SucheScriptoriumBuchversandArchiv IndexSponsor


I. Die historischen Grundlagen   (Forts.)

 
Deutschösterreichs Kampf um das Selbstbestimmungsrecht
von den Genfer Protokollen bis zum Haager Abkommen

Abg. Dr. August Wotawa, Präsident des österreichischen Bundesverlages für Unterricht, Wissenschaft und Kunst (Wien)

Die Genfer Protokolle • Die Grundlagen der Regierung Seipel zur Zeit der Sanierung Österreichs • Richtlinien der österreichischen Außenpolitik seit der Sanierung • Sicherung der Selbständigkeit des Staates gegen eine Einbeziehung in eine antideutsche Mächtegruppierung • "Demonstrationspolitik" • Österreichs "Deutschlandhilfe" • Das Kabinett Ramek • Vertiefung der österreichisch-deutschen Beziehungen • Stärkung der Anschlußbewegung in Österreich • Haltung der Wirtschaftskreise Österreichs zur Anschlußfrage • Aufhebung der Völkerbundkontrolle • Michael Hainisch als Bundespräsident • Österreichisch-deutsche Zusammenarbeit • Angleichung • "Keine handelspolitische Lösung ohne Deutschland!" • Das deutsche Sängerbundesfest in Wien • Zehn Jahre Republik Österreich • Das Kabinett Streeruwitz • Das Kabinett Schober • Das Haager Abkommen und seine Bedeutung.

Klarer noch als die von den ehemaligen Siegern erpreßte Unterlassung der Volksabstimmungen im Jahre 1921 haben die politischen Bindungen des Genfer Abkommens vom 4. Oktober 1922 der österreichischen Bevölkerung die Gewißheit gegeben, daß es keine Möglichkeit für die sofortige Durchsetzung des nationalen Selbstbestimmungsrechtes trotz der Stärke des vorhandenen Willens gab. So erschütternd die Erkenntnis auch wirken mußte, es wurde klar, daß die Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechtes erst der Endpunkt schweren, unablässigen Ringens mit allen Gegnern des deutschen Volkes in Europa und einer langen zielbewußten Arbeit sein kann und erst nach Ablauf eines noch nicht zu erkennenden weltpolitischen Geschehens zu erwarten ist. Die Deutschen in Österreich haben seither diesen Dornenweg in aller Zähigkeit betreten. Das Sanierungswerk, das mit den Genfer Protokollen begründet wurde und bei dem acht Mächte finanzielle Hilfe gewährten, um Österreich in seinem Bemühen um die wirtschaftliche und finanzielle Wiederaufrichtung zur Seite zu stehen, stützte sich in seinem legislativen Teile auf eine parlamentarische Mehrheit und eine Regierung, die von den Christlichsozialen und der Großdeutschen Volkspartei ge- [86] bildet worden war. Damit war diesem Sanierungswerke auch die Hilfe jener Kreise gesichert, welche in der hilflosen Lage Österreichs keinen anderen als diesen Ausweg gesehen und zugleich erkannt haben, daß auch vom nationalen Gesichtspunkte aus dem ganzen deutschen Volke am besten gedient ist, wenn sich die Bevölkerung Österreichs wieder zu erheben vermag und, statt tiefer in chaotische Zustände zu versinken, in die Reihe der gesundenden Völker eintritt. Die Grundlage der Regierung Seipel war eine Verabredung der Regierungsparteien (Koalitionspakt), in der u. a. festgelegt worden war, daß die österreichische Regierung nur eine solche Außenpolitik machen dürfe, die Österreich dem Deutschen Reiche nicht entfremdet und die zumindest alles vermeidet, was den seinerzeitigen Anschluß erschweren könnte. Bei allen folgenden Regierungsbildungen ist diese Bindung aufrecht geblieben und damit war der Rahmen der österreichischen Außenpolitik für die folgenden Jahre von selbst gegeben. Ergänzend darf man sagen, daß damit auch die Aufgabe der Innenpolitik gestellt war: Österreichs staatliches Leben zu erhalten, bis ihm durch die Eingliederung in das deutsche Wirtschaftsgebiet und den politischen Zusammenschluß der beiden deutschen Staaten die Möglichkeit gegeben war, von seinen Wirtschaftskräften in einem größeren Rahmen derartig Gebrauch zu machen, daß es, kulturell und wirtschaftlich angeglichen, zum unlösbaren Gliede des großdeutschen Reiches werden kann. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die in den Sanierungsjahren der österreichischen Bevölkerung in der verschiedensten Form auferlegten schweren Lasten und Leiden vielen nur unter dem Gesichtspunkte erträglich schienen, daß dadurch die in der deutschösterreichischen Republik vereinten Länder als Ganzes erhalten wurden und damit ihr späterer Anschluß an das Deutsche Reich ermöglicht blieb. Es gab eben auch in den Jahren nach 1922 eine erdrückende Mehrheit der Bevölkerung, die vom Anschlußwillen erfüllt war und der nur eine mindestens in ihrer Zahl recht unbeträchtliche Minderheit widerstrebte. Es ist auch Tatsache, daß die offiziellen Faktoren des Staates, Regierung und Parlament, in den allerersten Sanierungsjahren unter dem Drucke von außen, angesichts der Tatsache einer im Generalkommissär des Völkerbundes verkörperten, die Souveränität des Staates wesentlich beeinträchtigenden Kontrolle, den entschlossenen Anschlußwillen der Bevölkerung zum Ausdrucke zu bringen nicht für opportun hielten. Mit aller Vorsicht hat der Chef und Außenminister der Regierung Dr. Seipel bereits in [87] seiner ersten Regierungserklärung am 31. Mai 1922 im Nationalrate erklärt: "Und es ist ja in der Tat dasselbe: meint jemand, das deutsche Volk in Österreich werde in der ihm durch den Staatsvertrag von St. Germain zugesicherten Selbständigkeit weiterleben, oder glaubt er, es werde in eine größere nationale Einheit aufgehen, weiterleben muß es, und wir, die wir alle zusammen Fleisch vom Fleische dieses Volkes sind und Blut von seinem Blute, müssen alles tun, was in unserer Macht steht, daß es lebe." Er hat aber auch in seiner zweiten Genfer Rede vom 4. Oktober desselben Jahres bereits den Satz ausgesprochen: "Die Zeit der wahren Freiheit wird erst kommen, wenn wir auch wieder wirtschaftlich frei geworden sind." Die Außenpolitik des ersten Kabinetts Seipel war von dem Gesichtspunkte getragen, den durch die Verträge festgelegten internationalen Verpflichtungen Österreichs müsse nachgekommen werden, im übrigen aber habe Österreich nicht die Möglichkeit, eine aktive, den Staat einseitig bindende Außenpolitik zu betreiben. Kein Optieren für irgendeine Kombination, solange die internationale Lage einen wirklich freien Entschluß verbietet!1 Diese Linie hat das erste Kabinett Seipel bis zu seiner Demission im November 1924 festgehalten.

