II. Das Deutschtum in eigenen Staatsgebilden 2. Die deutsche Schweiz Auch die Schweiz gehört wie Holland zu den Gebieten, die ursprünglich Teile des Deutschen Reiches bildeten und erst durch die geschichtliche Entwicklung von ihm getrennt wurden. Anders aber als bei Holland ist bei der Schweiz die kulturelle Einheit mit Deutschland fast ungestört erhalten geblieben; diese Erhaltung der kulturellen Beziehungen war in erster Linie eine Sprachenfrage. Holland hat seinen Dialekt zur Schriftsprache erhoben und damit eine hemmende Scheidewand zum Kulturleben der hochdeutsch redenden Länder gezogen; die Schweiz dagegen hielt, unbeschadet der großen Rolle, die der Dialekt im Volksleben spielt, am Hochdeutschen als Schriftsprache fest und ermöglichte damit ein Nehmen und Geben auf kulturellem Gebiet, das für beide Teile von höchster und fruchtbarster Bedeutung geworden ist. Die geschichtliche Entwicklung des schweizerischen Staatswesens hat dazu geführt, daß dieses heute in seinen Grenzen vier Nationalitäten umschließt: neben den Deutschschweizern Franzosen in der Westschweiz, Italiener im Tessin, Rätoromanen in Graubünden. Nach der Volkszählung von 1920 gestaltete sich die nationale Zusammensetzung der Schweiz folgendermaßen:
[22] Die Deutschschweizer bilden also auch heute noch den überwiegenden Teil der schweizerischen Bevölkerung. Die deutsche Sprachgrenze gegenüber den anderen Nationalitäten steht in den Grundzügen bereits seit dem Mittelalter fest und hat seither nur unwesentliche Änderungen erfahren. Das überwiegend französische Sprachgebiet besteht aus den Kantonen Waadt, Neuenburg und Genf; stärkere deutsch-französische Mischung weisen Wallis und Freiburg (französische Mehrheit) und Bern (etwa 20% Franzosen im Westen des Kantons) auf. Überwiegend italienisch ist lediglich das Tessin; eine stärkere italienische Minderheit findet sich noch in den Kantonen Genf und Graubünden. Die Rätoromanen haben nirgends die Mehrheit; ihr ausschließliches Wohngebiet ist Graubünden, wo etwa 1/3 der Bevölkerung auf sie entfällt. Alle anderen Kantone sind rein deutsch; die in ihnen wohnhaften Menschen fremder Sprache sind ausschließlich spätere Zuwanderer, wie z. B. die Italiener, die auch im rein deutschsprachigen Gebiete als Erdarbeiter und in ähnlichen Tätigkeiten Beschäftigung finden. Die allmähliche Loslösung der Schweiz aus dem deutschen Staatsverbande beginnt im Spätmittelalter mit dem Absinken der alten Machtstellung des Kaisertums. Gegen die Adelsgeschlechter, die auch in der Schweiz, ähnlich wie im übrigen Deutschland, Hausmachtpolitik trieben und Territorialherrschaft zu begründen suchten - in der Schweiz begann die Entwicklung des Hauses Habsburg -, verteidigten die Städte und die Bauernschaft ihre alten Gerechtsame und ihre Freiheit; in dem Zusammenschluß der drei Kantone Uri, Schwyz und Unterwalden wurde der Grundstein zur Eidgenossenschaft gelegt, die bereits zu Anfang des 16. Jahrhunderts im wesentlichen ihren heutigen Besitzstand erreicht hatte. So war auch die Schweiz Zwischenland zwischen Deutschland und dem französischen Lebenskreis geworden; aber vor dem Schicksal des Elsaß und Lothringens bewahrte sie ihre politische Geschlossenheit, ihre daraus hervorgehende größere Eigenkraft und die Streitbarkeit ihrer Bauern und Bürger. Die Entscheidung fiel in dem Kriege mit dem Herzogtum Burgund in den Jahren 1474 bis 1476. Bald darauf gewann die Schweiz ihre völlige tatsächliche Unabhängigkeit gegenüber dem Deutschen Reiche, die im Westfälischen Frieden 1648 auch formell