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Bd. 3: Die
grenz- und volkspolitischen Folgen
des Friedensschlusses
IV. Gebietsverlust durch erzwungene Abtretung
oder Verselbständigung (Teil 6)
6) Deutsch-Österreich und seine Grenzgebiete
Univ.-Prof. Dr. Karl Gottfried Hugelmann
Vorsitzender Stellvertreter des Österreichischen Bundesrates,
Wien
Es gibt keinen klareren Beweis dafür, daß die Mittelmächte,
daß insbesondere das deutsche Volk den Weltkrieg als einen
Verteidigungskrieg auffaßten, die Entente aber als einen Angriffskrieg, als
die Tatsache, daß lediglich die Entente mit ihren Assoziierten bestimmte,
festumrissene und zwar offensive, auf Zerstörung oder mindestens
Schwächung der Gegner ausgehende Kriegsziele hatte. Diese sind auch zum
großen Teil bereits während des Krieges Gegenstand von
Verträgen zwischen den Ententestaaten und ihren Assoziierten gewesen. Es
war ganz im Zuge dieser Entwicklung gelegen, daß, als nun der Krieg
für Österreich eine ungünstige, ja katastrophale Wendung
nahm, die nichtdeutschen Völker alles vorbereitet hatten, um neue
staatsrechtliche, ihren Interessen dienende Verhältnisse zu schaffen, die
Deutschen aber weder für den Fall des Sieges noch für den der
Niederlage irgendwie feste Vorbereitungen getroffen hatten.
Den unmittelbaren Anstoß zur Gründung eines
deutschösterreichischen Staates gaben die Vorverhandlungen über den
Frieden. Bereits am 14. September 1918 hatte die
österreichisch-ungarische Regierung an alle kriegführenden Staaten
eine Friedensnote gerichtet, die von der amerikanischen Regierung am 19.
September ablehnend beantwortet wurde mit dem Hinweis, daß nur die
Annahme der 14 Punkte
Wilsons ein Eingehen auf Verhandlungen möglich
erscheinen lasse. Am 5. Oktober 1918 stellte die
österreichisch-ungarische Regierung im Einvernehmen mit dem Deutschen
Reich und der Türkei tatsächlich den Antrag auf Einleitung von
Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen gemäß den 14 Punkten
der Kongreßrede Wilsons vom 8. Januar 1918 und den vier Punkten seiner
Rede vom 12. Februar 1918. Wilson hat auf diese Note nur dem Deutschen Reich
geantwortet in dem Sinne, daß alle feindlichen Gebiete zuerst geräumt
werden müssen. Daß dies auch für Österreich galt, schien
allerdings selbstverständlich. Es scheint aber, daß die
österreichische Regierung außerdem Kenntnis davon erlangte oder
wenig- [327] stens auf Grund der Botschaft des
Präsidenten Wilson vom 8. Januar 1918 (14 Punkte) und auf Grund der
erwähnten Antwortnote Amerikas vom 19. September 1918 glaubte,
daß ein sofortiges Eingehen auf die Kongreßbotschaft Wilsons in
bezug auf die Stellung der Nationalitäten die Erlangung des Friedens
erleichtern würde. In seinem Manifest vom 17. Oktober wollte Kaiser Karl
dem 10. Punkt der Kongreßrede Wilsons vom 8. Januar Rechnung tragen,
der lautet: "Den Völkern
Österreich-Ungarns, deren Platz unter den Nationen wir geschützt und
gesichert zu sehen wünschen, soll die erste Gelegenheit zu autonomer
Entwicklung gewährt werden"; er proklamierte: "Österreich soll dem
Willen seiner Völker gemäß zu einem Bundesstaat werden, in
dem jeder Volksstamm auf seinem Siedlungsgebiet sein eigenes staatliches
Gemeinwesen bildet. Diese Neugestaltung soll jedem nationalen Einzelstaate seine
Selbständigkeit gewährleisten." Es liegt darin
allerdings - abgesehen von der Halbheit, daß diese Proklamation nur
für die österreichische Reichshälfte galt, nicht aber für
die Länder der Stephanskrone, wo eine viel rücksichtslosere Politik
gegen die nicht-magyarischen Nationalitäten getrieben worden
war - ein Widerspruch; denn der Kaiser wollte einerseits Österreich in
einen Bundesstaat verwandeln, während nach seinem Manifest die einzelnen
Nationalstaaten Selbstbestimmung haben sollten, was eine gemeinsame
Staatlichkeit ausschließt. Vollends unmöglich wurde eine solche durch
die Bildung der einzelnen Staatsräte und Nationalversammlungen der
verschiedenen Nationalitäten
Österreich-Ungarns. Übrigens wurde der
österreichisch-ungarischen Regierung schon am 18. Oktober eine Antwort
Wilsons auf die
österreichisch-ungarische Friedensnote vom 5. Oktober übermittelt,
die weit über das Zugeständnis des Kaisers und über den
zitierten, von Wilson seinerzeit aufgestellten 10. Punkt hinausging, indem es darin
heißt: "Der Präsident hält es für seine Pflicht, der
österreichisch-ungarischen Regierung mitzuteilen, daß er sich mit dem
vorliegenden Vorschlag nicht befassen kann, da sich Kompetenz und
Verantwortlichkeit der Regierung der Vereinigten Staaten geändert haben.
Der Präsident ist daher (weil er nämlich unterdessen den
tschechoslovakischen Nationalrat als eine gegen Österreich und Deutschland
kriegführende Regierung anerkannt hatte) nicht mehr in der Lage, die
bloße Autonomie dieser Völker anzuerkennen, sondern ist gezwungen,
darauf zu bestehen, daß sie und nicht er Richter darüber sein sollen,
welche Aktion auf Seiten der
österreichisch-ungarischen Regierung die Aspirationen der Völker
befriedigen werde."
Die österreichisch-ungarische Regierung nahm am 28. Oktober 1918 diese
Note Wilsons ausdrücklich an, womit eigentlich der österreichische
Staat, bzw. die Monarchie völkerrechtlich zu bestehen
auf- [328] gehört hatte. Unterdessen hatten die
nichtdeutschen Nationen der Monarchie bereits ihre Nationalräte gebildet,
nur die Deutschen, die dem untergehenden Staat bis zum letzten Augenblicke die
Treue hielten, standen noch ohne Vertreter ihres Volkstums da; erst am 30.
Oktober schritten auch sie zur Bildung eines Nationalrates (Staatsrates) und einer
aus den deutschen Abgeordneten des österreichischen Abgeordnetenhauses
bestehenden Nationalversammlung. Ausdrücklich hat die provisorische
Nationalversammlung gemäß dem von Wilson proklamierten
Selbstbestimmungsrecht der Völker am 12. November den Anschluß
an das Deutsche Reich beschlossen unter gleichzeitiger Anrufung der
demokratischen Republik
("Deutsch-Österreich ist ein Bestandteil der deutschen Republik") und am
gleichen Tag die feierlichen Beitrittserklärungen der Regierungen, Kreise
und Länder des Staatsgebietes zur Kenntnis genommen und diese Gebiete
des Staates unter "den Schutz der ganzen Nation" gestellt. Als Staatsgebiet wurden
in der Staatsgebietserklärung vom
22. November 1918 folgende Gebiete
für den neukonstituierten Staat Deutschösterreich in Anspruch
genommen: "Die Länder Österreichs unter der Enns
einschließlich des Kreises Deutschsüdmähren und des
deutschen Gebietes um Neubistritz, Österreich ob der Enns
einschließlich des Kreises
Deutsch-Südböhmen, Salzburg, Steiermark und Kärnten mit
Ausschluß der geschlossenen jugoslawischen Siedlungsgebiete, die
Grafschaft Tirol mit Ausschluß des geschlossenen italienischen
Siedlungsgebietes, Vorarlberg, Deutschböhmen und Sudetenland, sowie die
deutschen Siedlungsgebiete von Brünn, Iglau und Olmütz." Man sieht
daraus, daß die Deutschen Österreichs, nachdem das große und
ruhmvolle Staatsgebilde, in dem
sie - wenn man aufs Ganze sieht - gewiß keine
Unterdrückungspolitik getrieben hatten, zerfallen war, nunmehr, dem
gegebenen Worte vertrauend, sich ohne Hintergedanken auf den Boden der
Selbstbestimmung stellten. Sie vertrauten auf das feierlich gegebene Wort Wilsons
und des Feindbundes, welches dem Deutschen Reich gegenüber sogar in
einem formellen Vorfriedensvertrag soeben neuerlich bekräftigt worden war,
und konnten sich gegenüber den sofort angekündigten und zum Teil
auch durch gewaltsame Besetzung in die Tat umgesetzten imperialistischen
Ansprüchen der anderen österreichischen Nationalitäten bzw.
Nachfolgestaaten insbesondere auf den 2. Punkt der Rede Wilsons vom 12.
Februar 1918 berufen: "Völker und Provinzen sollen nicht von einer Hoheit
in eine andere herumgeschoben werden, als ob es sich um Gegenstände und
Steine in einem Spiele handle, wenn auch in dem großen Spiele des
Gleichgewichtes der Kraft, das nun für alle Zeiten diskreditiert ist." Es
mußte sich bald zeigen, ob diese Versprechungen ernst gemeint oder nur
Kriegslist der Feinde waren.
[329]
Deutsch-Österreich und seine Grenzländer.
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Deutsch-Österreich sollte nach der berühmten staatsrechtlichen
Erklärung das geschlossene deutsche Siedlungsgebiet der Doppelmonarchie
umfassen. Tatsächlich wurde aber
Deutsch-Böhmen, Deutsch-Mähren, Deutsch-Schlesien und Grenzgebiete des
alpenländischen Österreichs der Tschechoslowakei zugeteilt. Vom
Burgenlande kam nur ein Teil zu Österreich; nachträglich trat noch der
Verlust Ödenburgs ein. Fast die gesamte Untersteiermark ging verloren, ebenso
kleinere Teile von Kärnten, endlich
Deutsch-Südtirol. Das kärntnerische Abstimmungsgebiet mit Klagenfurt und
Völkermarkt blieb erhalten; es ist (ebenso wie der zu Österreich gekommene
Teil des Burgenlandes) in der Karte besonders herausgehoben. Das völkische
Mischgebiet um Marburg und Cilli, in dem überdies zahlreiche österreichisch
gesinnte Slawen wohnten, ist dagegen, um den Hauptzweck der Karte nicht zu
gefährden, als solches in der Karte nicht besonders herausgehoben; aus dem
gleichen Grunde ist das Inseldeutschtum in Rumpfungarn und der Slowakei nur leicht
angedeutet.
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Es war vielleicht ein Fehler, weil ein innerer Widerspruch, daß [329] Österreich eine eigene Friedensdelegation
nach Paris schickte, nachdem es sich als einen Bestandteil des Deutschen Reiches
erklärt hatte. Doch hat dies seinen Grund darin, daß man
sich scheute, ein vollständiges fait accompli zu schaffen, um sich nicht bei
den Friedensverhandlungen zu schädigen. Auch die "Volksregierung" im
deutschen Reich (Scheidemann, Haase, Ebert) war dieser Ansicht, die in
Österreich von Dr. Renner vertreten wurde, der aber auch [330] eine Reihe angesehener christlichsozialer
Politiker sich anschlössen. So fuhr denn die österreichische
Friedensdelegation nach Paris ab, wo sie am 13. Mai 1919 einlangte, und von wo
sie im September wieder zurückkehrte.