Mit den auf Grund der Völkerbundanleihe ermöglichten raschen Fortschritten in der finanziellen Sanierung – schon im Jahre 1924 traten an die Stelle des Defizits Überschüsse des Budgets – war zunächst als Ergebnis die Sicherung der Selbständigkeit des Staates gegen eine Einbeziehung in eine antideutsche Mächtekombination oder gar gegenüber Aufteilungsplänen erreicht. Dr. Seipel hat das später (in einem Interview in Berlin, Februar 1926) in die Worte gekleidet: "Österreich ist durch meine Politik ein deutscher Staat geblieben, der mit dem Reiche zusammenarbeitet. Es gilt, diese sachliche Politik ohne große Worte fortzuführen."2


Damit begnügte sich das Denken und Fühlen der deutschösterreichischen Bevölkerung auf die Dauer nicht. Es drängte nach [88] engerer Verbindung. Das Gefühl völliger Zusammengehörigkeit saß viel zu tief. Auch die europäischen Staatsmänner konnten, so zurückhaltend damals die offiziellen Kreise des Staates waren, so vorsichtig sie sich glaubten ausdrücken zu müssen, über diese Stimmung der österreichischen Bevölkerung nicht im unklaren sein. Geradezu elementar kam sie schon im Jahre 1923 in einer Art und Weise zum Ausdrucke, wie sie nicht mehr übertroffen werden konnte.

Als die Not im Deutschen Reiche durch den Zusammenbruch der Mark ins Unermeßliche gestiegen war, da hat das kleine arme Deutschösterreich eine "Deutschlandhilfe" organisiert, die weit über die Kräfte des Landes zu gehen schien. Eine "Hauptstelle für Deutschlandhilfe" wurde errichtet, Sammelaktionen aller Parteischattierungen für die hungernden reichsdeutschen Kinder, Sammeltage, die in den Straßen der Städte veranstaltet wurden, Hilfsaktionen der Gewerkschaften, der Angehörigen des Bundesheeres, die Organisierung von Kinderhilfszügen großer Organisationen, unter denen die des Deutschen Verbandes für Jugendwohlfahrt besonders großen Umfang angenommen hat, wurden eingeleitet. Die Kinderhilfszüge übrigens und andere Aktionen standen unter weitgehender Förderung der Regierung, die durch einstimmigen Beschluß des Parlamentes aufgefordert worden war, die Hilfsaktionen der Bevölkerung mit voller Kraft zu unterstützen. Gelegentlich der parlamentarischen Erörterung darüber haben die Redner aller Parteien ihre Hilfsbereitschaft bekundet. Der Abgeordnete Clessin hat damals zum Ausdrucke gebracht: "Die Verbindungen, die durch diese einzig dastehende völkische Betätigung zwischen uns Deutschösterreichern und dem Deutschen Reiche auf ewige Zeiten geknüpft wurden, sind so stark, daß sie die Gewähr bieten, daß der [89] Zusammenschluß aller Deutschen kommen wird, wenn die Zeit dafür gegeben ist."

Als die schlimmsten Jahre der Sanierungszeit vorüber waren und dem ersten Kabinett Seipel die Regierung Ramek gefolgt war, da stieg die Planmäßigkeit des Ausbaues unserer Beziehungen zum Deutschen Reiche in raschem Tempo.

Schon frühzeitig sind die Versuche, ein besseres wirtschaftliches Verhältnis zwischen dem Deutschen Reiche und Österreich herzustellen, in Gang gekommen. Der erste Tarifvertrag, den das Deutsche Reich in der Nachkriegszeit zum Abschlusse brachte, war der mit Österreich im Juli 1924. In diesem Abkommen war auch bereits der weitere Ausbau der beiderseitigen Wirtschaftsbeziehungen vorbehalten und zugesagt worden. Nachdem Seipel bereits im August 1922 und Handelsminister Dr. Schürff im Jahre 1924 in Berlin Besuch gemacht hatten, waren Reichskanzler Marx und Außenminister Dr. Stresemann (1924) nach Wien gekommen. Damit war die persönliche Fühlungnahme zwischen den Politikern des Deutschen Reiches und Österreichs wieder aufgenommen worden.

Zu Beginn des Jahres 1925 erhielt die Anschlußfrage durch die Reise des ehemaligen Vizekanzlers Dr. Frank und des Präsidenten Dr. Dinghofer nach Berlin einen starken Impuls. Eine damalige amtliche Berliner Verlautbarung erklärte, es sei bei den Besprechungen die Frage der Zusammenarbeit zwischen den beiden Staaten auf den Gebieten des Verkehres, der Wirtschaft und Kultur erörtert worden. Die großdeutschen Politiker hätten Gewicht darauf gelegt, daß die bestehenden Verkehrsschwierigkeiten zwischen den beiden Staaten bald möglichst einen Abbau erfahren sollten. Das Werben von österreichischer Seite um das Interesse des Deutschen Reiches, das hier und in der Folgezeit wiederholt festgestellt werden kann, macht es trotz aller in der französischen Presse immer wiederkehrenden Redensarten von den Annexionsgelüsten Deutschlands zu einer unumstößlichen Tatsache, daß hier immer der Wille Deutschösterreichs selbst zum Ausdruck kommt, das um sein Selbstbestimmungsrecht kämpft. Bald nach dem Aufenthalte Dr. Dinghofers und Dr. Franks in Berlin hat auch der deutsche Reichstag das erwähnte Wirtschaftsabkommen angenommen, begleitet von einer Rede des deutschen Außenministers Dr. Stresemann, der damals am 20. Februar die Worte sprach: "Trotz aller Hemmungen, die die Verträge von Versailles und St. Germain uns auferlegen, [90] sind wir entschlossen, alles zu tun, um die Beziehungen zu Österreich eng und innig zu machen. Wir wollen ein Land und eine Wirtschaftsgemeinschaft sein." Seit Beginn hatte Deutschösterreich den größten Wert darauf gelegt, in Berlin durch einen überzeugten Anhänger des Anschlußgedankens diplomatisch vertreten zu sein. Dem seinerzeitigen Gesandten Universitätsprofessor und sozialdemokratischen Abgeordneten Dr. Ludo Hartmann war Sektionschef Dr. Richard Riedl, ein Fachmann ersten Ranges auf dem Gebiete der Österreich und Deutschland betreffenden Wirtschaftsfragen, gefolgt, den im Herbst des Jahres 1925 Dr. Felix Frank, der in der ersten Regierung Seipel Vizekanzler war, ablöste. Unmittelbar nach Antritt seines Postens folgte die Aufhebung des Paßvisums zwischen Österreich und Deutschland.

