I. Die historischen Grundlagen
(Forts.)
Deutschösterreichs Kampf um das
Selbstbestimmungsrecht
von den Genfer Protokollen bis zum Haager
Abkommen
Abg. Dr. August Wotawa, Präsident des
österreichischen Bundesverlages für Unterricht, Wissenschaft
und Kunst (Wien)
Die Genfer Protokolle Die Grundlagen der
Regierung Seipel zur Zeit der Sanierung Österreichs
Richtlinien der österreichischen Außenpolitik seit der
Sanierung Sicherung der Selbständigkeit des Staates
gegen eine Einbeziehung in eine antideutsche
Mächtegruppierung
"Demonstrationspolitik" Österreichs
"Deutschlandhilfe" Das Kabinett Ramek
Vertiefung der
österreichisch-deutschen Beziehungen Stärkung
der Anschlußbewegung in Österreich Haltung
der Wirtschaftskreise Österreichs zur
Anschlußfrage Aufhebung der
Völkerbundkontrolle Michael Hainisch als
Bundespräsident
Österreichisch-deutsche Zusammenarbeit
Angleichung "Keine handelspolitische Lösung ohne
Deutschland!" Das deutsche Sängerbundesfest in
Wien Zehn Jahre Republik Österreich
Das Kabinett Streeruwitz Das Kabinett
Schober Das Haager Abkommen und seine
Bedeutung.
Klarer noch als die von den ehemaligen Siegern erpreßte Unterlassung der
Volksabstimmungen im Jahre 1921 haben die politischen Bindungen des Genfer
Abkommens vom 4. Oktober 1922 der österreichischen
Bevölkerung die Gewißheit gegeben, daß es keine
Möglichkeit für die sofortige Durchsetzung des nationalen
Selbstbestimmungsrechtes trotz der Stärke des vorhandenen Willens gab.
So erschütternd die Erkenntnis auch wirken mußte, es wurde klar,
daß die Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechtes erst der Endpunkt
schweren, unablässigen Ringens mit allen Gegnern des deutschen Volkes in
Europa und einer langen zielbewußten Arbeit sein kann und erst nach
Ablauf eines noch nicht zu erkennenden weltpolitischen Geschehens zu erwarten
ist. Die Deutschen in Österreich haben seither diesen Dornenweg in aller
Zähigkeit betreten. Das Sanierungswerk, das mit den Genfer Protokollen
begründet wurde und bei dem acht Mächte finanzielle Hilfe
gewährten, um Österreich in seinem Bemühen um die
wirtschaftliche und finanzielle Wiederaufrichtung zur Seite zu stehen,
stützte sich in seinem legislativen Teile auf eine parlamentarische Mehrheit
und eine Regierung, die von den Christlichsozialen und der Großdeutschen
Volkspartei ge- [86] bildet worden war.
Damit war diesem Sanierungswerke auch die Hilfe jener Kreise gesichert, welche
in der hilflosen Lage Österreichs keinen anderen als diesen Ausweg
gesehen und zugleich erkannt haben, daß auch vom nationalen
Gesichtspunkte aus dem ganzen deutschen Volke am besten gedient ist, wenn sich
die Bevölkerung Österreichs wieder zu erheben vermag und, statt
tiefer in chaotische Zustände zu versinken, in die Reihe der gesundenden
Völker eintritt. Die Grundlage der Regierung Seipel war eine Verabredung
der Regierungsparteien (Koalitionspakt), in der u. a. festgelegt worden war,
daß die österreichische Regierung nur eine solche Außenpolitik
machen dürfe, die Österreich dem Deutschen Reiche nicht
entfremdet und die zumindest alles vermeidet, was den seinerzeitigen
Anschluß erschweren könnte. Bei allen folgenden
Regierungsbildungen ist diese Bindung aufrecht geblieben und damit war der
Rahmen der österreichischen Außenpolitik für die folgenden
Jahre von selbst gegeben. Ergänzend darf man sagen, daß damit auch
die Aufgabe der Innenpolitik gestellt war: Österreichs staatliches Leben zu
erhalten, bis ihm durch die Eingliederung in das deutsche Wirtschaftsgebiet und
den politischen Zusammenschluß der beiden deutschen Staaten die
Möglichkeit gegeben war, von seinen Wirtschaftskräften in einem
größeren Rahmen derartig Gebrauch zu machen, daß es,
kulturell und wirtschaftlich angeglichen, zum unlösbaren Gliede des
großdeutschen Reiches werden kann. Es unterliegt keinem Zweifel,
daß die in den Sanierungsjahren der österreichischen
Bevölkerung in der verschiedensten Form auferlegten schweren Lasten und
Leiden vielen nur unter dem Gesichtspunkte erträglich schienen, daß
dadurch die in der deutschösterreichischen Republik vereinten
Länder als Ganzes erhalten wurden und damit ihr späterer
Anschluß an das Deutsche Reich ermöglicht blieb. Es gab eben auch
in den Jahren nach 1922 eine erdrückende Mehrheit der
Bevölkerung, die vom Anschlußwillen erfüllt war und der nur
eine mindestens in ihrer Zahl recht unbeträchtliche Minderheit
widerstrebte. Es ist auch Tatsache, daß die offiziellen Faktoren des Staates,
Regierung und Parlament, in den allerersten Sanierungsjahren unter dem Drucke
von außen, angesichts der Tatsache einer im Generalkommissär des
Völkerbundes verkörperten, die Souveränität des
Staates wesentlich beeinträchtigenden Kontrolle, den entschlossenen
Anschlußwillen der Bevölkerung zum Ausdrucke zu bringen nicht
für opportun hielten. Mit aller Vorsicht hat der Chef und
Außenminister der Regierung Dr. Seipel bereits in [87] seiner ersten
Regierungserklärung am 31. Mai 1922 im Nationalrate erklärt:
"Und es ist ja in der Tat dasselbe: meint jemand, das deutsche Volk in
Österreich werde in der ihm durch den Staatsvertrag von St. Germain
zugesicherten Selbständigkeit weiterleben, oder glaubt er, es werde in eine
größere nationale Einheit aufgehen, weiterleben muß es, und
wir, die wir alle zusammen Fleisch vom Fleische dieses Volkes sind und Blut von
seinem Blute, müssen alles tun, was in unserer Macht steht, daß es
lebe." Er hat aber auch in seiner zweiten Genfer Rede vom 4. Oktober
desselben Jahres bereits den Satz ausgesprochen: "Die Zeit der wahren Freiheit
wird erst kommen, wenn wir auch wieder wirtschaftlich frei geworden sind." Die
Außenpolitik des ersten Kabinetts Seipel war von dem Gesichtspunkte
getragen, den durch die Verträge festgelegten internationalen
Verpflichtungen Österreichs müsse nachgekommen werden, im
übrigen aber habe Österreich nicht die Möglichkeit, eine
aktive, den Staat einseitig bindende Außenpolitik zu betreiben. Kein
Optieren für irgendeine Kombination, solange die internationale Lage einen
wirklich freien Entschluß verbietet!1 Diese Linie hat das erste Kabinett
Seipel bis zu seiner Demission im November 1924 festgehalten.
