III. Das Deutschtum in nichtdeutschen Staaten 5. Südtirol Dem Schicksal des nördlichsten Stücks deutschen Volksbodens, das mit Nordschleswig dem dänischen Staate einverleibt wurde, ist in manchem Betracht das Schicksal des südlichsten deutschen Grenzlandes verwandt, das der Zusammenbruch Österreichs an Italien brachte. In Südtirol, ebenso wie in Nordschleswig, war der deutsche Siedlungsraum mit dem Boden eines anderen Volkstums in langer historischer Entwicklung zu einer staatlichen Einheit verbunden; in beiden Grenzlanden lebte überwiegend wurzelstarkes Bauerntum, zäh den Boden behauptend, den seine Väter in der Folge vieler Generationen [69] bebaut und besessen hatten. Hier wie dort führte der Ausgang des Weltkrieges dazu, daß der fremde Siedlungsboden vom Reiche bzw. von Österreich getrennt und dem Staate seines eigenen Volkstums angegliedert wurde. Aber weder Dänemark noch Italien haben es vermocht, sich auf dieses nach dem Nationalitätsprinzip ihm zukommende Gebiet zu beschränken; sie haben beide darüber hinausgegriffen und mit dem sanktionierten Unrecht des Stärkeren - wenn sie das beide auch nur durch den Rückhalt waren, den die siegreiche Entente ihnen bot - Teile des geschlossenen deutschen Volksbodens sich angeeignet. Und hier wie dort ist durch diese Verletzung des Grundsatzes, auf dem die Neuordnung Europas aufgebaut sein sollte, Gegnerschaft geschaffen worden zwischen Völkern, die nichts zu trennen braucht, vieles aber verbindet oder verbinden könnte. Weiter allerdings können wir den Vergleich Nordschleswig-Südtirol nicht aufspannen. Das stammverwandte Dänemark hat den Deutschen, die es sich mit dem südlichen Teil Nordschleswigs aneignete, immerhin Lebensmöglichkeiten gegeben, die ihnen eine Wahrung ihrer Sprache und ihrer Kultur gestatteten und den Anforderungen europäischer Gesittung entsprachen. In Südtirol dagegen hat, seit der Faschismus die Herrschaft in Italien gewann, eine so furchtbare Bedrückung des Deutschtums eingesetzt, wie wir sie in ähnlicher Form und annähernd gleicher Schärfe nur noch in der Haltung wiederfinden werden, die der polnische Staat den Deutschen in Posen und Pommerellen gegenüber eingenommen hat. Das frühere Kronland Tirol der österreichischen Monarchie war, wie wir bereits gesehen haben, ein gemischtsprachiges Land (vgl. S. 28); von seinen 916 000 Einwohnern (1910) machte das Deutschtum 525 000 57,3% aus, hatte also im ganzen Lande eine nicht unbeträchtliche Mehrheit. Während Nordtirol bis zur Brennergrenze rein deutsch war, zerfiel Südtirol in eine deutsche und in eine italienische Hälfte; [70] der Verlauf der Sprachgrenze ist sehr deutlich, so daß eine Abgrenzung nach dem Grundsatz der Volkszugehörigkeit ohne größere Schwierigkeiten hätte vorgenommen werden können. In Seitentälern wohnen die Ladiner, ein romanischer Volksstamm, der eine eigene romanische Sprache spricht und den Rätoromanen im schweizerischen Graubünden nahe verwandt ist (vgl. S. 22). Die Ladiner zählen etwa 20 000 Menschen; politisch waren sie durchaus deutschfreundlich und standen einer Eingliederung in den italienischen Staat ablehnend gegenüber. Die Deutschen Südtirols sind ein Volk, das seit vielen Jahrhunderten Heimatrecht auf dem Boden hat, den es heute bewohnt. Seit dem 6. Jahrhundert hat die deutsche Besiedlung des Landes durch bayrische Einwanderer begonnen; seit dem 12. Jahrhundert wuchs das Geschlecht der Grafen von Tirol zu den mächtigsten Herren im Lande empor; seit 1363 gehört Tirol zu Habsburg. Seit dieser Zeit waren die Tiroler Bauern immer die kaisertreuesten Untertanen des Hauses Habsburg; die Märtyrergestalt Andreas Hofers, der aus dem heute italienisch gewordenen Passeier stammte, legt davon Zeugnis ab. Nach der spät erfolgten staatlichen Einigung Italiens entstand hier jene auf die Gewinnung der noch "unerlösten" Gebiete gerichtete Bewegung, deren Bezeichnung "Irredenta" heute allgemein zur Charakterisierung einer bestimmten Form des nationalpolitischen Kampfes verwandt wird. Obwohl bekanntermaßen auch zu Frankreich und zur Schweiz Teile des italienischen Volksbodens gehören, richteten sich die Bestrebungen der italienischen Irredentisten doch ausschließlich gegen Österreich, das in Welschtirol - dem "Trentino" -, in Görz, Triest, Dalmatien und Istrien einen nicht unbeträchtlichen Anteil am italienischen Volkstum hatte. Was