Die seit 1925 verstärkt einsetzende Anschlußbewegung kam auch darin zum Ausdrucke, daß auch die Gegner des Anschlusses die Tatsache nicht leugnen konnten, die Bewegung habe nahezu die ganze österreichische Bevölkerung erfaßt. So hat der ehemalige österreichische Ministerpräsident Dr. Hussarek, ein katholischer Politiker habsburgisch-monarchistischer Observanz, um diese Zeit feststellen müssen: "Es hieße Vogel-Strauß-Politik treiben, wenn man die populäre Zugkraft des Anschlusses an Deutschland leugnen würde. Vielmehr muß damit gerechnet werden, daß bei einer Volksabstimmung sich mindestens 95% heute dafür aussprechen würden." Die Entschlossenheit der Deutschen in Österreich wuchs, je schärfer der Widerstand einer Reihe von europäischen Regierungen und ihrer Preßorgane gegen den Anschluß zum Ausdruck kam. Hat ihn doch auch die ungünstige wirtschaftliche Entwicklung zu einem immer notwendigeren Erfordernis für die österreichische Bevölkerung gemacht.

Es erfolgte im April 1925 die Gründung der Österreichisch-deutschen Arbeitsgemeinschaft in Wien und wenige Monate später des Österreichisch-deutschen Volksbundes.3 Bedeutsam für die weitere Entwicklung wurde die Haltung der wirtschaftlichen Kreise. Während in der ersten Zeit der staatlichen Selbständigkeit Angehörige der österreichischen wirtschaftlichen Kreise vielfach im Zweifel darüber waren, ob durch den Anschluß der durch den Zusammenbruch so [91] schwer geschädigten Wirtschaft geholfen sein würde und damals für manchen die Lockrufe, zu irgendeiner Form der alten Wirtschaftseinheit, wie sie im österreichisch-ungarischen Staate vorhanden war, wieder zurückzukehren, verführerisch mehr aus dem eigenen Lande und aus Frankreich als aus den Nachfolgestaaten ertönten, hat sich namentlich seit 1925 auch in diesen Kreisen eine vollständig einheitliche Auffassung von der Notwendigkeit der wirtschaftlichen und politischen Eingliederung in das deutsche Gebiet Bahn gebrochen.4

Besonders seit Beginn des Jahres 1927 häufen sich die Kundgebungen dieser Kreise für den Anschluß beziehungsweise für eine österreichisch-deutsche Wirtschaftsgemeinschaft in immer größerem Maße.5 Wir verweisen hier nur auf die Beschlüsse des österreichischen Handelskammertages unter Führung des Wiener Kammerpräsidenten Tilgner, der Vereinigung sämtlicher österreichischer Kammern für Handel, Gewerbe und Industrie einerseits, anderseits auf die Kundgebungen der Bauernschaft, wie sie sich bei der Konstituierung der neugewählten niederösterreichischen Landes-Landwirtschaftskammer und dann bei den Beratungen des christlichsozialen Reichsbauernbundes abspielten. Insbesondere der niederösterreichische Bauernführer Präsident Reither forderte wiederholt das einheitliche Zollgebiet mit dem Deutschen Reiche. Auf dem VII. Germanischen Bauernkongreß, der im Juni 1927 in Salzburg stattfand, hat sich der österreichische Vizekanzler Hartleb, der von der Partei des Landbundes in die Regierung entsendet war, mit aller Energie für den Anschluß an Deutschland eingesetzt. Im Herbst des gleichen Jahres kam es zu einer Zusammenkunft österreichischer Industrievertreter mit industriellen Vertretern des Deutschen Reiches in Berlin, der dann gemeinsame österreichisch-deutsche Kammertage folgten, und in Wien wurde am Sitze der Wiener Handelskammer ein Bureau der österreichischen Handelskammern errichtet, das unter der Leitung des ehemaligen Gesandten Riedl ausschließlich die Förderung des wirtschaftlichen Anschlusses zur Aufgabe hat. Auch die österreichische Gruppe in der Internationalen Handelskammer hat [92] hiefür wertvolle Vorarbeit geleistet. Aus einem Berichte des Montanvereines ergab sich, daß die gesamte Kohlen- und Eisenindustrie der Ansicht sei, daß nur durch einen Anschluß an Deutschland die trostlose Situation der österreichischen Industrie behoben werden könnte. Der Führer der österreichischen Schwerindustrie, Generaldirektor Dr. Apold, hat gelegentlich der Hauptversammlung der Eisenhütte Österreich ein unbedingtes Bekenntnis zum Anschluß mit folgenden Worten abgelegt: "Der Anschluß ist für uns eine wirtschaftliche Notwendigkeit allerersten Ranges. Und wir müssen ihn erreichen!" Schon zu Beginn des Jahres 1927 war die Gründung der "Delegation für den österreichisch-deutschen Wirtschaftsanschluß" in Wien ins Leben getreten, in der sich insbesondere auch die Kreise des österreichischen Gewerbes zur praktischen Arbeit im Sinne der Herbeiführung des Wirtschaftsanschlusses zusammenfanden. Ein um die Mitte des genannten Jahres erschienener Artikel des sozialdemokratischen Führers Dr. Otto Bauer beschäftigte sich mit diesem geschlossenen Aufmarsch des österreichischen Bürgertums für den Anschlußgedanken und glaubte ausführen zu müssen, daß sich der Zusammenschluß der beiden deutschen Staaten einstens nur werde im Zuge von revolutionären Umwälzungen durch das Proletariat durchführen lassen, Ausführungen, die vielfach im Sinne einer Schwächung der sozialdemokratischen Anschlußüberzeugung gedeutet wurden, obzwar Dr. Bauer immerhin selbst festgestellt hatte, daß es die "schlechthin wichtigste Aufgabe in der Anschlußpolitik" sei, "den Willen zur nationalen Einheit stark und ungebrochen zu erhalten". Den Eindruck seiner Stellungnahme haben sozialdemokratische Sprecher sowohl Österreichs wie des Deutschen Reiches zu beseitigen gewußt. Reichstagspräsident Loebe flocht gelegentlich in eine Rede den Satz: "Bereit zu sein, den Anschluß jeden Tag zu vollziehen... ist die Aufgabe der Anschlußfreunde, in welchem politischen Lager sie sonst immer auch stehen mögen", und in ähnlicher Weise haben Abgeordneter Dr. Ellenbogen und Abgeordneter Dr. Renner im österreichischen Nationalrat Stellung genommen.

