[295]
Tirol
Alois Brandl
Geschlossen in sich stand das deutsche Tirol - denn das italienische Drittel hielt
sich fernab als eine schweigende Unterprovinz - auf der westlichen
Grenzwacht und war sich mehrfacher Einheit bewußt. Einheit historischer
Art, denn langsam im Laufe von Jahrhunderten und wie von selber war das "Land
im Walde" zusammengewachsen, hatte schon im fünfzehnten Jahrhundert
den Bauern die Freiheit gegeben und die Landtagsstube ihnen geöffnet und
hatte sich durch freie Wahl zur Leibgarde der Habsburger gemacht; der rote Aar in
weißem Felde mit dem grünen Ehrenkränzlein war jedem
seiner Mannen ins Herz geprägt. Einheit geographischer Art, denn von
seiner Bergeskrone sandte es nach allen Seiten die Flüsse zu Tal,
beherbergte eine Stammesgemeinschaft von Jägern, Sennen und
Holzhackern, zeigte überall die charakteristische Art der Waldbauern, der
frugal zu leben hat und deshalb manche Laster der Ebene meiden muß,
dabei wehrhaft bleibt und gewohnt ist, das Wild mit List und Blei zu erjagen. Und
dazu gesellte sich eine merkwürdige Einheit persönlicher Art, indem
dies Land von wenig mehr als einer halben Million Bewohnern der Welt einen
politischen Helden und Märtyrer gab, auf den jeder Stand, jedes Haus, jedes
Kind eingeschworen ist wie auf eine Religion, ohne Zaudern und Wanken, mit
himmelfestem Vertrauen: das war Andreas Hofer. Einen einzigen Mann von
Weltruf hat Tirol erzeugt, und wo immer in der Welt sich zwei Tiroler treffen, in
seinem Namen sind sie vom ersten Augenblicke an einig. Wenn ein Kaiser oder
König, ein Denker oder Künstler, ein Feldherr oder Gesetzgeber sich
Millionen geistig verpflichtet hat, so blicken diese zu ihm empor; aber zu einem
Andreas Hofer blickt der Tiroler wie zu einem neben ihm stehenden, der nicht
gescheiter, nicht besser geboren, nicht herrlicher geartet ist, aber dafür eine
aufrichtige, selbstlose Volksliebe bis in den Tod betätigte, daher absolutes
Vertrauen verdient. Man kann diesen Zauber nur mit dem heiligen Ernst
vergleichen, den die Eidgenossen vor ihrem Tell bewahren.
Gefragt, gezweifelt und geforscht hat man viel, was eigentlich der Sandwirt
wollte? Man hat darauf hingewiesen, daß er gar nicht stolz auf sein
Österreichertum war, vielmehr die österreichischen Generale als
"Konfusionsräte" zum Teufel wünschte. Man hat betont, daß
es damals den Begriff des Deutschtums noch gar nicht gab, und sicherlich
wäre der ehrliche [296] Anderl in Verlegenheit
geraten, wenn man ihn von schwäbischer oder preußischer oder gar
von bayrischer Seite als deutschen Bruder begrüßt hätte. Er hat
sich nicht einmal sonderlich darüber aufgehalten, daß Leute von
seiner eigenen Mundart und Stammessitte ihm als Hauptfeinde entgegentraten.
