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Tirol
Alois Brandl

Geschlossen in sich stand das deutsche Tirol - denn das italienische Drittel hielt sich fernab als eine schweigende Unterprovinz - auf der westlichen Grenzwacht und war sich mehrfacher Einheit bewußt. Einheit historischer Art, denn langsam im Laufe von Jahrhunderten und wie von selber war das "Land im Walde" zusammengewachsen, hatte schon im fünfzehnten Jahrhundert den Bauern die Freiheit gegeben und die Landtagsstube ihnen geöffnet und hatte sich durch freie Wahl zur Leibgarde der Habsburger gemacht; der rote Aar in weißem Felde mit dem grünen Ehrenkränzlein war jedem seiner Mannen ins Herz geprägt. Einheit geographischer Art, denn von seiner Bergeskrone sandte es nach allen Seiten die Flüsse zu Tal, beherbergte eine Stammesgemeinschaft von Jägern, Sennen und

Andreas Hofer.
Holzhackern, zeigte überall die charakteristische Art der Waldbauern, der frugal zu leben hat und deshalb manche Laster der Ebene meiden muß, dabei wehrhaft bleibt und gewohnt ist, das Wild mit List und Blei zu erjagen. Und dazu gesellte sich eine merkwürdige Einheit persönlicher Art, indem dies Land von wenig mehr als einer halben Million Bewohnern der Welt einen politischen Helden und Märtyrer gab, auf den jeder Stand, jedes Haus, jedes Kind eingeschworen ist wie auf eine Religion, ohne Zaudern und Wanken, mit himmelfestem Vertrauen: das war Andreas Hofer. Einen einzigen Mann von Weltruf hat Tirol erzeugt, und wo immer in der Welt sich zwei Tiroler treffen, in seinem Namen sind sie vom ersten Augenblicke an einig. Wenn ein Kaiser oder König, ein Denker oder Künstler, ein Feldherr oder Gesetzgeber sich Millionen geistig verpflichtet hat, so blicken diese zu ihm empor; aber zu einem Andreas Hofer blickt der Tiroler wie zu einem neben ihm stehenden, der nicht gescheiter, nicht besser geboren, nicht herrlicher geartet ist, aber dafür eine aufrichtige, selbstlose Volksliebe bis in den Tod betätigte, daher absolutes Vertrauen verdient. Man kann diesen Zauber nur mit dem heiligen Ernst vergleichen, den die Eidgenossen vor ihrem Tell bewahren.

Gefragt, gezweifelt und geforscht hat man viel, was eigentlich der Sandwirt wollte? Man hat darauf hingewiesen, daß er gar nicht stolz auf sein Österreichertum war, vielmehr die österreichischen Generale als "Konfusionsräte" zum Teufel wünschte. Man hat betont, daß es damals den Begriff des Deutschtums noch gar nicht gab, und sicherlich wäre der ehrliche [296] Anderl in Verlegenheit geraten, wenn man ihn von schwäbischer oder preußischer oder gar von bayrischer Seite als deutschen Bruder begrüßt hätte. Er hat sich nicht einmal sonderlich darüber aufgehalten, daß Leute von seiner eigenen Mundart und Stammessitte ihm als Hauptfeinde entgegentraten. Man hat ihn als Verfechter katholischer Kirche und Geistlichkeit im schattenreichen Berglande hinzustellen versucht, weil er fleißig den Rosenkranz betete und immer ein Marienbildchen auf seinem großen Passeierhute trug; aber wenn man in den tirolischen Pfarrhäusern die vielfach noch ungedruckten Chroniken nachliest, die dort von zeitgenössischen Priestern geschrieben wurden, ist man erstaunt, wie die Herren im Talar mit begreiflicher Vorsicht vom sogenannten "Bauernrummel" sich abseits hielten, dem sie im Vergleich mit den mächtigen Heeren Napoleons und der Rheinbundfürsten keinen Dauererfolg prophezeiten; der studierte Seelenhirt im Widum sorgte für seine Kirche, aber der Bauernführer ging wie ein Moses seiner Wolkensäule nach, gelenkt wie von einer höheren Macht, die er selbst nicht recht zu beschreiben vermochte. Von einem göttlichen Instinkt hat Jean Paul einmal geredet, und so etwas waltete in der breitschultrigen Gestalt des schlichten Mannes, für den die Tausende von sparsamen Hofbesitzern und kinderreichen Familienvätern als Freiwillige in die Schlachten stürmten und ohne Zwang, ohne das, was man in den damaligen Heeren Disziplin nannte, und ohne die geistigen Schlagworte, mit denen man moderne Heere aufzupeitschen pflegt, in jedem Winkel der Schlacht dem Tode trotzten. Sucht man es beim Lichte, so griff der fromme, gewissenhafte Hofer zur Waffe, weil seine ganze Habe und Sitte bedroht war, ohne die das Leben keinen Wert mehr für ihn hatte: sein Tirolertum. Lieber auf eigener Scholle stolz dafür verbluten, als auf fremder Erde elend verderben!

