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I. Die historischen Grundlagen   (Forts.)

 
Deutschösterreichs Kampf um das Selbstbestimmungsrecht
bis zu den Genfer Protokollen

Rechtsanwalt Dr. Friedrich F. G. Kleinwaechter, Ministerialrat a. D. (Klagenfurt)

Der Zusammenbruch der Donaumonarchie und die deutschen Parteien Altösterreichs • Sammlung der deutschen Parteien • Das kaiserliche Manifest vom 16. Oktober 1918 • Die Provisorische Nationalversammlung Deutschösterreichs • Donauföderation oder Anschluß • Die Verluste der Deutschen Altösterreichs im Weltkriege • Monarchie oder Republik • "Deutschösterreich ist ein Bestandteil der deutschen Republik" • Vorarbeiten für die Vereinigung Deutschösterreichs mit dem Deutschen Reich • Tirols und Vorarlbergs Haltung • Die Anschlußbewegung im Reich • Artikel 80 und 88 der Friedensverträge • Der Protest der deutschösterreichischen Nationalversammlung • Artikel 61 der Reichsverfassung • Die Anschlußbewegung in den österreichischen Ländern nach Unterzeichnung des Friedensdiktates • Die österreichische Regierung wird aufgefordert, eine Volksabstimmung durchzuführen • Die Entente droht mit der Hungerblockade und Repressalien • Die Volksabstimmungen in Tirol und Salzburg • Der Antrag Straffner, Dinghofer und Genossen • Volksabstimmungsbeschluß in Oberösterreich und Steiermark • Demarche der alliierten Mächte in Wien • Seipels Reise nach Berlin, Prag und Rom • Die Genfer Protokolle.

Der Zusammenbruch des alten österreichischen Staates im Spätherbst 1918 traf die österreichischen Deutschen politisch unvorbereitet. Dies ist auf die besondere, von den übrigen österreichischen Nationen durchaus verschiedene Stellung der Deutschen zum österreichischen Staatsproblem zurückzuführen.

Die Deutschen waren die eigentliche staatsbildende, die übrigen Nationen zusammenfassende Nation des Habsburgerstaates. Dieses geschichtliche Erlebnis drückte sich in dem Bewußtsein nicht allein einer besonderen Stellung im Staate, sondern auch einer besonderen Verpflichtung dem Staate gegenüber aus. Diese ursprünglich dem Gesamtstaate gegenüber eingenommene Haltung beschränkte sich nach dem Ausscheiden Österreichs aus Deutschland und der dualistischen Umgestaltung des Kaiserstaates auf die österreichische Staatshälfte. Deutsche Führung in Österreich, magyarische in Ungarn war nun die Formulierung des habsburgischen Staatsgedankens im deutschen Denken und Fühlen.

An dieser Auffassung änderte sich auch dann nichts, als die Deutschen aus ihrer Vormachtstellung in die Abwehrstellung gedrängt worden waren. Als der Krieg die Monarchie und das Deutsche Reich in engster Kampfgenossenschaft verband, wurden sich die Deutschen in neuem, verstärktem Maße ihrer vermeintlichen historischen Aufgabe bewußt, freilich, ohne sich darüber klar geworden zu sein, wie denn das österreichische Staatsproblem nach dem Kriege, selbst im Falle des Sieges, in der veränderten europäischen Welt zu lösen gewesen wäre. Eine verschwommene Vorstellung über irgendeine spätere engere Verbindung mit dem Reiche ersetzte klares politisches Denken über die Zukunft der Monarchie und ihrer Deutschen. Man glaubte an den Sieg, weil man an ihn glauben wollte. Noch [62] am 27. Februar 1918 tat der christlichsoziale Abgeordnete Dr. Pattai im Herrenhause den Ausspruch: "Wir sind die Sieger und wir verlangen auch die Palme." Die Frage, was im Falle der Niederlage, die den Zerfall des Staates nach sich ziehen mußte, mit den österreichischen Deutschen geschehen sollte, wurde nicht untersucht.