im besonderen Tirol anlangt, so beanspruchte die Irredentabewegung ursprünglich nur die italienisch besiedelten Gebiete; der italienische Staat hätte seine Grenzen dadurch bis zur Salurner Klause vorge- [71] tragen, an der der deutsche Volksboden im Süden endet (Salurn ist die südlichste deutsche Stadt). Zu Beginn des Weltkrieges schien sich die Aussicht auf eine friedliche Verständigung über das Schicksal Welschtirols zwischen Österreich und Italien zu eröffnen; doch zog Italien den Appell an die Waffen vor, und obwohl es diese mit wenig Erfolg geführt hatte, warf ihm doch der Zusammenbruch der Mittelmächte die volle Siegesbeute in den Schoß. Daß zu dieser Siegesbeute auch Deutsch-Südtirol gehörte, wurde die schmerzliche Ursache jenes tragischen Kampfes, den das Deutschtum des Hofer-Landes heute um seinen nationalen Bestand zu führen hat. Dem Nationalitätenprinzip zufolge hatte die Republik Deutsch-Österreich auch den deutschen Teil Südtirols für ihr Staatsgebiet beansprucht. Deutsch-Südtirol in dem von ihr vorgezeichneten Umfang zählte 280 000 Einwohner, von denen 225 000 Deutsche, 20 000 Ladiner und nur 23 000 Italiener waren. Diese Zahlen zeigen, daß Italien keinerlei nationale Besitzansprüche auf das Gebiet zwischen der Salurner Klause und dem Brenner geltend machen konnte. Wenn Italien trotzdem die Brennergrenze verlangte und zugebilligt erhielt, so ist auch diese Grenzziehung ausschließlich nach politisch-militärischen Gesichtspunkten erfolgt. Wilson selbst hat anerkennen müssen, daß sie in dieser Gestalt ein schwerer Fehler gewesen ist. Während die im Osten und Südosten Europas neuentstandenen oder erweiterten Staaten, denen Teile fremden Volkstums zugewiesen wurden, mit der Entente "Minderheitenschutzverträge" abschließen mußten, die wenigstens ein gewisses Mindestmaß von Minderheitsrechten verbürgten, blieben die "Siegerstaaten" Frankreich, Belgien und Italien von einer solchen Auflage frei. Man hätte vielleicht erwarten können, daß diese Staaten, die so gern ihre bevorzugte Stellung in der europäischen Zivilisation betonen, aus freien Stücken ihren Minderheiten das notwendige Lebensrecht gewähren würden. [72] Aber dem war nicht so; wir haben ja bereits in dem Elsaß-Lothringen behandelnden Abschnitt gesehen, wie wenig Verständnis die französische Politik für die national-kulturellen Notwendigkeiten des Elsaß an den Tag gelegt hat. Doch alle Bedrückungen, die das Elsaß erfuhr, treten zurück gegen das, was Südtirol über sich ergehen lassen mußte. Zwar im Anfang schien es, als ob Italien gewillt sei, den in seine Grenzen gezwungenen Deutschen Südtirols ihre angestammte Sprache und Kultur nicht streitig zu machen. Von maßgebendster italienischer Stelle ist der Wille zu solcher nationalen Duldung oft genug pathetisch verkündet worden. Aber nichts von diesen Versprechungen ist gehalten worden. Wohl suchte die italienische Herrschaft in den Jahren 1919 und 1920 liberale Grundsätze gegenüber den Deutschen Südtirols zu befolgen; aber unter dem Drucke des im italienischen Staatslebens zu immer größerer Macht und Bedeutung heranwachsenden Faschismus verließ die italienische Politik mehr und mehr diese zwar nicht durch einen formellen Minderheitenschutzvertrag, wohl aber durch die Zusicherungen des Königs und der Regierung verbürgten Grundsätze. Waren die Bedrückungen des Deutschtums ursprünglich nur Willkürakte faschistischer Banden, so wurden sie seit jenem denkwürdigen 28. Oktober 1922, an dem der Faschismus sich durch den "Marsch nach Rom" unter Führung Mussolinis der Herrschaft bemächtigte, zum System der Staatspolitik erhoben. Was in den neun Jahren des faschistischen Regimes durch dieses gegen das südtiroler Deutschtum unternommen worden ist, das bildet in seiner Gesamtheit ein so brutales System der Entnationalisierungspolitik, wie es kaum je bisher von irgendeinem Staate gegen eine in seinen Grenzen lebende Minderheit angewandt worden ist. Wie harmlos erscheint dagegen etwa die preußische Polenpolitik der Vorkriegszeit! Man könnte geradezu an Hand der Maßnahmen Italiens in Südtirol ein Lehrbuch der Entnationalisierungspolitik schreiben; [73] nichts, aber auch nichts ist vergessen, was dazu dienen könnte, den deutschen Charakter Südtirols zu zerstören. Es ist nicht möglich, im Rahmen des diesem Buche zugemessenen Raumes die Einzelheiten dieser