Willy Andreas
Einzelschriften zur Politik und Geschichte, Hg. Dr. Hans Roeseler. Heft 25.
Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte m.b.H., Berlin © 1927. [1] Über diesen Gegenstand habe ich Ende Januar im Rahmen einer Heidelberger Vortragsfolge zur staatsbürgerlichen Erziehung über Grenzlanddeutschtum gesprochen und im Februar meine Gedankengänge in zwei Rundfunkvorträgen der "Deutschen Welle" (Berlin) in anderer Form wiederholt. An dem folgenden Abdruck meiner Heidelberger Rede habe ich inhaltlich und formal kaum etwas geändert; der Eindruck des lebendigen, gesprochenen Wortes, das politisch wirken möchte, soll möglichst gewahrt bleiben. Zur näheren Unterrichtung des Lesers füge ich nur einige Literaturangaben und kritische Winke in Gestalt weniger Anmerkungen hinzu. Es wird leider heute mit dem Begriff und Wort "großdeutsch" auch mancher Unfug getrieben. Dabei ist verschwommener Dilettantismus noch das geringere Übel, engstirnige Gehässigkeit aber, die sich darin auslebt, gerade unter nationalen Zukunftsgesichtspunkten bedenklich und zerstörend. Ich habe bei aller Liebe für Österreich geistig und politisch mit dem Gemisch von Preußenfeindschaft, Bismarckhaß, schwarzgelbem Legitimismus, Welfentum, Partikularismus, übernationalem, klerikal angehauchtem "Föderalismus", wie es uns neuerdings als großdeutsch aufgetischt wird, nicht das geringste zu tun. Wie ich historisch über den tragischen Entwicklungsgang der Beziehungen Deutschlands zum alten und neuen Österreich denke, habe ich in meiner Heidelberger Reichsgründungsrede vom 18. Januar 1924 ausgesprochen und literarisch in meiner Schrift Die Wandlungen des großdeutschen Gedankens (Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart) niedergelegt. Habe ich dort die Anschlußfrage bis an die Schwelle des Jahres 1924 hin historisch behandelt, so möchte ich nun mit dieser neuen Studie das Problem mehr vom gegenwarts- und zukunftspolitischen Standpunkt aus erörtern. Insofern stellt meine Rede die organische Fortsetzung jener eben genannten Schrift dar. Ich ziele darin vornehmlich auf die Fragen ab, die sich an das Verhältnis vom Reich und Österreich und dessen auf die Dauer unhaltbare Lage anknüpfen und scheide zunächst einmal die internationale Seite des Problems aus. – Wie sich die Anschlußfrage [2] vom europäischen Standpunkt und von seiten der einzelnen Großmächte wie der Nachfolge- und Nachbarstaaten Österreichs ausnimmt, mit welchen Stimmungen und Gegenkräften zu rechnen wäre, welche Belastungen die Erfüllung dieser nationalen Forderung übrigens auch uns brächte, behalte ich mir vor, einmal in besonderem, geschlossenem Zusammenhang eigens darzustellen. Ohnehin wird sich der Leser der folgenden Seiten nicht der Erkenntnis verschließen, daß schon der nationalpolitische Fragenkomplex, d. h. der Anschluß als deutsch-österreichische Angelegenheit für sich betrachtet, eine Fülle von Problematik enthält.
Eine Frage der Gegenwart und der Zukunft ist es, für die ich mir Ihre Aufmerksamkeit erbitte. Aber wenn es eine Angelegenheit der Nation gibt, die mit Schicksalsgewalt aus der Vergangenheit herauswächst und mit den Zungen von Jahrhunderten zu uns redet, so ist es diese: rührt sie doch an die tiefste Tragik unseres eignen Erlebens! Alle Umwege, die wir machen müssen, um ein Staatsvolk zu werden, treten schmerzhaft in unser Bewußtsein, wenn wir uns vergegenwärtigen: Österreich, das einst im Heiligen Römischen Reich die Führung gehabt und für unser Vaterland bedeutende Aufgaben im Osten und Westen erfüllt hat, von der Türken-Abwehr und dem gemeinsamen Kampfe gegen das Frankreich Napoleons bis zum Weltkrieg, dieses Österreich ist heute durch Gewaltspruch von uns getrennt. Dabei ist es doch nicht mehr das alte, auf dynastischer Grundlage geeinte bunte Völkerreich der Habsburgischen Monarchie, sondern ein rein deutsches Gebilde und ein Volksstaat, der dem Wettbewerb der Fürstenhäuser entzogen ist. Jenes ältere Österreich-Ungarn mußte seiner ganzen inneren Struktur nach, je leidenschaftlicher die neuzeitlichen nationalen Geistesmächte für ihren politischen Tatendrang Raum begehrten, mehr und mehr aus Deutschland und der Vertretung seiner Gesamtheit herauswachsen. Es konnte vom Standpunkt der nationalen Forderung nicht mehr ganz genügen, so wie ja auch die emporstrebenden fremden Völkerschaften in diesem Verband keine volle Erfüllung ihres Lebensanspruches mehr fanden, sondern zu eigener Staatsgründung hindrängten. Ihnen hat man nach dem Zusammenbruch der Mittelmächte das Recht der Selbstbestimmung gewährt, uns und den Brüdern im Südosten hat man es versagt. Messen wir aber die Zeit der Trennung, vom Untergang des Deutschen Bundes (1866) bis heute, wie klein ist doch diese Spanne, wenn auf der anderen Seite Jahrhunderte staatlicher und kultureller Gemeinschaft in die Wagschale fallen! Der großdeutsche Gedanke unserer Tage, selber das Ergebnis einer vollkommen verwandelten Lage, kann sich doch auf eine stattliche Ahnenreihe und edelste Vorläuferschaft berufen. Sie reicht von dem großen Patrioten und Staatsmann der Befreiungskriege, dem Freiherrn vom Stein, über Uhland, der in der Paulskirche für ihn seine Stimme erhob, zu den Tausenden, die ihre Sehnsucht nach [3] einem Größeren Deutschland und ihren Schmerz über das Ausscheiden der Österreicher in die Bismarcksche Reichsgründung mit hinübertrugen. Wollte ich vollends in meinen Betrachtungen die Gemeinschaft der Kultur ausschöpfen, die uns geistig mit jenem Deutschtum jenseits der Grenzpfähle verbindet, wie fände ich ein Ende! Denn welche Fülle der Erscheinungen tut sich gerade da vor unseren Augen auf! Von der herben Blüte der Gothik, in der alpenländische Kraft mit der Anmut der Donaulandschaften sich in Tausenden von Werken ausgelebt hat, bis zu den berauschenden Wundern des kirchlichen und weltlichen Barock! Gewiß, die Barock-Kunst kam vom romanischen Süden her und überflutete den ganzen Erdteil; aber so international ihre Formensprache und ihre Verbreitung war, man spürt doch gerade den eigenen Ausdruck der großen österreichischen Meister, der Lukas Hildebrandt, Prandtauer und Fischer von Erlach als etwas Vertrautes, fast Heimatliches und unsere besondere deutsche Prägung heraus, so wie ja auch in der Wiener Malerei des Biedermeier, ihrer seelenvollen Eindringlichkeit alle Stimmen deutscher Sehnsucht und Weltinnigkeit anklingen. Ich beschwöre nicht die Schatten unserer österreichischen Dichter herauf, die aus den Tiefen unseres gemeinsamen Volkstums heraus schufen. Wie oft haben sie – Anastasius Grün und Grillparzer voran – mit unseren politischen Schicksalen gerungen, unter ihnen gelitten, angeklagt und gemahnt! Und ich brauche nicht an die Reihe der großen Musiker zu erinnern, von Haydn, Mozart und Schubert bis zu Bruckner und den Jüngsten hin; denn mit aller Wärme und allem Wohllaut des deutschen Südens haben sie uns seit unserer Kindheit überströmt! Wir leben ganz in ihnen, sie gehören zu unserem Teuersten; es kann uns auch durch die politische Zerreißung unseres Vaterlandes nie geraubt werden. Ging nicht der Strom der Anregungen und der wechselseitigen Befruchtungen in alledem herüber und hinüber? Es ist doch wohl kein Zufall, daß Beethoven, der vom Niederrhein kam und allen faustischen Leidenschaften unseres Wesens in der Musik gewaltigeren Ausdruck verliehen hat als irgendeiner, Österreich zur Heimat werden konnte, wenn dieser einsame Genius, da er der ganzen Welt gehört, überhaupt eine Heimat hat. Johannes Brahms aber, der Hamburger, mit seiner niederdeutsch verhaltenen Kunst, er konnte in Wien, der sinnlichsten, anmutigsten und bezauberndsten aller Städte, Fuß fassen und sich zu Hause fühlen. Und aus den Liedern Hugo Wolfs, des Steiermärkers, fluten uns Leid und Seligkeit unserer geliebtesten Dichter entgegen. Unschätzbar und beglückend ist das alles. Aber alle Mächte