Mit den auf Grund der Völkerbundanleihe ermöglichten raschen
Fortschritten in der finanziellen
Sanierung – schon im Jahre 1924 traten an die Stelle des Defizits
Überschüsse des
Budgets – war zunächst als Ergebnis die Sicherung der
Selbständigkeit des Staates gegen eine Einbeziehung in eine antideutsche
Mächtekombination oder gar gegenüber Aufteilungsplänen
erreicht. Dr. Seipel hat das später (in einem Interview in
Berlin, Februar 1926) in die Worte gekleidet: "Österreich ist durch meine
Politik ein deutscher Staat geblieben, der mit dem Reiche zusammenarbeitet. Es
gilt, diese sachliche Politik ohne große Worte fortzuführen."2
Damit begnügte sich das Denken und Fühlen der
deutschösterreichischen Bevölkerung auf die Dauer nicht. Es
drängte nach [88] engerer Verbindung.
Das Gefühl völliger Zusammengehörigkeit saß viel zu
tief. Auch die europäischen Staatsmänner konnten, so
zurückhaltend damals die offiziellen Kreise des Staates waren, so vorsichtig
sie sich glaubten ausdrücken zu müssen, über diese Stimmung
der österreichischen Bevölkerung nicht im unklaren sein. Geradezu
elementar kam sie schon im Jahre 1923 in einer Art und Weise zum Ausdrucke,
wie sie nicht mehr übertroffen werden konnte.
Als die Not im
Deutschen Reiche durch den Zusammenbruch der Mark ins Unermeßliche
gestiegen war, da hat das kleine arme Deutschösterreich eine
"Deutschlandhilfe" organisiert, die weit über die Kräfte des Landes
zu gehen schien. Eine "Hauptstelle für Deutschlandhilfe" wurde errichtet,
Sammelaktionen aller Parteischattierungen für die hungernden reichsdeutschen Kinder, Sammeltage, die in den Straßen der Städte
veranstaltet wurden, Hilfsaktionen der Gewerkschaften, der Angehörigen
des Bundesheeres, die Organisierung von Kinderhilfszügen großer
Organisationen, unter denen die des Deutschen Verbandes für
Jugendwohlfahrt besonders großen Umfang angenommen hat, wurden
eingeleitet. Die Kinderhilfszüge übrigens und andere Aktionen
standen unter weitgehender Förderung der Regierung, die durch
einstimmigen Beschluß des Parlamentes aufgefordert worden war,
die Hilfsaktionen der Bevölkerung mit voller Kraft zu unterstützen.
Gelegentlich der parlamentarischen Erörterung darüber haben die
Redner aller Parteien ihre Hilfsbereitschaft bekundet. Der Abgeordnete
Clessin hat damals zum Ausdrucke gebracht: "Die Verbindungen, die
durch diese einzig dastehende völkische Betätigung zwischen uns
Deutschösterreichern und dem Deutschen Reiche auf ewige Zeiten
geknüpft wurden, sind so stark, daß sie die Gewähr bieten,
daß der [89] Zusammenschluß
aller Deutschen kommen wird, wenn die Zeit dafür gegeben ist."
Als die schlimmsten Jahre der Sanierungszeit vorüber waren und dem
ersten Kabinett Seipel die Regierung Ramek gefolgt war, da stieg die
Planmäßigkeit des Ausbaues unserer Beziehungen zum Deutschen
Reiche in raschem Tempo.
Schon frühzeitig sind die Versuche, ein besseres wirtschaftliches
Verhältnis zwischen dem Deutschen Reiche und Österreich
herzustellen, in Gang gekommen. Der erste Tarifvertrag, den das Deutsche Reich
in der Nachkriegszeit zum Abschlusse brachte, war der mit Österreich im
Juli 1924. In diesem Abkommen war auch bereits der weitere Ausbau der
beiderseitigen Wirtschaftsbeziehungen vorbehalten und zugesagt worden.
Nachdem Seipel bereits im August 1922 und Handelsminister
Dr. Schürff im Jahre 1924 in Berlin Besuch gemacht
hatten, waren Reichskanzler Marx und Außenminister
Dr. Stresemann (1924) nach Wien gekommen. Damit war die
persönliche Fühlungnahme zwischen den Politikern des Deutschen
Reiches und Österreichs wieder aufgenommen worden.
Zu Beginn des Jahres 1925 erhielt die Anschlußfrage durch die Reise des
ehemaligen Vizekanzlers Dr. Frank und des Präsidenten
Dr. Dinghofer nach Berlin einen starken Impuls. Eine damalige amtliche
Berliner Verlautbarung erklärte, es sei bei den Besprechungen die Frage der
Zusammenarbeit zwischen den beiden Staaten auf den Gebieten des Verkehres,
der Wirtschaft und Kultur erörtert worden. Die großdeutschen
Politiker hätten Gewicht darauf gelegt, daß die bestehenden
Verkehrsschwierigkeiten zwischen den beiden Staaten bald möglichst einen
Abbau erfahren sollten. Das Werben von österreichischer Seite um das Interesse
des Deutschen Reiches, das hier und in der Folgezeit wiederholt
festgestellt werden kann, macht es trotz aller in der französischen Presse
immer wiederkehrenden Redensarten von den Annexionsgelüsten
Deutschlands zu einer unumstößlichen Tatsache, daß hier
immer der Wille Deutschösterreichs selbst zum Ausdruck kommt, das um
sein Selbstbestimmungsrecht kämpft. Bald nach dem Aufenthalte
Dr. Dinghofers und Dr. Franks in Berlin hat auch der deutsche
Reichstag das erwähnte Wirtschaftsabkommen angenommen, begleitet von
einer Rede des deutschen Außenministers Dr. Stresemann,
der damals am 20. Februar die Worte sprach: "Trotz aller Hemmungen, die
die Verträge von Versailles und St. Germain uns auferlegen, [90] sind wir entschlossen,
alles zu tun, um die Beziehungen zu Österreich eng und innig zu machen.