Politik zu erörtern; die im Literaturverzeichnis genannten Schriften geben darüber Auskunft. Zur Charakteristik der heutigen Lage in Südtirol seien nur einige Gipfelpunkte genannt. Der Name "Tirol" ist verboten und an seine Stelle die italienische Bezeichnung "Alto Adige" gesetzt. Die Italianisierung des Schulwesens ist seit 1923 in raschem Tempo gefördert worden, so daß heute keinerlei deutscher Volksschulunterricht mehr besteht,1 selbst der Religionsunterricht darf trotz des entschiedensten Widerstandes der treu zum Deutschtum haltenden katholischen Geistlichkeit nur italienisch erteilt werden. Deutscher Privatunterricht ist von der italienischen Regierung in der schärften Weise verfolgt und unterdrückt worden. Die deutsche Selbstverwaltung der Gemeinden ist vollständig beseitigt. Jede Aufschrift in der Öffentlichkeit - sogar in der Wäsche der Gasthäuser - muß italienisch gehalten sein. Die deutsche Presse des Landes ist bis auf bescheidene Reste gänzlich unterdrückt; die größte Zeitung des Landes mußte zuerst ihren angestammten Namen Der Tiroler in Der Landsmann abändern und schließlich ihr Erscheinen ganz einstellen. Eine politische Vertretung, die den Willen der Bevölkerung wiedergeben könnte, besteht nicht mehr. Die Sprache in der Verwaltung und im Gerichtswesen ist selbstverständlich nur noch italienisch. Ein besonderes Gesetz von 1926 gibt die Möglichkeit, solche Familien, deren deutscher Name angeblich ursprünglich italienisch oder ladinisch gewesen sein soll, zwangsweise zur Führung eines italienischen Namens zu verpflichten. Angesehene Führer [74] des Deutschtums, wie z. B. der Rechtsanwalt und frühere Abgeordnete Dr. Eduard Reut-Nicolusski, sind härtesten persönlichen Bedrückungen ausgesetzt und zum Verlassen des Landes gezwungen worden. Eine Maßnahme, die in einem Lande, das sich zum europäischen Kulturkreis rechnet, nahezu unglaublich erscheint, ist die Verfügung des Präfekten von Bozen, daß selbst auf den Friedhöfen neuere Grabinschriften nur noch italienisch abgefaßt sein dürfen! Auch sie soll dazu dienen, nach außen hin das Bild eines völlig italienischen Landes vorzutäuschen. Selbstverständlich hat die italienische Offensive auch vor dem Wirtschaftsleben Süd-Tirols nicht haltgemacht. Wir nennen hier an erster Stelle die Zerstörung des deutschen Genossenschaftswesens, das für das überwiegend bäuerliche Deutschtum des Landes von höchster Bedeutung war; dann den übermäßigen Steuerdruck, der in Südtirol weit höher ist als im übrigen Italien, die Hineinzwingung der südtiroler Wirtschaftskreise in die faschistischen Syndikate, die völlige Hintansetzung der deutschen Betriebe bei der Vergebung öffentlicher Aufträge, die Versuche der Ansetzung italienischer Bauern im deutschen Siedlungsgebiet. So befindet sich die Wirtschaft des südtiroler Deutschtums heute in einem Zustande lähmender Stagnation. Eine starke Beteiligung des Reichsdeutschtums am Fremdenverkehr in Südtirol könnte hier viel helfen. Wahrlich ein Übermaß von Brutalität und Unterdrückung, das kein Ruhmesblatt in der Geschichte Italiens und des Faschismus darstellt! War schon die Annexion des deutschen Siedlungsgebiets in Südtirol eine schwere Belastung für die deutsch-italienischen Beziehungen, so ist es die Entnationalisierungspolitik des Faschismus in noch viel höherem Maße. Das bekannte Rededuell zwischen Stresemann und Mussolini im Jahre 1926 hat die Weltöffentlichkeit auf diese Zustände hingewiesen und auch im deutschen Volke eine spontane Ab- [75] wehrbewegung ausgelöst. Aber Italien glaubt nach wie vor, im Besitze der Macht das höhere Recht des Volkstums mit Füßen treten zu dürfen.
Hunderttausende von Deutschen haben in Bozen und Meran, in Brixen und
Sterzing die Schönheiten jenes Stücks deutscher Erde kennengelernt,
das zu den wenigen gehört, die in südliches Sonnenland
hineinreichen. Mehr als vorher dem glücklichen sollte dem unter der
Gewaltherrschaft des italienschen Nationalismus leidenden Landes die Liebe des
deutschen Volkes gehören.
Deutschtum in Not! Die Schicksale der Deutschen in Europa außerhalb des Reiches, besonders das Kapitel "Das Deutschtum in Südtirol." Zehn Jahre Versailles, besonders Bd. 3, Kapitel "Gebietsverlust durch erzwungene Abtretung oder Verselbständigung: Deutsch-Österreich und seine Grenzgebiete."
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