Man hat ihn als Verfechter katholischer Kirche und Geistlichkeit im
schattenreichen Berglande hinzustellen versucht, weil er fleißig den
Rosenkranz betete und immer ein Marienbildchen auf seinem großen
Passeierhute trug; aber wenn man in den tirolischen Pfarrhäusern die
vielfach noch ungedruckten Chroniken nachliest, die dort von
zeitgenössischen Priestern geschrieben wurden, ist man erstaunt, wie die
Herren im Talar mit begreiflicher Vorsicht vom sogenannten "Bauernrummel"
sich abseits hielten, dem sie im Vergleich mit den mächtigen Heeren
Napoleons und der Rheinbundfürsten keinen Dauererfolg prophezeiten; der
studierte Seelenhirt im Widum sorgte für seine Kirche, aber der
Bauernführer ging wie ein Moses seiner Wolkensäule nach, gelenkt
wie von einer höheren Macht, die er selbst nicht recht zu beschreiben
vermochte. Von einem göttlichen Instinkt hat Jean Paul einmal geredet, und
so etwas waltete in der breitschultrigen Gestalt des schlichten Mannes, für
den die Tausende von sparsamen Hofbesitzern und kinderreichen
Familienvätern als Freiwillige in die Schlachten stürmten und ohne
Zwang, ohne das, was man in den damaligen Heeren Disziplin nannte, und ohne
die geistigen Schlagworte, mit denen man moderne Heere aufzupeitschen pflegt,
in jedem Winkel der Schlacht dem Tode trotzten. Sucht man es beim Lichte, so
griff der fromme, gewissenhafte Hofer zur Waffe, weil seine ganze Habe und Sitte
bedroht war, ohne die das Leben keinen Wert mehr für ihn hatte: sein
Tirolertum. Lieber auf eigener Scholle stolz dafür verbluten, als auf
fremder Erde elend verderben!
Weil man nicht viel vom Helden des Jahres 1809 im Ländchen redet, darf
man ihn nicht für verschollen, sein Gedächtnis nicht für
verblichen halten. Als im Sturmjahr 48 der Kaiser freiwillige Kompagnien
aufrief, um die Grenze im Süden zu verteidigen, stellten sich auch in der
Gemeinde St. Nikolaus auf der Nordseite von Innsbruck hundert
Wehrfähige zusammen, und zum Kommandanten wählten sie den
unter ihnen, der als der Sandwirt bekannt war, als der Besitzer eines Wirtshauses
dieses Namens; er hatte gar nie gedient; als Kaiser Ferdinand vor der Hofburg die
Parade über die Kompagnie abnahm, mußte der neue Hauptmann
halblaut seine Gemeinen fragen: "Welcher ist denn der Kaiser da?"; und als man
ihm den etwas untersetzten Träger der Krone zeigte, rief er erstaunt: "Was,
der Kloani da?" Der Name genügte, um den einfachen Wirt zum
Träger sehr ernsten Vertrauens zu machen. Im ganzen Lande hatte man
"den Sandwirt" gekannt, der auf jedem Viehmarkte und bei jedem
Handelsgeschäfte sein Wort hielt, besser als wenn es verbrieft oder
besiegelt gewesen wäre, dessen Handschlag eine fraglose
Verläßlichkeit darstellte und der mit bäuerlichem Hausverstand
das Richtige zu treffen pflegte. Das war populärer Ruhm; einem
geradlinigen Heimatsgenossen mit offenem Auge und starkem Herzen wollte man
nachgehen, auch im Kugelregen, und es ist der Kompagnie auch nicht einmal so
übel gegangen, obwohl der Herr Hauptmann die Kommandowörter
erst vor der Front zu lernen hatte. Der Einzelfall ist ein typisches Bild von der
Stimmung, die in jener kritischen Zeit aus allen Zeitungen, allen Gedichten, allen
Reden und Taten des Bergvolkes drang und zum Siege führte.
[297=Foto] [298] Dieselbe
Stimmung flammte vulkanartig empor, als Franz Josef im Unglücksjahr
1866 an "seine" Tiroler appellierte. Es änderte nichts, daß an die
Stelle des französischen Gegners inzwischen ein italienischer getreten und
jedes kirchliche Streitmoment weggefallen war. Das "Landl" war in
Gefahr - also ging der Geist Hofers wieder um. In der Reichshauptstadt
verfügte sich nach Königgrätz der Bürgermeister
Zelinka in die Hofburg und erklärte im Hinblick auf die Schanzen, die man
eben bei Florisdorf aufwarf: "Majestät, das Gerücht ist verbreitet,
daß Wien verteidigt werden soll; Majestät, die Aufregung ist
groß, ich stehe für nichts" - und Zelinka erhielt später
ein schönes Denkmal aus Bronze, das in Wien noch heute steht. Kein Prinz
Eugen und kein Erzherzog Karl
vermochte im Zentrum des Habsburgerstaates die
Werbekraft des titellosen Passeirers zu ersetzen.