Unter den deutschen Parteien war es lediglich der Deutsche Sozialdemokratische Verband, der sich zu einer Antwort auf diese Frage durchrang. In den ersten Monaten des Krieges hatte sich auch die deutsche Sozialdemokratie in den Dienst des Krieges gestellt. Aber im weiteren Verlaufe des Krieges drang unter dem Einfluß der von Friedrich Adler geführten "Linken" in der Partei der Gedanke durch, daß der Krieg, wenn ihn nicht ein erträglicher Frieden beendet, mit der Revolution, das heißt mit dem Zerfall der Monarchie enden muß. Dann gäbe es für die österreichischen Deutschen nur eine Politik der Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes der anderen Nationen und der Forderung des gleichen Rechtes für die eigene Nation. Die letzte Konsequenz dieses Gedankens war die Forderung der "Vereinigung aller Deutschen in einem demokratischen Gemeinwesen". Dieses Programm wurde nach heftigem innerem Ringen in der Partei schließlich zur Plattform ihrer weiteren politischen Haltung.1

Die Folge dieser Entwicklung war, daß beim Zusammenbruche des Staates nur die Sozialdemokratie wußte, was sie wollte, die bürgerlichen Parteien aber, vor deren Augen die bisherige Staatsaufgabe versank, keine neue Aufgabe vor sich sahen.

Durchaus anders war die Haltung der nichtdeutschen Staatsgenossen. Schon vor dem Kriege hatte ihre wirtschaftliche und kulturelle Höherentwicklung ihren Drang nach nationalem Eigenleben gesteigert und damit von selbst zur Erkenntnis der Problematik des Habsburgerstaates geführt. Damit war das österreichische Staatsproblem für sie zu einem über die Grenzen der Monarchie hinausgreifenden Problem geworden, da Millionen von Volksgenossen außerhalb der Monarchie lebten. Bei allen Meinungsverschiedenheiten über die Lösungsmöglichkeiten kann jedoch gesagt werden, daß die slawischen Nationen die Lösung zunächst im Verbande der Monarchie anstrebten. Erst als sich zeigte, daß die führenden Staatsmänner die österreichische Schicksalsfrage nicht zu erkennen vermochten, keimte die Abkehr vom Staate auf.

[63] In diese Entwicklung griff der Weltkrieg ein. Oberflächlich gesehen, schien er alle Nationen aufs neue im Kampfe gegen den äußeren Feind zusammengeschweißt zu haben. Aber man verwechselte gewaltsame Zusammenfassung durch den ausgebildeten Verwaltungs- und Militärapparat des modernen Staates mit wirklicher innerer Verschmelzung. Nachdem der erste betäubende Eindruck des Kriegsausbruches überwunden war und sich gezeigt hatte, daß der Krieg wider Erwarten kein rasches Ende finden werde, fingen die nichtdeutschen Nationen an, ihr Verhältnis zum Staate zu überprüfen. Das Ergebnis war die Erkenntnis, daß sie für ihre nationalen Ziele vom Sieg nichts, von der Niederlage alles zu erwarten hatten. In diese Umstellung des Denkens warf die Entente das Ideal des Selbstbestimmungsrechtes der Völker als erfolgreiches Kampfmittel hinein. Als dann Wilson die Verwirklichung ihrer nationalen Ziele in höchster Steigerung versprach, war die innere Abkehr vom Staate vollendet. Die zwingende Schlußfolgerung war die planmäßige Vorbereitung für den Augenblick, da die Monarchie den letzten Atemzug tun sollte. Als dieser Augenblick dann eintrat, fand er die nichtdeutschen Nationen für ihre weiteren Aufgaben innerlich und äußerlich gerüstet.

Es brauchte einige Zeit, bis auch die deutschen bürgerlichen Parteien erkannten, daß es jetzt um das Schicksal der österreichischen Deutschen gehe. Seit etwa Juli 1918 suchten sie Fühlung mit den deutschen Sozialdemokraten, um in einem gemeinsamen, alle deutschen Parteien vereinigenden Verbande die deutschen Interessen zu vertreten. Der Klub der deutschen sozialdemokratischen Abgeordneten antwortete in seinem Beschluß vom 3. Oktober 1918: "Die Vertreter der deutschen Arbeiterschaft Österreichs erkennen das Selbstbestimmungsrecht der slawischen und romanischen Nationen Österreichs an und nehmen dasselbe Recht auch für das deutsche Volk in Österreich in Anspruch. Wir erkennen das Recht der slawischen Nationen an, ihre eigenen Nationalstaaten zu bilden, wir lehnen aber unbedingt und für immer die Unterwerfung deutschen Gebietes unter diese Nationalstaaten ab. Wir verlangen, daß alle deutschen Gebiete Österreichs zu einem deutschösterreichischen Staate vereinigt werden, der seine Beziehungen zu den anderen Nationen Österreichs und zum Deutschen Reiche nach seinen eigenen Bedürfnissen regeln soll. Wir sind bereit, mit den Vertretern des tschechischen und südslawischen Volkes auf dieser Grundlage über die Umwandlung Österreichs in eine Föderation freier nationaler Gemeinwesen zu verhandeln. [64] Lehnen die Vertreter der slawischen Nationen diese Verhandlungen ab, so erklären wir, daß sich das deutsche Volk in Österreich mit allen Mitteln dagegen wehren wird, daß seine staatsrechtliche Stellung oder die staatsrechtliche Stellung eines seiner Teile über seine Köpfe hinweg durch die Staatsgewalt oder durch das Schwert eines fremden Eroberers bestimmt wird. Jedem solchen Versuch gegenüber wird das deutsche Volk in Österreich sein unbeschränktes Selbstbestimmungsrecht mit allen Mitteln verteidigen."2

