Berlin) ganz zu schweigen - nicht besser ergangen ist. Was wurde den Schwaben, die dem [441] Reiche doch mächtige Kaiser stellten, nicht alles angedichtet. Aber gerade dieses Beispiel kann vielleicht erklären, was es mit dem "kleenen, hellen Sachsen" eigentlich auf sich hat. Es liegt eine Art von Bewunderung vor, die nur nicht zugegeben werden soll und sich deshalb neidvoll ins Gegenteil verkehrt. Hier trifft der Spott kulturelle Werte, die Bildung schlechthin. Die während der Reformationszeit gegründeten evangelischen Fürstenschulen der Wettiner in Meißen, Grimma und Pforta, dazu die berühmte Hohe Schule von Leipzig und der Buchhandel hatten das Land zum Mittelpunkt deutschen Geisteslebens gemacht. Die meißnische Mundart galt sogar für den Ostpreußen Gottsched, den Sprachreiniger, als die reinste Form deutscher Sprache und Leipzigs wohlhabende Bürgerschaft mit ihrem gepflegten Gesellschaftsleben war richtunggebend für das ganze Reich. Das sind längst anerkannte Verdienste, die dem auf allen Gebieten mächtig und unbefangen aufstrebenden Neustamm von seiten der konservativen Altstämme nur nicht recht zugestanden werden mochten. Dazu kommt freilich eine oft an Neugier grenzende Wißbegierde, über der die ungemeine Hilfsbereitschaft des Sachsen vergessen wird. Sein Wandertrieb ist sprichwörtlich geworden. Überall, und nicht nur in Deutschland, ist der Sachse reisend anzutreffen und an seiner Mundart zu erkennen. Auf sie ist der Spott am meisten gerichtet. Aber das damit gemeinte "Sächsisch" ist nur eine Mundart Obersachsens neben dem Vogtländischen und Erzgebirgischen fränkisch-bayrischer Herkunft, und dem Osterländischen, das sich von Leipzig bis Anhalt ausdehnt und niedersächsisch-flämisch bestimmt ist. Das "Sächsische", von der Mundartenforschung Meißnisch genannt, nimmt den dazwischen liegenden Hauptsiedelraum des thüringischen Vorstoßes ein und erhält seine Klangfarbe vorwiegend von diesem Altstamm. Das Zusammenziehen von Wörtern und die weite Dehnung der Vokale bringen das eigentümlich Singende dieser Sprechweise hervor, deren Weichheit die Konsonanten die größten Schwierigkeiten bereiten. Wer sich darüber lustig macht, darf daran erinnert werden, daß gerade diese Mundart schon die Kanzleisprache der luxemburgischen Kaiser und böhmischen Könige war und Luther sie für seine Bibelübersetzung wegen ihrer weiten Verbreitung bevorzugte. Nach einem Selbstzeugnis "redete er aus der sächsischen Kanzlei, welcher nachreden viele Fürsten und Herren Deutschlands". Ohne sie hätten wir heute keine hochdeutsche Schriftsprache und Deutschland würde in ein südliches und ein nördliches Sprachgebiet zerspalten sein. Die Einigung ging von der Mitte aus.