Es sind demnach die Repräsentanten aller wirtschaftlichen und sozialen Schichten in dieser einen entscheidenden Frage in Österreich durchaus einheitlich eingestellt. Das gleiche gilt von allen politischen Parteien. In [93] den nationalen und den sozialdemokratischen Kreisen haben bereits seit dem Zusammenbruche enge Beziehungen mit den gleichgerichteten Parteien im Deutschen Reiche bestanden. Der österreichische Landbund als ständische bäuerliche Organisation hat die Eingliederung in den großen Reichslandbund als Landesverband durchgeführt. Seit 1926 hat auch die Christlichsoziale Partei in stärkerem Maße als früher Verbindungen mit den gleichgesinnten Kreisen des Deutschen Reiches zu pflegen begonnen. Eine erfreuliche, lebhafte Verbindung der katholischen Politiker diesseits und jenseits der Grenzen hat seither zweifellos auch in jenen christlichsozialen Kreisen Deutschösterreichs, welche sich in der Anschlußfrage früher zurückhaltend, vielfach schwankend verhielten, eine andere Einstellung herbeigeführt. Eine bedeutende Gruppe christlichsozialer Politiker (deren Sprecher u. a. Bundesratsvorsitzender Prof. Dr. Hugelmann, Abgeordneter Dr. Drexel und Univ.-Prof. Dr. Eibl) stellten bei ihrem Hervortreten auf gemeinsamen österreichisch-deutschen Tagungen verschiedener Art die Notwendigkeit der politischen Vereinigung aller Deutschen in den Vordergrund. Prof. Eibl hat in wiederholten Ausführungen den Gedankengang geprägt: Die Vereinigung aller Deutschen und die Arbeit für sie ist solidarisch mit der geistigen Erneuerung des deutschen Volkes, mit dem natürlichen Aufbau von Mitteleuropa und mit der sittlichen und politischen Läuterung des europäischen Gewissens. Gelegentlich der Revision des christlichsozialen Parteiprogramms im selben Jahre wurde nun auch zum Anschluß Stellung genommen und "die Ausgestaltung des Verhältnisses zum Deutschen Reiche auf Grund des Selbstbestimmungsrechtes" verlangt. Man kann feststellen, daß im österreichischen Nationalrate kein einziger Abgeordneter Sitz und Stimme hat, der nicht auf Grund eines Parteiprogramms gewählt worden ist, das auf die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes Bezug nimmt.6

Mit Eifer haben in den letzten Jahren die Vertreter der Industrie, des Handels wie der Landwirtschaft einerseits, die beamteten und wissenschaftlichen Fachleute auf dem Gebiete der Volkswirtschaft anderseits, ebenso die politischen Parteien die Zeit benützt, den Weg in den Einzelheiten vorzubereiten, welcher zu gehen sein wird, um zur Verwirklichung der angestrebten österreichisch-deutschen Zollunion zu kommen. Die nähere Behandlung dieser [94] schrittweisen Klärung auf wirtschaftlichem Gebiete fällt nicht in den Rahmen dieses Abschnittes. Es sei daher hier nur darauf verwiesen, daß schon gelegentlich eines Aufenthaltes großdeutscher Politiker im Jänner 1926 in Berlin die Anregung gegeben wurde, ein gemeinsames Organ beider Staatsregierungen ins Leben zu rufen, das der wirtschaftlichen Annäherung Österreichs an das Reich dienen sollte. Gelegentlich des Berliner Besuches des österreichischen Bundeskanzlers Dr. Ramek im März des Jahres 1926 haben auch bereits die Verhandlungen über wirtschaftliche Fragen einen breiten Raum eingenommen.

Mittlerweile war in der Stellung des österreichischen Staates zu den Mächten des Genfer Abkommens eine wesentliche Veränderung eingetreten. Das "Sanierungswerk" ging seinem Ende entgegen. Schon im Herbst 1925 hatten in Genf Verhandlungen über die Aufhebung der Kontrolle durch den Generalkommissär des Völkerbundes stattgefunden. Die Aufhebung dieses Amtes sollte in dem Zeitpunkte eintreten, in dem ein vom Rechnungshof geprüfter Rechnungsabschluß des Bundes über das Jahr 1925 vorliegen werde. Das stand dann auch für die Mitte des Jahres 1926 fest. Wenn auch damals noch die Funktion eines Beraters der Nationalbank um drei Jahre verlängert wurde, gerechnet von der Beendigung der durch den Generalkommissär des Völkerbundes ausgeübten Kontrolle, und auch für den Fall der ernsthaften Gefährdung des Budgetgleichgewichtes ein Wiederaufleben der Kontrolle zugestanden werden mußte, so war doch den Führern des österreichischen Staates eine größere Freiheit des Handelns und die Möglichkeit einer offeneren Sprache gegeben. Bundeskanzler Dr. Ramek ließ über die Auffassung, die er in dieser Lage hatte, keinen Zweifel aufkommen. Ganz deutlich sprach er sich darüber gelegentlich seines schon erwähnten Berliner Aufenthaltes aus. Es seien seine damaligen Äußerungen vor den Pressevertretern festgehalten: "Es sei", erklärte er, "mit Händen zu greifen, daß wir uns heute außenpolitisch und international in ganz anderer Lage befinden als zu Beginn der Sanierungspolitik. Um dies zu erreichen, mußte Österreich allerdings einen Teil seiner Souveränität durch die Abmachungen mit dem Völkerbunde preisgeben, die diesem ein befristetes Recht auf die Kontrolle unserer Finanzen einräumte. ... Heute können wir eine nach allen Richtungen hin von Bindungen freie auswärtige Politik machen und die in diesem Augenblick wichtigste nationale Aufgabe erfüllen: das [95] österreichische Volk lebensfähig und zukunftsfähig zu erhalten." Bundeskanzler Dr. Ramek hat auch die Gelegenheit der Aufnahme des Deutschen Reiches in den Völkerbund nicht vorübergehen lassen, ohne vor dem Bunde der Nationen der ganzen Welt die Zusammengehörigkeit der beiden deutschen Staaten in Mitteleuropa zu betonen. Er hatte sich bereits im März zu diesem Behufe in Genf eingefunden (bekanntlich wurde die Aufnahme Deutschlands auf den Herbst vertagt). Er erschien am 10. September neuerlich, um an dem feierlichen Akte teilzunehmen, und unterließ es auch nicht, in einer Rede das deutsche Bruderreich zu begrüßen. Es war eine besondere Demonstration taktvollster Art, als Österreich hier durch den Mund seines Kanzlers "dem uns Österreichern stammesgleichen Reiche" Willkommgruß bot.