Am 4. Oktober 1918 nahm der Leitungsausschuß des Verbandes der deutschnationalen Parteien die sozialdemokratische Resolution als Grundlage der weiteren Verhandlungen einstimmig an. Am 9. Oktober 1918 stimmte auch die christlichsoziale Partei dieser Plattform zu, mit dem Vorbehalt, daß Österreich in eine "Föderation freier nationaler Gemeinwesen" umgestaltet werden solle, der sich der zu schaffende deutschösterreichische Staat einzugliedern habe. Noch in den folgenden Beratungen hielten die bürgerlichen Parteien an diesem Standpunkt fest, während die Sozialdemokraten bereits verlangten, daß die Reichsratsabgeordneten der deutschen Wahlbezirke zusammentreten, den deutschösterreichischen Staat proklamieren, sich als Provisorische Nationalversammlung des neuen Staates konstituieren und eine Regierung einsetzen sollen. Die bürgerlichen Parteien konnten sich zu diesem revolutionären Schritt nicht entschließen. Sie glaubten noch an die Möglichkeit eines legalen Umbaues des alten Österreich.

Inzwischen bewies der Verlauf der Ereignisse, daß es hiezu zu spät war. Am 6. Oktober 1918 proklamierten die in Agram zusammengetretenen südslawischen Abgeordneten die Vereinigung aller Slowenen, Kroaten und Serben in einem unabhängigen Staate. Am 7. Oktober 1918 verkündete der polnische Regentschaftsrat in Warschau den aus den polnischen Gebieten Österreichs, des Deutschen Reiches und Rußlands zu bildenden polnischen Staat und am 9. Oktober 1918 huldigte ihm der Polenklub des österreichischen Reichsrates. Am 14. Oktober 1918 fanden in Prag Massenkundgebungen statt, bei denen die unabhängige tschechische Republik ausgerufen wurde, die am 15. Oktober die Anerkennung Frankreichs erhielt. Am 19. Oktober 1918 konstituierten sich in Lemberg die ukrainischen Ab- [65] geordneten als ukrainischer Nationalrat. Eine Nation nach der anderen verließ das einstürzende Staatsgebäude.

Die Staatstreue der österreichischen Deutschen hatte ihren Sinn verloren. Nun stimmten ihre bürgerlichen Vertreter der sozialdemokratischen Forderung, zur Provisorischen Nationalversammlung zusammenzutreten, zu.

Der Kaiser und seine Regierung standen den Ereignissen machtlos gegenüber. Sie versuchten, die revolutionäre Bewegung in legale Formen zu leiten. Aber am 11. Oktober 1918 hielt sogar ein deutscher Abgeordneter, der Deutschsüdtiroler Kraft, in dem immer noch tagenden österreichischen Reichsrat eine Rede, die eine offene Absage an den alten Staat bedeutete. "Das deutsche Volk in den Alpenländern fordert" – so führte er u. a. aus – "in seinem größten Teil wiederum den bundesrechtlichen Anschluß an das Deutsche Reich. Es sind nicht mehr als 50 Jahre, seitdem dieser bundesrechtliche Anschluß aufgehört hat, kaum 50 Jahre sind es, daß wir in dem heutigen Österreich unser politisches Leben führen." Am 12. Oktober 1918 berief der Kaiser 32 Reichsabgeordnete aus allen österreichischen Nationen zu sich nach Baden, um mit ihnen wegen der Ernennung eines "Völkerministeriums" und der Umgestaltung des Staates zu verhandeln. Die Tschechen und Südslawen lehnten ab. Da nahm der Kaiser die Sache selbst in die Hand. Am 17. Oktober 1918 erschien das bekannte kaiserliche Manifest,3 in dem der Kaiser die Umgestaltung Österreichs in einen Bundesstaat selbständiger Nationen ankündigt und sie auffordert, an dem Werke durch aus den Reichsratsabgeordneten jeder Nation gebildete Nationalräte mitzuwirken.