Verfolgen wir nun das Ringen um das Selbstbestimmungsrecht jenes Teiles des
deutschen Volkes, der sich als deutschösterreichischer Staat konstituiert
hatte. Hiebei sehen wir vom sudetendeutschen Gebiete, welches
eine besondere
Darstellung findet, ab und beschränken uns auf die übrigen Gebiete.
Mit der Behandlung der Grenzfrage wollen wir auch die der Folgen verbinden,
welche die getroffene "Regelung" gezeitigt hat.
Am klarsten lagen die Dinge bezüglich der Grenzen in Tirol. Denn hier lag
ein unmittelbar auf dieses Land bezüglicher Punkt Wilsons vor,
nämlich der Punkt 9 seiner
Kongreßrede vom 8. Januar 1918, worin er
ausdrücklich gesagt hatte, die Grenze gegen Italien solle
"gemäß den klar erkennbaren Nationalitätengrenzen" gezogen
werden. In Südtirol gab es aber wie kaum sonst irgendwo in Europa eine
ganz klar erkennbare Nationalitätengrenze, die bei Salurn, wo das Etschtal
sich wieder verengt, verläuft, nicht aber auf dem Brenner, wie die Italiener
es Wilson glauben machen wollten. Trotzdem bestanden gerade bezüglich
Tirols von Anfang an die größten Besorgnisse, da man wußte,
daß die Ansprüche der Italiener auf die Brennergrenze den
Hauptgrund für den Eintritt Italiens in den Weltkrieg gebildet hatten und da
man wenigstens ahnte, was ja heute Gewißheit ist, daß die Alliierten
Italien bereits bei seinem Eintritt in den Weltkrieg feste Zusagen gegeben hatten
(wie Wilson in seinen Memoiren selbst zugibt). Diese Angst wurde noch durch die
sofortige Besetzung der Brennergrenze beim Waffenstillstand gesteigert.
Die Befürchtungen erwiesen sich als zutreffend, denn in dem am 2. Juni der
österreichischen Delegation übermittelten Friedensvertragsentwurf
war für Italien die Brennergrenze vorgesehen. In Gegenschriften vom 16.
und 23. Juni 1919 wies Österreich mit besonderem Nachdruck darauf hin,
daß die nationale Grenzlinie klar verläuft und die Südtiroler seit
vielen, vielen Jahrhunderten festgewurzelt sind in deutscher Gesinnung und
deutscher Sitte. Zu allem Überfluß wurde auch die italienische
Behauptung, daß nur die Brennergrenze als eine gute strategische Grenze in
Betracht
komme - eine Frage, die nach den Wilsonbedingungen gar keine Rolle
hätte spielen
dürfen -, widerlegt und dargetan, daß die Sprachgrenze bei
Salurn auch eine ausgezeichnete strategische Grenze für Italien ist. Weiters
wurde mit Eindringlichkeit darauf hingewiesen, daß für
Österreich, besonders aber auch für Südtirol selbst schwerste
wirtschaftliche Schäden aus einer so unhistorischen Grenze wie der
Brennergrenze erwachsen würden, da die gegenseitige Belieferung mit
[331] Kastanien, Mais, Obst und Wein wie Milch und
Fett Nord- und Südtirol voneinander in sehr hohem Maße abhängig
macht.
Die Gegner gaben sich nicht die geringste Mühe, die österreichischen
Gegenvorschläge sowie die "Bemerkungen der
deutsch-österreichischen Delegation zur Gesamtheit der
Friedensbedingungen mit Deutschösterreich" sachlich zu widerlegen. Sie
erkannten den deutschen Charakter der Bevölkerung indirekt an, indem sie
der österreichischen Delegation folgendes notifizierten: "Die alliierten und
assoziierten Mächte sind der Ansicht, daß die Grenzen zwischen
Italien und Österreich, wie sie in den Friedensbedingungen der
österreichischen Abordnung vorgelegt worden sind, keine Änderung
erfahren dürfen. Wie aus den sehr klaren, vom italienischen
Ministerpräsidenten im römischen Parlament abgegebenen
Erklärungen folgt, beabsichtigt die italienische Regierung gegenüber
ihren neuen Untertanen deutscher Nationalität in bezug auf deren Sprache,
Kultur und wirtschaftliche Interessen eine im weitesten Maße liberale Politik
zu befolgen." Aber in den am 20. Juli überreichten Friedensbedingungen
blieb die Brennergrenze aufrecht erhalten. Am 6. September 1919 nahmen die
Südtiroler Abgeordneten Abschied von Österreich in der
österreichischen Nationalversammlung, die bei der Ermächtigung
zur Unterzeichnung des Friedensvertrages sich in feierlicher Weise auf die
Zusagen der Gegenseite berief, daß die deutsche Kultur und Sprache in
Südtirol geschont werde, eine Berufung, auf die keine Gegenbemerkung
erfolgte. Ferner berief sich die Nationalversammlung ausdrücklich auf eine
mögliche künftige Korrektur dieser Vertragsbestimmung durch den
Völkerbund. Nur mit diesen Vorbehalten hat Österreich den Vertrag
unterzeichnet.
Mit der Annexion Südtirols durch Italien war also das
Selbstbestimmungsrecht gerade an dem Punkte verletzt, wo es am feierlichsten von
Wilson garantiert war und wo es ganz besonders schmerzlich empfunden wurde, da
es sich um ein Land handelte, welches dem Deutschtum besonders heilig ist als
zweite Heimat Walters von der Vogelweide und als Geburtsstätte eines der größten deutschen Nationalhelden, Andreas Hofers. Was
Südtirol für das Deutschtum bedeutet, hat Staatssekretär
für Äußeres Dr. Otto Bauer (Sozialdemokrat) in der Sitzung der
prov. Nationalversammlung für Deutschösterreich vom 4. Dezember
1918 sehr schön mit folgenden Worten ausgedrückt: "Für die
Italiener mag das ja nur eine Anzahl von Quadratkilometern sein und das Volk, das
dort wohnt, das mag ihnen nur ein Zubehör zu einer günstigen
strategischen Grenze sein, aber für uns, und ich darf sagen, für alle
Deutschen, bedeuten diese Gebiete etwas ganz anderes. Es gibt vielleicht
nirgendwo einen Fleck deutscher Erde, der jedem Deutschen so teuer ist, wie
gerade dieses deutsche Südtirol. Denn es ist die einzige Stelle in der Welt,
[332] wo der Süden deutsch ist. Es ist ein
Stück Landes, das seit vielen Jahren die Deutschen angezogen hat, um die
landschaftlichen Schönheiten und die Spuren von neun Jahrhunderten
deutscher Geschichte und Kultur dort zu bewundern. So ist dieses Stück
Erde jedem Deutschen heilig geworden."
Die ersten zwei Jahre nach Unterzeichnung des Friedensvertrages hat sich Italien
loyal an seine wiederholt gegebenen Versprechungen, von deren wichtigsten die
österreichische Nationalversammlung in so feierlicher Form Akt genommen
hatte, gehalten. Im Jahre 1923 aber kam der große Umschwung.
Deutsch-Südtirol wurde der Provinz Trento zugeschlagen und am 23.
Oktober 1923 erging von dort ein Dekret, das für alle staatlichen
Ämter, Gemeinden und alle unter öffentlicher Kontrolle stehenden
Unternehmungen ausschließlich die italienische Amtssprache einführt.
Es folgte Dekret auf Dekret, alle mit dem Ziel, die deutsche Sprache, wo immer es
sein mochte, auszuschalten und zu unterdrücken. Am 1. Oktober 1923 kam
ein königliches Dekret heraus, das mit dem Schuljahr 1923/24 in den ersten
Klassen sämtlicher Volksschulen die italienische Sprache als
Unterrichtssprache einführte, mit dem folgenden Jahre in der zweiten Klasse
und so fort. Die Unterdrückungsmaßnahmen überstürzten
sich. Deutsche Aufschriften, Eingaben, Verzeichnisse, Fahrpläne,
Ortsnamen, Kindergärten, alles wurde verboten. Die Grabinschriften
müssen italienisch verfaßt sein, einzelne Familiennamen wurden
italianisiert, deutsche Vereine aufgelöst, ebenso die deutschen Parteien
(Deutsche Volkspartei, Deutschfreiheitliche Partei, Deutscher Verband). Die
deutsche Bevölkerung hat keinerlei Vertreter im italienischen Parlament.
Schließlich wurde auch die Erteilung des Religionsunterrichtes in deutscher
Sprache untersagt. Nach wechselvoller Entwicklung ist es nun dahin gekommen,
daß zwar in der Schule kein deutscher Religionsunterricht erteilt werden darf
und die Kirche in der Schule überhaupt keinen Religionsunterricht gibt, aber
statt dessen im Pfarrhaus oder in der Kirche deutscher Religionsunterricht erteilt
wird. An dieser Praxis änderte sich auch nichts, als die Italiener das kleine
Entgegenkommen zeigten, und am 6. Dezember 1926 Bozen in eine eigene
Provinz verwandelten.
Von dieser Vergewaltigung abgesehen, haben sich auch die wirtschaftlichen
Voraussagungen der österreichischen Delegation bewahrheitet. Nordtirol
leidet schwer, da es die reichen landwirtschaftlichen Produkte aus dem
Süden nicht mehr bekommen kann und ihm als einzige Verkehrsader die
Bahn von Wien nach Buchs verblieben ist, Südtirol aber kann seine
Produkte nicht ausführen, besonders den Wein, da Italien selbst damit
reichlich versehen ist. In gleichem Maße leidet Südtirol auch darunter,
daß jetzt viel weniger Deutsche das Land besuchen, wodurch die Einnahmen
aus dem Fremdenver- [333] kehr bedeutend sinken; besonders stark macht
sich dies in Meran fühlbar.
Außerdem sind aber auch die natürlichen Beziehungen zwischen
Italien und Österreich sowie zwischen Italien und dem Deutschen Reich sehr
gestört, und muß es naturgemäß zu Reibereien kommen.
Wir brauchen nur an die Höhepunkte zu erinnern, die Rede des deutschen
Reichsaußenministers Dr. Stresemann im deutschen Reichstag vom 9.
Februar 1926 und die Rede des Bundeskanzlers Ramek am 17. Februar 1926 im
Hauptausschuß des österreichischen Nationalrates, welche den Beruf
des deutschen Reiches zum Schutze des gesamten Deutschtums in
großzügiger Weise anerkannte, ferner die Rede des Bundeskanzlers
Dr. Seipel vom 23. Februar 1928 im österreichischen Nationalrat, welche
sich offiziell auf die Zusagen der italienischen Regierung in der Mantelnote zum
Friedensvertrag berief. Allerdings hat ein italienisches Kommuniqué behauptet,
daß der österreichische Bundeskanzler später den rein
inneritalienischen Charakter dieser Frage anerkannt habe; es ist jedoch
festzustellen, daß hier ein einseitig italienisches, nicht ein zwischen beiden
Regierungen vereinbartes Kommuniqué vorliegt. Alles in allem ist durch die
ungerechte Abtrennung Südtirols nicht nur dem ganzen deutschen Volke
schwerstes Unrecht und schwerster Schade zugefügt worden, sondern auch
ein Brandherd geschaffen für neue Konflikte in der Zukunft.