der Vergangenheit können uns das eigene Wollen nicht ersetzen, und schon gar nicht vermag die Besinnung auf sie und die fortwirkende seelische Gemeinschaft das Unrecht der gewaltsamen Abtrennung Österreichs auszulöschen. Auch über die Bedrohtheit unseres Deutschtums, ja seiner ganzen Lebensentfaltung dort an den Grenzen unseres Kulturbereiches können sie uns nicht hinwegtäuschen! Machen wir uns klar: einem schaffensfreudigen stolzen Geschlecht darf geschichtliche Betrachtung nie zum [4] Ruhepolster werden! Es gilt, wenn wir uns noch nicht überaltert fühlen, sich dem Reigen der Generationen einzuordnen, die das lebendige Schicksal der Nation wirken. Auch von uns wird gefordert, am geheimnisvollen Stufengang ihrer Entwicklung weiterzuarbeiten und damit über unser Sterbliches und Zeitbedingtes hinauszustreben. Der Zusammenschluß mit Österreich ist etwas, in dem Vergangenheit und Zukunft sich über die Not der Gegenwart hinweg verbinden. Fast möchte man sagen: Wohl dem Volke, das bei aller Zerklüftung durch Parteigegensätze, durch Klassenhaß und Weltanschauungskämpfe ein solches Ziel hat, das den Widerstreit aller Art in einer höheren Gemeinsamkeit zu überwölben vermag. Wohl denen, die überhaupt noch etwas vor sich sehen und den Mut haben, zu wollen! Wir sind noch nicht am Ende: wir fühlen es trotz allen Drucks und trotz aller Einschnürung unseres Daseins, jeden Tag mit wachsender Stärke, daß wir die Tore unseres Gefängnisses einstmals sprengen werden. Auch die Anschlußforderung ist in den letzten Jahren lebhafter ins Bewußtsein der Öffentlichkeit übergegangen und die Zahl ihrer Anhänger ist gewachsen. Indessen nicht im gleichen Maße hat die Auflockerung der allgemeinen Weltlage Schritt gehalten. In etwas hat sie sich namentlich durch Deutschlands Eintritt in den Völkerbund gebessert, auch im Sinne unserer großdeutschen Zukunft, so kühl man dieses Plus buchen wird. Der englische Abgeordnete Kennworthy hat sogar ausgesprochen, daß von diesem Zeitpunkt an der Anschluß die große öffentliche Frage Europas werden würde, und in seiner Verwirklichung sieht er den Auftakt für eine Gesundung Europas. Auch der frühere amerikanische Staatssekretär Lansing ist dafür. Überhaupt lassen sich aus der angelsächsischen Welt neuerdings mehr anschlußfreundliche Stimmen vernehmen. Ihnen freilich steht anderwärts, namentlich im Italien Mussolinis, verschärfte Gegnerschaft gegenüber.1 In Frankreich und der Gefolgschaft seiner mittelstaatlichen Bundesgenossen ist die Stimmung noch ganz verhärtet. Hier macht man daraus nur eine Angelegenheit der deutschen Annexionslust. Daß die Vereinigung mit Österreich auch bei günstigeren Weltverhältnissen für uns, die wir noch so viele Fesseln aller Art tragen, auch eine erhebliche Belastung bedeuten würde, darf nicht verschwiegen werden. Nach dem gegenwärtigen Stand wenigstens unserer Beziehungen, die sich freilich wandeln können, würde mit Gegnerschaften der Zukunft zu rechnen sein. Zu den alten Gefahrenzonen unseres vielbedrohten Reiches der Mitte können neue hinzutreten. Ich versage es mir, diese Problematik, die von der Seite der Außenpolitik her über dem Zusammenschluß lagert, heute genauer zu ver- [5] folgen. Es wäre Gegenstand einer eigenen, weit ausgreifenden Betrachtung, die österreichische Frage im Hinblick auf die Stellung unserer Nachbarn und der einzelnen Nachfolgestaaten der Donaumonarchie zu untersuchen. Die eigentümliche Verquickung des Problems mit der Tatsache des unterdrückten Sudetendeutschtums in der Tschechoslowakei und mit dem Vernichtungskampf der Italiener gegen ihre deutschen Staatsbürger in Südtirol steht auf einem besonderen Blatt. Vom Anschluß sprechen heißt nun einmal, alle Tragik unseres Auslandsdeutschtums und den Zwiespalt zwischen Staat und Volksgemeinschaft aufrühren, heißt so vieler anderer historischer Zusammenhänge sich erinnern, deren Zerreißung eine Folge des österreichischen Schicksals war. Der Anschluß gehört eben hinein in den allgemeinen Bereich der ungelösten nationalen Selbstbestimmungsfragen und verknüpft sich seinerseits mit der Verstümmelung des Minoritätenschutzes und der Unterdrückung deutscher Kultur im Ausland. Damit ragt er zugleich in die großen geistigen Entscheidungen hinein, vor die Europa gestellt ist: Kampf oder Befriedung der Nationalitäten, anders gewendet: Krieg im Frieden oder wahrer Völkerbund, Beseitigung der nationalen Brand- und Vergiftungsherde oder weitere Zersetzung der europäischen Kulturgemeinschaft, Sieg der Weltvernunft und des Rechts oder Triumph der Gewalt und völkerzerreißende Anarchie, letzten Endes sogar Erhaltung oder Untergang des Erdteils! Für uns Reichsdeutsche aber ordnet sich diese nationale Angelegenheit ein in den gesamten politischen Fragenbereich, der heute und künftig uns umdrängt. Ganz allgemein gesprochen heißt es da: welche der zahlreichen Unerfülltheiten unserer Nationalforderungen sind uns nach Ziel und Weg die nächstliegenden? Und im engsten Zusammenhang damit: sollen wir unsere politischen Sicherungen in erster Linie mehr nach Osten oder nach Westen anlegen? Welche internationalen Zukunftsverbindungen und welche Machtverlagerungen setzt das Gelingen des Anschlusses voraus? Möglicherweise aber auch: welche ist er imstande zu eröffnen? Noch gar nicht zu beantworten die Grundfrage, ob uns gesetzliche und friedliche Entwicklung dem Ziele näherbringen wird, oder ob katastrophale Erschütterungen allgemeiner Art, der Ausbruch etwa kriegerischer Verwicklungen inmitten einer an Zündstoffen überreichen Welt, die Gelegenheit gibt, unsere nationalen Rechtsansprüche ohne größeres Wagnis zu erfüllen. Die Unsicherheit, ob und wie weit der Locarnopakt sich als trag- und erweiterungsfähige Grundlage des europäischen Lebens erweisen wird, spielt in dies alles hinein. Desgleichen könnte man Erörterungen darüber anstellen, ob der Anschluß geradezu unerläßliche Bedingung und Vorstufe Vereinigter Staaten Europas in dieser oder jener Gestalt sein würde.2 [6] Von allen diesen und ähnlichen Erwägungen wären im Augenblick vielleicht geistige Klärungen, aber keine sicheren und greifbaren Ergebnisse zu erwarten. Ich sehe von dieser vielfältigen Problematik ab, so weit sie sich im außenpolitischen Felde auftürmt. Aber schon diesen flüchtigen Andeutungen ist zu entnehmen: die Vereinigung Österreichs mit Deutschland in dieser oder jener Form ist ein Stück der zukünftigen Gestaltung Europas; schon deshalb kann niemand der Stellung für oder wider ausweichen. Indessen, auch bei engerer Fassung des Problems, nämlich wenn man es lediglich von den Nächstbeteiligten aus, von uns und Österreich ansieht, stürmt gleichfalls eine nicht geringe Zahl von Fragen, Schwierigkeiten und Sorgen auf uns ein. Geben wir uns heute Rechenschaft darüber, so entspricht das nur der Verpflichtung, ihnen klar und nüchtern ins Auge zu sehen, um sie eines Tages um so sicherer überwinden zu können! Und wenn man mitunter sich versucht fühlt, den Advokaten des Teufels zu spielen, so doch nur aus der Überzeugung heraus, daß es mit der Zielweisung und der Begeisterung, daß es mit wohlgemeinten Kundgebungen und Erklärungen des Anschlußwillens allein nicht getan ist. Wir brauchen sie gewiß; denn nichts Großes in der Welt wird ohne Leidenschaft getan, und gerade wir Deutschen bedürfen ihrer, schon um träge und gedankenfaule Staatsbürger aufzurütteln und an ihre nationalen Verpflichtungen zu mahnen. Wir können dieser Gefühle und ihrer beflügelnden Kraft nicht entraten und müssen wünschen, daß sie die Massen ergreifen. Aber die Wirklichkeitsnähe darf uns darüber nicht verloren gehen, und die vorhandenen vielverschlungenen Schwierigkeiten verlangen von uns, daß wir sie rückhaltlos erfassen, weil wir erst nach ihrer geistigen Verarbeitung vermögen, sie zu meistern und die Wege zu finden, die den Anschluß verwirklichen oder zum Mindesten vorbereiten helfen.