Wir wollen ein Land und eine Wirtschaftsgemeinschaft sein." Seit
Beginn hatte Deutschösterreich den größten Wert darauf
gelegt, in Berlin durch einen überzeugten Anhänger des
Anschlußgedankens diplomatisch vertreten zu sein. Dem seinerzeitigen
Gesandten Universitätsprofessor und sozialdemokratischen Abgeordneten
Dr. Ludo Hartmann war Sektionschef Dr. Richard
Riedl, ein Fachmann ersten Ranges auf dem Gebiete der
Österreich und Deutschland betreffenden Wirtschaftsfragen, gefolgt, den im
Herbst des Jahres 1925 Dr. Felix Frank, der in der ersten
Regierung Seipel Vizekanzler war, ablöste. Unmittelbar nach Antritt seines
Postens folgte die Aufhebung des Paßvisums zwischen Österreich
und Deutschland.
Die seit 1925 verstärkt einsetzende Anschlußbewegung kam auch
darin zum Ausdrucke, daß auch die Gegner des Anschlusses die Tatsache
nicht leugnen konnten, die Bewegung habe nahezu die ganze
österreichische Bevölkerung erfaßt. So hat der ehemalige
österreichische Ministerpräsident
Dr. Hussarek, ein katholischer Politiker
habsburgisch-monarchistischer Observanz, um diese Zeit feststellen
müssen: "Es hieße
Vogel-Strauß-Politik treiben, wenn man die populäre Zugkraft des
Anschlusses an Deutschland leugnen würde. Vielmehr muß damit
gerechnet werden, daß bei einer Volksabstimmung sich mindestens 95%
heute dafür aussprechen würden." Die Entschlossenheit der
Deutschen in Österreich wuchs, je schärfer der Widerstand einer
Reihe von europäischen Regierungen und ihrer Preßorgane gegen den
Anschluß zum Ausdruck kam. Hat ihn doch auch die ungünstige
wirtschaftliche Entwicklung zu einem immer notwendigeren Erfordernis
für die österreichische Bevölkerung gemacht.
Es erfolgte im April 1925 die Gründung der
Österreichisch-deutschen Arbeitsgemeinschaft in Wien und
wenige Monate später des
Österreichisch-deutschen Volksbundes.3 Bedeutsam für die weitere
Entwicklung wurde die Haltung der wirtschaftlichen Kreise.
Während in der ersten Zeit der staatlichen Selbständigkeit
Angehörige der österreichischen wirtschaftlichen Kreise vielfach im
Zweifel darüber waren, ob durch den Anschluß der durch den
Zusammenbruch so [91] schwer
geschädigten Wirtschaft geholfen sein würde und damals für
manchen die Lockrufe, zu irgendeiner Form der alten Wirtschaftseinheit, wie sie
im österreichisch-ungarischen Staate vorhanden war, wieder
zurückzukehren, verführerisch mehr aus dem eigenen Lande und aus
Frankreich als aus den Nachfolgestaaten ertönten, hat sich namentlich seit
1925 auch in diesen Kreisen eine vollständig einheitliche Auffassung von
der Notwendigkeit der wirtschaftlichen und politischen Eingliederung in das
deutsche Gebiet Bahn gebrochen.4
Besonders seit Beginn des Jahres 1927 häufen sich die Kundgebungen
dieser Kreise für den Anschluß beziehungsweise für eine
österreichisch-deutsche Wirtschaftsgemeinschaft in immer
größerem Maße.5 Wir verweisen hier nur auf die
Beschlüsse des österreichischen Handelskammertages unter
Führung des Wiener Kammerpräsidenten Tilgner, der
Vereinigung sämtlicher österreichischer Kammern für Handel,
Gewerbe und Industrie einerseits, anderseits auf die Kundgebungen der
Bauernschaft, wie sie sich bei der Konstituierung der neugewählten
niederösterreichischen
Landes-Landwirtschaftskammer und dann bei den Beratungen des
christlichsozialen Reichsbauernbundes abspielten. Insbesondere der
niederösterreichische Bauernführer Präsident Reither
forderte wiederholt das einheitliche Zollgebiet mit dem Deutschen Reiche. Auf
dem VII. Germanischen Bauernkongreß, der im Juni 1927 in
Salzburg stattfand, hat sich der österreichische Vizekanzler
Hartleb, der von der Partei des Landbundes in die Regierung entsendet
war, mit aller Energie für den Anschluß an Deutschland eingesetzt.
Im Herbst des gleichen Jahres kam es zu einer Zusammenkunft
österreichischer Industrievertreter mit industriellen Vertretern des
Deutschen Reiches in Berlin, der dann gemeinsame
österreichisch-deutsche Kammertage folgten, und in Wien wurde am Sitze
der Wiener Handelskammer ein Bureau der österreichischen
Handelskammern errichtet, das unter der Leitung des ehemaligen Gesandten Riedl
ausschließlich die Förderung des wirtschaftlichen Anschlusses zur
Aufgabe hat. Auch die österreichische Gruppe in der Internationalen
Handelskammer hat [92] hiefür wertvolle
Vorarbeit geleistet. Aus einem Berichte des Montanvereines ergab sich, daß
die gesamte
Kohlen- und Eisenindustrie der Ansicht sei, daß nur durch einen
Anschluß an Deutschland die trostlose Situation der österreichischen
Industrie behoben werden könnte. Der Führer der
österreichischen Schwerindustrie, Generaldirektor
Dr. Apold, hat gelegentlich der Hauptversammlung der
Eisenhütte Österreich ein unbedingtes Bekenntnis zum
Anschluß mit folgenden Worten abgelegt: "Der Anschluß ist
für uns eine wirtschaftliche Notwendigkeit allerersten Ranges. Und wir
müssen ihn erreichen!" Schon zu Beginn des Jahres 1927 war die
Gründung der "Delegation für den
österreichisch-deutschen Wirtschaftsanschluß" in Wien ins
Leben getreten, in der sich insbesondere auch die Kreise des
österreichischen Gewerbes zur praktischen Arbeit im Sinne der
Herbeiführung des Wirtschaftsanschlusses zusammenfanden. Ein um die
Mitte des genannten Jahres erschienener Artikel des sozialdemokratischen
Führers Dr. Otto Bauer beschäftigte
sich mit diesem geschlossenen Aufmarsch des österreichischen
Bürgertums für den Anschlußgedanken und glaubte
ausführen zu müssen, daß sich der Zusammenschluß der
beiden deutschen Staaten einstens nur werde im Zuge von revolutionären
Umwälzungen durch das Proletariat durchführen lassen,
Ausführungen, die vielfach im Sinne einer Schwächung der
sozialdemokratischen Anschlußüberzeugung gedeutet wurden,
obzwar Dr. Bauer immerhin selbst festgestellt
hatte, daß es die "schlechthin wichtigste Aufgabe in der
Anschlußpolitik" sei, "den Willen zur nationalen Einheit stark und
ungebrochen zu erhalten". Den Eindruck seiner Stellungnahme haben
sozialdemokratische Sprecher sowohl Österreichs wie des Deutschen
Reiches zu beseitigen gewußt. Reichstagspräsident Loebe
flocht gelegentlich in eine Rede den Satz: "Bereit zu sein, den Anschluß
jeden Tag zu vollziehen... ist die Aufgabe der Anschlußfreunde, in welchem
politischen Lager sie sonst immer auch stehen mögen", und in
ähnlicher Weise haben Abgeordneter Dr. Ellenbogen und
Abgeordneter Dr. Renner im österreichischen Nationalrat
Stellung genommen.