Eine bedeutungsvolle Kundgebung der Zusammengehörigkeit der beiden deutschen Staaten hatte sich wenige Wochen vorher gelegentlich der Überreichung des Beglaubigungsschreibens des neuen deutschen Gesandten Grafen von Lerchenfeld in die Hände des Bundespräsidenten Dr. Hainisch ergeben. In seiner Antwort auf die Ansprache des deutschen Gesandten erklärte Dr. Hainisch, "daß wir über alle kleinlichen Erwägungen des Augenblicks den großen Gedanken zu stellen haben, den Gedanken an die deutsche Zukunft. An ihr arbeiten wir alle nach unserer Verantwortung und nach unseren Kräften".

Es sei bei dieser Gelegenheit festgestellt, daß der erste von der Bundesversammlung gewählte Bundespräsident Deutschösterreichs, Dr. Michael Hainisch, so sehr ihm auch eine starke Zurückhaltung in politischen Äußerungen auferlegt war, während seiner ganzen achtjährigen Präsidentschaft oftmals Gelegenheit nahm, um seine Meinung im Sinne der Notwendigkeit des Anschlusses namentlich auch ausländischen Besuchern gegenüber zum Ausdruck zu bringen. Dies mag immerhin manchmal den amtlichen Personen Augenblicke der Verlegenheit bereitet haben, gleichwohl blieb es von höchstem Werte. Er hat später, als er als Privatmann in Berlin Gelegenheit hatte, über seine Erfahrungen während der Präsidentschaft zu sprechen, der Überzeugung Ausdruck gegeben, sein Verdienst an der Gestaltung der neuen Entwicklung dürfe vor allem darin erblickt werden, daß er in seiner Stellung manches habe verhindern können, was geeignet gewesen wäre, dem gesamten deutschen Volke zu schaden.

[96] Als der im Jahre 1927 neugewählte Nationalrat zusammentrat, hat der inzwischen Nachfolger Dr. Rameks gewordene Bundeskanzler Dr. Seipel eine Regierungserklärung vorgetragen, die durchaus dem Tone und Inhalte nach freier als die bisherigen Regierungserklärungen von dem Verhältnis Österreichs zum Deutschen Reiche sprach. Es hieß darin: "Ganz besonders am Herzen liegt uns die Ausgestaltung der Beziehungen zu unseren Brüdern im Deutschen Reiche. Auf allen geistigen Gebieten kann das Verhältnis nicht mehr enger werden. Es ist in unserer gemeinsamen Abstammung, Kultur und Geschichte begründet. Daß wir darüber hinaus auch jede wirtschaftliche und sonstige Annäherung der beiden Staaten fördern und wünschen, die je nach der Zeitlage möglich und zulässig ist, weiß alle Welt." Die sich an diese bedeutsame Erklärung anschließenden Reden der berufenen Parteiführer aller vier Parteien des Nationalrates ließen keinen Zweifel darüber aufkommen, wie Österreichs Volksvertretung gesinnt ist. Die Reden waren so eindeutig, daß der die Erörterungen des Nationalrates damals besprechende Artikel des Temps erklären mußte: "Wenn die berufenen Parteiführer im Nationalrat sich so zum Anschlusse bekennen, muß die letzte Täuschung aufgegeben werden, als ob diese Idee in Österreich etwa nur von einer Minderheit vertreten werde."

Noch im Juni des gleichen Jahres hatte der Nationalrat Gelegenheit, seinen unbedingten Willen dahin zu äußern, daß er auf dem Wege des Zusammenschlusses weiterkommen wolle. Er hat gelegentlich einer Verhandlung über ein Gesetz über die Bundesbürgerschaft einen von dem Berichterstatter Abgeordneten Dr. Grailer beantragten Resolutionsantrag angenommen, der von der Bundesregierung Verhandlungen mit der deutschen Reichsregierung verlangt, "um im gegenseitigen Einvernehmen wesentliche Erleichterungen für die Einbürgerung von Österreichern in das Deutsche Reich und die Einbürgerung von Reichsdeutschen in die Republik Österreich zu schaffen", worauf Bundeskanzler Dr. Seipel die Bereitwilligkeit der Regierung hiezu ausdrücklich erklärte. Seit dem Jahre 1927 steht dem deutschen Reichstage wie dem österreichischen Nationalrate der unter ständiger Teilnahme österreichischer Vertreter zustande gekommene Entwurf eines neuen deutschen beziehungsweise österreichi- [97] schen Strafrechtes in Verhandlung. Beide Entwürfe decken sich bis auf zwei Ausnahmen vollständig im Wortlaute. Er ist während der Jahre 1927 bis 1930 in beiden Parlamenten mit größter Beschleunigung so weit gefördert worden, daß die erste Lesung beendet werden konnte. Es ist wichtig festzustellen, daß diese Beratungen auch die Form gemeinsamer Tagungen angenommen haben. Im November des Jahres 1927 traten die Mitglieder der in den beiden deutschen Parlamenten gebildeten Sonderausschüsse zur Beratung des Strafgesetzes zu einer gemeinsamen Strafrechtskonferenz zusammen. Der Obmann des österreichischen Sonderausschusses, Präsident Dr. Waber, konnte bei der Konferenz feststellen, daß zum ersten Male Vertreter von Ausschüssen zweier Parlamente zu gemeinsamer Beratung zusammengetreten sind, um gemeinsames Recht zu schaffen. Als im November des Jahres 1927 ein zweiter Besuch des Reichskanzlers Dr. Marx und des Reichsaußenministers Dr. Stresemann in Wien erfolgte, hat in den Kanzlerreden neuerdings die Freundschaft der beiden deutschen Staaten und ihrer Bevölkerungen eine starke Unterstreichung erfahren.

Wo in den letzten Jahren deutschösterreichische Vertreter Gelegenheit hatten, auf internationalen Zusammenkünften über die Lage ihres Vaterlandes zu sprechen, dort ist es immer im Sinne der Notwendigkeit des Anschlusses geschehen. Es sei hier auf die Rede des österreichischen Delegierten Dr. Kunz, Dozenten für Völkerrecht an der Wiener Universität, hingewiesen, der auf der Tagung des Generalrates der Völkerbundligenunion in Sofia im Oktober 1927 nach einer Schilderung der schweren Wirtschaftslage unseres Landes fortfuhr zu erklären: "Ich möchte aber Ihnen, meine Damen und Herren, nicht verhehlen, daß eine definitive und fruchtbare Lösung dieses Problems nicht nur für unser Land, sondern auch für ganz Europa nur durch den Zusammenschluß Österreichs und Deutschlands erreicht werden kann."

