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Bd. 2: Teil 2: Die politischen
Folgen des Versailler Vertrages
B. Das Schicksal der
Auslandsdeutschen
Dr. Theodor Heuss
I.
Der Begriff "Auslandsdeutscher" ist nicht eindeutig festgelegt. Beginnt das
"Ausland" dort, wo die deutschen Grenzpfähle stehen? Eine rein juristische
Betrachtung mag das bejahen; aber sie schreitet dann über den
historisch-ethischen Tatbestand hinweg, daß Deutschland, deutsches Land,
mehr ist, größer, anders begrenzt, als Deutsches Reich. Erst die
Nachkriegszeit hat uns die Fragestellungen aufgezwungen, die sich aus der
Nichtübereinstimmung der staatlichen Hoheitsgrenze und des deutschen
Siedlungsbodens öffnen. Ihre inhaltlichen Voraussetzungen waren schon
vorher gegeben, aber sie waren, aufs ganze gesehen, seit den Entscheidungen von
66 und 70 aus dem Bewußtsein "verdrängt" oder durch das politische
Bündnissystem verdeckt. Der Ausgang des Krieges hat die Fragengruppe
nicht bloß zu einer zentralen Angelegenheit des Deutschtums, sondern der
europäischen Politik schlechthin gemacht und er hat dazu führen
müssen, daß die innerdeutsche Auseinandersetzung begann, den
Begriff und die hinter ihm ruhenden Wirklichkeiten fester in die Hand zu nehmen,
die Typen zu scheiden und die mannigfache Wesenheit zu systematisieren:
Grenzdeutschtum, Siedlungsdeutschtum der Ferne in
einigermaßen geschlossenem Bezirk,
Diaspora - hier ist immer an Gruppen gedacht mit fremder
Staatsangehörigkeit. Daneben jene Deutschen, die im fremden
Staatsverband
sozusagen nur als Gast sind, für sich und ihre Familie die deutsche
Staatsangehörigkeit aufrechterhalten haben.
Für unsere Betrachtung scheidet die erste Gruppe
völlig aus; das
politische Schicksal, in das sie durch den Versailler Vertrag gezwungen wurde, ist
an einer anderen Stelle dieses Werkes behandelt. In eine Geschichte
der Kriegsnot
der Deutschen gehört ganz sicher das Geschick jener Deutschen, die in den
feindlichen Staaten als geschlossene Volksgruppe
siedelten - seit Generationen loyale und in manchem sogar privilegierte
Untertanen jenes Staates. Wir denken hier vor allem an die deutschen
Bauernkolonien in Südrußland, an
der Wolga. Daß ihre
Vorväter einst gerufen waren, um ödem Land zur [26] Blüte zu verhelfen, hat sie nicht vor
Verfolgung, Internierung, Verschickung nach Sibirien bewahrt. In den
Bestimmungen des Versailler Vertrages spielen sie keine Rolle.
Die volle Wucht des Krieges traf natürlich jene Deutschen, die ins fremde
Land gezogen waren und ihr Deutschtum bewahrt hatten. Auch hier gab es
rechtliche Unterschiede, aber der Krieg wurde, was die Behandlung der Deutschen
anlangt, ein großer Vereinfacher. Bei dem eigentlichen Reichsdeutschen war
die Lage klar und durchsichtig genug. Aber neben ihm stand, nun nicht als ein
gelegentlicher Fall, sondern als Typus, der eine verstreute Massenerscheinung
darstellte, der Deutsche, der auf einmal bei Kriegsbeginn merkte, daß er
"staatenlos" war. Denn bis zur Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes
(1913) hatte das deutsche Reich mit seinen Kindern, die ins Ausland gingen,
bekanntlich Verschwendung getrieben: daß einer "Deutscher" sei, ergab sich
nicht aus Herkunft, Sprache, Kultur, sondern war an einen bürokratischen
Amtsakt gebunden, an den Eintrag in die Konsularmatrikel. Unterblieb dieser, so
schied der Betreffende, ob Mann oder Frau, selbsttätig, ohne daß er es
merkte, aus dem deutschen Staatsverband aus und wurde allen Rückhalts
verlustig. Manchem mochte die Lösung recht sein; die meisten wußten
nicht, wie ihnen geschah. Wenn sie nun aber glauben wollten, in der Krise des
Krieges könnte ihnen dieser Rechtsstand zwischen den Staaten etwas helfen,
täuschten sie sich: von der fremden Rechtsprechung und Praxis wurden sie
"repatriiert" und die volle Wucht der wirtschaftlichen Kriegsführung traf
auch sie. Nicht einheitlich gestaltete sich das Los derjenigen Deutschen, die aus
freiwilligem Entschluß sich hatten "naturalisieren" lassen oder durch die
Gesetze des Landes, um etwa Boden zu erwerben, um einen Beruf ausüben
zu können, zu diesem Schritt gezwungen waren; viele, in der zweiten
Generation, waren nach den entsprechenden Rechtssätzen, durch ihre Geburt
im fremden Land, dessen Staatsangehörige geworden, gleichviel, ob sie ihre
deutsche Nationalität bewahrt oder verloren hatten. Von der feindseligen
Wirtschaftsgesetzgebung konnten sie als Staatsbürger des fremden Landes
nicht unmittelbar getroffen werden, sofern nicht die Naturalisation aufgehoben
wurde; aber sie gerieten in die Gefahr des gesellschaftlichen und des privaten
wirtschaftlichen Boykotts und zahllose erlebten in der Blüte der
Denunziation und Verfolgung, wie Reichsdeutsche oder "Staatenlose", die
Internierung. Auf andere senkte sich der tragische Konflikt, daß sie ihre
Söhne im Heer der "neuen Heimat" gegen das alte Vaterland
ausrücken sahen.
Es ist hier nicht die Stelle, breiter von der Bedeutung dieses Auslandsdeutschtums
für die Entfaltung der deutschen Volkswirtschaft zu reden. Hatte das
"Siedlungsdeutschtum" der gruppenmäßigen Kolonisation, vorab in
Rußland, in Palästina, in einigen südamerika- [27] nischen Staaten einen wesentlich agrarischen
Charakter, reichte es teilweise um 150 und 100 Jahre zurück, so war das
Deutschtum der
Handels- und Gewerbeniederlassungen eine Begleiterscheinung der industriellen
Entfaltung des neunzehnten Jahrhunderts, Voraussetzung und Folge in einem. Was
immer die Motive im einzelnen sein mochten, die die Deutschen
veranlaßten, draußen ihr Glück zu versuchen, ihre Existenz zu
begründen - politische Enge der
vor- und nachmärzlichen Heimat, Abenteurerlust, wirtschaftlicher
Wagemut, der ein größeres Risiko durch einen größeren
Erfolg belohnt
glaubte - man kann sich die Wirtschaftsgeschichte des letzten
Halbjahrhunderts ohne die Tätigkeit dieser Gruppe nicht vorstellen. Streicht
man sie weg, dann würde Deutschland anders aussehen. Denn es sind nicht
die schwächsten Elemente gewesen, die vielleicht der Not wichen, sondern
aktive, hoffende, tätige Menschen. Ziffernmäßig ist dieser
Typus nicht festzustellen, der sich in aller Herren Länder findet, an den
Rändern aller
Ozeane - eine deutsche Eigentümlichkeit. Den "Auslandsfranzosen"
gibt es kaum, der Italiener gehört fast nur der handarbeitenden Schicht an,
soweit er außer Landes geht, dem Engländer öffnen sich
Kolonien und Dominien. So mußte es sich ergeben, daß in allen
Ländern Deutsche saßen, in wirtschaftlichem Aufstieg, und daß
sie dort saßen, nicht bloß für sich und die Heimat, sondern auch
für das betreffende Land Nutzen schaffend, ist ein paarmal, als der Krieg die
Welt umwanderte, zum Anlaß geworden, daß neue "Feinde"
entstanden. Eine ganze Anzahl südamerikanischer Staaten trat gegen uns in
den "Krieg", ohne daß es einem eingefallen wäre, auch nur einen
Soldaten über das Meer zu senden. China und Siam, das erstere nur ziemlich
widerwillig, entschlossen sich unter dem Druck der Entente, uns den Krieg zu
erklären, die "Beute" lag ja in ihrem Land, die ihnen gezeigt wurde, es
bedurfte keiner Anstrengung, in ihren Besitz zu kommen. Dies Verfahren hat sich
rasch gerächt, zumal in
China - denn indem Engländer und Franzosen der Pekinger Regierung
aufdrängten, für die Deutschen Konsulargerichtsbarkeit und
Kapitulationen aufzuheben, indem sie auf solche Weise die relative
Solidarität der Europäer preisgaben, wiesen sie selber den Chinesen
den Weg, der von diesen ein paar Jahre nach dem Krieg ganz folgerichtig gesucht
und beschritten wurde. China hat die deutschen Privatrechte im übrigen
wiederhergestellt nach einem Vertrag (1921), der pauschal chinesische
Schadensforderungen ausglich, und das Ausgeschlossensein aus den politischen
Machtkämpfen des erwachenden chinesischen Nationalbewußtseins
ist - Paradoxie der Geschichte! - der deutschen Handelsstellung im
großen Reich der Mitte dienlich gewesen.