Mit bedeutend besserem Erfolg als in Tirol wurde das Selbstbestimmungsrecht in
Kärnten
verteidigt. Klar und deutlich hatte die vorläufige
Kärntner Landesversammlung schon am 11. November 1918 zur Zukunft
Kärntens Stellung genommen durch den Beschluß, daß das Land
Kärnten "durch das geschlossene deutsche Siedlungsgebiet des ehemaligen
Herzogtums Kärnten und jene gemischtsprachischen Siedlungsgebiete dieses
Herzogtums" gebildet wird, "die sich auf Grund des Selbstbestimmungsrechtes
ihrer Bewohner dem Staatsgebiete des Staates Deutschösterreich
verfassungsmäßig anschließen". Dieser Beschluß stellt ein
beredtes Eingehen auf die Vorschläge Wilsons (Punkt 2 seiner Rede am
Grabe Washingtons vom 4. Juli) dar: "die Regelung aller Fragen, sowohl der
territorialen wie der Souveränitätsfragen, der wirtschaftlichen und
politischen Fragen auf der Grundlage der freien Annahme dieser Regelung durch
das Volk, das unmittelbar davon betroffen ist, und nicht auf Grundlage des
materiellen Interesses oder Vorteiles irgendeines anderen Volkes, das eine andere
Regelung zur Ausbreitung seines Einflusses oder seiner Herrschaft
wünscht."
Ganz andere, maßlose Forderungen stellten die Südslawen auf. Sie
verlangten ganz Kärnten bis zu den Hohen Tauern für sich oder
[334] mindestens einen Teil des Landes, und zwar
meist unter Einschluß der vollkommen deutschen Städte Klagenfurt
und Villach. Unter Führung Dr. Korošec (des späteren jugoslawischen
Ministers) und Dr. Žeriav suchten die nationalen Krainer Slowenen ihre
Forderungen in Paris durchzusetzen mit der Begründung, daß in
Kärnten nur eine deutsche Klique an der Spitze stehe, während die
Bevölkerung zu zwei Drittel slowenisch sei. Dem gegenüber
muß festgestellt werden, daß Kärnten unter 360 000 Einwohnern
damals nicht ganz 80 000 Slowenen zählte und auch in dem von den
Südslawen im besonderen geforderten südöstlichen Gebiete mit
Klagenfurt und Villach 114 000 Deutsche 80 000 Slowenen
gegenüberstanden (im heutigen Kärnten leben nach der
Volkszählung von 1923 nur 38 000 Slowenen). Was aber am wichtigsten ist:
In Kärnten konnte gar nicht nach "klar erkennbaren
Nationalitätengrenzen", wie Wilson für Tirol gesagt hatte,
vorgegangen werden, denn ein Blick auf die Sprachenkarte zeigt, wie fein
verästelt und vielfach gemischt das deutsche und das slowenische Element
in Kärnten miteinander siedeln. Zeigt schon dieser Umstand, daß die
Dinge in Kärnten ganz anders lagen und liegen als in Südtirol, so
errichtet im besonderen noch der Bergwall der Karawanken eine Scheidemauer
zwischen dem geopolitisch einheitlichen Kärnten und zwischen
Südslawien. Die Kärntner Slowenen sind daher, und das ist das
Entscheidende, immer Kärntner gewesen und haben sich als solche
gefühlt, nie aber als Südslawen. Sie verstehen sogar nur mit
Mühe die Sprache ihrer Stammverwandten in Krain. Sie wären, wenn
die Grenzlinie südlich der deutschen Städte Klagenfurt und Villach
gezogen wird, wirtschaftlich verloren.
Die Südslawen versuchten nun in Verkennung all dieser Tatsachen den
Gang der Friedensverhandlungen in der Richtung ihrer Forderungen zu
beeinflussen. Sie fanden, unter dem Einfluß Pasič und Trumbič, in Paris
Sympathien bei den Franzosen, Gegner an den Italienern, kühle
Parteilosigkeit bei Engländern und Amerikanern. So zogen sich die
Verhandlungen in die Länge.
Es wurde nun, vielleicht unter dem Eindruck der Kämpfe, auf die wir
später zurückkommen, eine amerikanische Kommission nach
Kärnten geschickt, um die Verhältnisse zu studieren, und diese
mußte zu ihrem Erstaunen feststellen, daß das Land ganz deutsch sei.
Sie wirkte daher auch in Paris dahin, daß nach dem Wunsche der
Kärntner eine Volksabstimmung herbeigeführt werde. Die
Verhandlungen in Paris zwischen der am 13. Mai dort eingetroffenen
österreichischen Friedensdelegation und den Alliierten und Assoziierten
nahmen einen schleppenden Verlauf, der für Kärnten durchaus nicht
hoffnungsvoll war. Ein südslawischer Kompromißvorschlag vom 9.
Mai auf Teilung des strittigen Gebietes ohne Abstimmung wurde vom Viererrat am
23. Mai abgelehnt und das fragliche Gebiet, jedoch aus- [335] schließlich des Mießtales, das
bedingungslos an Jugoslawien abgetreten werden sollte, in zwei
Abstimmungszonen geteilt. Dies war immerhin ein großer Erfolg. Sein
Zustandekommen ist zu verdanken dem Kampfesmut der Kärntner
selbst.
Denn schon vor
Beginn der Verhandlungen hatten die Jugoslawen das, was sie in
Paris später zu verlangen willens waren, aber wirklich zu erlangen sich nicht
sicher fühlten, mit Gewalt zu erreichen gesucht. Sie besetzten im Dezember
1918 den südöstlichen Teil des Landes einschließlich
Völkermarkt. Die Kärntner, von aller Welt verlassen, sahen in der
Selbsthilfe die einzige Rettung. So erhoben sie sich, Deutsche und Slowenen, und
eilten, nach 4½ Jahren Weltkrieg noch nicht entmutigt, noch immer treu ihrem
Lande, ihrer Heimaterde, zu den Waffen. Da beginnt eine der ruhmreichsten
Phasen deutscher Geschichte. Der Kampf war bitter ernst. Denn die
südslawischen Truppen waren an Zahl und Kriegsmaterial weit
überlegen. Aber auf Kärntner Seite fochten Mittelschüler und
Bauern Schulter an Schulter, und manch heimattreues Herz brach im Tode auf der
Walstatt deutschen Heldentums. Der Plan der Südslawen, Klagenfurt zu
nehmen, gelang nicht. Sie machten am 29. April einen groß angelegten
Angriff, der aber an den höchst geschickten Gegenmaßnahmen des
Landesbefehlshabers General Hülgerth, der Seele des ganzen
Freiheitskampfes, scheiterte und den Angreifern selbst zum Verhängnis
wurde. Das Land wurde rasch von den Feinden gesäubert und am 6. Mai
standen die Kärntner bereits in Untersteiermark. Ein weiterer Vorstoß
wurde ihnen von Wien aus in Verkennung der politischen Lage verboten.
Ende Mai brach der Kampf von neuem los. Mit ungeheurer Übermacht
rückten die Südslawen wieder nach Kärnten ein, mit dem Ziele
Klagenfurt. Zwar war die Organisation der Kärntner trefflich, die
Kämpfer, unterstützt von dem Tiroler Halbbataillon Dragoni und
einem Klosterneuburger Bataillon, heldenhaft; doch die erdrückende
Übermacht mußte siegen. Die Landesregierung begab sich nach
Spittal, die Regierung des Ostens und der Landeshauptstadt lag nur mehr in der
Hand des Klagenfurter Gemeinderates, der in dieser schwersten Stunde treu zur
verzagenden Bevölkerung stand. Aller Parteienkampf hatte aufgehört,
und von den Christlichsozialen unter Führung des Gemeinderates August
Veiter und den Großdeutschen unter Vizebürgermeister Rach
bis zu den Sozialdemokraten unter Leitung des Vizebürgermeisters Pressien
hat der Klagenfurter Gemeinderat als einzige im Untergang noch verbleibende
Autorität des deutschen Kärnten in Tag und Nacht ununterbrochener
Arbeit ausgeharrt. Am 6. Juni, nach den letzten erbitterten Kämpfen, wurde
die Landeshauptstadt von den Südslawen genommen; Kärnten, das
den Heroismus gehabt hatte, nach einem Weltkrieg noch [336] durch ein halbes Jahr für seine Heimat zu
kämpfen, lag am Boden. Der Freiheitskampf war beendet.
Aber nicht ungehört
verhallte in der Welt der Ruf der Kärntner nach
dem Recht der Selbstbestimmung. Das vergossene Blut war nicht umsonst
geflossen. In ihren Gebietsnoten vom 10. und 16. Juli verlangte die
österreichische Friedensdelegation die Volksabstimmung für das
Gebiet bis zu den Karawanken. Die Kärntner Vertreter unter Führung
Dr. Martin Wuttes wichen keinen Schritt zurück. So gelang es, eine
Volksabstimmung zu erzielen, die in zwei Zonen durchgeführt werden
sollte. Die Trennungslinie dieser beiden Zonen wurde sehr ungerecht gezogen. Ein
Einspruch dagegen hatte aber keinen Erfolg, so wenig wie gegen die Abtrennung
des Kanaltales mit seinen weltberühmten Bleivorkommen an Italien, obwohl
nicht ein einziger Italiener dort wohnte. Rumpfösterreich sollte so auch eines
seiner wenigen wirtschaftlichen Werte noch beraubt werden. Ebenso kam das
Mießtal ohne Abstimmung zu Südslawien, obwohl die allerdings
überwiegende slowenische Bevölkerung bei Österreich bleiben
wollte.
Nun wurde für die Volksabstimmung im ganzen Lande vorgearbeitet. Der
Kärntner Heimatdienst wurde unter Leitung der Landesräte Schumy
(Landbund), Dr. Reinprecht (christlichsozial) und Ing. Franz Pichler
(Sozialdemokrat) gegründet und hat in der Zeit bis zur Abstimmung
Großes geleistet. Die Jugoslawen versuchten mit Terror in der von ihnen
besetzten Zone I die Bevölkerung mürbe zu machen, aber trotzdem
ging die Volksabstimmung in dieser Zone (in der Zone II sollte nur abgestimmt
werden, wenn Zone I für Südslawien stimmte) mit 22 000 Stimmen
gegen 15 000 südslawische Stimmen zugunsten Österreichs aus. Am
18. November wurde endlich das besetzte Gebiet an Kärnten
zurückgegeben. Ein großer Erfolg war errungen worden, weil
heimatbewußtes Deutschtum den Mut aufgebracht hatte, mit der Waffe in
der Hand seine Rechte zu vertreten und weil auch die Volksgenossen im Deutschen
Reich, vertreten durch den Deutschen Schutzbund, die Zuversicht des Volkes
durch wärmste Teilnahme am Geschick der deutschen Südmark
stärkten. Freilich, 800 qkm schönen Kärntner Landes sind
dennoch ohne Abstimmung in Feindeshand gekommen, aber die Felsengrenze der
Karawanken, umwittert vom tausendjährigen Glanze Deutschen
Reiches, wurde gerettet als südlichster Eckpfeiler des deutschen Volkes.