Vollends bewährte sich die Magie seines Namens, als im Mai 1915 das
geeinigte Italien mit Hilfe der Entente gegen Südtirol anrannte: 5000
Graubärte, über 60 Jahre alt, holten freiwillig die Flinte heraus und
halfen als echtes Hofervolk die Grenze hüten, drei Jahre lang, gegen eine
vielfache Übermacht. Schließlich, nach traurigstem Ausgang des
Feldzuges, übernahm der neugegründete
"Andreas-Hofer-Bund" die Fortsetzung des nationalen Widerstandes mit
friedlichen Waffen und erntete von gegnerischer Seite die Ehrung, daß
keines seiner Mitglieder durch Jahre ein Visum zur Einreise südlich vom
Brenner erhielt... Das vermag noch heute der Blutzeuge von Mantua; man kann
ihn nicht totschlagen, er ist längst erschossen und lebt um so
mächtiger.
Wo hat dies seelische Tirolertum seinen Sitz? Wo können es die
Carabinieri fassen, wo die Ukase des Bozener Präfekten es mundtot
machen?
Das Lied vom Tiroler Adler läßt es auf Ortlers Felsenspitze horsten.
Daran ist etwas Richtiges. Wordsworth, der englische Volksdichter einer Zeit, in
der sich britische Heere wirklich für bedrängte Kleinvölker auf
dem Festlande schlugen, feierte in einem berühmten Gedichte "Zwei
Stimmen" als unüberwindliche Vorkämpfer der Freiheit:
Hochgebirge und Meer. Als volkstümlicher Engländer, wie wenige
seiner Landsleute, fühlte Wordsworth, was solche Ausnahmenatur
für Schweizer und Tiroler, für alte Griechen und späte
Holländer bedeutete. Wer hat einmal auf Gletscherhöhe eine
Sommerstunde vor Sonnenaufgang erlebt? Schwarze Schatten hängen noch
an den Klippen und Karen oberhalb der Firnregion, in der die Schmelzwasser
geisterhaft gurgeln und knistern. Einige bleiche Sterne glitzern über der
grauen Eisfläche. Mit einem Mal ergießen sich dunkelrote
Glutströme über die höchsten Spitzen, als täte sich in
einer ungeheuren Kirche der Himmel auf: wer solch elementare Offenbarung
täglich erlebt und als heimatlich empfindet, wird ein anderer Mensch als die
besorgten Geschäftsleute und gebückten Arbeitstierchen in der
Ebene. Bei solchen dämonisch angehauchten Naturen entwickelt sich ein
Selbstvertrauen und ein Wille zur Selbstbestimmung, die sich nicht erschrecken
lassen, die zu keiner Zeit verebben und nicht wie eine bloße Idee, sondern
wie eine tief innerliche Mission sich behaupten durch Generationen. Die wenigen
tausend Ladiner, deren Idiom in keiner Schule gepflegt und in keinem Buche
festgelegt wurde, haben sich so durch die Jahrhunderte ladinisch erhalten; die
wenigen Basken in ihrem Pyrenäenwinkel sind baskisch geblieben; auf
gleichem Wege sind die deutschen Südtiroler.
[297]
Tiroler Bauernstube.
[299]
Beim Tarockspiel
im Kleinen Walsertal (Vorarlberg).