Es sind demnach die Repräsentanten aller wirtschaftlichen und
sozialen Schichten in dieser einen entscheidenden Frage in Österreich
durchaus einheitlich eingestellt. Das gleiche gilt von allen politischen
Parteien. In [93] den nationalen und den
sozialdemokratischen Kreisen haben bereits seit dem Zusammenbruche enge
Beziehungen mit den gleichgerichteten Parteien im Deutschen Reiche bestanden.
Der österreichische Landbund als ständische bäuerliche
Organisation hat die Eingliederung in den großen Reichslandbund als
Landesverband durchgeführt. Seit 1926 hat auch die Christlichsoziale
Partei in stärkerem Maße als früher Verbindungen mit den
gleichgesinnten Kreisen des Deutschen Reiches zu pflegen begonnen. Eine
erfreuliche, lebhafte Verbindung der katholischen Politiker diesseits und jenseits
der Grenzen hat seither zweifellos auch in jenen christlichsozialen Kreisen
Deutschösterreichs, welche sich in der Anschlußfrage früher
zurückhaltend, vielfach schwankend verhielten, eine andere Einstellung
herbeigeführt. Eine bedeutende Gruppe christlichsozialer Politiker (deren
Sprecher u. a. Bundesratsvorsitzender
Prof. Dr. Hugelmann, Abgeordneter
Dr. Drexel und
Univ.-Prof. Dr. Eibl) stellten bei ihrem Hervortreten auf
gemeinsamen
österreichisch-deutschen Tagungen verschiedener Art die Notwendigkeit
der politischen Vereinigung aller Deutschen in den Vordergrund. Prof. Eibl
hat in wiederholten Ausführungen den Gedankengang geprägt: Die
Vereinigung aller Deutschen und die Arbeit für sie ist solidarisch mit der
geistigen Erneuerung des deutschen Volkes, mit dem natürlichen Aufbau
von Mitteleuropa und mit der sittlichen und politischen Läuterung des
europäischen Gewissens. Gelegentlich der Revision des christlichsozialen
Parteiprogramms im selben Jahre wurde nun auch zum Anschluß Stellung
genommen und "die Ausgestaltung des Verhältnisses zum Deutschen
Reiche auf Grund des Selbstbestimmungsrechtes" verlangt. Man kann feststellen,
daß im österreichischen Nationalrate kein einziger Abgeordneter Sitz
und Stimme hat, der nicht auf Grund eines Parteiprogramms gewählt
worden ist, das auf die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes Bezug
nimmt.6
Mit Eifer haben in den letzten Jahren die Vertreter der Industrie, des Handels wie
der Landwirtschaft einerseits, die beamteten und wissenschaftlichen Fachleute auf
dem Gebiete der Volkswirtschaft anderseits, ebenso die politischen Parteien die
Zeit benützt, den Weg in den Einzelheiten vorzubereiten, welcher zu gehen
sein wird, um zur Verwirklichung der angestrebten
österreichisch-deutschen Zollunion zu kommen. Die nähere
Behandlung dieser [94] schrittweisen
Klärung auf wirtschaftlichem Gebiete fällt nicht in den Rahmen
dieses Abschnittes. Es sei daher hier nur darauf verwiesen, daß schon
gelegentlich eines Aufenthaltes großdeutscher Politiker im Jänner
1926 in Berlin die Anregung gegeben wurde, ein gemeinsames Organ beider
Staatsregierungen ins Leben zu rufen, das der wirtschaftlichen Annäherung
Österreichs an das Reich dienen sollte. Gelegentlich des Berliner
Besuches des österreichischen Bundeskanzlers
Dr. Ramek im März des Jahres 1926 haben auch bereits die
Verhandlungen über wirtschaftliche Fragen einen breiten Raum
eingenommen.
Mittlerweile war in der Stellung des österreichischen Staates zu den
Mächten des Genfer Abkommens eine wesentliche Veränderung
eingetreten. Das "Sanierungswerk" ging seinem Ende entgegen. Schon im Herbst
1925 hatten in Genf Verhandlungen über die Aufhebung der Kontrolle
durch den Generalkommissär des Völkerbundes stattgefunden. Die
Aufhebung dieses Amtes sollte in dem Zeitpunkte eintreten, in dem ein vom
Rechnungshof geprüfter Rechnungsabschluß des Bundes über
das Jahr 1925 vorliegen werde. Das stand dann auch für die Mitte des
Jahres 1926 fest. Wenn auch damals noch die Funktion eines Beraters der
Nationalbank um drei Jahre verlängert wurde, gerechnet von der
Beendigung der durch den Generalkommissär des Völkerbundes
ausgeübten Kontrolle, und auch für den Fall der ernsthaften
Gefährdung des Budgetgleichgewichtes ein Wiederaufleben der Kontrolle
zugestanden werden mußte, so war doch den Führern des
österreichischen Staates eine größere Freiheit des Handelns
und die Möglichkeit einer offeneren Sprache gegeben. Bundeskanzler
Dr. Ramek ließ über die Auffassung, die er in dieser
Lage hatte, keinen Zweifel aufkommen. Ganz deutlich sprach er sich
darüber gelegentlich seines schon erwähnten Berliner Aufenthaltes
aus. Es seien seine damaligen Äußerungen vor den Pressevertretern
festgehalten: "Es sei", erklärte er, "mit Händen zu greifen, daß
wir uns heute außenpolitisch und international in ganz anderer Lage
befinden als zu Beginn der Sanierungspolitik. Um dies zu erreichen, mußte
Österreich allerdings einen Teil seiner Souveränität durch die
Abmachungen mit dem Völkerbunde preisgeben, die diesem ein befristetes
Recht auf die Kontrolle unserer Finanzen einräumte. ... Heute
können wir eine nach allen Richtungen hin von Bindungen freie
auswärtige Politik machen und die in diesem Augenblick wichtigste
nationale Aufgabe erfüllen: das [95] österreichische
Volk lebensfähig und zukunftsfähig zu erhalten." Bundeskanzler
Dr. Ramek hat auch die Gelegenheit der Aufnahme des
Deutschen Reiches in den Völkerbund nicht vorübergehen
lassen, ohne vor dem Bunde der Nationen der ganzen Welt die
Zusammengehörigkeit der beiden deutschen Staaten in Mitteleuropa zu
betonen. Er hatte sich bereits im März zu diesem Behufe in Genf
eingefunden (bekanntlich wurde die Aufnahme Deutschlands auf den Herbst
vertagt). Er erschien am 10. September neuerlich, um an dem feierlichen
Akte teilzunehmen, und unterließ es auch nicht, in einer Rede das deutsche
Bruderreich zu begrüßen. Es war eine besondere Demonstration
taktvollster Art, als Österreich hier durch den Mund seines Kanzlers "dem
uns Österreichern stammesgleichen Reiche" Willkommgruß bot.