Der Friede von St. Germain aber hat von zehn Millionen Deutsch- [7] Österreichern vier Millionen aus geschlossener Siedelung herausgerissen und der Herrschaft fremder Völker, der Italiener, Tschechen, Jugoslawen unterworfen. Und nicht allein das! Durch sein Diktat und den Versailler Gewaltspruch wurde das verstümmelte, unter alten und neuen Lasten zusammenbrechende, dies verarmte und ausgesogene "Vertragsösterreich" um sein nationales Selbstbestimmungsrecht gebracht, nachdem Wilson und seine Verbündeten es wie ein Evangelium in die Welt hinausgerufen hatten.3 Es durfte sich nicht einmal mehr Deutschösterreich nennen, und die Vereinigung der österreichischen Republik mit Deutschland wurde von solchen Voraussetzungen abhängig gemacht, daß sie, so wie die Siegerstaaten damals gesonnen waren, einem glatten Verbot gleichkamen. In gleicher Weise zwang man unser Reich, die sogenannte Unabhängigkeit Österreichs unbedingt zu achten, ja, als unwiderruflich sie anzuerkennen, es sei denn, daß der Rat des Völkerbundes einer Abänderung zustimme. Die Rechtslage – wenn man angesichts der vorausgegangenen Vergewaltigung von einer solchen sprechen kann – ist folgende: es steht dem Völkerbund frei, falls er etwa den Frieden Europas durch vorhandene Tatsachen gefährdet glaubt, eines Tages die Nachprüfung der Verträge zugunsten des Anschlusses vorzunehmen. Die weitere Voraussetzung wäre die, daß Österreich selber sie verlangt und seinerseits also den Anstoß dazu gibt. Hier geht ein Hoffnungsschimmer auf: denn bei günstigerer Kräftelagerung könnte sich einmal die Mitgliedschaft Deutschlands am Völkerbund auch in solcher Hinsicht vorteilhaft für uns auswirken. Dazu kommen muß freilich, daß die Anschlußstimmung in Österreich zur fortreißenden Volksbewegung anschwelle. Das Genfer Sanierungswerk, die nächste Stufe im österreichischen Leidens- und Entwicklungsgang nach St. Germain und den furchtbaren ersten Zerrüttungsjahren, hat die anschlußfeindlichen Neigungen keineswegs gestärkt; es hat ihnen und ihren ausländischen Gönnern nicht so viel Wasser auf die Mühle geleitet, wie sie wohl gehofft und manche unter uns gefürchtet haben. Klar liegt das heute schon zutage! Die Genfer Aktion bot Aushilfen, die das künstlich zurechtgeschnittene, aus eigener Kraft lebensuntaugliche Staatsgebilde vor dem [8] unentrinnbaren Versinken ins Chaos zu retten hatte. Es wurde damit auch von den Siegern das unfreiwillige Geständnis abgelegt, daß der zerstörenden Wirkung jenes Gewaltfriedens durch stützende Übergangsmaßnahmen begegnet werden müsse, um der unmittelbar drohenden Katastrophe innerer Auflösung vorzubeugen. Das Hilfswerk4 hatte von vornherein seine Schattenseiten, aber es war im einzelnen und im Ganzen nicht ohne Verdienst, insofern man überhaupt wieder Boden unter die Füße bekam. Mit der Völkerbundanleihe, der Aufrichtung einer festen Währung, mit Wiederaufbaugesetz, Ordnung des Staatshaushaltes und Ausgleichung des Budgets, mit tief einschneidenden Spar- und Abbaumaßnahmen, die freilich ganze Bevölkerungsgruppen in graues Elend stürzten, mit allen diesen Vorkehrungen hat man das zusammenbrechende Gemeinwesen wieder auf die Beine gestellt; ein erstes Atemholen und Kräftesammeln, geordnetere und etwas bessere Lebensbedingungen wurden ihm dadurch vergönnt. Es war eine Stützung und doch, wie sich immer deutlicher nun zeigte, keine Rettung. Schon gar nicht war das Werk imstande, das verwundete Nationalgefühl durch Zuwendung wirtschaftlicher Augenblicksvorteile zu beschwichtigen. Das Bewußtsein, Finanzkolonie und Ausbeutungsobjekt des Weltkapitalismus geworden zu sein, war tief verletzend. Daß man unter auswärtiger Vormundschaft und fremder Aufsicht, in förmlicher politischer Hörigkeit leben müsse, ließ einen Stachel zurück, und die Behandlung abwechselnd mit Zuckerbrot und Peitsche hat keinen aufrechten Österreicher gewinnen können. Vor allem aber blieb es nicht verborgen, daß die ganze Krisis keineswegs bloß auf eine Zerrüttung der Finanzen zurückging, der man aufhelfen konnte; sie saß tiefer, im unhaltbaren Wesen dieses schlecht gezimmerten Staates selber. Man hatte Symptome behandelt, nicht die Krankheit. Sogar die Siegerstaaten werden, nachdem allmählich auch sie die Folgen ihrer überspannten Friedensverträge zu spüren bekommen, nüchternerweise fragen müssen, ob sie ihre Mittel immer wieder in Zukunft aufwenden können, einmal begangene Fehler des Gewaltfriedens erneut zu verschleiern und Tatsachen zu widerlegen, gegen die doch auf die Dauer bloß durch Beschwichtigungsmittel nicht anzukämpfen ist. Das Genfer Hilfswerk hat den Nachweis der wirtschaftlichen Lebensfähigkeit Österreichs nicht geliefert, im Gegenteil: nachdem die trügenden Schleier der Inflation zerrissen und die Scheinprosperitäten rasch verwelkt sind, liegt die Problematik der österreichischen Situation im grausamen Lichte des Tages vor uns. Zahlreiche wirtschaftliche Niederbruchserscheinungen und Blutstockungen aller Art zeigen, wie es in Wahrheit steht. Sogar die Experten des Völkerbundes, die man (1925) ans Bett des Kranken rief, konnten der beunruhigten Familie keine befriedigende [9] und trostreiche Diagnose stellen.5 Die Bejahung der Lebensfähigkeit Österreichs, die sie in ihrem Gutachten aussprechen, klingt wenig zuversichtlich; ihre Ausführungen sind im einzelnen vielfach anfechtbar und umstritten, sei es, daß sie auf falschen und täuschenden Voraussetzungen ruhen oder unberechtigte Folgerungen ziehen. Die Experten sehen sich überdies gezwungen, unter der Hand selber so manche Fragezeichen anzubringen, und ihre Erwägungen sind von beklommenen Vorbehalten begleitet. Kurz, es geht keine schlagende Überzeugungskraft von ihrem Gutachten aus; auch in diesem Lager weiß man keinen Rat im Großen, und die kleinen Mittel, die man empfiehlt, vermögen die Wucht entgegenstehender Grundtatsachen weder zu verschleiern noch aus der Welt zu schaffen. So stark die in Genf geschaffenen Abhängigkeiten in der seelischen Verfassung Seipels und den politischen Bestrebungen seiner Freunde weiterwirken, wächst doch allenthalben und sogar da, wo man früher den Einflüsterungen der Siegermächte und des ausländischen Großkapitals ein geneigtes Ohr geliehen, die Erkenntnis, daß Österreich in seiner heutigen Gestalt – als Staat auf Kündigung – nicht leben kann ohne Rückhalt an Deutschland. Und auch die Hoffnungen auf eine Donaukonförderation haben sich mehr und mehr zu blassen Vorschlägen zoll- und handelspolitischer Annäherung verflüchtigt, zumal gerade die tschechische Regierung bei allen Wirtschaftsverhandlungen dem schwachen Österreich gern die Knute zeigt. Indessen hat man es bald überall satt, nur Drehscheibe im Spiel auswärtiger Mächte zu sein.
Glücklicherweise pulsieren in vielen Bevölkerungskreisen andere Gefühle als in der Kanzlei des versteinernden parlamentarischen Parteiführertums.6 Gerade in der jüngsten Zeit hat die werbende Kraft des [11] Anschlußgedankens in wohldurchdachten organisatorischen Gründungen festere Gestalt gewonnen. Der Österreichisch-deutsche Volksbund7 umspannt Mitglieder aller Parteien und sucht in gleicher Weise wie der entsprechende Verein im Reich vornehmlich die Massen zu erfassen, während mehrere Arbeitsgemeinschaften in anderer Form die wechselseitigen Beziehungen durch sachliche und fachliche Aufklärung, durch Vorbereitungsdienst verschiedener Art innerhalb maßgebender und einflußreicher Kreise, nicht zuletzt in denen der Wirtschaft, pflegen und fördern. Soeben hat auch der Bund österreichischer Frauenvereine erklärt, der Anschluß entspreche dem nahezu einmütigen Willen aller österreichischen Frauen; tatsächlich sind sie auch bei den Massenkundgebungen stets in großer Zahl beteiligt. Überall, wohin man schaut, Leben und Bewegung! Die eigentlich großdeutsche Partei ist wohl zu unterscheiden von der ebenfalls anschlußfreundlichen völkischen Rechten. Diese leidet unter ähnlichen Spaltungen der Gruppen und Führerstreitigkeiten wie im Reich. Die großdeutsche Partei ist an Zahl nicht stark, aber sie ist dem nationalen Gedanken Zielweiserin und Hüterin. Die gebildete Oberschicht ist mit lebhaftem Anteil und bedeutenden Persönlichkeiten darin vertreten; sehr viele Lehrer der Hochschulen sind ihr zuzurechnen. Ihr Anschlußprogramm wirkt auch über ihre Mitgliederkreise hinaus, und da sie in der Regierung sitzt, fällt ihr die Aufgabe zu, ihre christlich-sozialen Bundesgenossen zu treiben und zu spornen, während sie andererseits ausgesprochen anschlußfeindliche Stimmungen zu dämpfen und offenes Widersachertum zu bremsen vermag. Indessen haben auch unter den Christlich-sozialen, der einen der beiden großen Massenparteien Österreichs, die Befürworter des Anschlusses in letzter Zeit Zuwachs erfahren. Offen und freudig bekennt sich eine Reihe ihrer Führer dazu, und aus dem Munde angesehener Landeshauptleute vernahmen wir oft genug und glücklicherweise eine andere Sprache als aus dem Seipels. In der katholischen Jugend unseres Reichs, die dem Anschlußgedanken anhängt, ist die Enttäuschung über Seipel nicht gering. Aber auch unter dem Nachwuchs seiner Partei in den Ländern gibt es heute schon kräftigere Naturen, die sowohl in der Anschlußfreundlichkeit über ihn hinausdrängen, als auch im Zeichen neuer Generationsstimmungen und größerer Volksnähe mancherlei, wie [12] es scheint, gegen das Vorwalten seiner politischen Einstellung auf dem Herzen haben.8 Es steht zu hoffen, daß sie ihrerseits diejenigen Teile des kleinen Bürgertums, die nun einmal, stumpf und versorgt wie sie sind, nicht über den Tag hinausdenken, zu sich hinüberzuziehen wissen. Natürlich gibt es auch viele Menschen, die von dem unwiederbringlich verlorenen alten Österreich gefühlsmäßig nicht ganz loskommen und, ohne es ernstlich zurückzuwünschen, doch nicht die Kraft haben, neue Notwendigkeiten klar zu ergreifen. Die Sozialdemokratie war von Anfang an zur engsten Verbindung mit dem Deutschen Reich entschlossen und ist sich darin treu geblieben. Es wäre ein Irrtum, anzunehmen, daß hierbei lediglich kluge Berechnung ausschlaggebend sei: das Bedürfnis ihrer Leiter nach stärkeren Machtverbindungen, nach den Vorteilen eines weiträumigen Industriestaates und einer entsprechend ausgebauten sozialen Gesetzgebung. Selbstverständlich sind solche Erwägungen mit im Spiele und die allgemeine wirtschaftliche Problematik Österreichs, die heute schon eine Reihe von Industriellenverbänden zu Befürwortern des Anschlusses macht, fällt auch für die mit ihrem Schicksal verbundene Lohnarbeiterklasse ins Gewicht. Es kommt hinzu, daß auch von dem internationalen Sozialismus den möglichst geschlossenen Volkseinheiten und Nationalstaaten [13] keine geringe Bedeutung im Sinne der Kulturträgerschaft zugesprochen wird. Nicht Auflösung, sondern Vereinigung der Nationen wollen auch die international gestimmten Kreise des Sozialismus, ganz abgesehen davon, daß er weltanschauungsmäßig jede Unterdrückung nicht nur von Personen und Klassen, sondern auch von Völkern verpönt. Ideale und reale Gesichtspunkte bestimmen somit die Haltung der Sozialdemokratie. Im übrigen ist es eine Freude zu sehen, wie volkstümlich das Anschlußprogramm gerade in den Massen der Arbeiter ist. Dieses eindeutige und klare Bekenntnis zum Selbstbestimmungsrecht der Völker möchte vielleicht auch für das Verhalten der sozialistischen Schwesterparteien in anderen Ländern nicht ganz ohne Einfluß bleiben, wenn einmal der Stein ins Rollen kommt. Indessen wird man gut tun, diesen Posten nach den Erfahrungen des Weltkrieges mit einiger Vorsicht anzusetzen. In der