[28]
II.
Die Würdigung der Bestimmungen des Versailler Vertrages, soweit sie die
Rechte und das Vermögen Privater berühren, kann an einer
Betrachtung der allgemeinen völkerrechtlichen Lage nicht
vorübergehen. Daß der Krieg selber nicht nur eine strategische
Unternehmung ist, sondern bei seiner modernen Ausgestaltung auch auf
nichtmilitärische Beziehungen übergreift, bedarf keiner breiten
Erörterung. Der kämpfende Staat hat in so und so vielen Fällen
ein vitales Interesse daran, daß etwa geschäftliche Beziehungen seiner
Bürger zu Angehörigen des gegnerischen Staates ruhen; Zwangslage
der Rohstoffbewirtschaftung, währungspolitische Überlegungen
können, ja müssen ihn heute dazu führen. Solche
Entschlüsse sind Kriegshandlungen,
Kriegsnotwendigkeiten - das Verhältnis der Kämpfenden zu
der nicht kombattanten Bevölkerung, zu ihrem Besitz usw. ist ja in der
Landkriegsordnung völkerrechtlich geregelt gewesen. In die gleiche Linie
mag man die kriegswirtschaftlichen Maßnahmen stellen, die fast alle Staaten
getroffen haben, nicht bloß für ihre eigenen Staatsangehörigen,
sondern auch für deren Beziehungen zum Ausland und für
Ausländer oder ausländische Vermögenswerte, die sich in
ihrem Hoheitsbereich fanden. Wir wollen das als gegeben unterstellen und nicht
davon reden, wieviel individuelles Leid und Unrecht, wieviel an
zermürbenden, über den unmittelbaren Akt und Anlaß
hinauswirkende Folgen damit verbunden sind. Die Frage erhält ihre
völkerrechtliche Zuspitzung, wo es sich darum handelt, Maßnahmen,
die sich vielleicht als Kriegsnotwendigkeiten rechtfertigen lassen, als Friedensrecht
festzustellen und vorzuschreiben.
Es ist schwer, nach den Erfahrungen des Weltkrieges davon zu sprechen, daß
auch der Krieg im Laufe der Jahrhunderte sich "humanisiert" habe; immerhin
durfte man glauben, daß die Zeiten vorbei seien, da Kriegsziel und
Friedensvertrag die unmittelbare Versklavung, die Zerstörung oder der Raub
privaten Eigentums seien. Die Trennung des Krieges von dem
privatbürgerlichen Sein als einer bewußten Rechtsanschauung bahnt
sich im ausgehenden Mittelalter an, und wenn es auch mit Plünderung und
widerrechtlicher entschädigungsloser Konfiskation immer wieder
böse Rückfälle gibt, so setzt sich doch mit dem werdenden
Völkerrecht die Auffassung durch, daß das private Leben nach
Möglichkeit geschont und der Schaden, den es vielleicht unvermeidbar
erlitten hat, von dem Urheber wieder ersetzt werden müsse. Rousseau
formulierte in seinem Contrat social nicht eine persönliche Meinung,
sondern eine allgemeine Auffassung mit seinem bekannten Wort: "Der Krieg ist
ein rein militärisches Verhältnis von Staat zu Staat und nicht von
Bevölkerung zu Bevölkerung." Man würde sagen
können, dieser Satz sei verjährt, passe vielleicht in die Zeit der
kleinen Berufsheere, aber nicht in die Epoche [29] der allgemeinen Wehrpflicht und der von der
ganzen Leidenschaft und Leidenskraft der Nationen getragenen Epoche der
"Volkskriege". Doch ist sein unverlierbarer Sinn auch in die Haager Abkommen
von 1899 und 1907 eingegangen.
Englands Verhalten in dieser Frage ist insofern nicht ganz eindeutig, als es der
Londoner Deklaration von 1909 über das Prisenrecht und Konterbande
nicht beigetreten war; hier war, in Ansehung vor allem auch der Neutralen, ja eine
gewisse Sicherstellung des privaten Geschäftsverkehrs über See,
sofern er sich nicht auf kriegswichtiges Material bezieht, versucht worden. Aber
sonst vertrat nicht nur die englische Wissenschaft den Schutz privater Rechte und
Ansprüche, sondern auch die Praxis rühmt sich einer fairen Haltung.
Die Geschichte notiert folgende Anekdote, die uns heute wie ein Märchen
klingt und doch dem letzten kontinentalen Krieg angehört, in den England
verwickelt war, dem Krimkrieg. Als damals, 1854, der Antrag gestellt wurde,
Zinsendienst und Amortisationszahlung an russische Inhaber englischer
Staatsanleihen einzustellen, lehnte das Parlament einmütig diesen Vorschlag
ab, mit der stolzen Erklärung: "Great Britain, being at war with Russia, was
bound by national honor to be more jealous of affording the slightest ground for
the accusation that she wished to repudiate debts justly contracted with the power
which was her enemy." Noch während des Weltkrieges war, wir werden es
sehen, in einer wichtigen Stelle des englischen Staatswesens der Nachklang solcher
Gesinnung vorhanden; sie ist dann in den Stuben von Versailles verhallt,
abgestorben und auch das amtliche Nachkriegsengland hat bis heute kein Echo
mehr gehört.
Der Versailler Vertrag kennt natürlich den Begriff des "Auslandsdeutschen"
nicht, er enthält aber, beginnend mit den Bestimmungen über die
Zivilgefangenen, über Niederlassungsrecht und Einreiseerlaubnis,
über Konsulargerichtsbarkeit u. dgl. eine große Anzahl von
Vorschriften, die im wesentlichen auf diesen Menschenkreis abgestellt sind; um
die Politik gegen ihn ganz zu würdigen, muß man die Staatenpraxis
nach dem Krieg mit heranziehen. Die verhängnisvollen Paragraphen, die die
Arbeit der Auslandsdeutschen untergraben sollten, beziehen sich formal nicht auf
Menschen, sondern auf Sachgüter, Vermögenswerte,
Rechtsansprüche, Patente. Es kommt nicht darauf an, ob ihr Inhaber im
Ausland lebte oder in der deutschen Heimat, ob der Besitzer von Wertpapieren bei
einer Londoner oder Brüsseler Bank seine Niederlassung in England oder
Belgien oder sonst wo
besaß - die Sache, ob Geld oder Haus oder
Geschäftsunternehmen, ob Guthaben oder Grundbesitz, ist der Gegenstand
des Rechtsaktes. Es liegt auf der Hand, daß damit zahllose deutsche Firmen
und Einzelpersonen getroffen wurden, die im technischen Sinn nicht als
"Auslandsdeutsche" anzusprechen sind, Industrielle und Kaufleute, durch deren
Kontore [30] die weltwirtschaftlichen Beziehungen laufen, die
draußen Agenturen und Filialen unterhielten oder auf fremden Banken Teile
ihres Betriebskapitals hinterlegten als Basis für Kreditoperationen, für
Rohstoffkäufe und ähnliches. Es gibt kaum einen Erwerbszweig,
sofern er nicht einen ausgesprochenen binnenwirtschaftlichen Charakter besitzt,
der von den Kriegsmaßnahmen und Friedensschlüssen nicht betroffen
wurde. Deren ganze Wucht mußte aber nun jene Deutschen
niederdrücken, die ihre wirtschaftliche Existenz ganz im fremden Lande
aufgebaut
hatten - bei ihnen handelte es sich ja nicht um geringeren oder
größeren Teilschaden, sondern um den Fortfall ihrer ganzen
Existenz - die innerdeutsche Gesetzgebung hat dafür den Begriff
"Entwurzelung" geschaffen und bei "Wiederaufbau" den Anspruch auf einen
Zuschlag in der Entschädigung verbunden. Diesem Typus wurde durch das
Kriegsschicksal weithin gleichgestellt der "Kolonialdeutsche", der im
Hoheitsbereich der ehemaligen deutschen Kolonien ansässig war und mit
deren Verlust das Opfer der Liquidation, Internierung, Verdrängung zu
erleiden hatte; nach dem Krieg unterlagen dem Schicksal auch Privatpersonen und
Firmen in den vom Reich abgetretenen Gebieten, so in
Elsaß-Lothringen und teilweise auch in den früher preußischen,
heute polnischen Gebieten.