Wie entscheidend bei der Kärntner Grenzziehung die Tatsache des
Befreiungskampfes war, sieht man aufs Beste daraus, daß die
österreichische Friedensdelegation trotz aller Unterstützung durch
Volkskundgebungen, durch statistisches Material und durch vorzügliche
Vertreter, wie besonders Dr. Kamniker, dennoch in Südsteiermark bei zwar
nicht gleich, aber doch ähnlich liegenden Verhältnissen so gut wie
keinen Erfolg erzielte. Dort lebten auf dem flachen Lande [337] vorwiegend Slowenen deutschfreundlicher
Gesinnung, während in den Städten, hauptsächlich Marburg,
Cilli, Pettau, Radkersburg fast ausschließlich Deutsche wohnten. In Marburg
(mit Vororten) z. B. lebten 30 000 Deutsche, ungefähr 90% der
Bewohner. Im ganzen wohnten in der Südsteiermark ungefähr 80 000
Deutsche, eine Zahl, die jugoslawische Volkszählungen durch zahlreiche
Fälschungen auf 40 000 herabsetzten. Wenn auch in dem ganzen
abgetretenen Gebiete eine große Zahl von Slowenen (im ganzen 400 000)
lebten, so hätte sich doch unschwer eine Grenzlinie ziehen lassen, welche
geringere Teile der Slowenen in den österreichischen Staat einbezogen
hätte als nunmehr Deutsche in den südslawischen Staat. Und wenn
wirtschaftliche Interessen der einen oder andern Bevölkerung mit
einer solchen Grenzlinie in Konflikt gestanden wären, so hätte es das
Selbstbestimmungsrecht, für dessen Durchsetzung die Entente doch den
Krieg geführt haben will, jedenfalls erfordert, die betroffene
Bevölkerung selbst entscheiden zu lassen, ob sie die wirtschaftlichen
Nachteile um der Zugehörigkeit zu ihrem nationalen Staate willen in Kauf
nehmen wolle.
Ähnlich wie in Kärnten rückten auch in Untersteiermark bald
nach dem Zusammenbruch die südslawischen Truppen, vorerst
hauptsächlich Slowenen aus Krain, ein, um das Land zu besetzen. Sie
wollten auch hier, wie in Kärnten, trotzdem die südsteirischen Slowenen
wirtschaftlich sowohl wie nach ihren Sympathien sich zu Österreich
gehörig fühlten und die Städte alle deutsch waren, die Welt wie
die Friedenskonferenz vor eine vollzogene Tatsache stellen. Die
österreichische Friedensdelegation war demgegenüber nicht
untätig. Schon in einer Denkschrift vom 16. Juni 1919 setzte sie den
Gegnern weitläufig auseinander, daß in Mittelsteiermark das Becken
von Marburg von dem ziemlich rein slowenischen südlichsten Teile des
Landes durch eine klar erkennbare geographische Linie, das Bacherngebirge,
getrennt sei, daß bei Lostrennung dieses Gebietes von Österreich, ganz
abgesehen von der Fremdherrschaft, die dabei über 80 000 Deutsche
kommen würde, auch das wirtschaftliche Gedeihen der Bewohner mit
Vernichtung bedroht sei. Die Gegner gingen darauf nicht ein; sie gingen auch nicht
ein auf die österreichischen Gegenvorschläge vom 25. Juni 1919, die
besonders die deutschen Grenzgebiete von Marburg, Radkersburg und Pettau
retten wollten. In den "Bemerkungen zur Gesamtheit der Friedensbedingungen"
wollte Österreich schließlich auf das ganz deutsche Pettau verzichten,
wenn nur das Becken von Marburg österreichisch bleibe. Aber alles
Verhandeln nützte nichts. Nur an einer einzigen Stelle war den
Österreichern ein Erfolg beschieden, und zwar wieder an der, wo die Steirer
das getan haben, was die Kärntner taten, wo sie nämlich entgegen
dem Verbote ihrer Landesregierung, entgegen den Abmah- [338] nungen der Wiener Regierung, welche noch
ganz auf die Zusicherungen der Entente vertraute, zu den Waffen griffen. Diese
eine Stelle ist die Stadt Radkersburg. Am 21. Oktober 1918 erklärte der
Gemeinderat dieser rein deutschen Stadt die Zugehörigkeit des Ortes zu
Österreich. Am 1. Dezember 1918 besetzten die Südslawen die Stadt,
ohne sich um diese Erklärung zu kümmern. Die Bevölkerung
sah keine Möglichkeit der Befreiung und der Bekundung ihres Willens als
durch den Kampf. So wurden zuerst örtliche Gefechte gegen die Jugoslawen
unternommen und obwohl die steirische Landesregierung jede Beteiligung an
einem solchen Kampfe verbot und ablehnte, am 4. Februar 1919, unter
Führung des Oberleutnants Mickl, der vom Kärntner
Landesbefehlshaber Waffen und Munition bekommen hatte, der Kampf gegen die
Südslawen unter Major Majster eröffnet, der gut ausging. Zwar wurde
nach den darauffolgenden Verhandlungen die Stadt wieder vom Feinde besetzt,
aber durch den Kampf war doch der Wille des Volkes in einer Weise, die auch auf
die Entente Eindruck machte, zum Ausdruck gekommen, und ebenso wie in
Kärnten hat auch hier der Kampf deutsches Gebiet gerettet. Im Friedensvertrag
wurde Radkersburg Österreich zugesprochen, alle übrigen besetzten
Gebiete, um die nicht gekämpft worden war, fielen an SHS.
Ganz abgesehen von der Frage des Selbstbestimmungsrechts ist in wirtschaftlicher
Hinsicht durch die Zuteilung Untersteiermarks zu Jugoslawien der
Bevölkerung nur schwerster Schaden zugefügt worden. Denn sie
verlor - und das trifft ganz besonders hart die slowenische
Landbevölkerung - für ihre landwirtschaftlichen Erzeugnisse
ihr ganzes Absatzgebiet nach Österreich, besonders nach Graz, Wien und
Klagenfurt. Die Weinbauern in Südsteiermark vor allem sind in die
äußerste Notlage geraten.
Obwohl in dem am 10. September 1919 zwischen den Alliierten und Jugoslawien
geschlossenen Minderheitenschutzvertrag sich letzteres ausdrücklich
verpflichtete, die Minderheiten in Sprache und Kultur zu schützen, ist heute
in dem abgetretenen Untersteiermark das deutsche Leben vernichtet. Art. 8 des
Minderheitenschutzvertrages besagt, daß
serbisch-kroatisch-slowenische Staatsangehörige, "die einer Minderheit nach
Abstammung, Religion oder Sprache angehören", dieselbe rechtliche
Behandlung genießen, wie die andern Staatsangehörigen;
"insbesondere haben sie das Recht, auf ihre eigenen Kosten
Wohltätigkeits-, religiöse oder soziale Einrichtungen, Schulen und
andere Erziehungsanstalten zu errichten". Art. 9 bestimmt, daß überall
dort, wo serbisch-kroatisch-slowenische Staatsangehörige, die eine andere Sprache
sprechen als die Staatssprache, "une proportion considérable" der
Bevölkerung bilden, diesen angemessene Erleichterungen gewährt
werden, daß ihren Kindern in [339] den Volksschulen der Unterricht in ihrer
Muttersprache erteilt werde. Was geschah aber in Wirklichkeit? Der weitaus
größte Teil aller deutschen Lehrkräfte an
Volks- und Mittelschulen wurde entlassen. In Marburg allein, wo gewiß "ein
beträchtlicher Prozentsatz" der Bevölkerung deutsch war,
nämlich 90%, wurden 50 deutsche Vereine aufgelöst und eine Reihe
deutscher Schulklassen eingestellt. Die deutschen Aufschriften sind überall
entfernt, das politische Leben der Deutschen ist ertötet, auf ihre
Führer wurden Bomben geworfen, ihr Vermögen verfiel in vielen
Fällen der Sequestrierung, unter anderm auch das Deutsche Vereinshaus in
Pettau sowie das
Deutsche Vereinshaus in Cilli.
So sieht es tatsächlich heute in Südsteiermark aus. Angesichts dessen
erscheint es unbegreiflich, wie in
slowenisch-nationalen Blättern mit Entrüstung von einer Knechtung
der Slowenen in Kärnten gesprochen werden kann. All das, was den
Deutschen in Jugoslawien nicht zu ihrer kulturellen Entfaltung gewährt
wird, besitzen die Kärntner Slowenen in viel weiterem Maße, als
ihnen nach dem Friedensvertrage zustünde. Neben rein slowenischen
Schulen, die übrigens fast gar keinen Besuch aufweisen, gibt es in
Kärnten 80 utraquistische
Schulen. Die Slowenen haben alle Möglichkeiten, ihr
nationales Leben frei zu gestalten. Bei Gericht wird, sofern jemand der deutschen
Sprache nicht mächtig ist, ein Dolmetsch beigestellt. Nicht genug damit,
steht im Kärntner Landtag jetzt auch ein von den deutschen Parteien selbst
beantragter Gesetzentwurf in Beratung, der der slowenischen Minderheit eine
kulturelle Autonomie (im juristischen Sinne des Wortes) geben will, also weit
mehr als das, wozu Österreich gemäß dem Friedensvertrage
verpflichtet wäre. Die Slowenen in Kärnten könnten sich
über eine ungerechte Behandlung wohl kaum beklagen.
Wenn man sich von der südlichen der östlichen Grenze
Österreichs zuwendet, so findet man eine Stelle, an der der Gebietsumfang
des Staates zugunsten des deutschen Volkes abgerundet wurde. Es ist dies
die Grenze gegen Ungarn, wo das Burgenland dem österreichischen Staat
zugeschlagen wurde. Doch wäre es ein großer Irrtum, wollte man
annehmen, daß diese Grenzziehung nach dem Selbstbestimmungsrecht der
Völker erfolgt wäre. Der Vertrag von St. Germain sprach
Österreich einen Teil der westungarischen, fast ganz deutschen
Komitate zu, und Ungarn wurde im Vertrag zu Trianon dazu verhalten,
dieses Gebiet abzutreten. Allein, wie schon gesagt, wurde nur ein Teil des
deutschen Gebietes Österreich zugewiesen. In der Note vom 16. Juni 1919
hatte Österreich ausdrücklich Deutschwestungarn (Wieselburg,
Oedenburg, Eisenburg) für sich in Anspruch genommen und für
dieses ganze deutsche Gebiet die Volksabstimmung verlangt. Wenn die Entente
zwar die geschichtlichen [340] Grenzen verändert hat, ohne aber das
formale Selbstbestimmungsrecht oder die nationalen Grenzen gelten zu lassen,
wenn sie statt dessen ein Stück des national uns zustehenden Gebietes,
dieses aber ohne Abstimmung uns zuteilte, so hatte dies offenbar nur den Zweck,
ein Streitobjekt zu schaffen zwischen Ungarn und Österreich.