Eine bedeutungsvolle Kundgebung der Zusammengehörigkeit der beiden
deutschen Staaten hatte sich wenige Wochen vorher gelegentlich der
Überreichung des Beglaubigungsschreibens des neuen deutschen Gesandten
Grafen von Lerchenfeld in die Hände des
Bundespräsidenten Dr. Hainisch ergeben. In seiner Antwort
auf die Ansprache des deutschen Gesandten erklärte Dr. Hainisch,
"daß wir über alle kleinlichen Erwägungen des Augenblicks
den großen Gedanken zu stellen haben, den Gedanken an die deutsche
Zukunft. An ihr arbeiten wir alle nach unserer Verantwortung und nach unseren
Kräften".
Es sei bei dieser Gelegenheit festgestellt, daß der erste von der
Bundesversammlung gewählte Bundespräsident
Deutschösterreichs, Dr. Michael Hainisch, so sehr ihm
auch eine starke Zurückhaltung in politischen Äußerungen
auferlegt war, während seiner ganzen achtjährigen
Präsidentschaft oftmals Gelegenheit nahm, um seine Meinung im Sinne der
Notwendigkeit des Anschlusses namentlich auch ausländischen Besuchern
gegenüber zum Ausdruck zu bringen. Dies mag immerhin manchmal den
amtlichen Personen Augenblicke der Verlegenheit bereitet haben, gleichwohl
blieb es von höchstem Werte. Er hat später, als er als Privatmann in
Berlin Gelegenheit hatte, über seine Erfahrungen während der
Präsidentschaft zu sprechen, der Überzeugung Ausdruck gegeben,
sein Verdienst an der Gestaltung der neuen Entwicklung dürfe vor allem
darin erblickt werden, daß er in seiner Stellung manches habe verhindern
können, was geeignet gewesen wäre, dem gesamten deutschen Volke
zu schaden.
[96] Als der im Jahre 1927
neugewählte Nationalrat zusammentrat, hat der inzwischen Nachfolger
Dr. Rameks gewordene Bundeskanzler Dr. Seipel eine
Regierungserklärung vorgetragen, die durchaus dem Tone und Inhalte nach
freier als die bisherigen Regierungserklärungen von dem Verhältnis
Österreichs zum Deutschen Reiche sprach. Es hieß darin: "Ganz
besonders am Herzen liegt uns die Ausgestaltung der Beziehungen zu unseren
Brüdern im Deutschen Reiche. Auf allen geistigen Gebieten kann das
Verhältnis nicht mehr enger werden. Es ist in unserer gemeinsamen
Abstammung, Kultur und Geschichte begründet. Daß wir
darüber hinaus auch jede wirtschaftliche und sonstige Annäherung
der beiden Staaten fördern und wünschen, die je nach der Zeitlage
möglich und zulässig ist, weiß alle Welt." Die sich an
diese bedeutsame Erklärung anschließenden Reden der berufenen
Parteiführer aller vier Parteien des Nationalrates ließen keinen
Zweifel darüber aufkommen, wie Österreichs Volksvertretung
gesinnt ist. Die Reden waren so eindeutig, daß der die Erörterungen
des Nationalrates damals besprechende Artikel des Temps erklären
mußte: "Wenn die berufenen Parteiführer im Nationalrat sich so zum
Anschlusse bekennen, muß die letzte Täuschung aufgegeben werden,
als ob diese Idee in Österreich etwa nur von einer Minderheit vertreten
werde."
Noch im Juni des gleichen Jahres hatte der Nationalrat Gelegenheit, seinen
unbedingten Willen dahin zu äußern, daß er auf dem Wege des
Zusammenschlusses weiterkommen wolle. Er hat gelegentlich einer Verhandlung
über ein Gesetz über die Bundesbürgerschaft einen von dem
Berichterstatter Abgeordneten Dr. Grailer beantragten
Resolutionsantrag angenommen, der von der Bundesregierung Verhandlungen mit
der deutschen Reichsregierung verlangt, "um im gegenseitigen Einvernehmen
wesentliche Erleichterungen für die Einbürgerung von
Österreichern in das Deutsche Reich und die Einbürgerung von
Reichsdeutschen in die Republik Österreich zu schaffen", worauf
Bundeskanzler Dr. Seipel die Bereitwilligkeit der Regierung
hiezu ausdrücklich erklärte. Seit dem Jahre 1927 steht dem
deutschen Reichstage wie dem österreichischen Nationalrate der unter
ständiger Teilnahme österreichischer Vertreter zustande gekommene
Entwurf eines neuen deutschen beziehungsweise
österreichi- [97] schen
Strafrechtes in Verhandlung. Beide Entwürfe decken sich bis auf zwei
Ausnahmen vollständig im Wortlaute. Er ist während der Jahre 1927
bis 1930 in beiden Parlamenten mit größter Beschleunigung so weit
gefördert worden, daß die erste Lesung beendet werden konnte. Es ist
wichtig festzustellen, daß diese Beratungen auch die Form gemeinsamer
Tagungen angenommen haben. Im November des Jahres 1927 traten die
Mitglieder der in den beiden deutschen Parlamenten gebildeten
Sonderausschüsse zur Beratung des Strafgesetzes zu einer
gemeinsamen Strafrechtskonferenz zusammen. Der Obmann des
österreichischen Sonderausschusses, Präsident
Dr. Waber, konnte bei der Konferenz feststellen, daß zum
ersten Male Vertreter von Ausschüssen zweier Parlamente zu
gemeinsamer Beratung zusammengetreten sind, um gemeinsames Recht zu
schaffen. Als im November des Jahres 1927 ein zweiter Besuch des
Reichskanzlers Dr. Marx und des Reichsaußenministers
Dr. Stresemann in Wien erfolgte, hat in den Kanzlerreden
neuerdings die Freundschaft der beiden deutschen Staaten und ihrer
Bevölkerungen eine starke Unterstreichung erfahren.