Als im August des Jahres 1928 die Interparlamentarische Union ihren 25. Kongreß in Berlin abhielt, haben sowohl der Vorsitzende der österreichischen Gruppe, Abgeordneter Dr. Drexel, wie der Vorsitzende-Stellvertreter Abgeordneter Dr. Wotawa, Gelegenheit gehabt, das Wort zu ergreifen. Ersterer hat sich mit der Möglichkeit, die wirtschaftliche Lage des Landes zu bessern, beschäftigt und setzte fort: "So gibt es für Österreich nur [98] eine Lösung: die Beseitigung jener Zollschranken, die es so sehr einengen, eine Beseitigung, welche erst die Möglichkeit schafft, in ein großes Wirtschaftsgebiet hineinzukommen, das heute vom deutschen Volke besiedelt wird." Abgeordneter Dr. Wotawa sprach zu dem Referat "Rechte und Pflichten der Völker und Staaten" u. a.: "Es ist eine, ich möchte fast sagen, unabänderliche Tatsache, daß sich das österreichische 'Volk' als ein Teil des ganzen deutschen Volkes fühlt und daß es auf Grund seiner Souveränität, die in einem anderen Satz als unverletzlich festgestellt wird, auch wirklich frei verfügen kann. Es ist unsere feste Überzeugung, daß der Zusammenschluß der beiden deutschen Staaten in Mitteleuropa sich wirklich einmal vollziehen wird, da er zu jenen unausbleiblichen Änderungen in Mitteleuropa gehört, die zur Befriedung Mitteleuropas eine der allerersten Voraussetzungen ist."

Ein für die Angleichung bedeutungsvolles Gesetz konnte der österreichische Nationalrat im Mai des Jahres 1928 verabschieden. Durch Annahme einer für Österreich und das Deutsche Reich gleichlautenden gemeinsamen Eisenbahnverkehrsordnung ist auf diesem wichtigen Gebiete ein einheitliches Recht geschaffen worden. Der Berichterstatter Abgeordneter Dr. Grailer konnte auch hier eine Entschließung dem Nationalrate vorlegen, die weit über den Anlaß des Tages hinaus grundsätzlich den Willen des Nationalrates in bezug auf das ganze Verhältnis zum Deutschen Reiche festlegte. "Die Bundesregierung wird aufgefordert, in der begonnenen Angleichung des gesamten Eisenbahnrechtes an das reichsdeutsche durch ständige Fühlungnahme mit den deutschen Regierungsstellen weiter fortzufahren. Der Nationalrat erblickt in der Durchführung der Angleichung österreichischer Rechts- und Wirtschaftsverhältnisse an jene des Deutschen Reiches ein dringendes Gebot und eine unerläßliche Voraussetzung einer günstigen Zukunftsentwicklung Österreichs."

Die Gefahrlage Österreichs.
[103]      Die Gefahrlage Österreichs.

Wenige Wochen darauf hatte der Nationalrat – es ist nicht möglich, hier alle seine Willensäußerungen im Sinne der Anschlußpolitik wiederzugeben – neuerdings Gelegenheit, sich im Anschluß an die Verhandlung über ein Handelsabkommen mit Ungarn über die handelspolitische Stellung Deutschösterreichs auszusprechen. Gelegentlich der Konferenz der Kleinen Entente in Bukarest (Juni 1928) hatten sich alle drei Außenminister ausdrücklich gegen alle An- [99] schlußbestrebungen gewendet, und insbesondere der jugoslawische Minister Marinkovic hatte das Bedürfnis gefühlt, Österreich als zum wirtschaftlichen System gehörig zu erklären, das von der Kleinen Entente ausgehe und das auch Österreich Möglichkeiten der Entwicklung bieten wolle. In aller Deutlichkeit wurde diesmal von der offiziellen Tribüne des Nationalrates aus erklärt, daß Österreich ein für allemal davon nichts wissen wolle, in ein – wie sich Marinkovic ausdrückte – "zentraleuropäisches wirtschaftliches System" einbezogen zu werden, wobei er keinen Zweifel ließ, daß er dabei an ein wirtschaftliches Gebilde gleich der Donaumonarchie dachte. Demgegenüber wurde die Antwort, die Bundeskanzler Dr. Seipel im Nationalrate gab, zu einer alle bisherigen offiziellen Äußerungen des Kanzlers an Deutlichkeit weit hinter sich lassenden Erklärung, die in den Sätzen gipfelte: "Meine Überzeugung ist: Erstens, daß wir im Laufe der Zeit, je früher, um so besser, die Möglichkeit haben müssen, aus der Enge der Grenzen, die uns derzeit als Wirtschaftsgebiet gezogen sind, herauszutreten. ... Deswegen habe ich die Meinung, daß wir uns freihalten müssen, hineinzugehen in eine größere oder kleinere, eine europäische, mitteleuropäische, deutsche Lösung, sobald sich uns die Tür in dieses oder jenes größere Wirtschaftsgebiet öffnet. Aber niemals werden wir glauben, daß die mitteleuropäische Frage gelöst ist, wenn der große Staat, der das eigentliche Mitteleuropa ausfüllt, das Deutsche Reich, bei dieser Lösung nicht mit dabei ist."7

Wer könnte glauben, daß sich bei so fortgesetzter Handelspolitik im Sinne einer Wirtschafts- und Zollunion letzten Endes etwas anderes als eine deutsche politische Union ergeben kann?

Die Formel aber: keine handelspolitische Lösung ohne Deutschland – ist die unverrückbare Grundlage für alle offiziellen handelspolitischen Absichten und Verhandlungen Österreichs geworden.8