bestätigt wurde. [23] Diese Trennung vom Deutschen Reiche ist für die politische Struktur der Schweiz bis zur Gegenwart von entscheidender Bedeutung geworden. Es wäre deshalb auch ganz falsch, wenn man die Schweizer etwa als "Auslanddeutsche" bezeichnen wollte; sie sind Menschen deutschen Stammes, die sich ihr eigenes staatliches Gebäude geschaffen haben, die sich darin wohlfühlen und von denen wohl kaum einer auch nur einen Augenblick den Gedanken einer Aufgabe der staatlichen Selbständigkeit zugunsten eines Anschlusses an das Deutsche Reich erwägen würde. Im Gegenteil muß man feststellen, daß auch in vielen deutschschweizerischen Kreisen die politische Einstellung geradezu deutschfeindlich ist; führende deutschsprachige Zeitungen gehören so politisch durchaus zur französischen Einflußsphäre. Trotzdem bedeutet die Schweiz ein wertvolles Aktivum des deutschen Volkstums, und zwar deshalb, weil die Trennung in politischer Hinsicht nicht die völkische Gemeinsamkeit hat aufheben können. Der Schweizerdeutsche fühlt sich kulturell wirklich als Deutscher, wenn auch das Gefühl der schweizerischen Sonderart stark ist und bewußt gepflegt wird. Im gehobenen Bürgertum der Schweiz ist sicherlich der Wille zur deutschen Kulturgemeinschaft stärker als in der gleichen Schicht Elsaß-Lothringens, obwohl es der Schweizer im allgemeinen nicht liebt, dieses Zusammengehörigkeitsgefühl besonders zu betonen. Aber in den höchsten Leistungen des Kulturlebens gibt es keine politischen Grenzen, und die Deutschen der Schweiz sind hier keineswegs nur Nehmende, sondern in hohem Maße auch Gebende. Ihre Größen: Gottfried Keller, Conrad Ferdinand Meyer, Carl Spitteler in der Dichtung, Hodler in der Malerei, sind ebensosehr Besitztum des ganzen deutschen Volkes geworden, wie Goethe und Schiller, der im "Wilhelm Tell" den Freiheitssinn der Schweizer leidenschaftlich verherrlicht, Besitztum der Schweizerdeutschen sind. So ist also die Eigenheit der deutschen Schweiz darin be- [24] gründet, daß sie stammlich und kulturell uneingeschränkt dem Deutschtum zuzurechnen ist, politisch aber ihrer Sonderart und Eigenstaatlichkeit stets in sehr entschiedener Weise betont. Das zeigt sich auch deutlich an den Auslandschweizern. Das kleine Land, dessen eigene Landwirtschaft es längst nicht mehr allein ausreichend zu versorgen vermag, hat nicht nur in seinen eigenen Grenzen eine ausgedehnte und leistungsfähige Exportindustrie entwickelt, sondern daneben auch immer eine ziemlich beträchtliche Auswanderung gehabt, die überwiegend aus den deutschsprachigen Landesteilen kam. So finden sich heute in vielen europäischen und außereuropäischen Ländern größere oder kleinere schweizerdeutsche Kolonien;1 und diese fühlen sich auch im Ausland eben in erster Linie als Schweizer, bilden eigene Vereine und finden sich mit den Reichsdeutschen im Auslande im allgemeinen nur dort in engerer Fühlung zusammen, wo eine solche durch die Kleinheit der Kolonie geboten ist. Umgekehrt bilden auch die zahlreich in der Schweiz lebenden Reichsdeutschen eine von den Deutschschweizern nicht nur durch ihre Staatsangehörigkeit geschiedene Gruppe. Ihre Zahl ist nicht ganz klein, im Jahre 1920 wurden 149 833 Reichsdeutsche gezählt, die 37% aller in der Schweiz ansässigen Ausländer ausmachten. Es sind selbständige Kaufleute und Gewerbetreibende, Ingenieure und Facharbeiter in der Industrie, kaufmännische und technische Angestellte, weibliche Hausangestellte; auch Studenten und Hochschullehrer der schweizerischen Hochschulen spielen eine gewisse Rolle.