Wo in den letzten Jahren deutschösterreichische Vertreter Gelegenheit
hatten, auf internationalen Zusammenkünften über die Lage
ihres Vaterlandes zu sprechen, dort ist es immer im Sinne der Notwendigkeit des
Anschlusses geschehen. Es sei hier auf die Rede des österreichischen
Delegierten Dr. Kunz, Dozenten für Völkerrecht an
der Wiener Universität, hingewiesen, der auf der Tagung des Generalrates
der Völkerbundligenunion in Sofia im Oktober 1927 nach einer
Schilderung der schweren Wirtschaftslage unseres Landes fortfuhr zu
erklären: "Ich möchte aber Ihnen, meine Damen und Herren, nicht
verhehlen, daß eine definitive und fruchtbare Lösung dieses Problems
nicht nur für unser Land, sondern auch für ganz Europa nur durch
den Zusammenschluß Österreichs und Deutschlands erreicht werden
kann."
Als im August des Jahres 1928 die Interparlamentarische Union ihren
25. Kongreß in Berlin abhielt, haben sowohl der Vorsitzende der
österreichischen Gruppe, Abgeordneter Dr. Drexel, wie der
Vorsitzende-Stellvertreter Abgeordneter Dr. Wotawa,
Gelegenheit gehabt, das Wort zu ergreifen. Ersterer hat sich mit der
Möglichkeit, die wirtschaftliche Lage des Landes zu bessern,
beschäftigt und setzte fort: "So gibt es für Österreich nur
[98] eine Lösung: die
Beseitigung jener Zollschranken, die es so sehr einengen, eine Beseitigung,
welche erst die Möglichkeit schafft, in ein großes Wirtschaftsgebiet
hineinzukommen, das heute vom deutschen Volke besiedelt wird." Abgeordneter
Dr. Wotawa sprach zu dem Referat "Rechte und Pflichten der
Völker und Staaten" u. a.: "Es ist eine, ich möchte fast sagen,
unabänderliche Tatsache, daß sich das österreichische 'Volk'
als ein Teil des ganzen deutschen Volkes fühlt und daß es auf Grund
seiner Souveränität, die in einem anderen Satz als unverletzlich
festgestellt wird, auch wirklich frei verfügen kann. Es ist unsere feste
Überzeugung, daß der Zusammenschluß der beiden deutschen
Staaten in Mitteleuropa sich wirklich einmal vollziehen wird, da er zu jenen
unausbleiblichen Änderungen in Mitteleuropa gehört, die zur
Befriedung Mitteleuropas eine der allerersten Voraussetzungen ist."
Ein für die Angleichung bedeutungsvolles Gesetz konnte der
österreichische Nationalrat im Mai des Jahres 1928 verabschieden. Durch
Annahme einer für Österreich und das Deutsche Reich
gleichlautenden gemeinsamen Eisenbahnverkehrsordnung ist auf diesem
wichtigen Gebiete ein einheitliches Recht geschaffen worden. Der Berichterstatter
Abgeordneter Dr. Grailer konnte auch hier eine
Entschließung dem Nationalrate vorlegen, die weit über den
Anlaß des Tages hinaus grundsätzlich den Willen des Nationalrates
in bezug auf das ganze Verhältnis zum Deutschen Reiche festlegte. "Die
Bundesregierung wird aufgefordert, in der begonnenen Angleichung des gesamten
Eisenbahnrechtes an das reichsdeutsche durch ständige
Fühlungnahme mit den deutschen Regierungsstellen weiter fortzufahren.
Der Nationalrat erblickt in der Durchführung der Angleichung
österreichischer
Rechts- und Wirtschaftsverhältnisse an jene des Deutschen Reiches ein
dringendes Gebot und eine unerläßliche Voraussetzung einer
günstigen Zukunftsentwicklung Österreichs."
[103]
Die Gefahrlage Österreichs.
|
Wenige Wochen darauf hatte der Nationalrat – es ist nicht möglich, hier alle
seine Willensäußerungen im Sinne der Anschlußpolitik
wiederzugeben – neuerdings Gelegenheit, sich im Anschluß an die
Verhandlung über ein Handelsabkommen mit Ungarn über die
handelspolitische Stellung Deutschösterreichs auszusprechen. Gelegentlich
der Konferenz der Kleinen Entente in Bukarest (Juni 1928) hatten sich alle drei
Außenminister ausdrücklich gegen alle
An- [99]
schlußbestrebungen gewendet, und insbesondere der jugoslawische Minister
Marinkovic hatte das Bedürfnis gefühlt, Österreich als zum
wirtschaftlichen System gehörig zu erklären, das von der Kleinen
Entente ausgehe und das auch Österreich Möglichkeiten der
Entwicklung bieten wolle. In aller Deutlichkeit wurde diesmal von der offiziellen
Tribüne des Nationalrates aus erklärt, daß Österreich ein
für allemal davon nichts wissen wolle, in
ein – wie sich Marinkovic
ausdrückte – "zentraleuropäisches wirtschaftliches System"
einbezogen zu werden, wobei er keinen Zweifel ließ, daß er dabei an
ein wirtschaftliches Gebilde gleich der Donaumonarchie dachte.