ländlichen Bevölkerung9 liegen die Dinge nicht ungünstig für die Aufnahme des Anschlußgedankens. Der Bauer empfindet, da er selber ein Stück Natur ist, zunächst einmal seine eigenen Wirtschaftssorgen am unmittelbarsten und dringendsten. So ist er doch wohl überall in der Welt. In erster Linie pflegt er an die Erhaltung des eigenen Daseins zu denken. Obwohl die Kaisertreue der Bauern in Österreich fast sprichwörtlich geworden war und Tausende in den deutschen Regimentern auf den Schlachtfeldern geblutet haben, haben sie mit einer Nüchternheit und einem Wirklichkeitssinn, der manche überraschte, ihre Umstellung auf die neuen Verhältnisse des Volksstaates vorgenommen, zumal er ihnen auch einige Entlastungen gebracht hat. Die vom Wiener Klerikalismus unabhängigen, selbstbewußteren Bauerngruppen des Landbundes sind sogar als sichere Anhänger des Anschlusses anzusehen, und ihre Offenheit in dieser Sache macht auch den christlich-sozialen Bauern in den Ländern Mut, sich zu dieser Gesinnung zu bekennen. Der Bauer versteift sich auch keineswegs etwa mehr als eine andere Schicht der Bevölkerung auf sein besonderes Österreichertum. Nach Lebensart, Geblüt, Siedelung, Arbeitsweise und Sitten ist er kernhaft deutsch wie der bayrische und schwäbische Bauer nahe seinen Grenzen und wie jener dem Boden verhaftet. Von seiner Seite sind schwerlich ernstere Gefühlshemmungen oder Widerstände gegen eine Verbindung mit dem Reich zu erwarten. Die Hauptsache ist es, im rechten Zeitpunkt ihn zu fassen, ihn über seine engeren Daseinsbedingungen hinauszuheben und mit fortzureißen. Schwarzgelb im Sinne des untergegangenen Österreich empfinden nur die Legitimisten; und da wohl überhaupt bei ihnen das Gefühlsmäßige eine starke Rolle spielt, mögen allerlei Verbitterungen und gereizte Empfindungen über den Verlust der eigenen Herrschaft und gesellschaftlichen Stellung im Spiel sein. Aber diese Kreise sind auf ein paar Häuflein zusammengeschmolzen; es fehlt an werbenden Führerpersönlichkeiten, an breiterer Anhängerschaft und festerer organisatori- [14] scher Durchbildung. "Abendliche Häuser"! möchte man beinahe sagen, niemand fürchtet sie. Als Stand hat der österreichische Adel ausgespielt, und die paar kosmopolitisch gestimmten Familien der Hocharistokratie, die noch auf Wiedererstehung von Dynastie und Reich hoffen mögen, bedeuten nichts. Übrigens sind die Anhänger der Monarchie im Ziel nicht einmal einig. Müßiges Spiel, sich nach Belieben einen Habsburger oder sächsischen Prinzen oder einen aus dem Hause Parma, einen Koburger oder Wittelsbacher auf den Thron zu denken, die übrigens in Österreich keineswegs so beliebt sind, wie es sich vielleicht in manchen Münchener Wunschträumen malt. Ein neues Geschlecht wächst auch in Österreich heran, für das der letzte Kaiser nicht viel mehr als ein Name ist. Und es liegen Anzeichen vor, daß einzelne Gruppen unter den Freunden der Monarchie sich gerade auch dem Anschlußgedanken nähern; im übrigen gilt für Österreich das gleiche wie für unser Reich: von allen denkbaren Staatsformen ist die Republik immer noch diejenige, die uns am wenigsten untereinander entzweit und trennt. Die Frage der Monarchie ernstlich aufwerfen, sei es hier oder dort, hieße den Anschlußgedanken unerträglichen Belastungsproben und allem überlebten Streit der Fürstenhäuser aussetzen. Die Wiederaufrichtung der Monarchie wäre das Grab der großdeutschen Idee! Die Dynastien gehören der Geschichte an, Deutschland lebe!
[16] Wir sind heute doch wahrhaftig nicht mehr blind gegen die Schattenseiten der kleindeutschen Entwicklung, gegen die Sprödheiten, Schärfen und Begrenztheiten des preußischen Führerstaates, gegen die seelischen Schäden, die Unterlassungssünden und Überheblichkeiten der vergangenen Jahrzehnte überhaupt. Und wir alle geben uns Rechenschaft über die Belastungen, die wir aus vielfältigen Ursachen und als Mißerbe eines unsäglich schweren, hemmungsreichen Geschichtsverlaufes mit uns herumtragen. Und doch: in all dem Kampf der Geister und im Strudel entgegengesetzter Anschauungen ist es beinahe ergreifend zu sehen, wie sehr gerade der Deutsche der Gegenwart in den verschiedensten Lagern sich um eigene Läuterung und Vervollkommnung irgendwie müht. Wir bilden uns nicht ein, daß die Welt gerade an unserem Wesen genesen müsse. Aber wir haben auch nicht die geringste Ursache, uns der reichsdeutschen Art zu schämen oder Eigenschaften zu verleugnen, die eben durch die Reichsgründung weitesten Spielraum und schwungvolle Entfaltung gewonnen haben, Eigenschaften der Kraft, des Vorwärtsdrängens, der Schaffenslust. Freudig erkennen wir auf der anderen Seite innerhalb des Deutschtums die reiche Mannigfaltigkeit all seiner Glieder, seines Stammestums und selbst seiner einzelstaatlichen Bildungen an, wo sie schöpferisch bleiben, nicht im Zwerghaften verdorren und hingebend dem Ganzen dienen. Das Österreichertum von heute ist ein Zweig am Baume des Deutschtums, ist eine seiner edelsten und reizvollsten Spielarten, und seine Erhaltung wünschen wir als eine Bereicherung für uns und die Welt. Dieses Österreichertum ist historisch gewachsen. Seine nach Osten und Süden weit vorgeschobene Lage, das jahrhundertelange Zusammenleben mit fremden Völkerschaften im gleichen Staatsverbande, starke Blutmischungen, die Regierungsweise der Habsburger und die Teilnahme der führenden Gesellschaftsschichten an einer weit über Europa hinreichenden Hohen Politik, die Abfärbung ihrer Lebenshaltung und ihres Gesellschaftsstils auf andere Kreise, kurz, Geschichte und Schicksal haben das Österreichertum geprägt, und wie jedes Stammes- und Volkstum ist auch dieses nicht frei von Widersprüchen. Jene besonderen Vorbedingungen und die Vergangenheit, sie wirken nach in der Aufgeschlossenheit für fremdes Seelenleben, in der österreichischen Höflichkeit des Herzens, in der eigenen Vielseitigkeit und weitherzigen Duldung des anderen. Von dorther kommt die Umgänglichkeit und diplomatische Begabung des Österreichers, aber auch die Lässigkeit, das Gehenlassen und die chronische Unzufriedenheit mit den eigenen Zuständen. Aus der Geschichte erklärt sich wiederum die starke Fähigkeit dieser genußfreudigen Menschen, Leiden und Nöte schweigend zu ertragen. Alle diese Merkmale und vieles andere, was sich schwer in ein paar Worte fassen läßt, reicht mit seinen Wurzeln in die Tiefen geschichtlichen Erlebens zurück. Österreich hat die sinnliche Fülle und Wärme des süddeutschen Wesens und hat sie doch in einer besonderen Note. Seine schöne Mensch- [17] lichkeit erscheint uns immer wieder und gerade in unserer seelenmordenden Zeit anziehend. Ja es hat, wenn man nach Österreich kommt, etwas Beglückendes zu sehen, wie viel davon auch in Zerstörung und Elend sich rein und unverfälscht bewahrt hat. Dabei umschließt das Österreichertum in sich selbst wieder einen wundervollen Reichtum landschaftlicher Sonderart, von den Waldungen Ober- und Niederösterreichs, die zauberhaft durch Stifters Dichtungen rauschen, von Salzburg und dem heiligen Land Tirol bis hinunter zur Steiermark, mit ihrer vielgeliebten Hügelstadt Graz und dem tapferen Kärnten. Denn lediglich durch seine Zähigkeit und Volkstreue hat Kärnten (1920) nach siebenmonatigem Freiheitskampf sich das Verbleiben bei Österreich und dem Deutschtum erzwungen. Welche gar nicht zu erschöpfende Mannigfaltigkeit! Und wie leicht wird sie vom flüchtigen Besucher der Hauptstadt, die wiederum etwas ganz besonderes für sich ist, vergessen. Wien selber aber will als ein Ganzes gefaßt und nicht mit Teilen seiner Bevölkerung, und schon gar nicht mit den wurzellosen Schichten der Zugewanderten verwechselt werden, die während der Kriegsjahre und nach dem Zusammenbruch aus dem Osten eingeströmt sind. Die Kärntnerstraße ist nicht Wien und die Hauptstadt des deutschen Österreich ist nicht mehr die des alten Völkerreiches. Sie hat einiges von ihrer Buntheit verloren; aber täusche ich mich nicht, so ist im Ganzen ihre nationale Einstellung und ihr deutsches Bewußtsein stärker geworden in den letzten Jahren. Wie stark empfindet der wetterharte und wortkarge Bewohner des Hochgebirges und der abgeschiedenen Alpentäler den Unterschied zwischen sich und den leichtblütigeren, geselligen Bewohnern der milderen Donauufer. Wie sehr entzieht sich der Gestaltenreichtum dieser deutschen Landschaften und Menschen der Benennung durch eine Formel. Wie falsch aber ist es darum auch, das Österreichertum auf den Typus des Barocken Menschen festlegen und verpflichten zu wollen, sein Deutschtum zu verflüchtigen, um es zu einem verschwommenen Europäertum zu erhöhen. Dieser Typus ist letzten Endes abgeleitet von der Aristokratie des alten Völkerstaates, aber ganz zu unrecht verallgemeinert, indem man den Lebensstil einer nur zu fernen Vergangenheit in eine sehr vernüchterte Gegenwart hineinträgt. Gewiß hat der Barock sich in Österreich aus ganz bestimmten Vorbedingungen heraus und zumal in Wien freudiger, schrankenloser und üppiger ausgelebt als in manchen Teilen des Heiligen Römischen Reiches. Aber wie viele andere deutsche Landschaften und Brennpunkte der damaligen höfischen und aristokratischen Gesellschaftskultur haben sich seiner ebenfalls erfreut, und wir genießen sie heute mit derselben Unbefangenheit, wie wir Salzburg, St. Florian und die Paläste Wiens schön finden, aber doch als etwas Vergangenes empfinden. Jene Preisgesänge auf den österreichischen Barockmenschen der Gegenwart, sie klingen wie Hohn auf all das Elend weiter Bevölkerungskreise; denn diese gedrückten Menschen sind wahrlich nicht bloß von der rauschenden Festlichkeit des barocken Lebensstils weit entfernt, sondern auch von den bescheidensten Lebensfreuden ausgeschlossen. Selbst der Adel ist längst nicht mehr seelisch bestimmt [18] von den herrlichen Bauten seiner Vorfahren, namentlich dann nicht, wenn sie verkauft sind oder Behörden darin hausen. Was soll uns dieser ganze falsche Aufputz? Damit ein paar Anempfinder sich in die Rolle des Grandseigneurs und des ausschließlichen Kulturmenschen hinaufsteigern und die Franzosen wieder einmal sagen können, dieses Österreich mit seiner Eigenart und seinem Europäertum sei doch in einer Donauföderation viel passender aufgehoben als im Reich und im Zusammenhang mit dessen minderwertiger Kultur. Und wenn der Katholizismus seinerseits am Wesen des Österreichers gewiß von der ästhetischen Seite her mitgeformt hat, wie es auch in so manchen anderen Teilen unseres Reiches der Fall ist, nie könnte man doch aus dieser Überlieferung und ihren seelisch kulturellen Nachwirkungen die Notwendigkeit der staatlichen Trennung und der Abspaltung vom übrigen Deutschland folgern. Das Deutschtum ist der Mutterboden der österreichischen Kultur und deutsch ist sie, von vereinzelten Erscheinungen der internationalen Aristokratie und gewissen Wiener Typen abgesehen, in Bauernschaft, Bürgertum und Arbeiterschaft geblieben.12 Wozu also das verantwortungslose Spiel mit dem, was Österreich früher war und niemals mehr werden kann? Gehen wir den Zusammenhängen auf den Grund: die Donaukonföderation, sie sollte, da der Deutsch-Österreicher in ihr nicht leben könnte, durch das Gerede vom sogenannten österreichischen Barockmenschen einladender gemacht werden. Aber sie wäre nur die Wiederaufnahme älterer, zerrissener Verbindungen, und liefe zudem auf eine schwächere Auflage des zertrümmerten Habsburgerreiches hinaus; sie wäre überdies weniger sinnreich und weniger lebenstauglich als jenes, das immerhin doch einige Jahrhunderte sich behauptet und eine bestimmte Mission gehabt hat.