Weil man nicht viel vom Helden des Jahres 1809 im Ländchen redet, darf man ihn nicht für verschollen, sein Gedächtnis nicht für verblichen halten. Als im Sturmjahr 48 der Kaiser freiwillige Kompagnien aufrief, um die Grenze im Süden zu verteidigen, stellten sich auch in der Gemeinde St. Nikolaus auf der Nordseite von Innsbruck hundert Wehrfähige zusammen, und zum Kommandanten wählten sie den unter ihnen, der als der Sandwirt bekannt war, als der Besitzer eines Wirtshauses dieses Namens; er hatte gar nie gedient; als Kaiser Ferdinand vor der Hofburg die Parade über die Kompagnie abnahm, mußte der neue Hauptmann halblaut seine Gemeinen fragen: "Welcher ist denn der Kaiser da?"; und als man ihm den etwas untersetzten Träger der Krone zeigte, rief er erstaunt: "Was, der Kloani da?" Der Name genügte, um den einfachen Wirt zum Träger sehr ernsten Vertrauens zu machen. Im ganzen Lande hatte man "den Sandwirt" gekannt, der auf jedem Viehmarkte und bei jedem Handelsgeschäfte sein Wort hielt, besser als wenn es verbrieft oder besiegelt gewesen wäre, dessen Handschlag eine fraglose Verläßlichkeit darstellte und der mit bäuerlichem Hausverstand das Richtige zu treffen pflegte. Das war populärer Ruhm; einem geradlinigen Heimatsgenossen mit offenem Auge und starkem Herzen wollte man nachgehen, auch im Kugelregen, und es ist der Kompagnie auch nicht einmal so übel gegangen, obwohl der Herr Hauptmann die Kommandowörter erst vor der Front zu lernen hatte. Der Einzelfall ist ein typisches Bild von der Stimmung, die in jener kritischen Zeit aus allen Zeitungen, allen Gedichten, allen Reden und Taten des Bergvolkes drang und zum Siege führte.

[297=Foto] [298] Dieselbe Stimmung flammte vulkanartig empor, als Franz Josef im Unglücksjahr 1866 an "seine" Tiroler appellierte. Es änderte nichts, daß an die Stelle des französischen Gegners inzwischen ein italienischer getreten und jedes kirchliche Streitmoment weggefallen war. Das "Landl" war in Gefahr - also ging der Geist Hofers wieder um. In der Reichshauptstadt verfügte sich nach Königgrätz der Bürgermeister Zelinka in die Hofburg und erklärte im Hinblick auf die Schanzen, die man eben bei Florisdorf aufwarf: "Majestät, das Gerücht ist verbreitet, daß Wien verteidigt werden soll; Majestät, die Aufregung ist groß, ich stehe für nichts" - und Zelinka erhielt später ein schönes Denkmal aus Bronze, das in Wien noch heute steht. Kein Prinz Eugen und kein Erzherzog Karl vermochte im Zentrum des Habsburgerstaates die Werbekraft des titellosen Passeirers zu ersetzen.