Vergebens wird man sich aber bemühen, in diesem Raum die Herkunft großer Dichter zu suchen, wenn man dabei von Wagner und Nietzsche absieht, die anders einzuordnen sind. "Der meißnische Stamm hat keinen einzigen großen Dichter erzeugt; aber Meißen hat alle großen deutschen Dichter gebildet" (Nadler). Sieht man dann von der großen dichterischen Leistung, gemessen am Range Goethes, Schillers oder Hölderlins ab, so sind auch hier genug Namen zu nennen, die das geistige Gesicht Deutschlands um ihre Züge bereichert haben. Zur Zeit der Minnesänger waren es die beiden Meißner Heinrich der Erlauchte und Heinrich Frauenlob, daneben Heinrich von Freiburg, der den Tristan vollendete. Das Land der Reformation hat dann dem protestantischen Volke auch [442] die meisten Choraldichter gestellt. Allen voran Luther, der wie Bach ja gleicherweise zu Obersachsen und Thüringen gerechnet werden muß. Das unvergängliche "Nun danket alle Gott" stammt von Martin Rinkert aus Eilenburg, und ist der neue Glaube je fröhlicher aufgeklungen als bei Paul Gerhardt aus Gräfenhainichen? Der Erzgebirgler Paul Fleming gehört hierher wie der Dresdener Zinzendorf und schließlich auch Gellert aus Hainichen. Letzterer war in Leipzig "Professor der Moral" und stellt mit G. E. Lessing aus Kamenz die lehrhafte, kritische Seite obersächsischer Wesensart heraus, die in Nietzsches alle Werte unwertender Einmaligkeit ein ganzes Zeitalter vereinte. Als Philosoph und allumfassender Wissenschaftler ging ihm einer der erlauchtesten deutschen Geister vorauf: Gottfried Wilhelm Leibnitz aus Leipzig. Eben von dort her stammte Christian Thomasius, der berühmte Rechtslehrer, der als erster seine Vorlesungen in deutscher Sprache abhielt; und der Vorkämpfer des Naturrechts, Samuel Pufendorf, war aus Dorfchemnitz gebürtig. Fichte, der Webersohn aus der Oberlausitz, ruft durch seine flammenden "Reden an die deutsche Nation" zum Freiheitskriege auf und gleicht damit aus, was die Waffen Sachsens damals versäumten. Sein Wort "Charakter haben und deutsch sein ist ohne Zweifel gleichbedeutend" steht erneut über unserer eigenen Zeit. Und was wäre die deutsche Musik ohne ihre "musikalische Provinz" Mitteldeutschland, ohne die Meister Obersachsens? In den Wirren des Dreißigjährigen Krieges schafft Heinrich Schütz aus Köstritz die erste deutsche Oper und von Leipzig aus zwingt Johann Sebastian Bach die Welt zum Lauschen. Gottfried Silbermann, der Sohn des Erzgebirges, baut die Orgeln dazu, deren reine Klangschönheit heute wieder als Vorbild dient. Robert Schumann aus Zwickau schenkt uns die romantische Musik und auf dem Elbschloß "Siebeneichen" bei Dresden blüht die "Blaue Blume" des Dichterkreises gleichen Weltgefühls, dem auch die Gebrüder Schlegel aus Meißen mit ihrem Werke dienten. Mit seinem großartigen Versuche des alle Künste einbegreifenden Gesamtkunstwerkes schlägt Leipzigs großer Sohn Richard Wagner die Brücke zur Gegenwart. Und Karoline Neuber aus Zwickau, die die erste deutsche Schauspielertruppe zusammenstellte, und Karl May, dessen phantasievolle zahllose Bücher von Generationen nach Abenteuern glühenden deutschen Jungen zerlesen worden sind? Immer mehr Namen stellen sich ein und können nicht genannt werden, die Zeugnis ablegen von der rastlosen Mitarbeit der Obersachsen am vielfarbigen Bilde deutschen Geisteslebens.