|
[299] Wie friedlich und
glücklich lebte bisher das Völkchen in den tiefeingesenkten
Talsohlen an der Etsch und am Eisack! In sauberen Dörfern und
Städtchen genossen frommgesinnte Bauern und Bürger durch mehr
als ein Jahrtausend ihre deutsche Kultur und vereinten sie willig mit einem
erheblichen Einschlag von italienischer Kunst und Dichtung; man konnte ihnen
nicht geistige Trägheit nachsagen. Jedes Kind im österreichischen
Südtirol lernte Heimats- und Weltkunde, Denken, Beten und Singen, alles
in der Muttersprache; jeder Erwachsene wählte mit die Obrigkeit und
arbeitete mit am Wohlstand der Gemeinde. Uralte Theaterfreude blühte an
zahlreichen Orten, und die meisten Schriftsteller des schriftenreichen Deutschtirol
wurzelten in den Nebengauen. Selbst der südliche Nachbar, italienisch nach
Rasse und Sprache, hatte davon Gewinn; denn der Wohlstand der Deutschen
brachte ihm Verdienst, und freie Strebsamkeit blühte im ganzen Lande. Das
hat seit einem Jahrzehnt der Faschismus gründlich geändert. Deutsch
dürfen die Tiroler in ihren Schulen nicht mehr lernen, und italienisch bleibt
den Deutschgeborenen durch alle Gemütsbande der Familie ein
Fremdelement; beide Sprachen werden zwischen Salurn und Brenner verwahrlost,
und dafür wuchert Kulturlosigkeit. Die alten deutschen Lehrer werden
verfolgt, gehemmt, vertrieben, und die neuen italienischen gescheut, nach
Möglichkeit gemieden und oft nach Leibeskräften gehaßt. Frag
einen fünfjährigen Buben auf der Straße, und sein Schweigen,
sein mißtrauischer Blick, seine ablehnende Haltung zeigen Dir, daß er
die [300] Gefahr des Redens
für sich und die Seinen kennt; lärmende Gewaltherrschaft hat in den
Gemütern eine stille, allgegenwärtige Empörung erzeugt.
Hingebungsvoll hat die deutsche Geistlichkeit sich für die Erhaltung guter
deutscher Sitte eingesetzt, namentlich für die Erteilung des
Religionsunterrichtes in der Muttersprache; aber das Möglichste geschieht,
um sie einzuschüchtern und ihre Wirksamkeit zu beschränken. Selbst
der Papst scheint seine Getreuesten zu verlassen und sendet ihnen neuestens eine
Menge italienisch redender, italienisch gesinnter, italienisch vorgehender
Geistliche in die Kirchen und Klöster. Politik in der Religion ist wie
Teufelskraut im Weizen.
Die hohe Regierung in Rom ernennt überall einen Podesta, der aus Gott
weiß welchem apulischen oder sizilianischen Neste stammt und den
selbstgewählten, bodenständigen Vorsteher ersetzen soll; lieblos
macht er sich mit seinem fremdsprachlichen Sekretär in der Gemeindestube
breit; Vermögen und Frieden des Ortes zahlen die Kosten. Ein Paradies
könnte dieser Erdenwinkel sein, wo die köstlichsten Früchte
von den Bäumen winken, die prächtigsten
Märchenwälder die Lüfte würzen, die schönsten
Kirchen und Burgen prangen und uralte Bildungstradition in den Köpfen
steckt; aber die Faust der Eroberungspolizei schafft eine Friedhofsruhe. Regieren
heißt doch sonst, Stürmen und Katastrophen vorbeugen.
|
Meran, das einstige Herz von Tirol, wo tatkräftige Fürsten das "Land
im Walde" zusammenschmiedeten und die Passeirer mit dem Sandwirt in der
Mitte die Burgwache stellten, hat nichts mehr zu schaffen mit Innsbruck, der
neuen, von den Habsburgern gehobenen Hauptstadt, wo der gemeinsame Landtag
saß und gemeinsame Wirtschaftskörper den Wohlstand
förderten. Der Brennerpaß, von Natur und Menschen zum Kerne der
"gefürsteten Grafschaft" bestimmt, soll Grenzscheide sein; er trennt jetzt
hermetisch den Norden vom Süden, und die nächsten
Familienangehörigen müssen oft aus Mangel an Reisebewilligung an
den berüchtigten Schlagbaum herantreten, der unter dem Auge der
Carabinieri die Wasserscheide sperrt. Kein Regenwurm ist jemals grausamer in
der Mitte auseinandergetreten worden. Die Entente hat hier den tirolischen
Bergkristall zerrissen, und im Wagen der Kommission, die den Grenzkordon
aussteckte, bemerkte man mit seltsamen Gefühlen einen japanischen
Major.