Tatsächlich hat sich dieser Streit auch entwickelt. Als Übergabetermin
war der 27. August 1921 festgesetzt. Die Ungarn beschlossen aber, das Land
weiterzubehalten und sich zu widersetzen. Als nun Österreich das Land in
Besitz nehmen wollte, verfügte die interalliierte Generalskommission in
Oedenburg, daß die Landnahme nur mit Gendarmerie zu erfolgen habe,
obwohl man voraussehen konnte, daß Widerstand einsetzen werde und feste
Truppenkörper notwendig sein würden. Die Befürchtungen
erwiesen sich als nur zu wahr, denn die von Ententeoffizieren begleiteten
Gendarmerieabteilungen wurden von den ungarischen Banden überfallen
und unter Verlust von zahlreichen Toten zurückgeschlagen. Diese
Gewaltanwendung hatte für Ungarn teilweise Erfolg. Es erreichte, daß
eine Bevollmächtigtenkonferenz für diese Frage zum 11. Oktober
nach Venedig einberufen wurde, bei welcher Ungarn (schon damals!) die
Unterstützung Italiens in besonderer Weise genoß. Wenn die Italiener
sich ständig darauf berufen, daß sie den Kärntnern geholfen
haben, was übrigens, wie das Kanaltal zeigt, nur insoweit geschah, als Italien
in einem Interessengegensatz zu Jugoslawien stand, so zeigt ihr Verhalten in der
burgenländischen Frage, daß Österreich ihnen wahrhaftig nicht
allzu viel Dank schuldig ist. Unter dem Druck der Lage mußte
Österreich auf der Konferenz in Venedig zustimmen, daß acht Tage
nach Pazifierung des Gebietes in Oedenburg und Umgebung, und nur dort, eine
Volksabstimmung über die staatliche Zugehörigkeit stattfinden solle.
Am 4. Dezember wurde die zweite Landnahme, diesmal durch
österreichisches Bundesheer und Gendarmerie auf eine Aufforderung der
interalliierten Generalskommission hin im Burgenland mit Ausnahme von
Oedenburg und Umgebung durchgeführt. Nunmehr sollte die Abstimmung
im restlichen Teil stattfinden. Aber trotz der festen Zusage der
Botschafterkonferenz, die Abstimmung werde frei und unparteilich geleitet
werden, wurde sie ganz einseitig im Sinne der Ungarn, die auch tatsächlich
die Staatshoheit im Abstimmungsgebiete ausübten, durchgeführt. Die
österreichische Regierung zog daher ihre Abstimmungskommissäre
zurück und beteiligte sich nicht an der Abstimmung, die am 14. und 16.
Dezember 1921 erfolgte und auf Grund von Einschüchterung der
Bevölkerung durch ungarische Terrorbanden und Herstellung von
Tausenden gefälschter Heimatscheine für Ungarn entschied. In
Oedenburg selbst stimmten 27,2% für Österreich, in den acht
Landgemeinden 54,2%. Bei dieser geschilderten Lage ist es sehr bedeutsam,
daß sich noch [341] immer im Durchschnitt 35% für
Österreich entschieden. Es ist dies ein sicheres Zeichen, daß bei freier
Abstimmung die Mehrheit für Österreich gestimmt hätte.
Infolge dieser Abstimmungskomödie ist das Burgenland in der unsinnigsten
Weise abgegrenzt und in der Mitte auseinandergeschnitten worden. Der
Zugverkehr vom südlichen nach dem nördlichen Burgenland wird
nach der sattsam bekannten Art des polnischen Korridors durchgeführt. Die
natürliche Hauptstadt, Oedenburg, die rein deutschen Charakter trug, ist
herausgetrennt aus dem lebendigen Körper seiner Wirtschaft und seines
Verkehrs. Oedenburg ist daher auf das schwerste geschädigt; diese
Grenzziehung hat für die Stadt geradezu katastrophale Folgen gehabt.
Dagegen blüht das Burgenland unter der österreichischen Herrschaft
sichtlich auf. Der Verkehr steigt von Jahr zu Jahr, seine Ausfuhr nimmt rasch zu
(1925: 72 Millionen Schilling an landwirtschaftlichen Produkten), in der
Erzeugung fast aller landwirtschaftlichen wie gewerblichen Artikel und Waren
zeigt sich in den letzten fünf Jahren ein Aufschwung um 50%, oft noch viel
mehr.
Ganz unverständlich erscheint es, wenn in Ungarn noch immer von einer
Rücknahme des Burgenlandes gesprochen und dafür agitiert wird.
Denn das Burgenland zählt 227 000 Deutsche gegen 15 000 Magyaren und
42 000 Kroaten (70 000 Deutsche sind bei Ungarn verblieben). Jahrhunderte lang
war das Burgenland bei Ungarn unter starkem nationalen Druck. Jetzt, bei
Hinwegnahme dieses Druckes, blüht das deutsche Volkstum wieder auf und
quillt empor in Lied und Volksbrauch, ein Zeichen, daß das Land in der
Tiefe seinen deutschen Charakter bewahrt hat. Bedauerlich ist gewiß,
daß die Absicht der Entente, insbesondere der slawischen Satrapen
Frankreichs, einen Zankapfel zwischen Österreich und Ungarn zu werfen,
nicht ganz unerfüllt geblieben ist. Aber das Burgenland als
unübersteigliches Hindernis einer Annäherung zwischen
Österreich und Ungarn aufzufassen, so wie es etwa Südtirol im
Verhältnis zu Italien ist, wäre falsch. Denn auch in Ungarn nimmt die
Einsicht zu, daß es sich durchaus um deutsches Land handelt, nicht um
magyarische Gebiete. Dann besteht doch eine nicht nur durch die Erinnerungen des
Krieges, sondern durch reale Interessengemeinschaft zwischen Österreich
und Ungarn geschaffene Disposition zur Versöhnlichkeit. Nicht
unwesentlich ist dabei auch die vorbildliche Behandlung der Minderheiten im
Burgenland durch Österreich, die auch von ungarischer Seite anerkannt
worden ist Wenn man aber mitunter Österreich eine Inkonsequenz vorwirft,
weil es selbst ein Land, noch dazu von einem Staate, mit dem es gemeinsam
gekämpft hat, ohne Volksabstimmung genommen hat, ist zu erwidern,
daß Österreich niemals auf Vornahme der
Volksabstimmung - allerdings nicht bloß [342] in Oedenburg und Umgebung, nicht bloß
im tatsächlich abgetretenen, sondern im ganzen rein deutschen
Gebiete - verzichtet hat und sich stets bereit erklärte, sich einer
solchen, allerdings nur einer solchen und mit Garantie der Freiheit
vorgenommenen Volksabstimmung zu unterwerfen.
Für das Übelwollen der Entente gegenüber Österreich ist
es charakteristisch, daß man es fertigbrachte, sogar eines der deutschen
Erbländer im engsten Sinne, das Stammland Niederösterreich, zu
beschneiden; und es ist überhaupt nur verwunderlich, daß es noch drei
Länder (Oberösterreich, Salzburg, Vorarlberg) gibt, denen nichts
weggenommen wurde. Die Gebiete, um die es sich da handelt, sind die
niederösterreichischen Gemeinden Gmünd und Feldsberg. In einem
Atemzuge hat man für die Tschechoslowakei die historische Grenze der
böhmischen Länder verlangt und die Sudetendeutschen unter diesem
Titel der nationalen Fremdherrschaft ausgeliefert, zugleich aber in Gmünd
und Feldsberg sich um diese Grenze nicht im mindesten gekümmert und rein
deutsches, seit unvordenklicher Zeit zu Niederösterreich gehöriges
Gebiet, sei es, weil es wirtschaftliche Werte aufweist, sei es, weil es sich um
strategisch wichtige Punkte handelt, vom Stammland abgetrennt und an die
Tschechoslowakei gegeben. In Feldsberg z. B. wohnten nur 3% Tschechen
(heute sind es infolge der tschechischen Politik einer planmäßigen
Durchsetzung des deutschen Volksbodens mit tschechischen Minderheiten bereits
23%), aber es genügte die Tatsache, daß eine Zuckerfabrik dort war
und daß es eine gute Verbindung nach Preßburg vermittelt, um das
Gebiet abzutrennen.
In der Denkschrift über die Grenzen Deutschösterreichs vom 16. Juni
1919 hatte die österreichische Delegation ausdrücklich die
Ungerechtigkeit einer Abtrennung von niederösterreichischen Gebieten
dargelegt und ausgeführt, daß man dieses Land und seine Hauptstadt
seiner elementarsten Hilfsquellen zu berauben beginne,
"wenn man sich der
wichtigsten Eisenbahnknotenpunkte, die für den Verkehr und das
kommerzielle Leben unentbehrlich sind, bemächtigt, ebenso auch, wenn
man ihm die Forstbezirke in der Umgebung von Gmünd raubt, welche
durch eine methodische Ausbeutung das unentbehrliche Brennholz und
Heizmaterial für die Industriebetriebe liefern, deren Stillstand man zu
verhindern vermochte. Ein Gebiet von mehr als 800 qkm, bewohnt von mehr als
50 000 Deutschen, würde also dem Tschechoslowakischen Staate
unterworfen werden."
Die Entente ließ sich durch diese Gegenvorstellungen
nicht bewegen, ja, sie nahm sich nicht einmal die Mühe, eine sachliche
Begründung ihrer Entscheidung zu versuchen, Feldsberg fiel an den
Tschechenstaat und ebenso die Umgebung von Gmünd sowie ein Teil der
Stadt Gmünd selbst, insgesamt 200 km2. Der größere Teil blieb
zwar bei [343] Österreich, aber der Bahnhof, der als
Eisenbahnknotenpunkt Gmünd erst seine Wichtigkeit verleiht, kam unter
tschechische Herrschaft, eine Grenzziehung, wie man sie sich kaum boshafter
vorstellen kann.
Überblicken wir die Gebietsfragen, auch abgesehen von der großen
sudetendeutschen Frage, die wir außer acht gelassen haben, so ergibt sich als
Resultat, daß fast an allen Stellen, um ein Wort des Bundeskanzlers Dr.
Seipel zu zitieren, Grenzen durch das lebendige Fleisch des deutschen Volkes
geschnitten wurden. Unser Selbstbestimmungsrecht ist gegenüber unsern
Gegnern im Kriege, mit Ausnahme der Stelle, an der wir uns mit den Waffen in der
Hand gewehrt haben, in Kärnten, nirgends beobachtet worden. Wenn wir
aus dem Ergebnis Rückschlüsse ziehen dürfen, so muß
man annehmen, daß die Aufstellung dieses Prinzipes eine Kriegslist unserer
Feinde gewesen ist. Und auch an der einzigen Stelle, wo eine Abrundung des Staates
in der Richtung der Grenzen des deutschen Siedlungsgebietes erfolgt ist, Ungarn
gegenüber, geschah es nicht in einer konsequenten, vor allem nicht in einer
aufrichtigen Form. Es wurde, wie schon ausgeführt, die von
Österreich in strenger Einhaltung des Selbstbestimmungsrechtes geforderte
Volksabstimmung in der Hauptsache verwehrt und nur in einem künstlich
verengten Gebiet ohne Abstimmungsfreiheit durchgeführt. Die Abgrenzung
zeigt nirgendwo irgendein organisches Prinzip, weder hat man sich an die
nationalen, noch an die historischen, noch, wenn man nicht auf das Wort, sondern
auf die Wirklichkeit sieht, an geopolitische und selbst strategische Grenzen
gehalten, noch auch wirtschaftliche Zusammenhänge berücksichtigt,
sondern der einzig beherrschende Gedanke ist offensichtlich der, dem Besiegten
möglichst viel wegzunehmen und möglichst große Teile des
deutschen Volkes "von einer Hoheit in eine andere herumzuschieben, als ob es sich
um Gegenstände und Steine in einem Spiele handle". Wenn man einen Preis
ausgeschrieben hätte, wie man in jeder einzelnen Grenzfrage
Österreichs die
14 Punkte Wilsons möglichst verletzen solle, so
hätte, abgesehen von der Kärntner Grenze, die "Friedens"delegation
der alliierten und assoziierten Mächte diesen Preis unfehlbar gewonnen.