[100] Das Jahr 1928 hat, wie man sieht, in der Anschlußfrage manchen guten Fortschritt zu verzeichnen. Aber die höchste Steigerung in diesem wahrhaften "Anschlußjahr" stellte das Deutsche Sängerbundesfest vom Juli 1928 dar. Hunderttausend Sänger aus der ganzen Welt waren hier unter Teilnahme aller offiziellen Persönlichkeiten des Staates zu einer mächtigen Anschlußkundgebung vereinigt. Nichts konnte die anderen Völker der Erde mehr als diese Kundgebung von dem entschlossenen Willen des ganzen deutschen Volkes überzeugen, die politische Einheit schließlich zu erreichen. In der Ansprache des Präsidenten des Deutschen Sängerbundes, Friedrich List, die er in der Sängerhalle hielt, stand der Satz: "Unsere Seele dürstet nach diesem Großdeutschland, aber unser Verstand sagt uns, daß wir nur Vorbereitungsarbeit leisten können. Dieser Arbeit wollen wir uns unterziehen, mit der Kraft und Begeisterung, die aus dem deutschen Liede fließt." Alle Parteien und Weltanschauungen hatten sich zu dieser unvergleichlichen Kundgebung vereinigt. Im Verlauf der dem Wiener Sängerfeste folgenden Wochen gab es auch an vielen anderen Orten Österreichs Kundgebungen für die Einheit des deutschen Volkes, von denen nur die begeisterte Aufnahme erwähnt sei, die den unter der Führung des Reichstagspräsidenten Paul Loebe erschienenen reichsdeutschen Politikern im Burgenlande bereitet wurde. Der sozialdemokratische Landeshauptmannstellvertreter Leser gab die Erklärung ab, daß das ganze Burgenland großdeutsch eingestellt sei. Selbst der Bürgermeister einer kroatischen Gemeinde des Burgenlandes konnte versichern, daß die kroatische Bevölkerung des Landes der baldigen Vereinigung ihrer Heimat mit dem Deutschen Reiche entgegensehe. – Das Deutsche Sängerbundesfest mit all seinen erfreulichen Begleiterscheinungen gab auch Gelegenheit, in der gesamten Weltpresse die Anschlußfrage durch Wochen wieder zu erörtern und die einheitliche Auffassung und Willensmeinung des ganzen deutschen Volkes dabei festzustellen.

Gegen Ende des Jahres 1928 gab die Erinnerung an den zehnjährigen Bestand der Republik Österreich Anlaß zu vielen Feiern des Ereignisses in allen Teilen des Bundes, und es ist wohl keine zu Ende gegangen, ohne des vor zehn Jahren begangenen Raubes am Selbstbestimmungsrechte bedauernd, trauernd zu gedenken und der Hoffnung auf Erfüllung der Anschlußforderung Ausdruck zu geben. Bei der offiziellen Feier im [101] Nationalrate stellte Präsident Miklas, der wenige Wochen später Bundespräsident wurde, in seiner Ansprache fest, daß bei dem Ringen um einen erträglichen Frieden der Friedensvertrag von St. Germain genehmigt werden mußte und damit auch der Artikel 2 des Grundgesetzes vom 1918 gefallen sei, der Deutschösterreich zu einem Bestandteil der deutschen Republik erklärt hatte. "Er blieb eine feierliche Deklaration." Von den offiziellen Reden des Tages vor dem Staatsoberhaupte sei insbesondere auch auf die Ansprache des Vertreters des Bundesrates, Professor Dr. Hugelmann, hingewiesen, "der der Hoffnung Ausdruck gab, daß die innere Ordnung und Freiheit des jungen Staates Verheißung sein möge für die Erlangung des uns feierlich versprochenen Selbstbestimmungsrechtes, welches unter den Völkern Europas allein den Besiegten heute noch versagt ist". Bei der Feier im Verein der Österreicher in Berlin gab der österreichische Gesandte Dr. Frank der Hoffnung Ausdruck, "daß das gegenwärtige Österreich einen Übergang zu einer Zukunft auf breiterer nationaler Grundlage bilden werde".

Überblicken wir die Entwicklung: War der Anschlußwille gefühlsmäßig und als eine sittliche Forderung des deutschen Volkes bereits aus den Trümmern des Jahres 1918, zugleich als eine der ganz wenigen Hoffnungen, die sich für das deutsche Volk in diesem Jahre eröffneten, hervorgegangen, so sehr hat seither die verstandesmäßige Verarbeitung des Gedankens zu einem tieferen Verständnis für seine Bedeutung in allen Schichten der österreichischen Bevölkerung geführt. Universitätsprofessor Dr. Wettstein hat dies rückblickend einmal dahin formuliert: "Der Anschlußwille der deutschösterreichischen Bevölkerung gewinnt nicht nur an Verbreitung, sondern auch an Vertiefung." Daß wir mit der Art der Vorbereitung des kommenden Anschlusses auf dem richtigen Weg sind, dafür mag uns ein Wort des französischen Temps Sicherheit geben: "Von allen Methoden zur Anschlußvorbereitung ist die Vereinheitlichung der Gesetzgebung, der Verwaltung, der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Einrichtungen die geschickteste." Und in der Tat. In diesem Geiste vollziehen sich jährlich Hunderte von "Anschlußkundgebungen" verschiedenster Art. Greifen wir Beispiele heraus, da wir die Vollständigkeit schon wegen des Platzmangels nicht erreichen können. So dient z. B. ein seit 1928 von den Regierungen organisierter österreichisch-deutscher Beamtenaustausch [102] der Angleichung auf dem Gebiete der Verwaltung. Der Anschluß der evangelischen Kirchen A. B. und H. B. Österreichs an den deutschen evangelischen Kirchenbund ist seit 1926 vollzogen. Die Beiziehung der Rektoren der österreichischen Hochschulen zur deutschen Hochschulrektorenkonferenz verstärkt die gegenseitigen Beziehungen der ersten wissenschaftlichen Stätten auf deutschem Boden. Ähnlich wie der Beamtenaustausch erfolgt der Austausch wissenschaftlicher Bibliothekare zwischen Berlin und Wien. Die studentischen Vertretungen aller deutschen Hochschulen sind in einem Verbande vereint und der starke gegenseitige Besuch reichsdeutscher und österreichischer Studenten an den Hochschulen verstärkt diese Verbindung. Eine großdeutsche akademische Tagung an der Wiener Universität im Jahre 1926 hat die akademischen Kreise beider Länder mit den Problemen der Gemeinsamkeit vertrauter gemacht. Wiederholte große Kundgebungen des Deutschen Schulvereines "Südmark" haben der Stärkung des Anschlußgedankens in den breiten Massen gedient, so namentlich die gemeinsam mit dem Verein für das Deutschtum im Auslande veranstalteten. Die Angehörigen des Republikanischen Schutzbundes in Österreich haben sich mit denen des deutschen Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold wiederholt verbrüdert. Reisen der Wiener großen Gesangvereine (Wiener Männergesangverein, Schubertbund, Wiener Lehrer-A-capella-Chor) haben Deutschland dem österreichischen Liede zu erobern gewußt. Der Deutsche Juristentag in Salzburg, der Verbandstag des Deutschen Philologenverbandes wie überhaupt alle jene vielen Kongresse solcher Organisationen, die sich über das ganze deutsche Sprachgebiet ausdehnen (mit Wien als einem der meist aufgesuchten Kongreßorte) haben Anschlußkundgebungen der versammelten Deutschen beider Staaten gebracht. Diese Reihe ließe sich in reicher Auswahl fortsetzen, es genügt aber das Angeführte, um zu sagen, daß es kein Gebiet wirtschaftlichen und kulturellen Lebens mehr gibt, auf dem nicht die zuständigen Kreise dies- und jenseits der deutschen Grenzen in einträchtiger Fühlung zusammenarbeiten würden.