Die Verfügung über die privatrechtlichen Beziehungen und
Ansprüche ist in den Artikeln 296
und 297
getroffen; 296 regelt
die Erledigung der Schuldverhältnisse internationaler Natur, 297
bestätigt
die während des Krieges eingeführte Übung der Liquidation
von greifbarem Privatvermögen, gliedert das Verfahren als Nachkriegsrecht
in die Auflage der Reparationszahlung ein und dekretiert die
Entschädigungspflicht der deutschen Reichsregierung. Die
Schuldenregelung schafft (Artikel
296) ein Clearingsystem, ein
Ausgleichsverfahren, dem sich anzuschließen den Staaten freigestellt ist. Die
Schulden, die Deutsche im Ausland, Ausländer in Deutschland haben, sollen
ausgeglichen werden; der Sinn des Verfahrens ist aber nicht eine technische
Reziprozität, sondern die Haftung der deutschen Regierung für die
Abgeltung deutscher Privatschulden an Ausländer. In den monatlichen
Abrechnungen war Deutschland gehalten, sofern sie einen deutschen Schuldbetrag
ergaben, diesen sofort zur Verfügung zu stellen; zeigte sich ein
überschießender Anspruch, so war den fremden Staaten gestattet,
diesen zurückzuhalten, bis in einer abschließenden Berechnung alle
deutschen Verpflichtungen an den Partner abgetragen waren. Diese Bestimmungen
sind vor allem für die deutsche Währung verhängnisvoll
geworden, weil sie die deutsche Regierung in den Jahren ungesicherter Valuta zur
Abgabe großer Devisenbeträge zwangen. Sie entschloß sich zu
einem etwas gewaltsamen Ausgleich, der die deutschen Schuldner mit den
Ansprüchen deutscher Gläubiger und fremder
Liquidationserlöse ent- [31] lastete. Damit war ein unmittelbarer Druck auf
wichtige Teile der deutschen Wirtschaft weggenommen, aber auch eine neue
Entschädigungspflicht an diejenigen Deutschen übernommen, die
geschäftliche Ansprüche ans Ausland besaßen oder besitzen
(Ausgleichsgläubiger). Diese Kategorie von Geschädigten ist von der
formalen Gesetzgebung vollkommen ungenügend behandelt worden.
So bedenklich der Artikel 296
in seinen Wirkungen werden mußte, so konnte
er bei loyaler Handhabung, die mit langen Fristen und mit guter Währung
rechnete, für sich in Anspruch nehmen, daß es ein wesentlich
technisches Verfahren sei, die durch Moratorien und Kriegsfolgen mannigfaltig
verwirrten Rechts- und Schuldbeziehungen durch generelle Maßnahmen zu ordnen.
Eine offenkundige Verletzung der völkerrechtlichen Konvention braucht in
seinen Grundgedanken nicht festgestellt zu werden, wenn auch der Mangel an
fairer Reziprozität von Anbeginn ein gerechtes Funktionieren aufs
ärgste stören mußte.
Anders steht es mit dem Artikel 297,
der die Liquidation des privaten
Vermögens in den alliierten Ländern ausspricht und die Verrechnung
der Erträge zugunsten der Siegerstaaten anordnet. Wie ist es zu diesen
Bestimmungen gekommen? Die
"Vierzehn Punkte" Wilsons, die als
Ausgangspunkt der Friedensbedingungen angesehen werden mögen,
enthalten keinerlei Andeutung, die eine Interpretation in dieser Richtung zulasse.
Die mannigfaltigen Aufzeichnungen der Teilnehmer an den alliierten
Verhandlungen in Versailles gehen über diese ganze Fragengruppe
schweigend hinweg - ist das "schlechtes Gewissen" oder Politik des bewußten
Totschweigens oder war die "Mentalität" derart, daß man die
Verfügung über deutsches Privateigentum schon so sehr als eine
Selbstverständlichkeit betrachtete, daß es nicht weiter lohnte, Worte
darüber zu verlieren? Ganz so kann es nicht gewesen sein, denn
R. St. Baker, der aus Wilsons Papieren eine Darstellung der Versailler Beratung
rekonstruiert, notiert, daß über diese Frage eine "endlose Kontroverse"
stattgefunden hat, an deren Ende die Erwartung stand, "daß die deutsche
Regierung mit der Zeit ihre Untertanen schon entschädigen werde." Wilson
bemerkt, Anfang Mai 1919, in einer Sitzung der "Großen Vier", in Ansehung
dieses Komplexes "that they had taken certain liberties with international
Law" - etwas deutlicher als diese "gewisse Freiheiten mit dem
Völkerrecht" sprach sich der japanische Hauptdelegierte aus, Baron Makino:
"daß die alliierten und assoziierten Regierungen seiner Meinung nach in der
Übernahme deutscher Rechte sehr weitgegangen seien, viel weiter, als dies
bisher jemals geschehen wäre." Das ist aber alles.
Im Grunde handelt es sich für die Alliierten, eine Übung des
Krieges zu bestätigen und zu festigen. Man wird also in der [32] Kriegsgesetzgebung die Wurzeln des
Artikels 297
zu suchen haben. Die ersten Jahre nach dem Friedensschluß
sahen die Bemühung, vor allem der französischen Presse und einiger
französischer Gelehrten, so Pierre Jaudon, den Wirtschaftskrieg als eine der
deutschen Erfindungen darzustellen; er sei "d'inspiration germanique". Diese These
ist in der Zwischenzeit weithin fallen gelassen worden. Die
Bundesratsverordnung vom 7. August 1914, die früher gerne als
Beweisstück zitiert worden war, ist nichts anderes als ein Moratorium
für das Einklagerecht von im Ausland ansässigen Gläubigern
an deutsche Schuldner, gleichviel welcher Nationalität sie seien; der
allgemein verbindliche Charakter dieser Maßnahme, die übrigens in so
ziemlich allen Staaten getroffen wurde, ist inzwischen (1925) auch in einem
Spruch des gemischten
deutsch-englischen Schiedsgerichts anerkannt. England hatte am gleichen Tag
bereits deutsche Patente angegriffen und am 9. September die einschneidenden
Verordnungen über den Geschäftsverkehr mit Feinden erlassen. Der
18. September brachte die Kontrolle der Geschäftsbetriebe feindlicher
Personen, der 27. November die Zwangsverwaltung (Custodian of enemy property)
und das Recht zur Liquidation einzelner Vermögensstücke. Der 15.
Februar 1915 umschrieb das Recht im näheren und der Trading with the
enemy amendment act vom 27. Januar 1916 machte den Weg zur völligen
Vermögensliquidation frei. Parallel war die französische
Gesetzgebung gegangen, die in Verordnungen des Justizministeriums das gesamte
deutsche Privatvermögen auf französischem Boden, auch das
nichtgewerbliche, unter Zwangsverwaltung stellt. Die deutschen
Bundesratsverordnungen vom 26. November 1914 über
französischen, vom 22. Dezember über britischen Besitz in
Deutschland waren zeitlich und inhaltlich nur Folgeerscheinungen der fremden
Gesetzgebung. Es wäre vollkommen sinnlos gewesen, wenn Deutschland in
dieser Richtung irgendwie initiativ
vorangeschritten [wäre] - denn wie immer man in jener Zeit den Kriegsausgang
beurteilen wollte, Deutschland, das weit mehr als die gegnerischen Nationen
Staatsbürger und deren Vermögenswerte in den fremden
Ländern wußte als umgekehrt, konnte das geringste Interesse daran
haben, die bürgerliche Existenz seiner Volksgenossen durch Akte zu
gefährden, die Repressalien nach sich ziehen könnten. Der
mögliche "Gewinn" im eigenen Herrschaftsbereich entsprach nicht aus der
Ferne dem Einsatz. Die umfassende englische Nachkriegsdarstellung der deutschen
Wirtschaftsmaßnahmen von Scobell Armstrong (1921) spricht den Stand der
Wahrheit klar aus: "The steps which eventually led to the extension of hostilities
into every channel of commerce and finance were initiated by the Allied
Powers."
Die englische Motivation ist nicht einheitlich. Im Anfang ruht sie ganz
natürlich in der Kriegssicherung; die Wirtschaftsgesetzgebung [33] ist ein Akt der Kriegsführung.
Darüber hinaus, in die Friedenszeit, reicht freilich schon der
angeführte Beschluß vom 7. August 1914, die deutschen Patente nicht
bloß zu suspendieren, sondern aufzuheben; das ist bereits
Eigentumsvernichtung; über Entschädigung ist dabei nichts gesagt.