Zunächst ist in absehbarer Zeit mit der geistigen Abrüstung unter den Nachfolgestaaten, die eine Hauptvoraussetzung des Gelingens wäre, nicht zu rechnen. Im Gegenteil: diese jungen, hitzigen, zugleich vordrängenden und sich abschließenden Nationen, sie wollen nicht nur selbst leben, sondern möglichst auf Kosten der anderen und insbesondere Österreichs leben. Dieses hassen sie mit allen Übertreibungen eines hemmungslosen Nationalismus, als ihren Schulmeister, ihren früheren Vormund, ja ihren Kerkermeister. In neuer Gemeinschaft mit ihm würden sie nicht nur die Gefahr wiederkehrender Führung fürchten, die sie dem Deutschtum innerhalb ihrer eigenen Länder mit Gewalt zu entreißen wußten, sondern schwerlich würden sie ihnen auch nur wirkliche Gleichberechtigung gönnen. Ihre Hauptstädte empfinden Wien als Nebenbuhlerin, sie wollen es schlagen und überflügeln. Sie alle haben dem Deutschtum aus der habsburgischen Beute breite Länderfetzen abgenommen, auf die sie nicht mehr verzichten wollen. Alles hat sich da zu ihren Gunsten verschoben. Aber selbst wenn der Gedanke der wirtschaftlichen Verständigung zum Siege gelangte, so wäre er doch nicht stark genug, die Wucht der aus dem alten Reich ererbten Gegensätze und der infolge der Machterweiterung der Nachfolger neu hinzugetretenen Gegensätze in den Hintergrund zu drängen. Ist es denn schon vergessen, daß Haus und Reich Habsburg an der Unlösbarkeit innerer Spannungen zerbrochen sind? und dabei fehlen dem neuen Österreich die verhältnismäßig günstigen Vorbedingungen und Machtmittel des alten! Hätte der Donaubund Aussicht auf Verwirklichung, so würde sich Österreich damit in die Gemeinschaft der Löwen begeben; rassenmäßig und kulturell wäre es der Überfremdung ausgesetzt. Es würde Amboß und nicht Hammer sein. Aber auch die anderen Bundesgenossen wären unter sich kaum unter einen Hut zu bringen; sie alle haben ihre eigenen Freundschaften und Widersacher; auch sie würden sich stoßen und drängen, denn der Gönner des einen ist der Feind des anderen! Jeder steht in anderen Verbindungen, ihr Lebensdrang geht nach verschiedenen Richtungen auseinander und steht jeweils unter eigenen Gesetzen. Benesch wird wissen, warum er sich gegen einen Donaubund ausgesprochen hat; und mit Recht hat man gesagt:13 er würde in einen tobenden Hexenkessel ausarten, im Vergleich zu dem das alte Österreich-Ungarn wie eine Insel des Friedens daliegen würde. Aber auch wenn man das alles ausschalten könnte, so bliebe immer noch die Tatsache eines beinahe zur Wildheit gesteigerten wirtschaftlichen Imperialismus, dem alle diese Nachfolgestaaten nachjagen und dem sie im Ringen um Selbstversorgung, um eigenen Absatz, Ausdehnung ihrer Industrie, im Wettbewerb gerade mit Österreich nicht die geringsten Opfer zu bringen geneigt sind. Wo also sollte die naturgegebene Einheit und der Schwerpunkt einer solchen Gemeinschaft liegen, zumal ja auch die Donau, die den Namen dafür hergeben soll, nicht einmal wirklich die Achse des Ganzen wäre, dessen Teile in entgegengesetzter Himmelsrichtung auseinanderziehen! Das Gesäusel, Öster- [20] reich solle in einer solchen Umgebung von Staaten und Völkern als europäische Brücke dienen, ist nichtig; nur insofern würde der Vergleich stimmen, als die Stärkeren eben darauf treten und sie abnutzen würden! Österreichs erste Aufgabe ist doch die, nicht anderen, sondern sich selbst zu dienen, und entfalten kann es sich nur in dem natürlichen Zusammenhang, der durch Blut, Sprache und die Kulturgemeinschaft mit dem übrigen Deutschland gegeben ist. Aber wie steht es damit zur Zeit?
So sieht die Wirklichkeit aus, über die gewisse Regierungskreise und ihre Wortführer in der Öffentlichkeit nicht gern sprechen hören, damit der Glaube an die eigene Lebensfähigkeit Österreichs nicht erschüttert werde und man die Ohren des Auslandes, das einen so großen Teil des Elends durch Abschneidung der natürlichen Entfaltungsmöglichkeiten mit verschuldet hat, nicht beleidige. Die Kultur eines kleinen Staates kann sich aber, wenn die Wurzeln seines Volkstums der Verdorrung ausgesetzt sind, auch in ihrer besonderen Eigentümlichkeit auf die Dauer nicht kraftvoll behaupten und weiterentwickeln. Sie kann es um so weniger, wenn dem durch fremden Machtspruch geschaffenen Gebilde kein Schicksalsgedanke und keine Staatsidee von freudig bejahender und anfeuernder Kraft innewohnt.
Durch die Zertrümmerung der Großmacht Österreich und der Wechselbeziehungen ihres Gesamtgebietes hat auch die Hauptstadt des Reiches ihre beherrschende Stellung eingebüßt. Sie war nicht nur das stärkste Industriezentrum, sondern der wirtschaftliche Mittelpunkt überhaupt, und sie hatte hochentwickelte Organisationsformen ausgebildet. Von dieser führenden Stellung ist sie in mehr als einer Umsicht herabgesunken. Wiens vornehme und begüterte Gesellschaft ist zum guten Teil nicht mehr da, oder sie zählt bei der Verarmung gerade der höheren und mittleren Beamtenschichten nicht mehr als Abnehmerin für die feine besondere Qualitätsarbeit und die Kostbarkeiten des Wiener Kunstgewerbes und Kunstgeschmacks. Sie hat stark an Kauf- und Kapitalkraft eingebüßt. Selbst die Bankkreise, in denen wenig Stimmung für den Anschluß war, geben sich heute keiner Täuschung mehr darüber hin, daß die internationale Bedeutung Wiens als Finanzzentrum sehr zurückgegangen ist; denn in der internationalen Kreditvermittlung vermag es nicht mehr die Rolle zu spielen, die es früher innehatte und die man ihm auch noch vor wenigen Jahren in der Fieberblüte der Inflationszeit zuschreiben wollte. Überall in den Nachfolgerstaaten ein Vordrängen und eine Befestigung des eigenen Bankwesens, eine Lockerung und Zurückdrängung der Wiener Geschäftsverbindungen bis zur vollkommenen Abstoßung und zum Verlust der Wiener Filialen in Prag und anderen Städten! Ich verweile nicht bei den allgemeinen Verarmungserscheinungen, die auch wir im Reiche in ähnlicher Weise, wenn auch vielleicht nicht ganz im gleichen Grade erlitten haben, den zerstörenden Folgen der Geldentwertung, der Aufzehrung des Grund- und Häuserkapitals, der Erschöpfung der öffentlichen und privaten Kredite, der Verschleuderung von Hausrat, von Kunstbesitz und Familienerbstücken, der ganzen Herabminderung der Lebenshaltung in der weit überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung, deren gedrückte Stimmung denn auch niemanden bei längerem Aufenthalt in Österreich entgeht. Als besonders bedenklich sei nur erwähnt, daß die frühere Vorrangsstellung in den böhmischen Textilgesellschaften und Zuckerfabriken, in den großen galizischen Petroleumgruben, in den Triester Schiffahrtsgesellschaften und Werften nicht mehr zu halten war. Im Gegenteil: man hat sogar in die einheimische österreichische Industrie und die Banken starke Fremdmehrheiten in Gestalt von Auslandsbeteiligung aufnehmen müssen. Ich könnte die Aufzählung aller dieser Nöte im einzelnen mehren und die schwere Problematik von andern Gebieten des Wirtschaftslebens her noch beleuchten; um Ausdruck ringt sie überall in dieser oder jener Gestalt, auch in den Verhältnissen der Landwirtschaft. Umstritten sind weniger die Tatsachen als die Grade der Heilbarkeit und der anzuwendenden Mittel. Ganze Stöße von Druckschriften, Flugblättern, Büchern befassen sich bereits mit der Unhaltbarkeit dieser [23] Zustände und ihrer staatlichen Voraussetzungen, Gelehrte und Volkswirte, Parlamentarier und Wirtschaftsführer, Einzelne und Korporationen, Arbeiter- und Handelskammern legen den Finger auf die Wunde; die Erörterung darüber will nicht abreißen. In nüchternen und eindringlich geführten Untersuchungen, die alle Zweige des Wirtschaftslebens umspannen, hat insbesondere die Handelskammer für das Land Salzburg die Lage überprüft, und wie schon vor Jahren kommt sie immer wieder und aus den verschiedensten Erwägungen heraus zur unumschränkten Bejahung des Anschlusses.15 Und größte Beachtung verdient auch die soeben abgegebene Erklärung des Montanvereins, also der Vertretung der gesamten österreichischen Eisen- und Stahlindustrie, die eine Überwindung der "trostlosen" Lage nur vom Anschluß und der Förderung der dahinzielenden Bestrebungen erhofft.16 Wohl gemerkt: Kein Verständiger wird im Anschluß das unverzüglich wirkende Allheilmittel für die leidende und stockende Wirtschaft Österreichs erblicken dürfen,17 und schon gar nicht für sämtliche inneren Nöte des Gemeinwesens. Aber auf die Notwendigkeit, irgendeinen großen Lebens- und Wirtschaftsraum, ein einheitliches wirtschaftspolitisches Inland zu schaffen, zielen heute schließlich fast alle Erörterungen und Vorschläge ab. Die ausgesprochenen Anschlußfreunde betonen überdies mit Recht auch den stärkeren Schwung, den ein einheitlicher Staatswille, sie betonen den Rückhalt und Schutz, den eine kraftvolle Staatsgewalt und der Anteil an einer wirklichen Groß- [24] machtstellung auch wirtschaftlich gewähren. Indessen ist man sich in diesem Lager auch vollkommen klar darüber, daß eine Verbindung