Demgegenüber wurde die Antwort, die Bundeskanzler
Dr. Seipel im Nationalrate gab, zu einer alle bisherigen offiziellen
Äußerungen des Kanzlers an Deutlichkeit weit hinter sich lassenden
Erklärung, die in den Sätzen gipfelte: "Meine Überzeugung
ist: Erstens, daß wir im Laufe der Zeit, je früher, um so besser, die
Möglichkeit haben müssen, aus der Enge der Grenzen, die uns
derzeit als Wirtschaftsgebiet gezogen sind, herauszutreten. ... Deswegen
habe ich die Meinung, daß wir uns freihalten müssen, hineinzugehen
in eine größere oder kleinere, eine europäische,
mitteleuropäische, deutsche Lösung, sobald sich uns die Tür in
dieses oder jenes größere Wirtschaftsgebiet öffnet. Aber
niemals werden wir glauben, daß die mitteleuropäische Frage
gelöst ist, wenn der große Staat, der das eigentliche Mitteleuropa
ausfüllt, das Deutsche Reich, bei dieser Lösung nicht mit dabei
ist."7
Wer könnte glauben, daß sich bei so fortgesetzter Handelspolitik im
Sinne einer
Wirtschafts- und Zollunion letzten Endes etwas anderes als eine
deutsche politische Union ergeben kann?
Die Formel aber: keine handelspolitische Lösung ohne
Deutschland – ist die unverrückbare Grundlage für alle
offiziellen handelspolitischen Absichten und Verhandlungen Österreichs
geworden.8
[100] Das Jahr 1928 hat, wie
man sieht, in der Anschlußfrage manchen guten Fortschritt zu verzeichnen.
Aber die höchste Steigerung in diesem wahrhaften "Anschlußjahr"
stellte das Deutsche Sängerbundesfest vom Juli 1928 dar.
Hunderttausend Sänger aus der ganzen Welt waren hier unter Teilnahme
aller offiziellen Persönlichkeiten des Staates zu einer mächtigen
Anschlußkundgebung vereinigt. Nichts konnte die anderen Völker
der Erde mehr als diese Kundgebung von dem entschlossenen Willen des ganzen
deutschen Volkes überzeugen, die politische Einheit schließlich zu
erreichen. In der Ansprache des Präsidenten des Deutschen
Sängerbundes, Friedrich List, die er in der Sängerhalle
hielt, stand der Satz: "Unsere Seele dürstet nach diesem
Großdeutschland, aber unser Verstand sagt uns, daß wir nur
Vorbereitungsarbeit leisten können. Dieser Arbeit wollen wir uns
unterziehen, mit der Kraft und Begeisterung, die aus dem deutschen Liede
fließt." Alle Parteien und Weltanschauungen hatten sich zu dieser
unvergleichlichen Kundgebung vereinigt. Im Verlauf der dem Wiener
Sängerfeste folgenden Wochen gab es auch an vielen anderen Orten
Österreichs Kundgebungen für die Einheit des deutschen Volkes,
von denen nur die begeisterte Aufnahme erwähnt sei, die den unter der
Führung des Reichstagspräsidenten Paul Loebe
erschienenen reichsdeutschen Politikern im Burgenlande bereitet wurde.
Der sozialdemokratische Landeshauptmannstellvertreter Leser gab die
Erklärung ab, daß das ganze Burgenland großdeutsch
eingestellt sei. Selbst der Bürgermeister einer kroatischen Gemeinde des
Burgenlandes konnte versichern, daß die kroatische Bevölkerung des
Landes der baldigen Vereinigung ihrer Heimat mit dem Deutschen Reiche
entgegensehe. – Das Deutsche Sängerbundesfest mit all seinen
erfreulichen Begleiterscheinungen gab auch Gelegenheit, in der gesamten
Weltpresse die Anschlußfrage durch Wochen wieder zu erörtern und
die einheitliche Auffassung und Willensmeinung des ganzen deutschen Volkes
dabei festzustellen.
Gegen Ende des Jahres 1928 gab die Erinnerung an den zehnjährigen
Bestand der Republik Österreich Anlaß zu vielen Feiern des
Ereignisses in allen Teilen des Bundes, und es ist wohl keine zu Ende gegangen,
ohne des vor zehn Jahren begangenen Raubes am Selbstbestimmungsrechte
bedauernd, trauernd zu gedenken und der Hoffnung auf Erfüllung der
Anschlußforderung Ausdruck zu geben. Bei der offiziellen Feier im [101] Nationalrate stellte
Präsident Miklas, der wenige Wochen später
Bundespräsident wurde, in seiner Ansprache fest, daß bei dem
Ringen um einen erträglichen Frieden der Friedensvertrag von
St. Germain genehmigt werden mußte und damit auch der
Artikel 2 des Grundgesetzes vom 1918 gefallen sei, der
Deutschösterreich zu einem Bestandteil der deutschen Republik
erklärt hatte. "Er blieb eine feierliche Deklaration." Von den offiziellen
Reden des Tages vor dem Staatsoberhaupte sei insbesondere auch auf die
Ansprache des Vertreters des Bundesrates, Professor
Dr. Hugelmann, hingewiesen, "der der Hoffnung Ausdruck gab,
daß die innere Ordnung und Freiheit des jungen Staates Verheißung
sein möge für die Erlangung des uns feierlich versprochenen
Selbstbestimmungsrechtes, welches unter den Völkern Europas allein den
Besiegten heute noch versagt ist". Bei der Feier im Verein der Österreicher
in Berlin gab der österreichische Gesandte Dr. Frank der
Hoffnung Ausdruck, "daß das gegenwärtige Österreich einen
Übergang zu einer Zukunft auf breiterer nationaler Grundlage bilden
werde".
Überblicken wir die Entwicklung: War der Anschlußwille
gefühlsmäßig und als eine sittliche Forderung des deutschen
Volkes bereits aus den Trümmern des Jahres 1918, zugleich als eine der
ganz wenigen Hoffnungen, die sich für das deutsche Volk in diesem Jahre
eröffneten, hervorgegangen, so sehr hat seither die
verstandesmäßige Verarbeitung des Gedankens zu einem tieferen
Verständnis für seine Bedeutung in allen Schichten der
österreichischen Bevölkerung geführt.