Charakteristisch für England ist dies, daß der fiskalische
Gesichtspunkt zunächst gar nicht hervortritt, um so mehr der
ökonomische, der die deutsche Konkurrenz der Nachkriegszeit ins Auge
faßt. Schon während des Krieges beschäftigten sich
Handelskammern und private Organisationen mit den Vorschlägen, welche
Konsequenzen später zu ziehen seien: Ausschluß der deutschen
Handelsreisenden, Aufenthalt und Niederlassung von Deutschen nur mit jederzeit
widerrufbarer besonderer Konzession, Sperrung der englischen Häfen
für deutsche Fahrzeuge, ehe nicht der Verlust an englischem Schiffsraum
"ton for ton" ersetzt sei. In dem
Balfour-Komitee werden diese Zielpunkte systematisiert. Temperley, in seiner
umfassenden Darstellung und Kommentierung der Versailler Konferenzen, spricht
offen aus, daß eben dies eines der Ziele des englischen Wirtschaftskrieges
gebildet habe, "to eliminate German economic penetration". Eine verwandte
Grundauffassung bestimmte die Verschärfung der amerikanischen
Gesetzgebung, die im Oktober 1917 den Verkauf nur unter bestimmten
Voraussetzungen gekannt hatte, aber am 28. März 1918 unter der Initiative
des Custodian Palmer das gesamte deutsche Eigentum dem Willen des
rücksichtslosen Mannes auslieferte; für ihn war offenbar eine fast
primitive Nationalisierungstendenz maßgebend: der Krieg sollte die Epoche
abschließen, da fremde Kapitalmächte in wichtigen Industrien auf dem
Boden der Union etwas bedeuteten. Daß diese Gesinnung nach dem Krieg
eine gewisse Rückbildung erfuhr, ist
bekannt - zwar wurden nicht die Werke, Anlagen und Beteiligungen den
ursprünglichen Besitzern zurückerstattet, aber durch die Freigabebill
von 1928, nach Jahre währenden parlamentarischen Kämpfen, 80%
des Erlöses wieder zugesprochen.
Die französische Kriegspraxis zeigt eine etwas andere Färbung. In
Frankreich wurde die Sequestrierung auf allen irgendwie erreichbaren deutschen
Besitz ausgedehnt, intensiver als bei den anderen Staaten, aber förmliche
Liquidation während des Krieges nicht vollzogen. Die Zwangsverwaltung
war, wo es sich um gewerbliche Unternehmungen handelte, auch für den
innerfranzösischen Verkehr zur völligen geschäftlichen
Stillegung verpflichtet; sie ist oft genug saumselig und dolos geführt
worden, so daß die Klagen über die Verwahrlosung nicht
abreißen. Wie sehr bei der Nachkriegsliquidation Durchstechereien und
Verwaltungskorruption möglich wurden, offenbarten die Denkschriften und
Debatten der französischen Kammer im Frühjahr 1928; sie betrafen
vor allem das Finanzschicksal einiger [34] großen lothringischen Gruben. Die
französische Psychologie ging offenbar nicht so sehr auf eine schnelle
Veräußerung und Ausnutzung deutscher Geschäfte, wie auf die
Erhaltung des Besitzes als Pfand; wir möchten, im Gegensatz zu den
wirtschaftspolitischen Tendenzen des Angelsachsentums, den fiskalischen
Gesichtspunkt erkennen. Kein geringerer als Briand hat, damals Justizminister, der
"Pfand"theorie im Frühjahr 1915 den ersten amtlichen Ausdruck verliehen,
am 11. März in der Kammer, am 2. April im Senat, wo er das sequestrierte
deutsche Eigentum ein "otage économique pour l'heure du reglement du compte
avec nos ennemis" nannte.
Als vom 14. bis 17. Juni 1916 unter der Leitung und wesentlichen Beeinflussung
des französischen Handelsministers Clementel die "Pariser
Wirtschaftskonferenz" tagte, hat sie Sequestrierung und Liquidation zu mindesten
der "feindlichen Handelshäuser" international kanonisiert und für die
Nachkriegszeit gemeinsame Entschlüsse in Aussicht genommen, die nun
nicht bloß die Rückkehr der Deutschen in die Weltwirtschaft
hintanhalten sollten, sondern vor allem die Errichtung neuer deutscher
Unternehmungen verhindern. (Es empfiehlt sich, um die Entwicklung, wenn nicht
der Realitäten, so doch der Ideologien, unmittelbar zu spüren, einmal
nebeneinander die Pariser Beschlüsse von 1916 und die Resolutionen der
Genfer Weltwirtschaftskonferenz von 1927 zu lesen! Die Lektüre ist ein
Teiltrost, daß Kriegspsychosen überwindbar sind.) Man kann sagen, in
der Atmosphäre der Pariser Konferenz von 1916, wenn auch ein gut Teil
ihrer spezialisierten Absichten nur Redensarten waren und es um ihrer
wirtschaftlichen Sinnlosigkeit bleiben mußten, sind die Versailler
Beschlüsse von 1919 geboren, zum Teil vorweggenommen.
Freilich, es gab offenbar noch ein paar Körperschaften, bemüht,
Kriegsmaßnahme und Friedensrecht zu trennen. Wir haben vorhin an den
englischen Parlamentsbeschluß von 1854 erinnert, der den Zinsendienst
für englische Anleihen im feindlichen Ausland nicht aufgehoben wissen
wollte. Noch in dem Jahr, das den Ausgang des Krieges sah, am 25. Januar 1918,
traf das House of Lords unter dem Vorsitz des Lord Finlay, unter der Teilnahme
eines so hervorragenden Mannes wie Lord Haldane eine Entscheidung, an die
immer wieder erinnert werden muß: "It is not the law of this country that the
property of enemy subjects is confiscated. Until the restoration of peace the enemy
can, of course, make no claim to have it delivered upon to him, but when peace
will be restored, he will be considered as entitled to his property, with any fruits
which it might have born in the meantime."
III.
Die These vom "Pfand" wurde in Versailles ausgebaut: nicht nur, was schon
während des Krieges sequestriert und liquidiert worden, [35] sollte in der zweckhaften
Verfügungsgewalt der Alliierten und Assoziierten bleiben, sondern das
Recht der Nachkriegsliquidation wurde ausgesprochen und zugleich auf den
deutschen Privatbesitz in den von Deutschland abgetretenen Gebieten ausgedehnt.
Das traf den Besitz in den zu "Mandatsgebieten" verwandelten deutschen
Überseekolonien, aber auch deutsches Vermögen, das in den
polnischen Staatsbereich fiel und hier weithin der Willkür der polnischen
Verwaltung ausgeliefert war ("Entdeutschung = Liquidation") und das gesamte
mobile und immobile Vermögen, Wertpapiere, Grundbesitz, Häuser,
Fabriken von "reichsdeutschen" Eigentümern in
Elsaß-Lothringen, d. h. derjenigen Personen und Familien, die nach
1870 in das Reichsland gezogen waren.
Daß in den meisten Fällen der Liquidationserlös dem
tatsächlichen Wert eines Objektes nicht entsprach (wenn es sich nicht gerade
um Effekten handelte), bedarf keiner breiten Darlegung. Es würde schon ein
ungewöhnlicher Grad von Billigkeit dazu gehören, wenn der
Custodian, der ja während des Krieges noch unter der These wirkte,
daß der Erlös dem bisherigen Eigentümer zustehe, dessen
Interessen mit Leidenschaft gegenüber einem kaufenden Landsmann
verteidigt hätte. Unachtsame Verwaltung durch den Sequester,
Zerstörung und Diebstahl, jahrelanger Mangel an Pflege der Einrichtungen
hatte ja auch in zahllosen Fällen eine tatsächliche Wertminderung der
strittigen Objekte herbeigeführt. Die Schätzungen der wirklichen
Verluste und die Summe des Liquidationserlöses liegen so oft genug weit
auseinander, ein schwerer, sozusagen anonymer Schaden, den das Deutsche Reich
als Gesamtschuldner, den seine Bürger in ihren Ansprüchen
gegenüber dem Reich parallel erlitten haben.