Unsere Betrachtung wendet sich nun einem Ereignisse in der neuösterreichischen Geschichte zu, das eine Epoche abzuschließen und reichere Hoffnungen für unsere nationale Zukunft, als wir sie bisher [103] hegen konnten, zu wecken vermag. Als im Jahre 1929 nach einer Regierung von wenigen Monaten Dr. Streeruwitz als Bundeskanzler zurücktrat – Dr. Streeruwitz hat sich während seiner Amtszeit, in noch viel höherem Grade aber seither, als warmer Freund des Zusammenschlusses der beiden deutschen Staaten in aller Welt bekannt gemacht –, übernahm Bundeskanzler Dr. Schober mit den vielen anderen seiner Regierung gestellten Aufgaben auch die Weiterführung der Verhandlungen in der zunächst auf der Pariser Konferenz behandelten österreichischen Reparationsfrage, die einerseits im Zusammenhang mit den seit drei Jahren laufenden Bemühungen um eine österreichische Investitionsanleihe, anderseits aber auch mit der Verabschiedung des Young-Planes stand. Gerade während der langwierigen Verhandlungen über die Investitionsanleihe hatte sich die vorhandene Unfreiheit und finanzielle Unselbständigkeit Österreichs, wie sie durch den Vertrag von St. Germain und das Genfer Abkommen gegeben war, in voller Wucht gezeigt. Auf Paris war dann der Haag gefolgt. Auf der zweiten Haager Konferenz kam eine für das Deutsche Reich äußerst schmerzliche, wirtschaftlich kaum je zu leistende Regelung des Reparationsproblems zustande. [104] Österreich konnte durch seine unter Führung Schobers stehende Delegation, allerdings erst nach Abwehr der letzten Versuche seiner Nachbarn, dem wehrlosen Lande noch einmal neue Lasten aufzudrängen, eine völlige Befreiung von allen Reparationsverpflichtungen erreichen. Damit war auch das aus der Reparationsverpflichtung stammende Generalpfandrecht auf das gesamte Staatsvermögen beseitigt. Alle sich aus dem St. Germainer Vertrage ergebenden finanziellen Forderungen der Staaten wurden für gegenseitig sich aufhebend erklärt. Damit war Österreich auch in seiner Finanzpolitik erst wirklich freigeworden. Irgendwelche andere als die durch den Wirtschaftszustand des Staates gegebenen Hemmungen im wirtschaftlichen und finanziellen Verkehr mit den anderen Staaten und Völkern waren in Zukunft unmöglich. Nur eine Tatsache, die aber entscheidend und empfindlich unsere Souveränität einschränkt, ist geblieben: Artikel 88 des Friedensvertrages. Er war kein Gegenstand des Haager Abkommens. Die Willensfreiheit, den politischen Anschluß zu vollziehen, fehlt also Österreich noch immer. Aber wir sind auf dem Wege von Genf nach dem Haag ein wesentlich freieres Volk geworden. Österreich konnte nun auch alsbald auf Grund der neuen Voraussetzungen die Investitionsanleihe erhalten. Der Jänner 1930 beendet einen Abschnitt neuösterreichischer Geschichte voll Demütigungen für eine Bevölkerung, die sich im Jahre 1918 dem Worte vom Selbstbestimmungsrechte der Völker anvertraut hatte, sich bisher aber darin schmählich getäuscht fühlen muß. Finanzielle Unabhängigkeit aber gibt die Möglichkeit größerer außenpolitischer Aktivität! Möge sie nun von allen, Regierung, Parlament und Volk, genützt werden!


Seite zurückInhaltsübersichtnächste
Seite


1Vgl. Klein, Dreizehn Männer regieren Europa. S. 99. ...zurück...

2Dr. Seipel hat sich bei den verschiedensten Gelegenheiten innerhalb und außerhalb des Parlamentes gegen eine Demonstrationspolitik in der Anschlußfrage ausgesprochen, wie sie insbesondere von Seite der Großdeutschen Volkspartei, vielfach auch von der Sozialdemokratischen Partei für richtig gehalten wurde und wird. Der unermüdliche Hinweis auf das Selbstbestimmungsrecht von seiten Österreichs selbst – es muß dies allerdings zunächst ein "ewiges Demonstrieren gegen Tatsachen" sein (vgl. Dr. Seipel im Budgetausschuß, 1. Dezember 1926) – bringt zweifellos Fortschritte selbst in der Aufklärung der ursprünglich gegnerisch eingestellten Völker. Es gibt eine ganze Reihe von Kundgebungen (vgl. z. B. die der französischen Liga für Menschenrechte), die geradezu mit dem Hinweis auf den zum Ausdruck gekommenen Willen der Mehrzahl der Österreicher das Unmögliche eines dauernden Widerstandes gegen diesen Willen zum Ausgangspunkt ihrer Auffassung in der Anschlußfrage machen. – Wer würde bezweifeln wollen, daß das fast hundert Jahre demonstrativ gesungene Lied: "Noch ist Polen nicht verloren" zum Wiedererstehen des neupolnischen Reiches aus seinen Trümmern wesentlich beigetragen hat? ...zurück...

3Näheres in dem Aufsatz "Organisationen für den österreichisch-deutschen Zusammenschluß" von Dr.-Ing. Neubacher. ...zurück...

4Der von den Völkerbundexperten Layton und Rist erstattete Bericht über die Wirtschaftslage Österreichs (1925) kam zu dem Ergebnis, daß für Österreich das wichtigste Problem die Herstellung einer größeren Handelsfreiheit sei. ...zurück...

5Vgl. auch Paller, Der großdeutsche Gedanke. S. 131 ff. ...zurück...

6Näheres in dem Aufsatz "Die politischen Parteien und die Anschlußfrage" von Univ.-Prof. Dr. Hugelmann. ...zurück...

7Vgl. den vollständigen Wortlaut im Aufsatz Hugelmanns. ...zurück...

8Vgl. Interview des Bundeskanzlers Dr. Schober (Neue Freie Presse vom 30. August 1930): "Keine Kombination, von der Deutschland ausgeschlossen ist, – jede Kombination, in der Deutschland enthalten ist!" ...zurück...

Seite zurückInhaltsübersichtnächste
Seite

Die Anschlußfrage
in ihrer kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Bedeutung

Friedrich F. G. Kleinwaechter & Heinz von Paller