mit dem Reiche nicht gleichmäßig günstig auf die verschiedenen Gewerbezweige und Berufe wirken würde. In der Tat wäre es sogar besonders gefährlich, wenn überschwenglich gesteigerte Erwartungen eines Tages enttäuscht würden. Denn der Vollzug der Wirtschaftsverbindung bildet in sich wieder einen ganzen Knäuel von Fragen. Einzelne würden Zugeständnisse und sogar Opfer bringen müssen, Ungesundes würde vollends verschwinden, wie es auch jetzt schon im Absterben ist. Umstellungen mannigfacher Art wären erforderlich, insbesondere müßten für die Übergangszeit Sonderbestimmungen für diese oder jene Wirtschaftsgruppe getroffen werden. Aber wenn es auf das Leben des Ganzen ankommt, muß der einzelne sich einzugliedern wissen und gegebenenfalls zurücktreten. Die Rechnung kann in diesem Fall nur so angelegt werden, ob in der Gesamtwirkung und im Endergebnis die Vorteile oder Nachteile überwiegen, und für das Bejahende spricht eine hohe Wahrscheinlichkeit. Das alles wäre, wie die ganze Ausgleichung der wirtschaftlichen Einzelinteressen, nicht leicht. Nicht ohne Reibungen ablaufen würde wohl auch die gegenseitige Anpassung an den Rhythmus, an die Methoden und Intensität der Arbeit, an die Art der Menschenbehandlung und der geschäftlichen Diplomatie, das Erfahrungsammeln, das Sichergänzen und Lernen voneinander. Und dazu noch die tausend Imponderabilien der seelischen Haltung, der landschaftlichen Eigenart und des persönlichsten Temperaments, die auch im Wirtschafts-, wie im Staats- und Gesellschaftsleben taktvoll berücksichtigt werden wollen: Nichts kleines würde da verlangt werden, wenn der Anschluß auch im wirtschaftlichen Sinn gelingen und sich einleben soll! Wollten wir aber nun angesichts der zurzeit in Österreich vorhandenen Lebenshemmungen uns lediglich als Gebende fühlen, so wäre das nicht nur psychologisch verkehrt und geradezu verletzend für sein berechtigtes Selbstgefühl, sondern auch sachlich nicht zutreffend. Die gegenwärtige Hilfs- und Zuschußbedürftigkeit der österreichischen Wirtschaft muß ja nicht die Verpflichtung zu dauernden Opfern für das Reich bedeuten.18 Nicht gnadenweise begehren heute Millionen von Österreichern Heimkehr ins Vaterhaus, sondern im vollen Bewußtsein, einmal der seelischen und menschlichen Bereicherung, die unser Volks- und Kulturleben durch sie erfährt, zum anderen aber auch im Bewußtsein ihrer schon vorhandenen und noch zu erschließenden wirtschaftlichen Kraftquellen. Österreich kommt mit den Erzeugnissen einer hochstehenden Geschmackskultur und eines feinen Kunstgewerbes, für die Deutschland stets ein guter Abnehmer war. Es kommt mit seinen reichen Naturschätzen und landschaftlichen Schönheiten, an die sich auch wirtschaftliche Hoffnungen hinsichtlich des Fremdenverkehrs knüpfen lassen. Es bringt die gewaltigen steirischen Eisenerzlager und den Holzüberschuß seiner Waldlandschaften mit, den Reichtum seiner Wasser- [25] kräfte, und gerade sie mögen in der heraufziehenden Weltkrise der schwarzen Kohle vielleicht einmal doppelte Bedeutung erlangen. Es hat, wie auch unser Reichsgebiet, ungenutzte Möglichkeiten zur Siedelung, von der ich wünschte, daß sie doch einmal das große neuzeitliche innere Kolonisationswerk unserer Generation werden möge, so wie das Mittelalter Gewaltiges für den deutschen Boden getan hat. Vergessen wir auch nicht: Österreich und insbesondere Wien, dessen vorgeschobene Randstellung heute fast sinnlos geworden ist, die Stadt, die jahrhundertealte Überlieferungen und Verbindungen geschult haben, ist wie keine zweite berufen, Pforte zum Osten zu sein. Wien könnte im Zeichen eines größeren Deutschland auf den Bahnen, die Friedrich List einst als feuriger Vorkämpfer gewiesen hat, seinen geschichtlichen Beruf mit gesteigerter Kraft aufnehmen und als eine neue Hanse-Republik des Südostens jene fernen Bereiche für die friedliche Arbeit eines Siebzigmillionenvolkes wieder eröffnen, während der gehemmte Strom der österreichischen Waren, nachdem ihm die Adria gesperrt ist, den Zugang zur Nordsee und zu den Meeren fände. Überhaupt dürften die Grenzen eines größeren Deutschland gegen Italien, Ungarn, Jugoslawien hin nicht einseitig bloß als politische Gefahrenzone betrachtet werden; sie könnten ja auch wirtschaftlich wertvolle Entfaltungsmöglichkeiten in sich enthalten! Fast ungern rücke ich diese Beziehungen und, wie ich hoffe, fruchtbaren Möglichkeiten, so stark ins Licht. Denn wo geistige und nationale Werte edelster Art auf dem Spiele stehen, möchte man auch den Anschein vermeiden, als gelte es ein Geschäft, wo nach Einnahmen und Ausgaben, nach Soll und Haben, nach Kostenüberschlägen und kaufmännischem Wagnis gerechnet wird. Ebenso befremdend wäre es in den Augen Österreichs und der Welt, aber auch für unser eigenes Gefühl, wollte man eine Aufgabe, die aus tiefster Verpflichtung des Volkstums vor uns aufsteigt, als Ersatz für erlittene Menschen- und Landverluste, als bloßen Machtzuwachs, so schätzenswert er auch sein mag, als imperialistisches Pflaster auf unsere offenen Weltmachtswunden betrachten. Zu tief reicht diese Angelegenheit in Vergangenheit und Schicksal hinab, und so sehr ist sie eine Sache der Sittlichkeit und des Rechts und damit auch eines reineren Völkerfrühlings, daß Erwägungen jener Art sich auf einer zu niederen Ebene bewegen. Unsere Wirtschaftskreise im Reich haben bisher der Erörterung der Anschlußfrage noch wenig Raum gegönnt. Man könnte dafür zur Begründung sagen, daß dieses Problem, solange unsere Landwirtschaft, unser Gewerbe und der Handel mit so viel Schwierigkeiten zu kämpfen haben, noch nicht in die erste Linie vorrücken kann. Vielleicht meldet sich hier auch der grundsätzliche und weitertragende Einwand zu Wort: sind wir denn, – so dürfte man angesichts der Problematik unserer reichsdeutschen Wirtschaft fragen, die unter den Fesseln des Versailler Vertrages und den Lasten der Dawesverpflichtungen seufzt, – sind wir denn überhaupt imstande, eine weitere Beschwerung mit ungelösten wirtschaftlichen und sozialen Nöten von jener Seite her noch zu tragen? Geht die Bewältigung der Anschlußfrage nicht nur über unsere außen- [26] und innenpolitischen, sondern auch über unsere wirtschaftlichen Kräfte? Wie leicht könnte sie doch das mühsam errungene, eigene Gleichgewicht stören und am Ende gar erschüttern! Bildlich und volkstümlich gesprochen, würde das heißen, daß das Hemd uns näher liege als der Rock. Der Ernst solcher Überlegungen ist gewiß nicht zu verkennen; indessen entscheidendes Gewicht vermag ich ihnen trotzdem nicht einzuräumen. Hier liegt es doch wohl so: Indem man solchen Bedenken stattgibt, verleiht man den vergänglichen Zuständen des Tages gleichsam Dauer; jene umzugestalten ist aber doch in jeder Hinsicht, allgemein gesprochen, unser Ziel. Der Anschluß selber ist ja nicht ein Stück des gegenwärtigen Europa, da wir es doch zu überwinden suchen, sondern Teil eines neuen und besseren Europa, das wir selbst schaffen wollen, wir alle, auch die deutsche Wirtschaft! Eine Voraussetzung greift da in die andere über, und so wird auch eine Folgerung die andere mittragen müssen. Nicht ohne Stolz geben wir uns Rechenschaft, welche grundlegende Rolle der Wirtschaft im Wiederaufbau unseres Vaterlandes zukommt. Wir glauben es auch ermessen zu können, welche Eigenkraft sie innerhalb des Ganzen besitzt. Aber wenn sie gegenüber einem solchen Notruf taub bliebe und wenn sie sich der nationalen Sicherung von über sechs Millionen Deutschen verschlösse, wenn sie einer noch so schweren Aufgabe dieser Art sich zu entziehen suchte, dann wäre der Vorwurf der materialistischen Verhärtung, der bisweilen gegen unsere Wirtschaftsführer erhoben wird, nicht grundlos, und die Volksentfremdung, in die sie dann hineinsteuern würde, müßte sich eines Tages an der Wirtschaft selber irgendwie rächen. Wer zu viel rechnet, verrechnet sich oft in den einfachsten Grundtatsachen. Die Völker selbst sind heute solche elementare Tatsachen. Gerade die vielgerühmte Organisationskraft, die Unternehmungsfreudigkeit und das große Wollen unserer Industrie wird in der Lage sein und über die Mittel verfügen, den Anschluß des Ganzen allmählich und schon jetzt vorzubereiten und zu erleichtern. Es schwebt mir dabei vor die Anknüpfung von Beziehungen hüben und drüben, Vereinbarungen einzelner Wirtschaftskreise und Verschmelzung zusammengehöriger Industriegruppen, wie sie ohnehin in einigen Unternehmungen schon bestehen und in der Richtung der allgemeinen Entwicklung liegen dürften. Aus vielen Fäden wird mit der Zeit ein Geflecht, und es wäre höchst erwünscht, wenn auch da auf wirtschaftlichem Gebiet der Zusammenschluß, falls er kommt, sozusagen nur noch die äußere Form und die letzte politische Krönung eines schon weit vorgeschrittenen Verlaufes darstellen würde. Es gilt, die Zeit zu unserem Bundesgenossen zu machen und sie für uns arbeiten zu lassen. Wir müssen uns nur dabei klar sein, daß der Stundenzeiger der Not drüben schon weit vorgeschritten ist.