Die Aufgabe, die dem liquidierten deutschen Privateigentum in den ehemals
feindlichen Ländern, in den Kolonien und in
Elsaß-Lothringen zugedacht wurde, war dreifacher Natur: es sollte zur
Verfügung stehen für den Ausgleich ausländischer
Gläubiger an deutsche Schuldner; es sollte benutzt werden zur Abgeltung
der Ansprüche, die von Staatsangehörigen der feindlichen Staaten
gegen das Reich gemeldet wurden, soweit Schädigungen durch
Kriegshandlungen und Kriegsmaßnahmen
vorliegen - die gemischten Schiedsgerichte haben darüber zu
befinden; der überschießende Teil sollte dem Deutschen Reich a conto
Reparation bei der Repco "gutgeschrieben" werden. Das "einbehaltene" deutsche
Privateigentum wurde also zur Anzahlung, wenn man so sagen will, zu einer
Teilvorleistung erklärt für die gesamte,
zunächst (und auch
heute noch) nichtbegrenzte finanzielle Gesamtverpflichtung, die man Deutschland
aufzuzwingen entschlossen war. Nach dem ersten Entwurf des Friedensvertrages
sollte das deutsche Privateigentum sogar dazu dienen, alliierte Privatforderungen
an Angehörige der mit Deutschland im Kriege verbündeten [36] Staaten zu befriedigen; dieser Satz ist gefallen,
wie auch an ein paar anderen Punkten in diesem Fragenkreis der Einwand der
deutschen Delegation zu Milderungen geführt hatte.
Aber ihr Protest, der sich natürlich mit Schärfe gegen den Grundsatz
solcher gewalttätigen Regelung überhaupt gerichtet hatte, mußte
erfolglos bleiben, nachdem vor allem durch den französischen
Finanzminister Klotz dieses Verfahren in den Mittelpunkt der wirtschaftlichen
Bestimmungen des Gesamtinstruments eingebaut war. Gegen den Vorwurf,
daß der Weg einer dauernden Vorenthaltung der sequestrierten oder der
bereits liquidierten Werte von allen gemeinsamen Regeln des Völkerrechts
abirre und gegen ein wesentliches Gesetz der bürgerlichen Zivilisation, die
Anerkennung des Privateigentums, verstoße, glaubten die alliierten und
assoziierten Mächte sich genügend gesichert zu haben. Denn der viele
Seiten lange und mit einer besonderen "Anlage"
von 15 Paragraphen ausgestattete
Artikel 297
hat auch unter i die drei kleinen Zeilen:
"Deutschland verpflichtet sich, seine
Reichsangehörigen hinsichtlich der Liquidation oder der
Zurückhaltung ihres Eigentums, ihrer Rechte oder Interessen in alliierten
oder assoziierten Ländern zu entschädigen."
Dieser Satz ist der Ausgangspunkt einer sehr umstrittenen innerdeutschen
Gesetzgebung geworden. Formal baut sich auf ihm der Rechtsanspruch deutscher
Geschädigter auf, aber hierin liegt nicht sein eigentlicher Sinn. Der
Entschluß der deutschen Reichsregierung, jene Bürger zu
entschädigen, die in ihrer Existenz und in ihrem Vermögensstand
durch den Krieg und seinen Ausgang besonders hart getroffen wurden, bedurfte
dieser "Vorschrift" nicht. Die deutsche Gesetzgebung hat von Anbeginn auch jenen
Kreis der "Geschädigten" erfaßt, bei dem es sich nicht um eine
Liquidation handelt, die irgendwie und irgendwann einmal sich in eine
"Gutschrift" für die deutsche Gesamtheit verwandeln könnte. Sie hat
ihre Entschädigungspflicht gegenüber den "Verdrängten" aus
Elsaß-Lothringen anerkannt, auch soweit nicht eine Liquidation von
Vermögen vorlag, sondern ein freihändiger Verkauf, der oft genug nur
einen "Verschleuderungserlös" brachte. Sie tat das gleiche gegenüber
den aus "Neupolen" kommenden Flüchtlingen; Liquidationen in diesem
Gebiet gehen nicht auf das Reparationskonto, sondern schließen
grundsätzlich Erstattung des Erlöses an den Liquidierten in sich. Sie
hat auch die "Zarenschäden" in Rußland in ihrer Gesetzgebung
berücksichtigt, bei denen seit dem
Rapallo-Vertrag von einer eventuellen Verkoppelung mit dem Versailler System
auch nicht mehr geredet werden konnte. Es steht im Augenblick nicht zur
Erörterung, ob die deutsche Entschädigungsgesetzgebung
glücklich und genügend gewesen ist. Die Zusammenwerfung der
verschiedenen Typen ist in
Deutsch- [37] land selber nicht unbestritten geblieben. Gruppen
der Liquidierten wehrten sich dagegen und glaubten, auf den Versailler Vertrag
pochend, sozusagen einen "besseren" Rechtsanspruch vorweisen zu können
als ihre Genossen im Leid. Der deutsche Reichstag hat es abgelehnt, in den
abschließenden Gesetzen die Gruppen zu trennen; er hat nicht den Hinweis
auf eine in ihrem Vollzug und ihrer sachlichen Bedeutung zunächst
imaginäre "Gutschrift" zum Ausgangspunkt einer Differenzierung, sondern
die Tatsache der "Entwurzelung" und des Willens und der Fähigkeit zum
"Wiederaufbau" zum Anlaß einer im Grade verschiedenen Behandlung
gemacht.
Von viel größerer Bedeutung für die Gesamtwürdigung
der Frage ist die These, die sich die Alliierten mit 297i zurecht
gebaut haben: Der
Absatz dient dazu, den erwarteten Vorwurf der Konfiskation abzulehnen.
In ihren Noten vom 22. und 29. Mai 1919 hatte die deutsche Friedensdelegation
darauf hingewiesen, welche Erschütterung das internationale Rechtsleben
durch eine so umfassende Konfiskation privaten Besitzes erleiden müsse; in
ihrer Antwort vom 16. Juni wehren die Alliierten den Einwand der Konfiskation ab
mit dem Hinweis, daß die Erlöse ja dem Deutschen Reiche
gutgeschrieben und von seiner Gesamtverpflichtung abgezogen würden. Die
Zulässigkeit dieser Argumentation ist der Angelpunkt des
völkerrechtlichen
Streites - in ihrer Zuspitzung führt sie zu dem Gedankengang: die
Alliierten haben den deutschen Privatleuten gar nichts weggenommen. Sie haben
für diesen aus hunderttausend Quellen stammenden Besitz einen
Obereigentümer konstruiert, das Deutsche Reich; sie haben den Besitz aber,
da von dem Eigentümer eine große Schuld offenstand, dem
Berechtigten nicht übergeben, sondern den Betrag einstweilen auf der
Habenseite des Abrechnungsbuches saldiert. Wie sich der Obereigentümer
mit seinen Teilhabern oder Gläubigern auseinandersetzt, ist seine, sagen die
Alliierten, nicht unsere Sache. Deutsche Geschädigte, die sich in frommem
Glauben an den englischen Board of Trade
wandten - und in Einzelfällen nicht völlig erfolglos, da die
englische Praxis nicht systematisch und mit einigen sentimentalen
Zierstücken versehen ist - haben vom Handelsministerium in
London eine stereotype Antwort erhalten:
"Es hat keine Konfiskation seitens der englischen
Regierung stattgefunden... Wenn die deutsche Regierung ihren
Staatsangehörigen keine angemessene Entschädigung gewährt,
so ist das eine Angelegenheit, für die die englische Regierung nicht
verantwortlich gemacht werden kann."
Und Pierre Jaudon, der Frankreich bei den Gemischten Schiedsgerichtshöfen
vertritt, findet in seinem Vorwort zu dem Vertragskommentar von Gidel und
Barrault (1921) die fast zynische Formel:
[38] "Die privaten
deutschen Interessen werden durch die im Friedensvertrag vorgesehenen
Bestimmungen nur in dem Maße verletzt werden, als Deutschland dies
bestimmen wird..."
Ähnlich hatte es schon in der alliierten Note vom 16. Juni 1919 geklungen;
die Verfasser waren sich darüber klar, daß ihr Verfahren zu einer
weiteren Verletzung privater Rechte führen müsse.