Vollends bewährte sich die Magie seines Namens, als im Mai 1915 das geeinigte Italien mit Hilfe der Entente gegen Südtirol anrannte: 5000 Graubärte, über 60 Jahre alt, holten freiwillig die Flinte heraus und halfen als echtes Hofervolk die Grenze hüten, drei Jahre lang, gegen eine vielfache Übermacht. Schließlich, nach traurigstem Ausgang des Feldzuges, übernahm der neugegründete "Andreas-Hofer-Bund" die Fortsetzung des nationalen Widerstandes mit friedlichen Waffen und erntete von gegnerischer Seite die Ehrung, daß keines seiner Mitglieder durch Jahre ein Visum zur Einreise südlich vom Brenner erhielt... Das vermag noch heute der Blutzeuge von Mantua; man kann ihn nicht totschlagen, er ist längst erschossen und lebt um so mächtiger.

Wo hat dies seelische Tirolertum seinen Sitz? Wo können es die Carabinieri fassen, wo die Ukase des Bozener Präfekten es mundtot machen?

Das Lied vom Tiroler Adler läßt es auf Ortlers Felsenspitze horsten. Daran ist etwas Richtiges. Wordsworth, der englische Volksdichter einer Zeit, in der sich britische Heere wirklich für bedrängte Kleinvölker auf dem Festlande schlugen, feierte in einem berühmten Gedichte "Zwei Stimmen" als unüberwindliche Vorkämpfer der Freiheit: Hochgebirge und Meer. Als volkstümlicher Engländer, wie wenige seiner Landsleute, fühlte Wordsworth, was solche Ausnahmenatur für Schweizer und Tiroler, für alte Griechen und späte Holländer bedeutete. Wer hat einmal auf Gletscherhöhe eine Sommerstunde vor Sonnenaufgang erlebt? Schwarze Schatten hängen noch an den Klippen und Karen oberhalb der Firnregion, in der die Schmelzwasser geisterhaft gurgeln und knistern. Einige bleiche Sterne glitzern über der grauen Eisfläche. Mit einem Mal ergießen sich dunkelrote Glutströme über die höchsten Spitzen, als täte sich in einer ungeheuren Kirche der Himmel auf: wer solch elementare Offenbarung täglich erlebt und als heimatlich empfindet, wird ein anderer Mensch als die besorgten Geschäftsleute und gebückten Arbeitstierchen in der Ebene. Bei solchen dämonisch angehauchten Naturen entwickelt sich ein Selbstvertrauen und ein Wille zur Selbstbestimmung, die sich nicht erschrecken lassen, die zu keiner Zeit verebben und nicht wie eine bloße Idee, sondern wie eine tief innerliche Mission sich behaupten durch Generationen. Die wenigen tausend Ladiner, deren Idiom in keiner Schule gepflegt und in keinem Buche festgelegt wurde, haben sich so durch die Jahrhunderte ladinisch erhalten; die wenigen Basken in ihrem Pyrenäenwinkel sind baskisch geblieben; auf gleichem Wege sind die deutschen Südtiroler.

Tiroler Bauernstube.
[297]      Tiroler Bauernstube.

Beim Tarockspiel im Kleinen Walsertal (Vorarlberg).
[299]      Beim Tarockspiel
im Kleinen Walsertal (Vorarlberg).
[299] Wie friedlich und glücklich lebte bisher das Völkchen in den tiefeingesenkten Talsohlen an der Etsch und am Eisack! In sauberen Dörfern und Städtchen genossen frommgesinnte Bauern und Bürger durch mehr als ein Jahrtausend ihre deutsche Kultur und vereinten sie willig mit einem erheblichen Einschlag von italienischer Kunst und Dichtung; man konnte ihnen nicht geistige Trägheit nachsagen. Jedes Kind im österreichischen Südtirol lernte Heimats- und Weltkunde, Denken, Beten und Singen, alles in der Muttersprache; jeder Erwachsene wählte mit die Obrigkeit und arbeitete mit am Wohlstand der Gemeinde. Uralte Theaterfreude blühte an zahlreichen Orten, und die meisten Schriftsteller des schriftenreichen Deutschtirol wurzelten in den Nebengauen. Selbst der südliche Nachbar, italienisch nach Rasse und Sprache, hatte davon Gewinn; denn der Wohlstand der Deutschen brachte ihm Verdienst, und freie Strebsamkeit blühte im ganzen Lande. Das hat seit einem Jahrzehnt der Faschismus gründlich geändert. Deutsch dürfen die Tiroler in ihren Schulen nicht mehr lernen, und italienisch bleibt den Deutschgeborenen durch alle Gemütsbande der Familie ein Fremdelement; beide Sprachen werden zwischen Salurn und Brenner verwahrlost, und dafür wuchert Kulturlosigkeit. Die alten deutschen Lehrer werden verfolgt, gehemmt, vertrieben, und die neuen italienischen gescheut, nach Möglichkeit gemieden und oft nach Leibeskräften gehaßt. Frag einen fünfjährigen Buben auf der Straße, und sein Schweigen, sein mißtrauischer Blick, seine ablehnende Haltung zeigen Dir, daß er die [300] Gefahr des Redens für sich und die Seinen kennt; lärmende Gewaltherrschaft hat in den Gemütern eine stille, allgegenwärtige Empörung erzeugt.