Wohin wir uns wenden, überall verfolgt uns die unheilvolle, selbstmörderische Nachwirkung und der Fluch des deutschen Partikularismus. Ist ihm der Rückhalt der Dynastien zerbrochen, so hält er sich an die Einzelstaaatlichkeit, die ja innerhalb des Reichs nirgends mehr mit dem Stammesgefühl zusammenfällt, oder er klammert sich an die Konfessionen und das Parteispießertum, und wenn nicht da, so lebt er sich in den Kirchturmshorizonten von Stadt, Beruf und Vereinen aller Art aus. Kein Laster so unermüdlich und wandlungsreich wie dieses! Denn immer weiß es neue Gestalt anzunehmen und neuer Masken sich zu bedienen. Wie oft muß ich denen Rede stehen, die beim Anschluß nur an den Stimmenzuwachs denken, den diese und jene Partei oder ein bestimmtes religiöses Bekenntnis erfahren würde! Deutschland, Philister über Dir, möchte man da ausrufen und fragen: welche andere Nation als die unsere, würde, wenn es die Erhaltung und Vereinigung mit sechs Millionen Volksgenossen gilt, solche Fragen überhaupt aufwerfen? Unsere Art ist es leider oft, vor Bäumen den Wald nicht zu sehen! Eben darum aber muß jeder einzelne die Zeit der [28] Trennung, und selbst wenn sie auf immer über uns verhängt bliebe, an seinem Teil und in seiner Umgebung nutzen. Man gebe sich Mühe, das Österreichertum verstehen zu lernen durch Beschäftigung mit seiner Vergangenheit, durch lebendige Teilnahme an seiner Gegenwart, durch Reisen und durch persönliche Fühlung, von der Sommerfrische bis zum Studenten- und Gelehrtenaustausch, durch Abstreifung gedankenlos nachgesprochener Vorurteile, durch ehrliches und weitherziges Wollen, durch mutiges Bekenntnis zur gemeinsamen Sache. Schon in den Schulbüchern, die von törichten und einseitigen Urteilen über Österreich und seine Geschichte wimmeln, müßte die Läuterung beginnen.20 Für dieses Einfühlen, das wir auch von der anderen Seite erwarten, ist niemand dankbarer als der Österreicher selbst. Denn leider geben ihm manche jene Art reichsdeutscher Überlegenheit zu spüren, die uns so viel schon in der Welt geschadet hat und eine unserer unangenehmsten Eigenschaften ist. Jeder, der hier in seinem noch so engen Bereich den richtigen Takt zu wahren weiß, leistet seinem Vaterland einen verantwortungsvollen Dienst.
Bliebe uns aber diese letzte Erfüllung versagt, dann wäre doch schon mit dem allmählichen Abbau der Zollschranken,21 mit der wechselseitigen Erleichterung der Einbürgerung, mit der Übereinstimmung der Verkehrseinrichtungen und der Kulturpflege, der Jugendfürsorge, und der Sozialpolitik viel gewonnen. Dazu ein gleichartiger Aufbau des Justizverfahrens, der Rechtsprechung und möglichste Annäherung der Gesetzbücher, wie ich denn auch den gemeinsamen Strafgesetzentwurf als verheißungsvolles Zeichen auf der gemeinschaftlichen Bahn freudig begrüße.22 Bereits suchen auch in freier Aussprache Berufsorganisationen der verschiedensten Art auf gemeinsamem Boden zusammenzukommen. Die Archivare haben eine Arbeitsgemeinschaft gegründet und die Bibliothekare haben sich im letzten Jahr in Fischer von Erlachs herrlichem Bau versammelt; auch die Buchhändler, die tatsächlich in ihrem Bereich den Anschluß in ihrer Art schon vollzogen haben, haben im Herbst in Wien getagt. Vieles findet sich schon in gemeinsamen Richtlinien zusammen. Den evangelischen Landeskirchen und ebenso den Jugendvereinen haben sich die österreichischen angegliedert; die Schulmänner suchen lebendige Fühlung miteinander und gründen zusammen gemeinschaftliche Zeitschriften; die Arbeiter reichen sich über die Grenzen hinweg die Hände. Mögen die führenden Wirtschaftskreise nicht zu lange warten, auf daß die Frucht bald und auf allen Feldern reife. Schon zeichnen erste Ansätze und Umrisse sich vor uns ab, schüchterne Verheißungen nicht nur eines besseren Deutschland, sondern Vorahnungen einer neuen Ordnung der Welt. An unserem Geschlecht ist es, sie auszubauen zum Heile unseres Vaterlandes, zum Heile aber auch des ganzen Erdteils. Jeder sei Helfer am Werk; er kann es sein und er muß es sein. Möchte es unserem Reich zusammen mit den Brüdern der alten Ostmark beschieden sein, einstmals als freies Volk auf freiem Grund zu stehen! In diesem Sinne ergeht an uns alle die Mahnung: Seid Täter des Worts, nicht Hörer allein!
1Wenn neuerdings eine mit Kritik aufzunehmende anschlußfreundliche Äußerung Mussolinis gegenüber einem Vertreter der Neuen Freien Presse vorliegt, die gewiß aus bestimmten taktischen Erwägungen abgegeben worden ist, so macht eine Schwalbe noch keinen Sommer. Man lese, was die fascistische Presse des Duce zu diesem Thema bisher zu sagen hatte! ...zurück... 2Was Coudenhove mit marktschreierischem Dilettantismus unter der Parole Paneuropa propagiert unter dem Beifall kosmopolitischer Literaten und aller Kriegsgewinnler, die im Schatten ungerechter Friedensverträge ihre Beute möglichst ungestört genießen wollen, ist nicht nur sachlich höchst anfechtbar, da man dieses "Europa", dem England und Rußland fernbleiben, ebensogut Großfrankreich nennen könnte, sondern gerade vom "Anschluß" hört man in diesem Kreis nicht gern reden, ja die Erinnerung daran ist verpönt. In meiner Schrift über Die Wandlungen des großdeutschen Gedankens (1924), Seite 40 habe ich schon ausgeführt, daß ohne den Anschluß und die Erfüllung der nationalen Selbstbestimmungsidee alle paneuropäischen Bildungen bösartige Zersetzungskeime in sich tragen würden. ...zurück... 3Vergleiche darüber u. a. meine Schrift über die Wandlungen des großdeutschen Gedankens; siehe hier auch über die beklagenswerte Haltung der Volksbeauftragten 1918. – Die Weimarer Verfassung hatte für den Eintritt der Österreicher Raum gelassen; sie wurde auch unter Teilnahme österreichischer Abgesandter beraten. Über die formell bleibende Bestimmung des Artikels 61 Abs. 2 vergleiche Gerhard Anschütz, Die deutsche Reichsverfassung 2. Aufl. S. 121 und den auch in anderem Betracht höchst lehrreichen Aufsatz von Adolf Günther, "Die wirtschaftliche und soziale Seite der deutsch-österreichischen Anschlußfrage" in Schmollers Jahrbuch, Jahrgang 50 (1926), Seite 29 ff., sowie die Erste Denkschrift des österreichisch-deutschen Volksbundes, Wien 1926. ...zurück... 4Vergleiche darüber u. a. das sachlich und technisch aufschlußreiche Buch des Finanzministers Dr. Kienbök Das österreichische Sanierungswerk (1926). ...zurück... 5Die deutsche Ausgabe des Berichts, den W. T. Layton und Charles Rist im Auftrag des Völkerbundes über Die Wirtschaftslage Österreichs erstattet haben, erschien 1925 in Wien. An der Kritik dieses Gutachtens haben sich namentlich Stolper (vgl. vor allem den Österreichischen Volkswirt 1925) und A. Günther mit Erfolg beteiligt. Dessen oben erwähnte Arbeit in Schmollers Jahrbuch 1926 hat sich zu einer sehr eindringenden Auseinandersetzung mit den Aufstellungen der Experten über die Gesamtlage der österreichischen Wirtschaft und ihre einzelnen Zweige ausgeweitet. Daselbst auch gewichtige polemisch-kritische Bemerkungen zu dem Material und den Aufschlüssen, die Dr. Friedrich Hertz den Experten geliefert hat. Ganz abgesehen nun davon, daß Günther für eine fortlaufende Reihe von anfechtbaren Behauptungen der Experten durchschlagende sachliche Gegenbeweise anzutreten vermag, gibt doch schon methodisch das Verfahren von Layton und Rist zu Beanstandungen Anlaß. Günthers Urteil lautet darüber folgendermaßen: "Fest steht jedenfalls, dieser Expertenbericht widerspricht sich selbst manchmal auf ein und derselben Seite, er beutet vorhandenes wissenschaftliches Material nicht selten in kritikloser und irreführender Weise aus, übersieht manchmal Wichtiges, um bei Zufälligem und Nebensächlichem zu verweilen, und verzeichnet somit das Bild, das er von der gegenwärtigen österreichischen Wirtschaft entwirft." (A. a. O. S. 35). ...zurück... 6Nachtrag (während der Drucklegung) vom 31. Mai 1927: Die soeben nach den Frühjahrswahlen erfolgte neue Regierungserklärung des umgebildeten und erweiterten Kabinetts Seipel klingt in dem Passus über die Beziehungen des Reichs zu Österreich und ihre Angleichung eine Spur wärmer als man es bisher gewohnt war. Es äußert sich darin zunächst die leise dynamische Verschiebung der Mehrheitsverhältnisse zugunsten des Anschlusses in Ministerium und Parlament; ihr muß der Taktiker Seipel Rechnung tragen. Das Weitere ist abzuwarten. Es kommt mehr auf Taten als auf Worte an! Sie erst könnten den Eindruck jener Dezembererklärung mildern, wenn auch kaum auslöschen. ...zurück... 