Diese unsichtbare und doch unablässig wirksame geistige Landschaft erschließt sich freilich nur dem tiefer Eindringenden. Im Vordergrund aber, jene fast verdrängend mit mächtiger Wirklichkeit, bezeichnen die Rauchfahnen der hohen Schlote und die Masten der Fernleitungen die andere Landschaft, die auch der flüchtigste Besucher nicht übersehen kann. Das ist die Industrie Obersachsens, die den Namen des kleinen Landes in unserer Zeit groß gemacht hat. Schon am Ende des Mittelalters war es von allen Ländern des Reiches das am stärksten bevölkerte und als im vergangenen Jahrhundert die Maschine ihre unerbittliche Herrschaft über den Menschen antrat, strömten die Arbeiterheere aus allen Richtungen hier zusammen. Ihre alte Heimat, die Haus und Hof war, tauschten [443] sie ein für eine neue, ungewisse, die Arbeit hieß und Fron war. Diese Heimatlosen, mit deren Schicksal die vielgerühmte "blühende" Industrie des Landes erkauft wurde, sind es gewesen, die Sachsen "rot" gemacht haben und nicht die Eingesessenen, die noch Heimat um sich spürten. Nur bis dahin konnte man von einem Neustamm der "Meißner" sprechen, in dem alle Beteiligten der mittelalterlichen Kolonisation aufgegangen waren. Nun aber ist es unmöglich geworden, einen Typus des Obersachsen zu erkennen. In seinem Gesicht sind heute alle Gesichter deutscher Landschaften vertreten, wie in einer Großstadt; dazu ist das Land bis auf die Waldgebiete durch die Anhäufung verschiedenartigster Industrien fast [?] geworden. [Anm. d. Scriptorium: Satz im Original unvollständig.] Dafür darf es sich rühmen, das dichtestbevölkerte, industriereichste und - krisenempfindlichste Land der Erde zu sein. Auf einem Quadratkilometer drängen sich hier 347 Menschen zusammen. In Westfalen sind es nur 249, in Belgien 245 und in Mecklenburg gar nur 49. Der Ausdruck "Werkstatt Deutschlands" besteht zu Recht für diesen Raum, der zwar nur 4 Prozent des Reichsgebietes umfaßt, dafür aber 8 Prozent der Gesamtbevölkerung und darunter allein 12,8 Prozent der deutschen Industriearbeiterschaft. Sachsens statistische Zahlen, soweit sie die Wirtschaft angehen, lassen sich nur durch Superlative ausdrücken. Es war Deutschlands bester Steuerzahler in normalen Zeiten. Dafür lag in den Katastrophenjahren die Arbeitslosigkeit 80 Prozent über dem Reichsdurchschnitt.

Auf eine Frau ist die Industrialisierung Sachsens letzten Endes zurückzuführen. Das war am Ende des 16. Jahrhunderts, als die Absatzstockung des erzgebirgischen Silberbergbaues eintrat. Die von ihm lebende zahlreiche Bevölkerung wurde arbeitslos und dem Hunger preisgegeben. Die Retterin war Barbara Uttmann aus Freiberg, die von den Niederlanden das Spitzenklöppeln nach den Notgebieten verpflanzte. Das neue Gewerbe, zunächst von Frauen ausgeführt, setzte sich durch und brachte auch bald die Männer wieder ins Brot. Im Zeitalter der Maschine führte die wachsende Nachfrage nach geklöppelten Spitzen bald zur Umstellung auf maschinelle Erzeugung der zarten Gewebe und rief damit einen entsprechenden Maschinenbau ins Leben. So hat sich, zunächst auf der Herstellung von Spitzen aufbauend, allmählich die großartige sächsische Textilindustrie entwickelt, die heute drei Fünftel der gesamtdeutschen darstellt. Die Fülle der Erzeugnisse vom gröbsten Leinen bis zur feinsten Spitze ist wahrhaft verwirrend. Daneben die Kammgarnspinnerei, Tuchweberei, Weiß- und Buntstickerei, die Herstellung von Kunstseide, Handschuhen, Strümpfen, Strickwaren, Trikotagen, Gardinen, Posamenten und künstlichen Blumen. So kam es, daß bei einem gesamtdeutschen Jahresexport von zwölf Milliarden auf die sächsische Textilindustrie allein eine Milliarde entfiel. Noch 1925 bedeutete das für eine halbe Million Menschen Arbeit.