Hingebungsvoll hat die deutsche Geistlichkeit sich für die Erhaltung guter deutscher Sitte eingesetzt, namentlich für die Erteilung des Religionsunterrichtes in der Muttersprache; aber das Möglichste geschieht, um sie einzuschüchtern und ihre Wirksamkeit zu beschränken. Selbst der Papst scheint seine Getreuesten zu verlassen und sendet ihnen neuestens eine Menge italienisch redender, italienisch gesinnter, italienisch vorgehender Geistliche in die Kirchen und Klöster. Politik in der Religion ist wie Teufelskraut im Weizen.

Die hohe Regierung in Rom ernennt überall einen Podesta, der aus Gott weiß welchem apulischen oder sizilianischen Neste stammt und den selbstgewählten, bodenständigen Vorsteher ersetzen soll; lieblos macht er sich mit seinem fremdsprachlichen Sekretär in der Gemeindestube breit; Vermögen und Frieden des Ortes zahlen die Kosten. Ein Paradies könnte dieser Erdenwinkel sein, wo die köstlichsten Früchte von den Bäumen winken, die prächtigsten Märchenwälder die Lüfte würzen, die schönsten Kirchen und Burgen prangen und uralte Bildungstradition in den Köpfen steckt; aber die Faust der Eroberungspolizei schafft eine Friedhofsruhe. Regieren heißt doch sonst, Stürmen und Katastrophen vorbeugen.

Kirmes in Meran.
[303]      Kirmes in Meran.
Meran, das einstige Herz von Tirol, wo tatkräftige Fürsten das "Land im Walde" zusammenschmiedeten und die Passeirer mit dem Sandwirt in der Mitte die Burgwache stellten, hat nichts mehr zu schaffen mit Innsbruck, der neuen, von den Habsburgern gehobenen Hauptstadt, wo der gemeinsame Landtag saß und gemeinsame Wirtschaftskörper den Wohlstand förderten. Der Brennerpaß, von Natur und Menschen zum Kerne der "gefürsteten Grafschaft" bestimmt, soll Grenzscheide sein; er trennt jetzt hermetisch den Norden vom Süden, und die nächsten Familienangehörigen müssen oft aus Mangel an Reisebewilligung an den berüchtigten Schlagbaum herantreten, der unter dem Auge der Carabinieri die Wasserscheide sperrt. Kein Regenwurm ist jemals grausamer in der Mitte auseinandergetreten worden. Die Entente hat hier den tirolischen Bergkristall zerrissen, und im Wagen der Kommission, die den Grenzkordon aussteckte, bemerkte man mit seltsamen Gefühlen einen japanischen Major.