Besonders charakteristisch ist es, daß man noch nach Möglichkeit
Teile des deutschen Siedlungsgebietes mit Verletzung nicht nur der nationalen,
sondern zugleich der historischen Grenzen den Feinden zuschanzte, wenn sie einen
besonderen wirtschaftlichen Wert darstellten, wie das Kanaltal mit seinen reichen
Bleivorkommen oder Feldsberg mit seiner Zuckerfabrik. Wenn jemals das Wort in
der Geschichte gegolten hat "Vae victis!", so ist dieses Wort das Prinzip des
Friedensschlusses mit Österreich gewesen.
Aber mit all diesen Verstümmelungen noch nicht genug, auch
die- [344] sem verstümmelten Rumpf hat man sein
Selbstbestimmungsrecht nicht gelassen. Wir erinnern uns, daß sowohl die
provisorische Nationalversammlung als die konstituierende einstimmig den
Anschluß an das Deutsche Reich beschlossen hatten. Diese bereits erfolgte
Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes wurde jedoch von den Alliierten
nicht beachtet, vielmehr mit Füßen getreten. Schon der Art. 80 des
Friedensvertrages von Versailles steht mit diesem Selbstbestimmungsrecht in
Widerspruch, weil er über die Verpflichtung des Deutschen Reiches hinaus,
die Unabhängigkeit Österreichs zu achten, noch die weitere
Verpflichtung enthält, die Unabänderlichkeit dieser
Unabhängigkeit anzuerkennen, es sei denn, daß der Rat des
Völkerbundes einer Abänderung zustimmt. Ein Rest von
Schamgefühl hat die Sieger offenbar gehindert, über diese Frage mit
der österreichischen Friedensdelegation, also mit der Vertretung jenes
Volkes, um dessen Selbstbestimmungsrecht, wenigstens in der von der Entente
theoretisch stets vertretenen Auslegung des Wortes, es sich handelte, zu sprechen.
Der Art. 88
ist erst in der letzten, am 2. September 1918 ultimativ
überreichten Fassung des Staatsvertrages, enthalten. Dieser
Art. 88, der unter
dem Druck des Ultimatums angenommen werden mußte, lautet:
"Die
Unabhängigkeit Österreichs ist unabänderlich, es sei denn,
daß der Rat des Völkerbundes einer Abänderung zustimmt.
Daher übernimmt Österreich die Verpflichtung, sich, außer mit
Zustimmung des gedachten Rates, jeder Handlung zu enthalten, die mittelbar oder
unmittelbar oder auf irgendwelchem Wege,
namentlich - bis zu seiner Zulassung als Mitglied des
Völkerbundes - im Wege der Teilnahme an den Angelegenheiten
einer andern Macht seine Unabhängigkeit gefährden
könnte."
Wohl
enthält dieser Artikel kein absolutes
Anschlußverbot, wie man vielfach behauptet hat und wie man in der
Öffentlichkeit der Weststaaten wie der kleinen Entente noch heute
auszulegen geneigt ist. Im Gegenteil ist die Eventualität des Anschlusses
und sogar ein Modus procedendi bei seiner Verwirklichung im Vertrage
ausdrücklich vorgesehen. Aber diese Verwirklichung ist an eine von dem
Willen Österreichs unabhängige, schwer zu erreichende Bedingung,
an die einstimmige Zustimmung einer Körperschaft, welche sich dabei
gewiß nicht von den Interessen des österreichischen Volkes leiten
läßt, geknüpft. Wenn man erwägt, daß es sich dabei um
ein bereits in
unzweideutiger Weise ausgeübtes Selbstbestimmungsrecht
handelt, muß man allerdings über die Kühnheit staunen, mit der
ohne einen ernstlichen Versuch einer Begründung den eigenen
Versprechungen seitens der Sieger ins Gesicht geschlagen wurde. Daß man
im selben Atemzug, in dem man Österreich die Ausübung seines
Selbstbestimmungsrechtes, wenn auch nur bedingt, verbietet, von der Wahrung
seiner Unabhängigkeit - der zwangsweisen Wahrung seiner
Unabhängigkeit nämlich - spricht, [345] kann man nur dahin auffassen, daß zum
Schaden auch noch der Spott gefügt werden sollte.
Die Vergewaltigung des Selbstbestimmungsrechtes in dieser geradezu grotesken
Form hat die jeder Befriedung Europas im Wege stehende Folge gehabt, daß
im Herzen Europas eine offene Frage geblieben ist. Das bestätigt niemand
mehr als die Entente und ihre Satrapen selbst, auf deren Seite in Konferenzen und
noch mehr in der Presse von Tag zu Tag die Lebensfähigkeit
Österreichs erörtert wird, noch mehr als bei den Betroffenen selbst.
Betrachten wir nun, nachdem wir die Folgen der Verletzung des
Selbstbestimmungsrechtes in den einzelnen Grenzfragen bereits behandelt haben,
die Folgen der Schaffung dieses
Staates in seinen aufgezwungenen Grenzen und
seiner diktierten "Unabhängigkeit" im Ganzen! Und zwar wollen wir von
wirtschaftlichen Folgen
ausgehen, nicht weil für uns die Wirtschaft das
Primäre oder Wichtigste wäre, sondern deshalb, weil sie das
Sinnfälligste ist, weil die Zahlen eine unwiderlegliche, jedem Streite
entrückte Sprache sprechen.
Durch den Zerfall Österreichs ist ein großes, im wesentlichen
autarkes, in Jahrhunderten organisch erwachsenes Wirtschaftsgebiet zerschlagen
und in Teilgebiete aufgelöst worden, von denen das heutige
Österreich das wirtschaftlich schwächste, genau gesagt, das durch die
Zwangsmaßnahmen künstlich zum schwächsten gemachte ist.
Die Tschechoslowakei bekam z. B. 80% der gesamten Textilindustrie
Altösterreichs, 92% der Zuckerindustrie, 91% der Glasindustrie.
Österreichs Industrie hingegen ist ein Torso, da die Ergänzung durch
die mit ihr früher organisch verbundenen Industrien der anderen Reichsteile
fehlt und sie übermäßig abhängig ist von fremder Kohle
und fremden Rohstoffen. Der zollgeschützte Innenmarkt beträgt nur
ein Achtel des früheren Umfanges, hingegen war der Wirtschaftsapparat
Wiens auf ein achtmal größeres Wirtschaftsgebiet eingestellt. Es ist
durchaus logisch und natürlich, zu sagen, daß Österreich, um
seine Produktivkräfte einigermaßen ausnützen zu können
und sich wirtschaftlich von innen heraus zu heben, den Anschluß an ein
größeres Wirtschaftsgebiet braucht. Eine gewisse Voraussicht dieser
wirtschaftlichen Schwierigkeiten schien auch der Staatsvertrag von St. Germain
dadurch zu bekunden, daß die alliierten und assoziierten Mächte von
vornherein nach Art. 222 sich
nicht auf die Bestimmungen von Art. 219 und 220
berufen wollten (Meistbegünstigung), wenn während der
nächsten fünf Jahre ein besonderes Zollregime bezüglich
gewisser Naturprodukte oder gewerblicher Erzeugnisse zwischen Österreich
und Ungarn oder der Tschechoslowakei errichtet und somit eine wirtschaftliche
Bindung eingegangen würde. Warum erwies sich dieser Ausweg, den man
Österreich suggerieren wollte, nicht als erfolgreich? 1. Weil
zollpolitische Maß- [346] nahmen allein bei Aufrechtbleiben im
übrigen vollständig souveräner Wirtschaftsgesetzgebungen die
spezifischen Schwierigkeiten, die Österreich in seinem verstümmelten
Rumpfgebiet zu überwinden hat, nicht zu beheben vermocht hätten,
zumal es bei seiner Schwäche von den ihm national nicht besonders
wohlwollenden oder sogar übelwollenden Staaten (die Tschechoslowakei),
keine Behandlung als Gleicher unter Gleichen erwarten durfte. 2. Dieser letzte
Umstand läßt es auch als unerhörte Zumutung an
Österreich erscheinen, sich mit denen, die man auf seine Kosten und unter
Verletzung der ihm gemachten Versprechungen stark gemacht hatte, besonders der
Tschechoslowakei, jetzt, künstlich geschwächt, in eine engere
Vereinigung einzulassen. 3. Endlich war es ganz durchsichtig, daß die
Entente diese ganze Lösung, wie aus der Behandlung in der
Weltpresse hervorgeht, nur als einen Weg zur Schaffung einer
Donaukonföderation ansah, mit der man Österreich auf unabsehbare
Zeiten von seinem nationalen Ziele abdrängen, gewissermaßen um ein
wirtschaftliches Linsengericht seine Volksseele kaufen wollte, wobei es ja ganz
klar ist, daß diese Donaukonföderation nur unter Frankreich als
Schutzmacht entstehen konnte und sich zu Frankreich genau so verhalten
hätte wie der Rheinbund unseligen Andenkens. Wir wollen gelegentliche
Schwächeanfälle und Zweifel, die ja im österreichischen Wesen
sich manchmal in der Geschichte bei all seiner glänzenden Begabung
gezeigt haben, nicht leugnen. Um so erfreulicher ist, daß in dem
verhungerten Volk doch noch Widerstandskraft genug war, daß trotz aller
Verlockung dieser erste Schritt während der fünf Jahre nicht gemacht
wurde. Allerdings kam uns in diesem Punkt zugute, daß die kleine Entente,
besonders die Tschechoslowakei, aber auch Ungarn, welches größere
Zukunftshoffnungen hat, gar keine Neigung zeigten, eine solche wirtschaftliche
Bindung einzugehen, vielmehr mit fieberhaftem Eifer nationale Industrien schufen
und mit hohen Schutzzöllen sicherten.