Man könnte vermuten, den Alliierten Mächten sei etwas daran
gelegen gewesen, daß Deutschland in der Tat sich bemühe, der ihm
aufgegebenen Verpflichtung sich zu unterziehen und den immerhin peinlichen
Komplex aus der Welt zu schaffen. Aber solcher Glaube wäre eine
Täuschung. Denn einschließlich der Erinnerungen des
Reparationsagenten Parker Gilbert vom Herbst 1927 wurden die Schritte der
deutschen Regierung gerade auf diesem Gebiet von Anbeginn mit Argwohn
verfolgt - denn jeder Versuch, mit dem Deutschland nun an die "innere
Wiedergutmachung" ging, konnte praktisch nach außen als eine
Schwächung der Fähigkeit zur allgemeinen Wiedergutmachung
gedeutet werden. Da stand die "Vorschrift" wohl auf dem Papier, aber bereits am
11. Januar 1921 erwartete die Reparationskonferenz in Brüssel
Einschränkung der Zahlungen an Geschädigte, und Poincaré
unterstrich dies 1½ Jahr später in einer Note vom 26. Juli 1922; da wurde
gefordert, die deutsche Regierung möge die "Anwendung des Artikels von
297i aussetzen oder verlangsamen". Ein paar Jahre später, 1924, spricht
eine Kommission des englischen Board of Trade mit einiger Offenheit aus,
"daß die Bestimmung, die die enteigneten Eigentümer wegen
der Entschädigung an ihre eigene Regierung verwies, kaum mehr als eine
leere Geste sei. Und zwar mit Rücksicht darauf, daß diese Staaten
nicht in der Lage waren, die ihnen auferlegte Verpflichtung zu erfüllen, und
daß die alliierten Regierungen weder die Mittel noch den Willen hatten, sie
dazu zu zwingen."
Der amerikanische Rechtslehrer Edvin Borchard zitiert diese Erkenntnis, um sie
auch der sonst in England maßgeblichen Nachkriegsdeduktion
gegenüberzustellen und sie in die Nähe des
Finlay-Urteils vom Januar 1918 zu rücken.
Wir nennen diese Stimmen, um auf die an Widersprüchen reiche
Entwicklung der These hinzuweisen; ihren interessantesten Niederschlag findet sie
in einer von dem Genfer Charles Bernard herausgegebenen
Broschüre: Le séquestre de la proprieté
privée en temps de guerre, Paris
1927. An ihr ist besonders bemerkenswert, wie einige hervorragende
französische Autoren zwar bemüht bleiben, die amtliche These ihres
Staates zu verteidigen, es habe keine Konfiskation stattgefunden, aber dann klagen,
wie Charles de Boeck: "Die Friedensverträge haben einen Rückschritt
des Völker- [39] rechts dargestellt, indem sie
Privatvermögen unmittelbar bei den Zahlungen internationaler
Verpflichtungen der Staaten mitwirken ließen", oder fragen, wie G. Gidel,
der Kommentator des V. V.: "Ist dieses Verfahren, das den besiegten Staaten die
Entschädigungspflicht gegenüber ihren Angehörigen auferlegt,
nicht, wie man gesagt hat, eine durchsichtige Heuchelei oder zum mindesten eine
grausame Ironie? Wußten die Alliierten nicht, daß diese
Entschädigungen meist unmöglich sein würden oder nur in
einem lächerlichen Ausmaße gezahlt werden würden,
z. B. von zwei Prozent?" Man spürt doch schon etwas den Abstand
des Tones von dem vorhin zitierten Wort Jaudons, das 1921 in der Vorrede zu dem
Kommentar eben dieses Pariser Professors Gidel geschrieben war. Und es darf
daran erinnert werden, daß die Vollversammlung der International Law
Association bei ihrer Tagung in Stockholm 1924 auf Antrag der englischen
Mitglieder einmütig das folgende aussprach:
"die Konferenz ist der festen Ansicht, daß die
wiederauflebende Praxis kriegführender Staaten das ihnen nützliche
Privateigentum feindlicher Bürger zu konfiszieren, ein Recht der
Barbarei ist, welche die schärfste Verurteilung
verdient."
Dieser entschlossene Satz wäre innerlich brüchig, wenn er auf der
Meinung aufgebaut wäre, daß die Liquidationen des Weltkrieges keine
Konfiskationen gewesen.
IV.
Die Politik wird nicht von wohlmeinenden Professoren gemacht, die
bestürzt sind, wenn die brutale Hand der Staatsmänner ihre Systeme
in Verwirrung bringt. Unmittelbar hat die Auflockerung der wissenschaftlichen
Würdigung dem Fragenkreis bislang noch nichts genutzt, so wichtig diese
Entwicklung sein mag. Von praktischer Bedeutung wurde in Amerika die
Stellungnahme des Staatssekretärs Hughes und des Senators Borah. Dem
Präsidenten Wilson war es bei dem Artikel 297
nicht wohl gewesen, er
hatte ihn mit einer moralischen Anmerkung über seine Unmoral passieren
lassen. Die Tatsache, daß der Kongreß der Vereinigten Staaten dem
Werk des Präsidenten nicht beitrat, gab die Bewegungsfreiheit, daß
ohne Paragraphenfessel in der Richtung auf die Restituierung des Privateigentums
marschiert werden konnte. Es war ein langer Weg. Was immer die
Beweggründe der amerikanischen Nation waren, sie waren sicher
gemischt - idealistische, daß die Maßnahmen des Custodian
Palmer nicht verewigt bleiben dürfen und daß in einigen doch der
überlieferten Satzung des Völkerrechts Genüge geschehen
müsse, realistische, daß Amerika, im Begriff, seine kapitalistische
Expansion in alle Länder und Erdteile auszuweiten, ein vitales Interesse
besitze, für etwaige künftige Konflikte an einem zur
Nach- [40] folge aufreizenden Präzedenzfall nicht
beteiligt zu sein, - die Freigabebill vom Jahre 1928 muß, ungeachtet ihrer
Vorbehalte, ihrer technischen Umständlichkeiten und ihres unvollkommenen
Tarifs als ein entscheidender Vorgang gewürdigt werden. Mit allen Mitteln,
durch vielerlei Kanäle, hatte man von London aus versucht, diesen Ausgang
der Jahre währenden, die Öffentlichkeit stark beschäftigenden
politischen Campagne zu
verhindern - es mißlang und die weltanschauliche Gemeinschaft des
Angelsachsentums ist in dieser Frage zerbrochen.
Freilich, ehe diese Entwicklung sich vollzogen hatte, war die Angelegenheit in den
Beziehungen zwischen den Alliierten und Deutschland nicht eingeschlafen. Die in
dem Währungsverfall wachsende Last des Ausgleichverfahrens hielt sie
lebendig. Staatssekretär Bergmann notiert in seinem Weg der Reparation,
daß ihm Anfang Januar 1921 ein Mitglied der Reparationskommission einen
förmlichen Plan der Gesamtregelung vorlegte, nach dem das
beschlagnahmte deutsche Eigentum zurückerstattet, das liquidierte sofort auf
die Schuld angerechnet werden sollte: der Plan wurde nicht weiter verfolgt,
Frankreich und England lehnten ihn von vornherein ab, letzteres wesentlich wegen
des Vorschlages der Freigabe. Inzwischen war ja die innerdeutsche Gesetzgebung
aufgebaut worden, der umständliche Apparat von Feststellung,
Spruchkammer, Vergleichsverfahren begann an vielen Orten zu funktionieren,
Verbände und Behörden konsolidierten sich, eine Übung
entstand, hinter der die Aussicht auf eine erträgliche Lösung zu
warten schien. Die ganze Arbeit war zwar nicht technisch, aber materiell nutzlos,
denn in den Monaten der Inflation mußten die Beträge zwischen
Feststellung und Auszahlung in nichts zerrinnen. Die ersten Zahlungen in festem
Geld, 5 pro Tausend, auf Grund der Notverordnung vom November 1923, waren,
wenn man so sagen darf, nur eine Anerkennungsgebühr.
Eine Möglichkeit schien sich zu bieten, die Frage zu einer
grundsätzlichen Klärung zu bringen, als der
Dawes-Plan zur
Verhandlung kam. Bisher war zwischen den Alliierten
und Deutschland ein Zahlenkrieg ausgefochten worden, nicht nur um die gedachte,
zu fordernde Endsumme, sondern auch um den Betrag der bisherigen Leistungen.
Die Beträge von deutscher Seite auf 41,6 Milliarden, von gegnerischer auf
7,9 beziffert (per 31. 12. 1922), klafften
so weit auseinander, daß es ziemlich
hoffnungslos erscheinen mußte, die Vorleistungen mit einem beiderseitig
anerkannten Gewicht zur Bewertung zu bringen. Auch heute noch ist die Frage
nicht in Ordnung gebracht. Aber so ernst sie ist, innerhalb des Grundgedankens des
Dawes-Plans, der ja nicht auf Endsumme und Abrechnung, sondern auf
Provisorium und deutsche Leistungsfähigkeit abgerichtet war, konnte sie
statisch als Summenvorstellung nicht untergebracht
wer- [41] den. Aber doch als
dynamische Funktion. Die Rückgabe deutschen Eigentums, wo es noch
nicht liquidiert war, mußte der wirtschaftlichen und finanziellen
Leistungsfähigkeit zugute kommen; umgekehrt war diese in ihrer Entfaltung
gehemmt, wenn sie aus der allgemeinen steuerlichen Staatsbelastung
Beträge herausholen mußte, die dem Artikel 297i
dienten, ohne daß dabei, in den bisherigen kleinen Beträgen, eine wesentliche
Anregung der nationalen Produktivität erreicht worden wäre. Mit
Ausnahme der starken Abfindung für die paar
Großgeschädigten, die man nicht privatwirtschaftlich, sondern
sozial- und wirtschaftspolitisch motivierte, war ja alles, was bisher gegeben war, in
verzettelten und entwerteten Summen im Konsum draufgegangen.