Am Vortage der Veröffentlichung des Manifestes hatte Ministerpräsident Freiherr von Hussarek die Parteiobmänner zu sich geladen, um ihnen die bevorstehende Veröffentlichung mitzuteilen und eine entsprechende Aufnahme der kaiserlichen Kundgebung vorzubereiten. Seine Bemühungen blieben vergeblich, zumal die Polen und Tschechen der Einladung keine Folge geleistet hatten. Die Deutschen nahmen die Mitteilungen zur Kenntnis, ohne eine Entscheidung zu treffen. Bald darauf folgte die Ablehnung des kaiserlichen Vorschlages durch die nichtdeutschen Nationen.

Am 21. Oktober 1918, 5 Uhr nachmittags, traten die Reichsratsabgeordneten der deutschen Wahlbezirke im niederösterreichi- [66] schen Landhause in Wien zur Provisorischen Nationalversammlung Deutschösterreichs zusammen. Der Vorsitzende, Abgeordneter Dr. Waldner, begrüßte die Versammlung mit den Worten: "Die Geschichte hat uns zum Gründer des alten Staates Österreich gemacht und wir haben diesem Staate durch Jahrhunderte in unverbrüchlicher Treue und in selbstloser Aufopferung unser Bestes an Kultur und Wirtschaft hingegeben. Ohne Dank scheiden wir aus diesem Staate, um unsere Volkskraft auf uns allein zu stellen und aus ihrem unversiegbaren Born hoffnungsvoll ein neues, nur unserem Volke allein dienendes Gemeinwesen aufzubauen. Die Verkettung mit dem alten Österreich war die schwere auf uns ruhende Last, welche unsere politische Kraft aufbrauchte." Ein "neues Deutschösterreich" werde "aus der Tiefe seiner befreiten Volksseele erstehen und Staat und Volk ein Ganzes mit neuem Geist und ungehemmten Kräften sich aufrichten". Aus diesen Worten sprach die ganze Tragik der Geschichte der österreichischen Deutschen.

In dem nun folgenden Beschluß erklären die Vertreter des deutschen Volkes in Österreich, einen selbständigen deutschösterreichischen Staat zu bilden und "seine Beziehungen zu den anderen Nationen durch freie Vereinbarung mit ihnen zu regeln". Noch fühlten sie sich nicht aus der Gemeinschaft mit den übrigen Nationen gelöst. Noch glaubten sie an die Möglichkeit einer Vereinigung freier nationaler Staaten zu einem der Monarchie ähnlichen Verbande. Auch die Sozialdemokraten ließen die Tür zu einer Vereinigung offen. In der folgenden Debatte erklärte ihr Führer, der Abgeordnete Doktor Viktor Adler: "Das deutsche Volk in Österreich soll seinen eigenen demokratischen Volksstaat bilden, der vollkommen frei entscheiden soll, wie er seine Beziehungen zu den Nachbarvölkern, wie er seine Beziehungen zum Deutschen Reiche regeln soll. Er soll sich mit den Nachbarvölkern zu einem freien Völkerbunde vereinen, wenn die Völker dies wollen. Lehnen aber die anderen Völker ab oder wollen sie nur unter Bedingungen zustimmen, die den wirtschaftlichen und nationalen Bedürfnissen des deutschen Volkes nicht entsprechen, dann wird der deutschösterreichische Staat, der, auf sich selbst gestellt, kein wirtschaftlich entwicklungsfähiges Gebilde wäre, gezwungen sein, sich als ein Sonderbundstaat dem Deutschen Reiche anzuschließen. Wir verlangen für den deutschösterreichischen Staat die volle Freiheit, zwischen diesen beiden möglichen Verbindungen zu wählen." Den gleichen Standpunkt nahmen die christlichsoziale [67] Partei und der Verband der deutschnationalen Parteien ein. Der christlichsoziale Vertreter Schraffl erklärte, daß seine Partei "unter grundsätzlichem Festhalten an der monarchistischen Regierungsform" für die Bildung eines solchen Bundesstaates eintrete, wenn die neuen Nationalstaaten "aus freiem Entschluß eine Vereinigung zu einem Bundesstaate einzugehen gewillt sind". Namens der deutschnationalen Parteien erklärte der Abgeordnete Dr. Steinwender: "Wir Deutschen in Österreich haben für diesen Staat gesorgt und gearbeitet, sehr oft mit Zurücksetzung unserer eigenen Vorteile; für ihn haben wir im Kriege die Blüte unseres Volkes verloren.4 Der Zwang der Ereignisse macht dem alten Staat ein Ende. So stellen wir Deutsche uns auf den Boden der Selbständigkeit". "Wir bleiben überzeugte Anhänger der konstitutionell monarchischen Staatsform." "Von den Gedanken des engen Zusammenschlusses aller Deutschen getragen wird der Staat Deutschösterreich sein Verhältnis zum Deutschen Reich und zu den anderen Nationen in freier Selbstbestimmung ordnen."