Universitätsprofessor Dr. Wettstein hat dies
rückblickend einmal dahin formuliert: "Der Anschlußwille der
deutschösterreichischen Bevölkerung gewinnt nicht nur an
Verbreitung, sondern auch an Vertiefung." Daß wir mit der Art der
Vorbereitung des kommenden Anschlusses auf dem richtigen Weg sind,
dafür mag uns ein Wort des französischen Temps Sicherheit
geben: "Von allen Methoden zur Anschlußvorbereitung ist die
Vereinheitlichung der Gesetzgebung, der Verwaltung, der politischen,
wirtschaftlichen und sozialen Einrichtungen die geschickteste." Und in der Tat. In
diesem Geiste vollziehen sich jährlich Hunderte von
"Anschlußkundgebungen" verschiedenster Art. Greifen wir Beispiele
heraus, da wir die Vollständigkeit schon wegen des Platzmangels nicht
erreichen können. So dient z. B. ein seit 1928 von den Regierungen
organisierter
österreichisch-deutscher Beamtenaustausch [102] der Angleichung auf
dem Gebiete der Verwaltung. Der Anschluß der evangelischen Kirchen
A. B. und H. B. Österreichs an den deutschen evangelischen
Kirchenbund ist seit 1926 vollzogen. Die Beiziehung der Rektoren der
österreichischen Hochschulen zur deutschen Hochschulrektorenkonferenz
verstärkt die gegenseitigen Beziehungen der ersten wissenschaftlichen
Stätten auf deutschem Boden. Ähnlich wie der Beamtenaustausch
erfolgt der Austausch wissenschaftlicher Bibliothekare zwischen Berlin und
Wien. Die studentischen Vertretungen aller deutschen Hochschulen sind in einem
Verbande vereint und der starke gegenseitige Besuch reichsdeutscher und
österreichischer Studenten an den Hochschulen verstärkt diese
Verbindung. Eine großdeutsche akademische Tagung an der Wiener
Universität im Jahre 1926 hat die akademischen Kreise beider
Länder mit den Problemen der Gemeinsamkeit vertrauter gemacht.
Wiederholte große Kundgebungen des Deutschen Schulvereines
"Südmark" haben der Stärkung des Anschlußgedankens in den
breiten Massen gedient, so namentlich die gemeinsam mit dem Verein für
das Deutschtum im Auslande veranstalteten. Die Angehörigen des
Republikanischen Schutzbundes in Österreich haben sich mit denen des
deutschen Reichsbanners
Schwarz-Rot-Gold wiederholt verbrüdert. Reisen der Wiener großen
Gesangvereine (Wiener Männergesangverein, Schubertbund, Wiener
Lehrer-A-capella-Chor) haben Deutschland dem österreichischen Liede zu
erobern gewußt. Der Deutsche Juristentag in Salzburg, der Verbandstag des
Deutschen Philologenverbandes wie überhaupt alle jene vielen Kongresse
solcher Organisationen, die sich über das ganze deutsche Sprachgebiet
ausdehnen (mit Wien als einem der meist aufgesuchten Kongreßorte) haben
Anschlußkundgebungen der versammelten Deutschen beider Staaten
gebracht. Diese Reihe ließe sich in reicher Auswahl fortsetzen, es
genügt aber das Angeführte, um zu sagen, daß es kein Gebiet
wirtschaftlichen und kulturellen Lebens mehr gibt, auf dem nicht die
zuständigen Kreise
dies- und jenseits der deutschen Grenzen in einträchtiger Fühlung
zusammenarbeiten würden.
Unsere Betrachtung wendet sich nun einem Ereignisse in der
neuösterreichischen Geschichte zu, das eine Epoche abzuschließen
und reichere Hoffnungen für unsere nationale Zukunft, als wir sie bisher
[103] hegen konnten, zu
wecken vermag. Als im Jahre 1929 nach einer Regierung von wenigen Monaten
Dr. Streeruwitz als Bundeskanzler
zurücktrat – Dr. Streeruwitz hat sich während seiner
Amtszeit, in noch viel höherem Grade aber seither, als warmer Freund des
Zusammenschlusses der beiden deutschen Staaten in aller Welt bekannt
gemacht –, übernahm Bundeskanzler Dr. Schober
mit den vielen anderen seiner Regierung gestellten Aufgaben auch die
Weiterführung der Verhandlungen in der zunächst auf der Pariser
Konferenz behandelten österreichischen Reparationsfrage, die einerseits im
Zusammenhang mit den seit drei Jahren laufenden Bemühungen um eine
österreichische Investitionsanleihe, anderseits aber auch mit der
Verabschiedung des Young-Planes
stand. Gerade während der langwierigen Verhandlungen
über die Investitionsanleihe hatte sich die vorhandene Unfreiheit und
finanzielle Unselbständigkeit Österreichs, wie sie durch den Vertrag
von St. Germain und das Genfer Abkommen gegeben war, in voller Wucht
gezeigt. Auf Paris war dann der Haag gefolgt. Auf der zweiten Haager Konferenz
kam eine für das Deutsche Reich äußerst schmerzliche,
wirtschaftlich kaum je zu leistende Regelung
des Reparationsproblems zustande.
[104] Österreich
konnte durch seine unter Führung Schobers stehende Delegation, allerdings
erst nach Abwehr der letzten Versuche seiner Nachbarn, dem wehrlosen Lande
noch einmal neue Lasten aufzudrängen, eine völlige Befreiung
von allen Reparationsverpflichtungen erreichen. Damit war auch das aus der
Reparationsverpflichtung stammende Generalpfandrecht auf das gesamte
Staatsvermögen beseitigt. Alle sich aus dem St. Germainer Vertrage
ergebenden finanziellen Forderungen der Staaten wurden für gegenseitig
sich aufhebend erklärt. Damit war Österreich auch in seiner
Finanzpolitik erst wirklich freigeworden. Irgendwelche andere als die durch den
Wirtschaftszustand des Staates gegebenen Hemmungen im wirtschaftlichen und
finanziellen Verkehr mit den anderen Staaten und Völkern waren in
Zukunft unmöglich. Nur eine Tatsache, die aber entscheidend und
empfindlich unsere Souveränität einschränkt, ist geblieben:
Artikel 88
des Friedensvertrages. Er war kein Gegenstand des
Haager Abkommens. Die Willensfreiheit, den politischen Anschluß zu
vollziehen, fehlt also Österreich noch immer. Aber wir sind auf dem Wege
von Genf nach dem Haag ein wesentlich freieres Volk geworden.
Österreich konnte nun auch alsbald auf Grund der neuen Voraussetzungen
die Investitionsanleihe erhalten. Der Jänner 1930 beendet
einen Abschnitt neuösterreichischer Geschichte voll Demütigungen
für eine Bevölkerung, die sich im Jahre 1918 dem Worte vom
Selbstbestimmungsrechte der Völker anvertraut hatte, sich bisher aber darin
schmählich getäuscht fühlen muß. Finanzielle
Unabhängigkeit aber gibt die Möglichkeit größerer
außenpolitischer Aktivität! Möge sie nun von allen,
Regierung, Parlament und Volk, genützt werden!
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