Kürzlich erst fragte mich ein Bankherr in Bückeburg, mit dem ich
auf die Leiden unserer Landsleute in Südtirol zu reden kam: "Was tut ihnen
denn eigentlich der Mussolini, was ist ihnen nicht recht?" Erstaunlich ist es, wie
wenig man oft in deutschen Kernlanden von den Grenz- und
Auslandsdeutschen weiß. Es soll, wie man hört, in
Preußen eine Schulvorschrift geben, die jeden Lehrer zur Unterweisung in
diesen lebenswichtigen Dingen verpflichtet. Man möchte meinen, in
unseren Gymnasien müsse die Tragödie des Brenners wenigstens
ebenso betont werden wie die des Xerxes oder des Hannibal. An der
Universität Berlin gibt es sogar einen Lehrstuhl für
Auslanddeutschtum. Man kann der Presse in den norddeutschen Städten
nicht vorwerfen, daß sie neue Angriffe der Faschisten am Südhang
des Brenner verschweige, und namentlich die Aufklärungsarbeit des
V. D. A. ist dankbar hervorzuheben.
Alpen- und Sportvereine senden zahlreiche Mitglieder aus dem Norden in die
Skigebiete und Sommerfrischen der tirolischen Südmark, wo jeder, der
Augen und Ohren hat, die Wahrheit doch greifen muß. Wie gering ist aber
die Aufmerksamkeit für nationale Geographie! Am 19. Oktober
vorigen Jahres standen in Bozen [301] bei der Annexionsfeier
der Italiener zahlreiche reichsdeutsche Ehrengäste mit auf dem
"Vittoria"-Denkmal und halfen den Faschisten die Parade der Truppen abnehmen;
gefragt, warum sie es taten, zeigten sie keine Spur von Kenntnis der
Verhältnisse. Alle Tage lachen die Postbeamten in Innsbruck über
die vielen Briefe, die aus Hamburg und Berlin einlaufen und so adressiert oder
frankiert sind, als läge Innsbruck in Italien. Von rechtswegen
müßte jeder Verein, Klub und Lesezirkel den "Südtiroler"
halten, der für 6 Mark im Jahre alles meldet, was an unserer
Südgrenze Ergreifendes und Erschütterndes vorgeht.
[301]
Innsbruck.
Herzog Friedrich-Straße mit dem Goldenen Dachl.
[302]
Traubenzeit im deutschen Südtirol.
Schloß Tirol ob Meran.
|
Innsbruck hat die Brüder an der Etsch nicht vergessen. Schon beim Austritt
aus dem Bahnhof grüßen den Reisenden Brixener und Salurner
Straßen und ein Bozener Platz.
Buch- und Kunstläden zeigen den herumwandernden Touristen die
Herrlichkeiten, die auf der sonnigen Seite der Alpen ihrer warten. Wenige Schritte
außerhalb der Stadt, und man wird bereits auf die ersten Berge hingewiesen,
die bis vor kurzem deutsch hießen und jetzt italienisch heißen.
Gegenüber der Hofkirche mit den berühmten Bronzewächtern
am Grabmal des Kaisers Max erhebt sich das Stadttheater, wo mit Vorliebe die
Exl-Truppe im Stile Anzengrubers spielt; da wandelt nicht selten Kranewitters
"Andreas Hofer" über die Bühne, und Schönherrs "Volk in
Not" kann man auch auf den benachbarten Bauerntheatern in
Sommerbühnen mit lebhafter Empfindung aufgeführt sehen;
tirolische Dichtung vermittelt ununterbrochen einen geistigen Zusammenhang mit
den Getrennten über alle Schranken und Berge und Abgründe hin.
Die literarische Regsamkeit des Ortes kommt dem südtirolischen Problem
zu statten; in Prosa und in Versen pflegen warmherzige, manchmal sehr begabte
Schriftsteller und Gelehrte die Erinnerung an die Straße, auf der einst die
deutschen Kaiser, sowie Dürer und Goethe romwärts zogen;
Geschichtswerke sehr achtunggebietender Art gemahnen die deutschen Leser
daran, daß einstmals Hofer das erste Zeichen zur deutschen Selbstbefreiung
gab und nicht lange fragte, ob er heil und gesund aus dem Kampfe hervorgehen
werde; er tat, was das Volkswohl gebot, und überließ dem Himmel
das Weitere.