Kürzlich erst fragte mich ein Bankherr in Bückeburg, mit dem ich auf die Leiden unserer Landsleute in Südtirol zu reden kam: "Was tut ihnen denn eigentlich der Mussolini, was ist ihnen nicht recht?" Erstaunlich ist es, wie wenig man oft in deutschen Kernlanden von den Grenz- und Auslandsdeutschen weiß. Es soll, wie man hört, in Preußen eine Schulvorschrift geben, die jeden Lehrer zur Unterweisung in diesen lebenswichtigen Dingen verpflichtet. Man möchte meinen, in unseren Gymnasien müsse die Tragödie des Brenners wenigstens ebenso betont werden wie die des Xerxes oder des Hannibal. An der Universität Berlin gibt es sogar einen Lehrstuhl für Auslanddeutschtum. Man kann der Presse in den norddeutschen Städten nicht vorwerfen, daß sie neue Angriffe der Faschisten am Südhang des Brenner verschweige, und namentlich die Aufklärungsarbeit des V. D. A. ist dankbar hervorzuheben. Alpen- und Sportvereine senden zahlreiche Mitglieder aus dem Norden in die Skigebiete und Sommerfrischen der tirolischen Südmark, wo jeder, der Augen und Ohren hat, die Wahrheit doch greifen muß. Wie gering ist aber die Aufmerksamkeit für nationale Geographie! Am 19. Oktober vorigen Jahres standen in Bozen [301] bei der Annexionsfeier der Italiener zahlreiche reichsdeutsche Ehrengäste mit auf dem "Vittoria"-Denkmal und halfen den Faschisten die Parade der Truppen abnehmen; gefragt, warum sie es taten, zeigten sie keine Spur von Kenntnis der Verhältnisse. Alle Tage lachen die Postbeamten in Innsbruck über die vielen Briefe, die aus Hamburg und Berlin einlaufen und so adressiert oder frankiert sind, als läge Innsbruck in Italien. Von rechtswegen müßte jeder Verein, Klub und Lesezirkel den "Südtiroler" halten, der für 6 Mark im Jahre alles meldet, was an unserer Südgrenze Ergreifendes und Erschütterndes vorgeht.

Innsbruck.
[301]      Innsbruck.
Herzog Friedrich-Straße mit dem Goldenen Dachl.


Traubenzeit im deutschen Südtirol.
[302]      Traubenzeit im deutschen Südtirol.
Schloß Tirol ob Meran.


Bozener Weinstube.
[304]      Bozener Weinstube.
Innsbruck hat die Brüder an der Etsch nicht vergessen. Schon beim Austritt aus dem Bahnhof grüßen den Reisenden Brixener und Salurner Straßen und ein Bozener Platz. Buch- und Kunstläden zeigen den herumwandernden Touristen die Herrlichkeiten, die auf der sonnigen Seite der Alpen ihrer warten. Wenige Schritte außerhalb der Stadt, und man wird bereits auf die ersten Berge hingewiesen, die bis vor kurzem deutsch hießen und jetzt italienisch heißen. Gegenüber der Hofkirche mit den berühmten Bronzewächtern am Grabmal des Kaisers Max erhebt sich das Stadttheater, wo mit Vorliebe die Exl-Truppe im Stile Anzengrubers spielt; da wandelt nicht selten Kranewitters "Andreas Hofer" über die Bühne, und Schönherrs "Volk in Not" kann man auch auf den benachbarten Bauerntheatern in Sommerbühnen mit lebhafter Empfindung aufgeführt sehen; tirolische Dichtung vermittelt ununterbrochen einen geistigen Zusammenhang mit den Getrennten über alle Schranken und Berge und Abgründe hin. Die literarische Regsamkeit des Ortes kommt dem südtirolischen Problem zu statten; in Prosa und in Versen pflegen warmherzige, manchmal sehr begabte Schriftsteller und Gelehrte die Erinnerung an die Straße, auf der einst die deutschen Kaiser, sowie Dürer und Goethe romwärts zogen; Geschichtswerke sehr achtunggebietender Art gemahnen die deutschen Leser daran, daß einstmals Hofer das erste Zeichen zur deutschen Selbstbefreiung gab und nicht lange fragte, ob er heil und gesund aus dem Kampfe hervorgehen werde; er tat, was das Volkswohl gebot, und überließ dem Himmel das Weitere.