Welchem Wirtschaftsgebiet soll sich also Österreich unter den gegebenen
Verhältnissen anschließen? Diesbezüglich sei darauf
hingewiesen, daß jetzt schon, trotz der Zollgrenzen, das Deutsche Reich in
der Ausfuhr Österreichs an erster Stelle steht (im Jahr 1921 an zweiter
Stelle) und seit 1929 auch in der Einfuhr. Von 161,865 Mill. Goldkronen
österreichischer Ausfuhr nach dem Reich im Jahre 1922 steigerte sich deren
Wert auf 407 Millionen Schilling im Jahre 1928, die Einfuhr von 392,4 Millionen
Kronen auf 645,1 Millionen Schilling im gleichen Zeitraum. Man bedenke ferner,
daß Österreich an für Großkraftwerke
ausbauwürdigen Wasserkräften
1 657 000 PS hat, wovon es für
eine völlige Elektrifizierung seiner Industrie nur 900 000 PS benötigt;
es könnte also fast die Hälfte (750 000 PS) ausführen, eine
Ausfuhr, für die in allererster Linie das deutsche Reich in
Be- [347] tracht kommt. So weist die Entwicklung
zwangsläufig entgegen allen künstlichen Bollwerken, die man
errichtet hat, auf ein wirtschaftliches Zusammenarbeiten und Zusammenwachsen
mit dem Deutschen Reiche hin. Im Gesamtrahmen der großdeutschen
Wirtschaft ist Österreich durchaus entwicklungsfähig, sowohl in
bezug auf die Industrie wie die Landwirtschaft. Es ist gewiß richtig,
daß in Österreich in staunenswertem Maße, wenn man die
ungünstigen Verhältnisse ins Auge faßt, eine Konsolidierung
erfolgt ist. Sie ist das Werk der Sanierung, eingeleitet durch die Genfer Protokolle
vom 4. Oktober 1922, die Grundlage der unter Führung des
Bundeskanzlers Dr. Seipel erwirkten Völkerbundanleihe, beendet mit der
Aufhebung des Völkerbundskommissariates am 9. Juni 1926. Es soll nicht
geleugnet werden, daß hier der Völkerbund die Einsicht bekundet hat,
daß er doch verpflichtet ist, dieses Volk, welchem er zwangsweise einen
seinen Lebensbedürfnissen nicht entsprechenden Staat aufgezwängt
hat, vor Revolution, Umsturz,
sozialem Elend, ja vor dem Hungertod zu bewahren.
Aber das ist nicht mehr als die Erfüllung einer primitiven Pflicht, von der
nicht behauptet werden kann, daß sie Österreich zu einer besonderen
Dankbarkeit verpflichtet. Immerhin mag diese Einsicht anerkannt werden und die
Hoffnung rechtfertigen, daß mit ihrem Fortschreiten auf friedlichem Wege
eine Vertragsrevision erreicht werden kann. Daß Österreich selbst im
Laufe dieser Sanierung unter Führung eines als weit
überdurchschnittlich anerkannten Staatsmannes eine außerordentliche
Leistung selbst erbracht hat, ist von seiten des Völkerbundes, auch von
Seiten der früheren Feinde Österreichs zu wiederholten Malen
anerkannt worden. Um so bezeichnender ist es, daß durch dieses große
Werk, das wir nicht verkennen wollen, zwar die Staatsfinanzen in Ordnung
gebracht wurden, aber die Wirtschaftskrise nicht behoben werden konnte. Sie hat
in der Industrie in der letzten Zeit eine große Verschärfung erfahren,
wobei wohl das Heer der Arbeitslosen, das im Winter auf durchschnittlich 200 000
ansteigt und im Sommer nie unter 60 000 gesunken ist, eine deutliche Sprache
spricht.
Im übrigen leugnen wir, daß die Frage nach der Lebensfähigkeit
eines Staates rein wirtschaftlich beantwortet oder überhaupt gestellt werden
kann. Wenn auch die wirtschaftlichen Dinge so gut stünden, als sie schlecht
stehen, würde damit das bedingte Anschlußverbot in keiner Weise
gerechtfertigt werden können, auch abgesehen vom formalen
Selbstbestimmungsrecht. Denn die Frage nach der Lebensfähigkeit eines
Staates kann doch nur danach beantwortet werden, ob der Staat, in dem ein Volk
zu leben gezwungen ist, diesem ein seiner Volkszahl, seinen wirtschaftlichen
Bedürfnissen, aber auch seiner Kulturhöhe und seiner Geschichte
würdiges Leben ermöglicht. Die Frage der Lebensfähigkeit
Österreichs in diesem Sinne stellen, [348] heißt für jeden, der auch nur eine
oberflächliche Kenntnis der mitteleuropäischen Geschichte hat, sie
verneinen.
Es ist daher eine natürliche Entwicklung, ja fast eine
Selbstverständlichkeit, daß sich der Anschlußwille der
österreichischen Bevölkerung nicht hat ersticken lassen, daß er
immer und immer wieder zum Durchbruch gelangt ist. Damit soll keineswegs
geleugnet, verschwiegen oder auch nur verwischt werden, daß das deutsche
Volk an der Entwicklung der Dinge, die zum bedingten Anschlußverbot
geführt haben, nicht ganz ohne Schuld ist. Es war, worauf wir schon
hinwiesen, vielleicht ein Fehler, daß Österreich überhaupt eine
eigene Friedensdelegation abschickte. Es war gewiß ein Fehler, daß die
offiziellen reichsdeutschen Stellen auf den Beschluß vom 12. November
nicht sofort antworteten. Als bei Zusammentritt der Weimarer verfassunggebenden
Nationalversammlung am 15. Februar 1919 in feierlicher Weise auf das
österreichische Verlangen eine zustimmende Antwort erfolgte, war es schon
fast zu spät, weil die Friedenskonferenz bereits in bedrohlicher Nähe
war und sowohl in Österreich als im Deutschen Reich aus der eigenartigen
deutschen Geschichte, aus der
jahrzehntelangen durch eine jahrhundertelange
Lockerung vorbereiteten politischen Trennung erklärbare
Gegenströmungen die Stoßkraft der Idee doch ein wenig
geschwächt hatten. Zu den Kreisen, von denen diese
Gegenströmungen ihren Ausgang nahmen, gehörten, soweit
Österreich in Frage kommt, vor allem ein Teil der die reichsdeutsche
Konkurrenz fürchtenden Großindustrie, ferner in hohem Maße
das Bankkapital und dann, freilich aus ganz andern als materialistischen
Gründen, jene Kreise der christlichsozialen Partei (die aber auch viele
unbedingte Anschlußanhänger zählte, wie den damaligen
Parteiobmann Prälaten Hauser), die in Verkennung der geänderten
Verhältnisse auf die Wiederherstellung des übernationalen
Staatengebildes in Mitteleuropa hofften. Endlich hat die allgemeine
Schwäche hüben und drüben eine Rolle gespielt. Immerhin sei
nochmals festgestellt, daß Österreich während der ganzen
Friedensverhandlungen, so wenig wie irgendeine seiner politischen Parteien, auf
den Anschluß verzichtet hat. Ein Fehler, der gerade in
anschlußfreundlichen Kreisen gemacht wurde, war es, daß man die
wirtschaftlichen Momente im ersten Augenblick zu sehr betonte, da mit dem
Marksturz einerseits, mit der Sanierung Österreichs von außen
anderseits, der wirtschaftliche Gesichtspunkt bedeutend an Aktualität verlor.
Aus alledem erklärt sich eine gewisse Unsicherheit der
österreichischen Politik von 1920 bis 1922.
Am 1. Oktober 1920 beschloß die konstituierende Nationalversammlung,
daß binnen sechs Monaten eine Volksbefragung über den
Anschluß in Österreich durchgeführt werden solle. Dieser
Beschluß wurde, wohl weil die Zeichen der wirtschaftlichen Katastrophe
dro- [349] hend geworden waren, vom neugewählten
Nationalrat nicht durchgeführt. Als sich nun in den Ländern der
Anschlußwille zu regen begann, wurde am 12. Mai im Nationalrat ein Gesetz
beschlossen, wodurch die Durchführung einer Anschlußabstimmung
vorgesehen, der Tag der Abstimmung einem eigenen Beschluß des
Nationalrates vorbehalten wurde. Das in diesem Gesetz angezogene allgemeine
Durchführungsgesetz über Volksabstimmungen ist aber damals in der
parlamentarischen Behandlung stecken geblieben. Man versuchte nun in den
einzelnen Ländern, die in ihrer Mehrheit älter sind nicht bloß
als das neue, sondern auch als das alte
Österreich - leiten sie ihren Bestand doch aus einer Zeit her, in der sie
Glieder des alten Deutschen Reiches
waren -, Abstimmungen durchzuführen. Dies war in Tirol unter
Führung des Landesrats Dr. Steidle (christlichsozial) schon am 24. April
1921 geschehen, Salzburg unter Führung des
Landeshauptmannstellvertreters Dr. Rehrl (christlichsozial) folgte am 29. Mai
1921. Auch diese Bewegung wurde nicht zu Ende geführt, obwohl die
beiden Abstimmungen mit 95 bzw. 98% der Stimmen bei einer Wahlbeteiligung
von 90% für den Anschluß entschieden hatten; nach einer schweren
Krise im Parlament und in der christlichsozialen Partei wurde von weiteren
Abstimmungen Abstand genommen, die bereits in die Wege geleitete Abstimmung
in Steiermark unter schwerstem außenpolitischen Druck (besonders seitens
Italiens) abgesagt. Für viele, auch national gesinnte Kreise war dabei
bestimmend die Hoffnung, durch das Unterlassen weiterer Abstimmungen
Deutsch-Westungarn zu retten und mit Hilfe des Völkerbundes die
katastrophal gewordene Wirtschaftslage zu bessern. Wir haben gesehen, daß
ersteres teilweise gelungen ist, letzteres vollständig. Man hat manchmal die
Sanierungsaktion (im Ausland wie im deutschen Volke selbst) so aufgefaßt,
als ob sie ursprünglich das Aufgeben des Anschlußgedankens und die
Festlegung der dauernden "Unabhängigkeit" Österreichs bedeuten
sollte. Aber sie ist im Einvernehmen mit jener deutschen Regierung erfolgt, die aus
allgemein politischen Gründen heraus eine akute Aufrollung des
Anschlußproblems nicht ins Auge fassen konnte. In der programmatischen
Erklärung, mit der Bundeskanzler Dr. Seipel im Herbst 1922 seine
Regierung dem Nationalrat vorstellte, sagte er: "Meint jemand, das deutsche Volk
in Österreich werde in der ihm durch den Staatsvertrag von St. Germain
zugesicherten Selbständigkeit weiterleben, oder glaubt er, es werde in eine
größere nationale Einheit aufgehen, weiterleben muß es, und
wir, die wir alle zusammen Fleisch vom Fleische dieses Volkes sind und Blut von
seinem Blute sind, müssen alles tun, was in unserer Macht steht, daß
es lebe." Bei einer Aktion, die nur auf diese Erhaltung des Lebens eingestellt war,
mußte freilich der Anschlußgedanke augenblicklich
zurücktreten. Im Sommer 1922 glich Österreich einem [350] Schiffbrüchigen, der, mit den Wellen
kämpfend, in der Ferne verschiedene Ozeandampfer gewahrt, in der
Nähe aber nur ein bescheidenes Boot. Dieses Boot zu erreichen, war der
Sinn des Sanierungswerkes, und das schon bedurfte fast übermenschlicher
Anspannung. Dieses Ziel ist heute erreicht und es ist nicht im mindesten ein
Zeichen für das Mißlingen der Sanierung, daß wir auch in
diesem Boote nicht die Fahrt über das Meer der Weltgeschichte antreten
können, sondern nun an ein großes, seetüchtiges Schiff
heranrudern wollen, als welches für uns allein das großdeutsche Reich
in Betracht kommt. Es war im Gegenteil natürlich, daß die
Anschlußbewegung nach Gelingen der Sanierung wieder stärker
hervortrat. Zu früh hatten Anschlußgegner gehofft und ab und zu auch
Anschlußfreunde gefürchtet, die Bewegung würde nun
begraben sein, zuerst nach dem Frieden von St. Germain, dann nach dem
Nichtzustandekommen der Abstimmungen (zu denen man dreimal einen Anlauf
genommen hatte) und schließlich nach Beginn der Sanierung. Daß
durch die Sanierung Österreich internationale Geltung gewonnen hat, das
zeigt am besten die oben erwähnte Rede des Bundeskanzlers Dr. Ramek in
Zurückweisung der Drohrede Mussolinis, eine Rede, die vor dem
Sanierungswerk kein österreichischer Bundeskanzler hätte halten
können. Das Sanierungswerk ist kein dauerndes Hindernis für den
Anschluß, vielmehr die Schaffung der Möglichkeit eines solchen.