[302] Auf dem Berg Isel
erhebt sich das eherne Standbild des einstigen "Oberkommandanten von Tirol",
der an dieser Stätte die Generale Napoleons mit ihren Schwadronen und
Kanonen ins Tal zurückjagte. Ein Südtiroler hat ihn modelliert, ein
Naturgenie aus dem höchst gelegenen Dörfchen des Vintschgau,
Heinrich Natter, und viel Kunst hat er aufgeboten, um scharfen Wahrheitssinn mit
symbolischer Kraft zu vereinigen. Er ließ sich ein Gewand aus dem Passeier
schicken, das Hofer selber getragen hatte; lange wanderte der breiträndrige
Hut und das massive Wams von einem Modell zum andern, bis sich eine Gestalt
von ausreichender Größe und Derbheit fand, der die
hünenmäßige Nationaltracht auf den Leib paßte. Er
probierte lange, bis die Fahne sich mit Kopf und Brust zu einer sinnvollen Einheit
rundete und der Arm mit lebensvoller Gebärde gleichsam die
Verteidigermassen zur Abwehr hinunterschleuderte. Er flankierte den zornigen
Riesen aus Bronze mit zwei auffliegenden Wappenadlern und schuf ihm dadurch
eine Breite, die jedem Beschauer imponieren muß. Wucht und Ausdruck ist
genug in dem wohlüberdachten Werk - und doch versammelt sich
am 10. Oktober, wenn der Jahrestag von Südtirols Annexion an
Italien wiederkehrt, die Schar der ernsten Patrioten lieber neben dem
anspruchslosen Marmordenkmal des einstigen Führers, das in der
Hofkirche neben dem prächtigen Mausoleum des Kaisers Max fast in einem
Winkel steht und mit einer fast frommen Innigkeit die Treue des Tiroler Volkes
markiert. Diesem in sich gekehrten Hofer ist eine schwarze Trauerfahne in den
Arm gelegt, die da bleiben soll, solange Südtirol in Knechtschaft liegt. Vor
diesem Bilde von ergreifender Einfachheit wird ohne viel Rhetorik an den
Befreiungskampf erinnert, der mit scheinbarer Aussichtslosigkeit begann,
draußen aber ertönen die Glocken durch das ganze nordtirolische
Land, in allen Kirchen wird Trauergottesdienst gehalten, in den Schulen die
Bedeutung des Tages erläutert und im Landtag der Protest gegen die
schmachvolle "Befreiung" Südtirols erneut, das ungefragt wie ein Schaf
oder eine Ziege im April 1915 verschachert wurde. Das ist immer ein echt
völkischer Tag, an dem sich alle Landesbewohner eines Herzens
fühlen, einer Hoffnung sich hingeben, obwohl keiner eine Idee
hat, wie sich das alles einmal wieder ins Gleichgewicht fügen soll.
Es ist Karfreitag. Viele Leute, die sonst nie zur Kirche gehen, wandern abends in
die Pfarre, wo der Probst Weingartner alljährlich auf der Kanzel steht und
predigt. Man kann nicht gut über das geistige Tirol der [303] Gegenwart handeln,
ohne dieses merkwürdigen Mannes, ebenfalls eines geborenen
Südtirolers, zu gedenken. Er hat sich als Kunsthistoriker, als
Reisebeschreiber und als Romanschriftsteller ausgezeichnet; jedes Jahr tut er
einen großen Flug in die Welt hinaus, um sie mit eigenen Augen zu sehen,
bald nach Norwegen und bald nach Griechenland; daheim aber besucht er
alljährlich seine Seelsorgsfamilien, und zwar nicht bloß die
Hausbesitzer, sondern auch die Hausmeister und die Kellerbewohner. Dieser ganz
moderne Mensch im Talar kam letztes Jahr auch auf die allgemeine Notlage zu
sprechen, die auf dem Lande lastet, wobei ihm natürlich jedes Herz der
Anwesenden entgegenschlug. Er sprach aber nicht von Sündenstrafe oder
Menschheitsprüfung, nicht von ordentlichem Tugendpfade oder
außerordentlicher Buße, sondern erzählte von viel
größerem Elend, das in früheren Jahrhunderten selbst in
gesegnetsten Landen herrschte, von der Grausamkeit der vielgefeierten Griechen
gegeneinander und von der entsetzlichen Grausamkeit der Römer gegen
besiegte Völker. Wehleidig, rief er aus, sind wir moderne Menschen, und
viel zu sehr geneigt, in Klagen uns zu erschöpfen; schlechte Zeit hat es
immer gegeben, aber andere Generationen trugen sie mannhafter. Es war eine
tirolische Predigt.