[302] Auf dem Berg Isel erhebt sich das eherne Standbild des einstigen "Oberkommandanten von Tirol", der an dieser Stätte die Generale Napoleons mit ihren Schwadronen und Kanonen ins Tal zurückjagte. Ein Südtiroler hat ihn modelliert, ein Naturgenie aus dem höchst gelegenen Dörfchen des Vintschgau, Heinrich Natter, und viel Kunst hat er aufgeboten, um scharfen Wahrheitssinn mit symbolischer Kraft zu vereinigen. Er ließ sich ein Gewand aus dem Passeier schicken, das Hofer selber getragen hatte; lange wanderte der breiträndrige Hut und das massive Wams von einem Modell zum andern, bis sich eine Gestalt von ausreichender Größe und Derbheit fand, der die hünenmäßige Nationaltracht auf den Leib paßte. Er probierte lange, bis die Fahne sich mit Kopf und Brust zu einer sinnvollen Einheit rundete und der Arm mit lebensvoller Gebärde gleichsam die Verteidigermassen zur Abwehr hinunterschleuderte. Er flankierte den zornigen Riesen aus Bronze mit zwei auffliegenden Wappenadlern und schuf ihm dadurch eine Breite, die jedem Beschauer imponieren muß. Wucht und Ausdruck ist genug in dem wohlüberdachten Werk - und doch versammelt sich am 10. Oktober, wenn der Jahrestag von Südtirols Annexion an Italien wiederkehrt, die Schar der ernsten Patrioten lieber neben dem anspruchslosen Marmordenkmal des einstigen Führers, das in der Hofkirche neben dem prächtigen Mausoleum des Kaisers Max fast in einem Winkel steht und mit einer fast frommen Innigkeit die Treue des Tiroler Volkes markiert. Diesem in sich gekehrten Hofer ist eine schwarze Trauerfahne in den Arm gelegt, die da bleiben soll, solange Südtirol in Knechtschaft liegt. Vor diesem Bilde von ergreifender Einfachheit wird ohne viel Rhetorik an den Befreiungskampf erinnert, der mit scheinbarer Aussichtslosigkeit begann, draußen aber ertönen die Glocken durch das ganze nordtirolische Land, in allen Kirchen wird Trauergottesdienst gehalten, in den Schulen die Bedeutung des Tages erläutert und im Landtag der Protest gegen die schmachvolle "Befreiung" Südtirols erneut, das ungefragt wie ein Schaf oder eine Ziege im April 1915 verschachert wurde. Das ist immer ein echt völkischer Tag, an dem sich alle Landesbewohner eines Herzens fühlen, einer Hoffnung sich hingeben, obwohl keiner eine Idee hat, wie sich das alles einmal wieder ins Gleichgewicht fügen soll.

Es ist Karfreitag. Viele Leute, die sonst nie zur Kirche gehen, wandern abends in die Pfarre, wo der Probst Weingartner alljährlich auf der Kanzel steht und predigt. Man kann nicht gut über das geistige Tirol der [303] Gegenwart handeln, ohne dieses merkwürdigen Mannes, ebenfalls eines geborenen Südtirolers, zu gedenken. Er hat sich als Kunsthistoriker, als Reisebeschreiber und als Romanschriftsteller ausgezeichnet; jedes Jahr tut er einen großen Flug in die Welt hinaus, um sie mit eigenen Augen zu sehen, bald nach Norwegen und bald nach Griechenland; daheim aber besucht er alljährlich seine Seelsorgsfamilien, und zwar nicht bloß die Hausbesitzer, sondern auch die Hausmeister und die Kellerbewohner. Dieser ganz moderne Mensch im Talar kam letztes Jahr auch auf die allgemeine Notlage zu sprechen, die auf dem Lande lastet, wobei ihm natürlich jedes Herz der Anwesenden entgegenschlug. Er sprach aber nicht von Sündenstrafe oder Menschheitsprüfung, nicht von ordentlichem Tugendpfade oder außerordentlicher Buße, sondern erzählte von viel größerem Elend, das in früheren Jahrhunderten selbst in gesegnetsten Landen herrschte, von der Grausamkeit der vielgefeierten Griechen gegeneinander und von der entsetzlichen Grausamkeit der Römer gegen besiegte Völker. Wehleidig, rief er aus, sind wir moderne Menschen, und viel zu sehr geneigt, in Klagen uns zu erschöpfen; schlechte Zeit hat es immer gegeben, aber andere Generationen trugen sie mannhafter. Es war eine tirolische Predigt.