Die Reichsregierung hat im Sommer 1924, bei den Londoner Verhandlungen, den
Versuch nicht gemacht, den internationalen Charakter der Angelegenheit wieder
herzustellen. Man kann nicht annehmen, daß der damalige
Reichsfinanzminister Dr. Luther, dessen Ressort hier federführend ist, den
Fragenkreis "übersehen" hätte; die Reichsregierung war ja auch von
den Interessenten auf ihn hingewiesen worden. Offenbar erschienen ihr die
atmosphärischen Möglichkeiten zu gering, das Problem einer
grundsätzlichen Aussprache zuzuführen. Denn es bietet ja nun
für die zwischenstaatliche Aussprache seine ganz besonderen
Schwierigkeiten. Wenn es bei Völkern und Staatsmännern etwas wie
ein "schlechtes Gewissen" gibt, dann wird das Denken an die Liquidation davon
begleitet. Man versucht, den ganzen "Komplex" zu
"verdrängen" - eine Erfahrung, die man auch in der privaten
Unterhaltung mit jedem menschlich anständigen Engländer machen
kann. Es ist sehr schwer, ex post die Haltung der deutschen Regierung zu
beurteilen; sie glaubte wohl, mit Verantwortungen genug überhäuft,
Währung und Ruhrräumung, jenem seelischen Tatbestand taktisch
Rechnung tragen zu müssen; sie begnügte sich mit der Aussicht auf
den Versuch, das in den materiellen Verhandlungen zunächst ohne Angriff
preisgegebene Gelände demnächst juristisch zu erobern. Ein
Verfahren vor dem Haager Schiedsgericht zur Auslegung der
Dawes-Gesetze sollte dazu dienen. Die deutsche These, von Professor Erich
Kauffmann scharfsinnig vorgetragen, beanspruchte das Recht des Deutschen
Reiches, aus den Annuitäten, die der
Dawes-Plan auferlegte, bestimmte Beträge (ihre Höhe war
natürlich bei dem Kampf um den Grundsatz nicht genannt) für die
Schadloshaltung der innerdeutschen Ansprüche aus Artikel 297i
abzweigen zu dürfen. Der Schiedsspruch, am 29. Januar 1927 verkündet, lehnte
die deutsche Forderung ab, mit der formalen Begründung, daß, wenn
eine solche Regelung als angemessen anzusehen sei, sie in den Londoner
Verträgen eine deutliche Stütze finden müsse; der
Dawes-Bericht spreche davon, daß die [42] 2½ Milliarden deutscher Leistung eine
spürbare Steuerentlastung für die empfangenden Länder
bedeute, es sei also mit der völligen Übereignung des angesetzten
Betrages gerechnet worden und nicht an die Möglichkeit eines Abzuges
gedacht: Ein Vorbehalt des Urteils, daß es sich nur auf die Gutschriften vor
dem Inkrafttreten der
Dawes-Gesetze (1. September 1924) beziehe, veranlaßte die deutsche
Regierung zum zweiten Male, an das Gericht heranzutreten, mit dem Antrag,
daß die Erlöse aus den Liquidationen nach diesem Termin für
die innerdeutsche Entschädigungspflicht freigegeben würden. Auch
der zweite Schiedspruch in dieser Sache, am 29. Mai 1928 gefällt, fiel
zuungunsten Deutschlands aus.
Die Schadenshöhe ist zuverlässig in genauen Ziffern nicht zu geben,
um so mehr, als in der innerdeutschen Auseinandersetzung zwischen Betroffenen
und Behörden Festsetzungen strittig sind und vor allem die
"Russenschäden", ob aus der Zarenzeit, ob aus dem Bolschewikenregiment
stammend (der deutsche Rechtsstand ist dafür verschieden), das Bild
verwirren. Eine deutsche Aufstellung aus dem Jahre 1927 gibt an
Sachschäden von Liquidierten 4,9 Milliarden Mk., an
Gewalt-, Verdrängungs- und Rußlandschäden 2,7 Milliarden,
die sich auf 332 000 Berechtigte
verteilen - darunter freilich über 218 000 Fälle unter 2000 Mk.
und 63 000 Fälle von
2 - 10 000 Mk. - überwiegend
Verdrängungsschäden. Die
gesondert geführten Wertpapierschäden belaufen sich auf 1,3
Milliarden Mk. (451 700 Fälle); an
Netto-Ausgleichsforderungen werden 700 Millionen geschätzt. Private
Berechnungen gehen deshalb weit höher, weil sie, sachlich berechtigt,
geneigt sind, die "immateriellen" Werte, Firma, Beziehungen usf. als ein
werbendes Kapital mit zu veranschlagen. Die deutsche Regierung rechnete zuerst
mit 7,6, später mit 9,2 Milliarden liquidierten deutschen Vermögens.
Wie es dagegen auf der anderen Seite aussieht, zeigt der 8. Bericht des Controller
of the Clearing Office: er berechnet das bis zum 31. März 1928 "Property
Realized" mit, umgerechnet zum Gegenwartskurs, zirka 1,5 Milliarden Goldmark.
Die Summe bezieht sich auf England, Frankreich, Italien und Siam; die
Abrechnungen von Belgien, Rumänien, Portugal und den englischen
Dominien (außer Südafrika, das freigegeben hat) fehlen noch. Der
Betrag wird noch mit einer halben Milliarde veranschlagt. Die Spanne zwischen
diesen Zahlen und den deutschen Aufstellungen ist das Loch, in das deutsche
Arbeit und Leistung verschleudert wurde. Wieviel nun tatsächlich
"Gutschrift" ist, steht dabei noch offen; der Begriff ist aber solange ernsthaft gar
nicht greifbar, als er sich irgendwo an eine imaginäre Zahlenreihe
anhängt. England hat, nach Abgeltung seiner geplanten privaten
Gläubiger durch Deutschland, einen Überschuß von über
10 Millionen Pfund Sterling beim heutigen Stand des Abrechnungsverfahrens;
Baldwin hat [43] es im Herbst 1928 abgelehnt, trotz des Hinweises
auf den amerikanischen Vorgang, aus diesem Betrag Summen an deutsche
Berechtigte zur Verfügung zu stellen.
Es ist hier nicht die Stelle, die innerdeutsche Schadensgesetzgebung zu
beschreiben und kritisch zu würdigen. Sie hat einen wahren Passionsweg
durchlaufen. Die Leistungen bis 1923 verpufften; die "Zwischenaktion", von 1925,
schied mit voller Abfindung die Kleinstgeschädigten aus, unter Abzug der
valorisierten früheren Leistungen, und gab gestaffelte, aber unbedeutende
Beträge oder Darlehen; die Gesetzgebung, die warten mußte, bis die
erste Entscheidung in Haag gefallen war, stand 1927 unter einem Unstern ihrer
politischen Führung. Zwischen Krisen wurde sie zum Schluß gebracht,
nachdem es gelungen, die von der Regierung angesetzte Summe von einer
Milliarde um 300 Millionen zu
erhöhen - die unmittelbare Wirkung dieser Aktion wird dadurch ja
noch weithin illusorisch, daß für alle Schadensansprüche
über 20 000 Mark keinerlei Barleistung, sondern verzinslicher
Schuldbucheintrag gewährt wird, der bei bankmäßiger
Verwertung von erheblichen Kurseinbußen begleitet ist. Daß das
"Gesetz zur endgültigen Regelung der
Liquidations- und Gewaltschäden" den Untertitel
"Kriegsschädenschlußgesetz" erhielt, hat zu lebhaften
politischen Kontroversen geführt. Es erschien der Mehrzahl der Parteien als
politisch nicht klug und nicht erforderlich, die Entschädigungsfrage durch
einen innerdeutschen Akt für abgeschlossen zu erklären und damit
den Kampf um die Restituierung des Privateigentums mit einer bei den
international sichtbaren Beträgen geradezu dürftigen Lösung
von ein paar Prozenten abzubrechen. Aber um nicht neue Enttäuschung in
die geschädigten und ewig vertrösteten Massen zu werfen, beugte sich
das Parlament der Reichsregierung, indem es ihr für künftige
Reparationsbesprechungen durch eine Resolution den Auftrag gab, das
Entschädigungsproblem aus Artikel 297i
erneut aufzurollen.