[305]
Schußfahrt am Arlberg.
|
Stählend wie eine altgermanische Heldensage wirkt in Innsbruck der
Anblick von felszackigen Hochgebirgen, die am Ende jeder Straße
aufstreben. Sie locken unausgesetzt zu alpinem Sport, und eifrig folgt Innsbrucks
Jugend in Sommer und Winter der stummberedten Einladung. Die neugebaute
Universität ist hell und schmuck, wetteifernd sorgt die Professorenschaft
für Bücherschätze in den Seminaren, viel Arbeit wird von der
Studentenschaft gefordert und geleistet; aber sobald am Freitag die Mittagsglocke
anschlägt, stürzt sich alles - ohne daß hier eine
akademische Vorschrift nötig
wäre - auf Leibesübungen. Da geht es in der guten Jahreszeit
rudelweise auf die Almen, auf die wildesten Jöcher, auf die schwindligsten
Kare, wo Freiheit und Kühnheit den Bergsteiger beflügeln; leicht
trägt man im Rucksack den Eßvorrat für ein paar Tage, und da
und dort lohnt noch eine duftige Prunelle, eine Alpennelke, eine Orchis dem
Florafreunde das Suchen - der Blumenreichtum früherer Zeiten ist
allerdings längst zerrauft und streckenweise fast ausgerottet. Aber [304] noch höher und
lustiger klettert sichs im Winter mit den Skibrettchen auf dem Rücken
über die verschneiten Hänge; die Saligen Fräulein, von denen
manches Märchen erzählt, mögen sich wundern über
das Lachen und Jubeln der Skiläuferinnen, die sich trotz Lawinengefahr
über die steilsten Kögel zerstreuen. Zahlreicher noch als die
heimischen Akademiker betätigen sich die fremden und niedergelassenen
Gäste, und in einem Rausch von Hochgefühl sausen die gewandten
Leiber hochaufgerichtet ins Tal hinunter, hinweg über scheinbar
unüberwindliche Hindernisse im Sprung. Was körperliche
Ertüchtigung betrifft, ist Innsbruck wohl die hervorragendste deutsche
Hochschule. Da zeigt die moderne Jugend ihre starke Seite; Abenteuerlust und
Verwegenheit und bewundernswerte Gewandtheit blitzen hervor und lassen
frühere Generationen wie Philister erscheinen, die sich beim ersten
Schneegestöber tief unten hinter dem Ofen verkrochen. Diese Jugend ist
noch leistungsfähig; sie kann sich tollen und tummeln; sie hat noch Mut
trotz versagender Mittel und verhängnisvoller Arbeitslosigkeit; sie hat Kraft
und wird vieles leisten, was sich noch nicht ermessen läßt. Die
deutsche Jugend ist unsere Hoffnung, so trübe auch die Gegenwart aussieht;
am glänzendsten tritt sie in der hohen Alpenwelt in die Erscheinung; wer
diese Scharen von Rennern und Rodlern sieht, aus allen Teilen Deutschlands, der
weiß, daß der Deutsche noch nicht aufgehört hat, Geschichte zu
machen. Gefährdet ist die Existenz von Innsbrucks Hochschule, denn Wien
glaubt nicht mehr die Mittel dafür erschwingen zu können; aber der
norddeutsche Studentenzufluß erhält sie und bewirkt eine
unmittelbare Verbrüderung, die der Vereinheitlichung unseres Volkstums
irgendwie zugute kommen muß: dies aber ist für die Zukunft
gegenüber unserer inneren Zerrissenheit die Hauptsache. [305=Foto]
|