7Die Denkschriftenfolge, die vom Bund herausgegeben wird, enthält wertvolles Material nicht nur für die tatsächliche Verbreitung des Anschlußgedankens in Österreich, sondern auch Unterlagen für die Beurteilung der österreichischen Wirtschaftsverhältnisse. ...zurück... 8Als Probe dafür, daß auch im christlich-sozialen Lager Österreichs, also in der Partei Seipels, der Anschluß z. T. nach sehr viel höheren Gesichtspunkten und sittlicheren Maßstäben beurteilt wird, führe ich folgende Äußerung von Professor Dr. Hans Eibl, Wien, an (vgl. in der Hilfe vom 1. Dezember 1926, seinen Aufsatz über "Schicksal und Bestimmung des deutschen Volkes"): "Ich will aber noch die Gründe erwähnen, welche für mich als katholischen Christen zu den allgemeinen Gründen hinzukommen. Es ist zunächst die theistische Überzeugung von der unerschütterlichen Fundierung alles Rechtes im gesetzgebenden Willen Gottes, die es zur Pflicht macht, für das Recht zu kämpfen um der Gerechtigkeit willen. Es ist sodann das christliche Gebot der Liebe, die von den näheren Pflichtenkreisen ausgeht und zu den weiteren fortschreitet und darum auch gebietet, zuerst die Liebespflicht in dem engeren Kreise der Nation und dann in dem weiteren Kreis der Völkergemeinschaft zu üben. Dazu kommt die durch die altchristliche Geschichtsphilosophie genährte Überzeugung, daß das Volkstum als Nährboden für den Samen des göttlichen Wortes seine eigene Würde hat und darum gepflegt werden muß. Es ist endlich die aus der katholischen Beurteilung der abendländischen Geschichte gewonnene Einsicht, daß es dem ganzen Volkstum zugute kommen wird, wenn der deutsche Volksstamm, in welchem sich die Erinnerung an die übervölkische Sendung des alten Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, des ersten abendländischen Völkerbundes, am längsten erhalten hat, mit dem Gesamtvolke vereine und dadurch beitrage zur Vereinheitlichung des deutschen Geschichtsbildes und zugleich zu einer übervölkischen Politik der Zukunft." ...zurück... 9Vergleiche über die Stimmung im Bauerntum die überzeugenden Ausführungen von Kleinwächter in seinem Buch Der deutsch-österreichische Mensch und der Anschluß 1926....zurück... 10Das gilt leider für Raimund Friedrich Kaindls Buch Österreich, Preußen, Deutschland. Geschichte in großdeutscher Beleuchtung. (Wien 1925.) Es ist vollkommen verfehlt und kann nach den eingehenden kritischen Widerlegungen von H. Ritter v. Srbik (vgl. diese Zeitschr. Band 7 [1926] S. 251 ff.) und Dietrich Schäfer (zuletzt Eiserne Blätter 1926) als wissenschaftlich erledigt gelten. Ich bedaure um so mehr, dies feststellen zu müssen, als Kaindl durch seine früheren Forschungen zur Geschichte des Karpathendeutschtums sich zweifellos große nationale Verdienste erworben hat und an sich die borussisch-kleindeutsche Geschichtsschreibung wirklich durch Unverständnis gegenüber Österreich, seine historischen Lebensbedingungen und Leistungen viel gesündigt hat. – Noch unheilvoller als die wissenschaftliche und historische Verzerrung des Begriffes "Großdeutsch" ist gewiß die politische Wirkung des Kaindlschen Werkes: Preußenfresserischer Partikularismus, Welfentum, kurhessische Rechtspartei, "föderalistischer" Klerikalismus und sogar der Separatismus, alle Rückständigkeiten, Ressentiments und Schwarmgeistereien unseres öffentlichen Lebens bieten ihm Gefolgschaft an und auch im anschlußfeindlichen Lager ist die Freude groß über diese Schrift, die uns sowohl in der gerechten Erkenntnis der historischen Zusammenhänge, wie in der nationalpolitischen Überbrückung der Trennung von Österreich und dem Reich weit zurückwirft. – Die Besorgnis der österreichischen Anschlußkreise vor der schädlichen und volkzerreißenden Wirkung des Kaindlschen Buches ist wohl zu verstehen, wenn sie auch nicht in der Absicht des Verfassers gelegen haben wird. Sehr richtig formuliert einmal demgegenüber Wilhelm Bauer: "Das Ziel der neueren deutschen Geschichtswissenschaft heißt nicht groß-, nicht kleindeutsch, sondern einfach und schlicht 'deutsch'." ...zurück... 11Die mit falschen Brillanten geschmückte Schrift von O. A. H. Schmitz: Der österreichische Mensch. Zum Anschauungsunterricht für Europäer, gegen die sich die voranstehenden und folgenden Ausführungen richten, hat das Verdienst, in dem zu ihrer Widerlegung geschriebenen Buch von Friedrich F. G. Kleinwächter Der deutsch-österreichische Mensch und der Anschluß (Eckart-Verlag, Wien 1926), ein sehr gehaltreiches, aus tiefer Verbundenheit mit dem österreichischen Schicksal und wirklicher Kenntnis von Land und Leuten stammendes Werk hervorgerufen zu haben, das weiteste Verbreitung verdient. Es gibt kaum eine für den Anschluß wichtige Frage, die darin nicht berührt wäre. ...zurück... 12Auch unter soziologischem Gesichtspunkt sind Kleinwächters Ausführungen über die verschiedenen Gesellschaftsschichten des älteren und des heutigen Österreich lehrreich und zeugen von sicherer Beobachtungs- und Lebensnähe. ...zurück... 13Kleinwächter, a. a. O. Seite 208. ...zurück... 14In Gelehrtenkreisen ist sie leider bekannt genug; aber dem größeren Publikum im Reich kann nicht eindringlich genug davon gesprochen werden. Es ist verdienstvoll, daß der österreichisch-deutsche Volksbund durch seine Flugschriften für das Bekanntwerden dieser Tatsachen in weitesten Kreisen sorgt. ...zurück... 15"Der Bericht des volkswirtschaftlichen und handelspolitischen Ausschusses der Kammer für Handel, Gewerbe und Industrie in Salzburg, erstattet in der Vollversammlung der Kammer vom 13. April 1926" von ihrem auch publizistisch hochverdienten Sekretär Dr. Erich Gebert, verdient als Muster einer sorgsam geführten Untersuchung die Beachtung aller österreichischen und reichsdeutschen Wirtschaftskreise, aber auch darüber hinaus die Teilnahme aller Nationalpolitiker, denen das geistige Vermächtnis von Friedrich List mehr als nur eine schöne akademische Phrase ist. – Zur Ergänzung vergleiche den ebenfalls gedruckten Rückblick der Kammer auf ihre Sitzungsperiode 1925-1926 unter dem Titel Das neue Handelskammergesetz im Lichte 5jähriger Kammerarbeit, namentlich S. 29 über das Sanierungswerk. – Beiden Arbeiten bin ich in den folgenden Ausführungen dankbar verpflichtet. ...zurück... 16So der in der 52. Hauptversammlung des Montanvereins am 23. Februar 1926 vorgelegte Jahresbericht. ...zurück...
17Dieser Gedanke wird auch von E. Gebert in dem angezogenen Bericht der Salzburger Handelskammer, der überhaupt von rein gefühlsmäßigen Argumentationen frei ist, mit Recht betont. 18So auch A. Günther, S. 33 seiner oben erwähnten Abhandlung. ...zurück... 19Die Behandlung dieser formell und politisch höchst verwickelten Verfassungsprobleme, welche die Möglichkeit des Anschlusses aufwirft, wäre Gegenstand einer eigenen Arbeit. ...zurück... 20Vergleiche dazu den Aufsatz "Großdeutsche und kleindeutsche Geschichtsauffassung" von Wilhelm Bauer, der die meistverbreiteten, reichsdeutschen Schulbücher unter diesem Gesichtspunkt einer Prüfung unterzogen hat. (Hilfe 1. Dezember 1926.) Nähere Ausführungen W. Bauers zu diesem Thema sind zu erwarten. Siehe vorerst seine Abhandlung "Österreich in den reichsdeutschen Geschichtsschulbüchern" (mit einem Vorwort des Schulausschusses des österreichisch-deutschen Volksbundes in Berlin), in der Februarnummer 1927, der Zeitschrift Österreich-Deutschland, seitdem auch in Sonderabdruck erschienen. ...zurück... 21Der Gedanke des "österreichisch-deutschen Zollvereins" wird vielfach schon auch von österreichischer Seite vertreten, so auch von O. E. von Scala / Graz, in einer bei Lehmann / München verlegten Schrift gleichen Titels (1926). ...zurück...
22Mit den im Februar d. Js. zustandegekommenen
Vormundschafts- und Nachlaßabkommen sind ebenfalls sehr erwünschte Schritte zur Rechtsangleichung getan. Durch sie werden Schwierigkeiten vermieden, die sich bisher aus der Verschiedenheit der Gesetzgebung des Reichs und Österreichs ergaben. ...zurück...
Der Österreich-Anschluß 1938: Zeitgeschichte in Farbe
Deutsches Land:
Das Buch von Volk und Heimat,
Das Grenzlanddeutschtum: Deutsch-Österreich und die Anschlußfrage
Der Staat wider Willen: Österreich 1918-1938
Österreichs Blutweg: ein Vierteljahrtausend Kampf um Großdeutschland
Zehn Jahre
Versailles,
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