V.
Die Waffen, die die Alliierten im IV. Teil des Versailler
Vertrages "Deutsche
Rechte und Interessen außerhalb Deutschlands" fertigten, haben, wir wiesen
oben schon kurz darauf hin, begonnen, teilweise gegen ihren Schmied sich zu
wenden. Es ist hier nicht das Schicksal der Kolonien
zu besprechen, das dort
aufgezeichnet steht, aber ein Hinweis notwendig auf den Katalog der
Kleinlichkeiten, den die Artikel 128 bis
158 enthalten, die die ökonomische
und politische Situation Deutschlands in China, Siam, Liberia, Marokko,
Ägypten, Schantung vernichten oder doch einengen und auch das
Verhältnis zur Türkei und zu Bulgarien in der privatrechtlichen
Sphäre bestimmen sollen. In Siam ist die Ausschaltung der Deutschen aus
den [44] Kapitulationen und aus der dortigen
Bahnverwaltung der Anfang eines notwendigen Prozesses geworden, der auch die
Angehörigen der übrigen Nationen Zug um Zug aus der bisher
privilegierten Stellung drängte; in China stehen wir noch mitten in dieser
Entwicklung. Das deutsche Element in Liberia hat teilweise noch unter dem
Artikel 138
zu leiden, insoweit die Rückkehr einigen ehemals
führenden Persönlichkeiten noch verweigert wird; im übrigen
konnten dort die Deutschen eine beachtenswerte kommerzielle Stellung
verhältnismäßig rasch zurückgewinnen.
Die Bestimmungen bezüglich Ägyptens erfuhren 1923 eine
Lockerang; seitdem ist die Zureise von Deutschen keinen Sondervorschriften
unterworfen, 1925 brachte die Wiedereinrichtung der Konsulargerichtsbarkeit. Am
zähesten wird der Ausschluß der Deutschen aus Marokko verteidigt,
wohl in Erinnerung an die bedeutenden Aussichten, die deutsche
Unternehmungskraft für dieses Gebiet vorbereitet hatte; bis vor wenigen
Jahren war selbst den durchreisenden Schiffspassagieren deutscher
Nationalität nicht gestattet, an Land zu gehen, solange die Dampfer im
Hafen lagen. Als der
deutsch-französische Handelsvertrag von 1927 zwischen den beiden Staaten
das Prinzip der Meistbegünstigung aussprach, ist Marokko
ausdrücklich davon ausgenommen worden.
Die Praxis des Abbaus bestimmter Möglichkeiten des Versailler Vertrages
oder der aus der Kriegszeit stammenden Gesetze und Verordnungen ist ja nun im
Tempo sehr unterschiedlich gewesen. England hat früh genug begriffen,
daß das Recht zu Repressalien, auf neue deutsche Vermögensbildung
oder Guthaben oder Waren in seinem Land sich erstreckend, für alle
ökonomische Beziehung tödlich ist, weil ein Widersinn zu Treu und
Glauben des geschäftlichen Verkehrs; es hat denn auch auf die Anwendung
der sogenannten "Repressalienklausel" (Teil VIII, Anl. II
§ 18) förmlich
verzichtet, soweit deutsches Privateigentum von ihr erfaßt werden konnte,
und die Mehrzahl der übrigen Staaten, von einigen südamerikanischen
sowie Rumänien und Polen abgesehen, sind ihm darin gefolgt, Frankreich
freilich erst am 17. August 1927, nach dem Abschluß des Handelsvertrages,
Australien erst im Sommer 1928.
Die Durchsicht des Versailler Vertrages weckt die Erinnerung an die erste
Nachkriegszeit, da die Auslandsdeutschen im fremden Land, nach Jahren der
Internierung oder der polizeilichen Aufsicht, der willkürlichen Strafgewalt
der feindlichen Mächte (Artikel
219) noch unterworfen blieben oder neben
den Kriegsgefangenen als Geiseln zurückbehalten werden konnten (Artikel
221), bis die Heimsendung der kriegsgefangenen alliierten
Staatsangehörigen aus dem Deutschen Reich vollzogen war. Das ist heute
Vergangenheit und vielleicht klein, gemessen an den noch unbeantworteten
Fragen, aber das
Ge- [45] dächtnis an diese Bestimmungen und die
Erfahrungen, die mit ihnen gemacht wurden, ist in vielen Seelen nicht
ausgelöscht.
Im übrigen enthält der Vertrag ja an vielen Stellen Vorschriften, deren
Überwindung erst langsam in einer Abfolge internationaler Verträge
möglich wurde und möglich bleibt. Mit die größten
Schwierigkeiten boten hier eine Anzahl der britischen Dominien und die
Verwaltung von Kenya
(Britisch-Ostafrika) - in einem jungen Nationalismus, der durch den Krieg
zum erstenmal auf die Bühne weltpolitischen Geschehens gezogen wurde, in
einer Gesinnung, die den Protektionismus nicht so sehr gegen die Ware als gegen
den arbeitenden Menschen schon seit Jahren ausgebildet hatte, ist die
Wiederaufnahme auslandsdeutscher Betätigung am zähesten einem
Widerstand der Paragraphen und der Seelen ausgesetzt geblieben. Bis zum Ende
des Jahres 1928 galt noch etwa für Kenya das Verbot des "Handels mit dem
Feinde", wenn auch, unter ökonomischem Schwergewicht, seine genaue
Durchführung sich gedehnt hatte. Die Einreiseverweigerungen sind in dem
britischen Außenbezirk in den Jahren von 1923 bis 1927 aufgehoben
worden; seit November 1925
sind Deutsche auch in Ostafrika wieder zum
Landerwerb zugelassen. Für einzelne Staaten ergingen Sondervorschriften:
in Südwestafrika hat man eine Liste mit 600 Namen angefertigt, deren
Träger als "unerwünscht" galten und von der Einreise ausgeschlossen
bleiben, sofern nicht die Verwaltung bei besonderen
Anträgen - sie hat das in zirka 200 Fällen
getan - eine entgegenkommende Entscheidung trifft.
Mit schweren Mühen und Opfern hat das Auslandsdeutschtum, wo es wieder
im ehemals feindlichen Land Fuß fassen konnte, den Kampf um die
Wiedergewinnung des gemeinsamen Besitztums begonnen: Klubgebäude,
Krankenhäuser, Schulen, kirchliche Einrichtungen. Sie fanden hier das eine
Mal Entgegenkommen, das andere Mal harten bürokratischen Widerstand.
Immerhin, wer in der Nachkriegszeit solche deutsche Gemeinschaft draußen
auch im ehemals gegnerischen Land besucht hat, empfand, daß ein
ungebrochener und zäher Wille am Werk ist, sich in deutscher
Verbundenheit zu behaupten.
Freilich: zahllose Existenzen sind geknickt, Ansätze kühnen
Wagemutes verdorben, Leistungen, in denen der Stolz und Eifer einer Familie
durch ein paar Generationen steckte,
ausgelöscht - eine schier unabsehbare Kette des Opfers und des
Leides. Eine, wenn man so will, gute Wirkung dieses schlimmen Schicksals ist
heute spürbar: der Binnendeutsche hat zu sehen und zu empfinden gelernt,
daß die draußen, verstreut oder geschlossen siedelnd, ein Stück
seines Volkstums geblieben sind, über alles Meßbare hinaus wichtig
für die geistige und wirtschaftliche Stellung der Heimat zwischen [46] den Nationen. Das bedeutet eine große
Wendung gegenüber dem gleichgültigen oder kühlen
Seelenzustand der Vorkriegszeit. Wenn dem aber so ist, so verknüpft sich
damit für die Deutschen zuhause, in Regierung und Parlament, in Presse und
öffentlicher Meinung, die Pflicht, bewußt und geschlossen hinter den
Rechts- und Lebenskampf zu treten, der diesen ihren "Pionieren" auferlegt wurde.
Er ist keine Privatangelegenheit, sondern führt in die Mitte der deutschen
Schicksalsfragen überhaupt.
Literatur
B. Harms: Der Wirtschaftskrieg, 5 Bände, 1917 ff.
C. Bergmann: Der Weg der Reparation, Frankfurt 1926.
R. Fuchs: Die Grundsätze des Versailler Vertrages über die
Liquidation und Beschlagnahme deutschen Privatvermögens im Auslande,
Berlin 1927.
H. W. Herold: Das Schicksal des deutschen Eigentums im Auslande, Berlin 1926.
M. Schoch: Die Entscheidungen des Internationalen Schiedsgerichts zur Auslegung
des Dawes-Plans, Berlin-Grunewald 1927.
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