Wenn die wiedererstarkende Anschlußbewegung vielleicht weniger
stürmisch ist, so ist sie um so tiefer. Es fehlte auch nicht an eindrucksvollen
Kundgebungen, als deren Gipfelpunkt das deutsche Sängerbundesfest im
Juli 1928 in Wien die ganze Welt aufgerüttelt hat; auch die gemeinsame
Kundgebung der österreichischen Hochschulen an alle Hochschulen der
Welt im Sommer 1925 ist von dauernder Bedeutung. Ganz besonders aber hat sich,
und das ist das Eigenartige dieser erstarkenden Bewegung, die systematische,
sachliche Vorbereitung des Anschlusses durchgesetzt. Dem Gedanken des
Anschlusses dienen zwei Organisationen, der
Österreichisch-Deutsche Volksbund, der mehr die Aufrechterhaltung und
Verbreitung des Anschlußgedankens in den breiten Massen, und die
Österreichisch-Deutsche Arbeitsgemeinschaft, die mehr die sachliche
Vorarbeit ins Auge faßt. So schreitet die Angleichungsarbeit rasch
voran.
In wirtschaftlicher Hinsicht verweisen wir auf das schon oben Gesagte, vor allem
auf die außerordentliche Verdichtung des Handelsverkehres zwischen
Österreich und dem deutschem Reich. Besonders wichtig ist es ferner,
daß auch die einzelnen Wirtschaftsgruppen hüben und drüben
miteinander in Fühlung getreten sind und zusammenarbeiten, um die
Grenzen durch private Vereinbarungen unfühlbar zu machen. Auch die
österreichische Schwerindustrie hat im [351] Jahre 1925 ihre Stellungnahme zugunsten des
Anschlusses geändert. Freilich steht einer ganz zielbewußten Arbeit
das Meistbegünstigungssystem im Wege. Doch die weit verbreitete
Meinung, als ob die Genfer Protokolle vom 4. Oktober 1922 jede Durchbrechung
dieses Systems unmöglich machten, läßt sich bestreiten. Das
erste Genfer Protokoll besagt:
"Die Regierung der Republik Österreich
verpflichtet sich gemäß dem Wortlaute des Art. 88 des Vertrages von
St. Germain, ihre Unabhängigkeit nicht aufzugeben; sie wird sich jeder
Verhandlung und jeder wirtschaftlichen oder finanziellen Bindung enthalten,
welche geeignet wäre, diese Unabhängigkeit direkt oder indirekt zu
beeinträchtigen."
Es ist aber nicht zuzugeben, daß eine Zollunion,
besonders eine kündbare Zollunion, die Unabhängigkeit eines Staates
gefährdet. Von einem Wirtschaftsbündnis kann dies nicht einmal
ernstlich behauptet werden. Vollends wäre die sogenannte "deutsche
Klausel" in den Handelsverträgen möglich, so gut wie die nordische
Klausel zwischen den nordischen Staaten möglich ist, ohne daß es
jemand einfallen würde, zu sagen, daß durch sie die
Unabhängigkeit dieser Staaten gefährdet wird. Wirklich hinderlich ist
einer zielbewußten Vorarbeit für eine Vereinheitlichung der beiden
Wirtschaftsgebiete die Rivalität mancher Interessen hüben und
drüben, das da und dort nicht vorhandene Verständnis für eine
Betrachtung auch wirtschaftlicher Fragen unter nationalen Gesichtspunkten,
bürokratische Schwerfälligkeit der Unterhändler und
schließlich unsere wirtschaftliche Abhängigkeit vom Ausland, die
Österreich und das Reich über die vertragsmäßigen
Bindungen hinaus in ihrer Bewegungsfreiheit heute noch einschränkt.
Soweit die Erfahrungen zeigen, will das Deutsche Reich erst sein
Handelsvertragssystem ausbauen, bevor es daran denken kann, im
Verhältnis zu Österreich über einen Tarifvertrag
hinauszugehen. Vorläufig kommt es also darauf an, alle
Möglichkeiten auszuschöpfen, die sich im Rahmen eines
Tarifvertrages bieten, um dem großen Ziele näherzukommen.
Zielbewußter als auf wirtschaftlichem Gebiete wurde die praktische
Anschlußarbeit durchgeführt auf dem Gebiete der Rechtsangleichung.
In Zusammenhang mit der Rechtsangleichung steht die Angleichung der
Eisenbahnverkehrsordnung 1928. Von Bedeutung sind da vor allem der
Rechtshilfevertrag vom 21. Juni 1923, weiter das Nachlaßabkommen und
das Vormundschaftsabkommen, nach welchen im weitesten Umfang beide Staaten
ihre Angehörigen gegenseitig als Inländer behandeln. Die neueste
Fassung der reichsdeutschen Ausgleichsordnung zeigt allerdings eine der
Angleichung entgegengesetzte Tendenz. Auf dem Gebiete des Strafrechts stehen
die Verhandlungen über den gemeinsamen Strafgesetzentwurf im
Mittelpunkt, an dessen Erledigung die österreichischen und reichsdeutschen
Justizbehörden und parlamentarischen Ausschüsse gemeinsam
[352] arbeiten. Auch die Einführung des
Schöffeninstitutes in Österreich, wenn auch in anderer Form als im
Deutschen Reich, bedeutet immerhin eine Angleichung. Das Jugendgerichtsgesetz
vom 18. Juli 1928 enthält viele Züge des reichsdeutschen
Jugendgerichtsgesetzes. Der Austausch von Verwaltungsbeamten zwischen
Österreich und Preußen, eine Maßnahme von
größter Bedeutung, ist in die Wege geleitet. Auf dem Gebiete des
Schulwesens ist der
preußisch-österreichische Schulvertrag, der ebenfalls eine gegenseitige
Behandlung der beiderseitigen Staatsangehörigen auf dem Gebiete des
niederen Schulwesens als Inländer vorsieht, und die weitgehende
Angleichung und Reziprozität auf dem Gebiete des Hochschulwesens
hervorzuheben.
Überblicken wir die Entwicklung im ganzen, so weist sie geradezu
zwangsläufig in der Richtung, daß das einmal angerufene und als
Prinzip festgestellte Selbstbestimmungsrecht nicht dem größten Volke
Europas, welches in seiner Mitte siedelt, deren Stärke und Befriedung
Voraussetzung einer friedlichen Entwicklung ganz Europas ist, versagt bleiben
kann. Man hat unter Anrufung dieses Selbstbestimmungsrechtes und des
nationalen Staatsgedankens zu tiefe Eingriffe in den historischen Staatenbestand
gemacht, als daß man das Fortschreiten dieses Organisationsprinzipes aus
bloßer Siegerlaune, aus einseitigen, ja vielfach bloß eingebildeten
Interessen der Sieger an einem beliebigen Punkte zum Stillstand bringen
könnte. Die Lösung der österreichischen Frage ist die
Voraussetzung einer natürlichen Organisation Mitteleuropas und damit einer
Befriedung ganz Europas geworden und es ist eine unserer deutschen Geschichte
zutiefst gemäße Tatsache, daß wir in den Kampf um das uns aus
dem Zusammenbruch aufgehende nationale Ideal einen Kampf ums Recht, einen
Kampf um die Rechte der Völker, die noch bedeutsamer als die Rechte der
Individuen, welche die französische Revolution proklamiert hat, vor das
Gewissen der Menschen hintreten, ein Ringen um die wahre Befriedung Europas
aufnehmen. Die Südostmark des deutschen Reiches würde auch im
Rahmen des größeren Deutschland ihre Ostaufgabe, der ja das ganze
Deutschtum sich im Zuge der durch den Ausgang des Krieges geschaffenen
Entwicklung wieder stärker zuwendet, nicht aufgeben, sie würde
vielmehr zu einer Stellung zurückkehren, der sie ja im Mittelalter, in das alte
Deutsche Reich eingegliedert, den Namen der Ostmark verdankt. Die
Österreicher, gerade diejenigen, die sich bewußt sind, daß sie
vom gesamten Deutschtum viel zu empfangen, ihm aber auch viel zu geben haben,
wissen im übrigen, was Uhland schon in der Frankfurter Paulskirche im
Jahre 1848 gesagt hat, daß Österreich, so hoch sein Beruf steht, Kultur
zu verbreiten nach dem Osten, einen noch höheren und heiligeren Beruf hat,
eine Pulsader zu sein am Herzen Deutschlands. Und wenn die heute Lebenden die
Verwirklichung [353] des hochgespannten Ideals nicht erleben sollten,
so gelten uns doch, die wir heute durch einen Machtspruch der Sieger verbannt
sind aus dem Vaterlande unserer Seele, zu dem wir uns aus dem
Selbstbestimmungsrechte heraus in der dunkelsten Stunde deutscher Geschichte
bekannt haben, die ergreifenden Worte, die Theodor Storm in der Verbannung
gedichtet hat:
Wir lassen unsern spätsten Erben
Ein treu besiegelt Testament:
Daß kommen wird das frische Werde
Und auch bei uns die Nacht besiegt,
Der Tag, wo diese deutsche Erde
Im Ring des großen Reiches liegt.
Schrifttum
Bericht über die Tätigkeit der deutschösterreichischen
Friedensdelegation in St. Germain en Laye. 2 Bde. (Nr. 379 der Beilagen zur
konstituierenden Nationalversammlung):
Stenographische Protokolle der konstituierenden Nationalversammlung. -
Mündliche Mitteilungen beteiligter Personen. - Flugblätter
für Deutsch-Österreichs Recht, 1919 während der
Friedensverhandlungen über Veranlassung der damaligen
deutsch-österreichischen Staatskanzlei zur Unterstützung des
deutschösterreichischen Standpunktes, herausgegeben von Aug.
Wotawa.
Mitteilungen des österreichischen Bundesamtes für
Statistik.
Hauptwerk für Tirol: Reut-Nicolussi, Tirol unterm Beil
(1928).
Hauptwerk für Kärnten: Martin Wutte,
Kärntens Freiheitskampf (1922).
Hauptwerk für Steiermark:
Haussmann, Südsteiermark.
Ein gleich umfassendes Werk fehlt
für Burgenland und Niederösterreich. Für das Burgenland vgl.
etwa: Das Burgenland unter österreichischer Verwaltung
(Österreich-Bücherei, Bd. 10/11).
Für den Anschluß vgl.: Die (allerdings nicht vollständige)
Bibliographie zum deutsch-österreichischen Anschlußgedanken ist
zusammengestellt und herausgegeben von der Weltkriegsbücherei Stuttgart
und dem Reichspropaganda-Ausschuß der deutschösterreichischen
Arbeitsgemeinschaft für das Reich, Landesgruppe
Württemberg.
Heinz Paller, Der großdeutsche Gedanke
(1928).
Gerhard Höper, Österreichs Weg zum
Anschluß, mit einem Geleitwort von Reichstagspräsident Löbe
(1928).
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