Schußfahrt am Arlberg.
[305]      Schußfahrt am Arlberg.
Stählend wie eine altgermanische Heldensage wirkt in Innsbruck der Anblick von felszackigen Hochgebirgen, die am Ende jeder Straße aufstreben. Sie locken unausgesetzt zu alpinem Sport, und eifrig folgt Innsbrucks Jugend in Sommer und Winter der stummberedten Einladung. Die neugebaute Universität ist hell und schmuck, wetteifernd sorgt die Professorenschaft für Bücherschätze in den Seminaren, viel Arbeit wird von der Studentenschaft gefordert und geleistet; aber sobald am Freitag die Mittagsglocke anschlägt, stürzt sich alles - ohne daß hier eine akademische Vorschrift nötig wäre - auf Leibesübungen. Da geht es in der guten Jahreszeit rudelweise auf die Almen, auf die wildesten Jöcher, auf die schwindligsten Kare, wo Freiheit und Kühnheit den Bergsteiger beflügeln; leicht trägt man im Rucksack den Eßvorrat für ein paar Tage, und da und dort lohnt noch eine duftige Prunelle, eine Alpennelke, eine Orchis dem Florafreunde das Suchen - der Blumenreichtum früherer Zeiten ist allerdings längst zerrauft und streckenweise fast ausgerottet. Aber [304] noch höher und lustiger klettert sichs im Winter mit den Skibrettchen auf dem Rücken über die verschneiten Hänge; die Saligen Fräulein, von denen manches Märchen erzählt, mögen sich wundern über das Lachen und Jubeln der Skiläuferinnen, die sich trotz Lawinengefahr über die steilsten Kögel zerstreuen. Zahlreicher noch als die heimischen Akademiker betätigen sich die fremden und niedergelassenen Gäste, und in einem Rausch von Hochgefühl sausen die gewandten Leiber hochaufgerichtet ins Tal hinunter, hinweg über scheinbar unüberwindliche Hindernisse im Sprung. Was körperliche Ertüchtigung betrifft, ist Innsbruck wohl die hervorragendste deutsche Hochschule. Da zeigt die moderne Jugend ihre starke Seite; Abenteuerlust und Verwegenheit und bewundernswerte Gewandtheit blitzen hervor und lassen frühere Generationen wie Philister erscheinen, die sich beim ersten Schneegestöber tief unten hinter dem Ofen verkrochen. Diese Jugend ist noch leistungsfähig; sie kann sich tollen und tummeln; sie hat noch Mut trotz versagender Mittel und verhängnisvoller Arbeitslosigkeit; sie hat Kraft und wird vieles leisten, was sich noch nicht ermessen läßt. Die deutsche Jugend ist unsere Hoffnung, so trübe auch die Gegenwart aussieht; am glänzendsten tritt sie in der hohen Alpenwelt in die Erscheinung; wer diese Scharen von Rennern und Rodlern sieht, aus allen Teilen Deutschlands, der weiß, daß der Deutsche noch nicht aufgehört hat, Geschichte zu machen. Gefährdet ist die Existenz von Innsbrucks Hochschule, denn Wien glaubt nicht mehr die Mittel dafür erschwingen zu können; aber der norddeutsche Studentenzufluß erhält sie und bewirkt eine unmittelbare Verbrüderung, die der Vereinheitlichung unseres Volkstums irgendwie zugute kommen muß: dies aber ist für die Zukunft gegenüber unserer inneren Zerrissenheit die Hauptsache. [305=Foto]

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Das Versailler Diktat. Vorgeschichte, Vollständiger Vertragstext,
      Gegenvorschläge der deutschen Regierung

Deutschtum in Not, besonders das Kapitel "Das Deutschtum in Südtirol".

Das Grenzlanddeutschtum, besonders das Kapitel "Südtirol."

Zehn Jahre Versailles, besonders Bd. 3, das Kapitel
      "Gefährdung und Gebietsverlust durch Abstimmung:
      Deutsch-Österreich und seine Grenzgebiete."

Deutsches Land: Das Buch von Volk und Heimat
Unter Mitarbeit von Schriftstellern aller deutschen Stämme
herausgegeben von Dr. Eugen Schmahl.
Mit einem Geleitwort von Dr. Hans Steinacher,
Reichsführer des Volksbundes für das Deutschtum im Ausland,
und mit einem Geleitschreiben von Hans Grimm.