An dieses Rückgrat der sächsischen Wirtschaft lehnen sich eine Reihe anderer bedeutender Industriegruppen an, wobei zu bemerken ist, daß hier im Gegensatz zum westlichen Industriezentrum der kleine und mittlere Betrieb vorherrscht. An der Spitze steht die Maschinen- und Metallindustrie, die zumeist bestimmt wird durch die im gleichen Raum beheimateten maschinenbedingten Industrien [444] wie Papierfabrikation, Holzbearbeitung, das Druckgewerbe und natürlich die Textilindustrie. Es folgt der Werkzeugmaschinen- und vor allen Dingen der Kraftwagenbau, der einen großen Teil des deutschen Marktes beherrscht. Die besondere Förderung des Kraftfahrwesens durch den Führer hat die Belegschaft gerade dieser Betriebe auf über 20 000 gesteigert. Die erzgebirgische Metallwarenerzeugung zeigt in der Fülle ihrer Artikel ein ähnlich verwirrendes Bild wie die Textilindustrie. Alles, was menschliche Bedürfnisse auf diesem Gebiet erfordern, wird hier hergestellt, von der billigsten Massenware bis zum kostbarsten Luxusgerät aus Edelmetall. Und schließlich ist Dresden der Vorort für die Zigarettenindustrie, die von hier aus ihren Siegeszug über Deutschland antrat.

In engem Zusammenhang mit der durch den Holzreichtum des Berglandes und der billigen Wasserkraft der Erzgebirgsflüsse begünstigten Papierindustrie steht das graphische Gewerbe, worin Sachsen die Spitzenstellung im Reiche behauptet. Leipzigs Buchhandel, sein Buch- und Notendruck überragt noch immer alle Großstädte Europas. Die Spielzeugherstellung, die Musikinstrumenten- und Porzellanindustrie und noch manche anderen bedeutenden Zweige höchsten gewerblichen Fleißes sollen an ihren Standorten entsprechend gewürdigt werden.

Der Erzreichtum, der dem Gebirge seinen Namen gab und die Grundlage des wirtschaftlichen wie kulturellen Aufschwungs für Obersachsen war, ist nahezu ausgebeutet und hat seine Vormachtstellung längst abgeben müssen an die Kohle. Wenn auch die Steinkohlenförderung des Zwickauer Reviers im Verhältnis etwa zum Ruhrgebiet gering ist, so reicht sie doch zur Selbstversorgung Sachsens aus und konnte immerhin 1934 eine Belegschaft von 16 500 Mann beschäftigen. Weit größere Bedeutung dagegen kommt der Braunkohle des Leipzig-Bornaer Reviers zu, das zusammen mit dem hier nicht berücksichtigten Zittau-Hirschfelder 8,5 Prozent der gesamten deutschen Förderung leistet und die Ausbeutung auf Jahrhunderte sicherstellt.

Das Land, das im Zeitalter des hemmungslosen Kapitalismus eine so vielgestaltige aber eben überentwickelte Industrie hervortrieb, die auf engem Raume die Menschen am dichtesten zusammenballte, kann seine Bevölkerung freilich nicht aus eigenem Boden ernähren. So hochwertig auch die Landwirtschaft in den fruchtbaren Lößgebieten des Elbtales und der Leipziger Tiefebene ausgebildet ist, reicht sie doch nur für die Hälfte der Bewohner aus und erfordert bedeutende Zufuhr.

Ein solches Land rastloser Arbeit und kühnen Unternehmertums, dessen unerschöpflicher Erfindergeist es zum Herzraum deutscher Wirtschaft, dessen Lage es zum Knotenpunkt europäischen Handels gemacht hat, kann nur leben, wenn es für die unendliche Reihe seiner Erzeugnisse Abnehmer findet in Deutschland, in der Welt. Die große Not des deutschen Außenhandels, seine Absatzschwierigkeiten müssen hier am stärksten spürbar sein, und allen Widerständen trotzend, mehr als anderswo auf Abhilfe sinnen lassen. Die Reichsmesse in Leipzig, das von der ganzen Welt beschickte "Schaufenster Europas" ist gleicherweise Symbol für den Daseinskampf unseres Volkes wie für seinen ehrlichen Willen zum friedlichen Wettbewerb unter den Nationen.

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Deutsches Land: Das Buch von Volk und Heimat, das Kapitel "Sachsen".

Das Buch der deutschen Heimat
Hermann Goern, Georg Hoeltje, Eberhard Lutze und Max Wocke