Die Behandlung der Schweiz wäre in diesem Zusammenhang nicht
vollständig, wenn nicht auch darauf hingewiesen würde, daß
die Schweiz es als bisher einziger europäischer Staat verstanden hat, die
Frage des Zusammenlebens mehrerer Völker in einem Staate befriedigend
zu lösen. Die Deutschen [25] haben in der Schweiz eine viel
größere Mehrheit als etwa die Tschechen oder die Polen in ihren
Staaten; aber während in diesen die Klagen der unterdrückten und
vergewaltigten Minderheiten nicht abreißen, gibt es in der Schweiz kein
"Minderheitenproblem" der französischen und italienischen Landesteile.
Die entscheidende Ursache dieses friedlichen Zusammenlebens der
Angehörigen von vier Völkern ist die außerordentliche
Duldsamkeit, die die Deutschschweizer als Mehrheitsvolk ihren anderssprachigen
Mitbürgern gegenüber an den Tag legen. Alle drei Landessprachen
sind in der Verwaltung gleichberechtigt; das entscheidende Problem aller national
gemischten Staaten, die Schulfrage, ist der Sphäre des nationalen Kampfes
dadurch entrückt, daß über das Schulwesen nicht der Bund,
sondern die einzelnen Kantone bestimmen, die zu etwa 80% einsprachig sind, und
daß auch innerhalb der Kantone den Gemeinden weitgehende Freiheit in
allen Schulangelegenheiten gelassen wird. Dieses Prinzip der Dezentralisation
zusammen mit dem völligen Fehlen jeder Entnationalisierungsabsichten
gegenüber den anderssprachigen Staatsbürgern beim Mehrheitsvolk
hat die Schweiz zum Musterland nationalkultureller Duldung gemacht. Die
Schweiz hätte damit das Vorbild abgeben können für die
Minderheitenpolitik der in Ost- und Südosteuropa nach dem Kriege
neuentstandenen Staaten. Daß sie diesem Vorbild nicht gefolgt sind,
sondern es vorgezogen haben, ihren völkischen Minderheiten
gegenüber eine Politik scharfer Entnationalisierung zu betreiben, hat das
Minderheitenproblem zu jenem weltpolitischen Gefahrenherd gemacht, dessen
Auswirkungen wir in vielen Einzelheiten noch kennenlernen werden. "Eine
höhere Schweiz" wollte die Tschechoslowakei bei ihrer Begründung
werden; sie ist es nicht geworden, sie hat das selbstaufgestellte Vorbild nicht
entfernt zu erreichen vermocht, weil an die Stelle der traditionellen Toleranz der
Schweizerdeutschen der nationale Chauvinismus des Tschechentums getreten ist.
Und was für die Tschechoslowakei gilt, das [26] gilt ebenso für Polen und Litauen,
für Südslawien und
Rumänien - gilt auch für Italien und Frankreich. Die
Führer der Minderheiten in diesen Ländern werden immer wieder
darauf hinzuweisen haben, daß durch die nationalen Verhältnisse der
Schweiz der Beweis dafür geführt worden ist, daß ein
friedliches Zusammenleben verschiedener Nationalitäten im gleichen
staatliche Raume möglich ist.2
2Vgl. dazu den Aufsatz von Dr. Karl C.
von Loesch, "Die Schweiz als Musterland," in Deutsche Rundschau,
Jahrg. 53, 1926, Oktoberheft,
S. 90 - 98. ...zurück...
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