Aber es fanden sich schon jetzt Stimmen, die sich vom alten Staat und seinen Nationen völlig lossagten. Namens der Deutschen Unabhängigkeitspartei lehnte der Abgeordnete Freiherr von Pantz die Vereinigung mit den übrigen Völkern in einem Bundesstaate ab und forderte "das innigste Verhältnis Deutschösterreichs zum Deutschen Reich, denn unser Hort wird für alle Zukunft die Gemeinschaft des europäischen Deutschtums bleiben". Namens der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei erklärte der Abgeordnete Knirsch, daß seine Partei "den Gedanken an eine Vereinigung Deutschösterreichs zu einem Staatenbunde mit den aus dem alten Österreich erstehenden slawischen Staaten von vornherein" ablehne und den "staatsrecht- [68] lichen Anschluß Deutschösterreichs als Bundesstaat an das Deutsche Reich" fordere. Innerhalb der Deutschnationalen hatte sich ein nationaldemokratischer Flügel gebildet, der, in den Traditionen Schönerers wurzelnd, immer größeren Einfluß gewann, in seinem neuen Blatt, dem Wiener Mittag, die Habsburger auf das heftigste angriff und die Republik und den Anschluß forderte.

Der neue deutschösterreichische Staat war grundsätzlich geschaffen. Aber weder über die Regierungsform noch über den Anschluß an das Deutsche Reich war ein Beschluß gefaßt worden. Selbst der sozialdemokratische Vertreter Dr. Viktor Adler hatte das Wort Republik noch nicht ausgesprochen. Bezüglich der Anschlußfrage wurde kein Beschluß gefaßt, weil man fürchtete, durch die Proklamierung des Anschlusses die Friedensbedingungen für das Deutsche Reich zu verschärfen.5 Auch in der nächsten, am 30. Oktober 1918 abgehaltenen Sitzung, in der die "grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewalt" – die erste Verfassung – beschlossen wurden, fand die Frage der Staatsform und des Anschlusses noch keine Erledigung.

Inzwischen veränderte sich das Bild. Zur nationalen Revolution war die soziale hinzugetreten. Am Abend des 30. Oktober 1918 brachen in Wien schwere Unruhen aus. Rote Garden und Soldatenräte bildeten sich. Die Arbeiter der eingestellten Kriegsindustrie gingen auf die Straße. Die Verwaltung des alten Staates, formell weiterbestehend, erwies sich als machtlos. Immer stürmischer verlangten die Massen die Ausrufung der Republik. Auch in den Ländern wuchs die republikanische Bewegung. Revolutionäre Regierungen bildeten sich in den Landeshauptstädten und nahmen die Gewalt an sich. Als am 9. November 1918 das Deutsche Reich Republik geworden war, war auch für Österreich die Monarchie nicht mehr haltbar. Auch die Frage des Anschlusses kam in neues Stadium. Am selben Tage kam [69] ein Telegramm des Prinzen Max von Baden, das die sofortige Ausschreibung allgemeiner Wahlen für die verfassungsgebende deutsche Nationalversammlung ankündigte, "der es obliegen würde, die künftige Staatsform des deutschen Volkes einschließlich der Volksteile, die ihren Eintritt in die Reichsgrenzen wünschen sollten, endgültig festzustellen".6 Noch am selben Tage beschloß der Staatsrat unter lebhaftem Beifall der Anwesenden auf Antrag des Staatssekretärs Doktor Adler die Absendung folgenden Telegrammes an den Prinzen: "Im Augenblicke der großen geschichtlichen Wendung sendet der deutschösterreichische Staatsrat dem deutschen Volke seinen brüderlichen Gruß und die heißesten Wünsche für seine Zukunft. Der deutschösterreichische Staatsrat spricht die Hoffnung aus, daß an der Wahl der verfassunggebenden Nationalversammlung, die die künftige staatliche Ordnung des deutschen Volkes bestimmen soll, auch das deutsche Volk in Österreich teilnehmen wird."7

Am 10. November 1918 verzichtete der deutsche Kaiser auf den Thron. Die Revolution in Berlin hatte gesiegt. Nun war auch in Deutschösterreich die Lösung der Frage der Staatsform nicht mehr länger aufzuschieben. In den Abendstunden des 10. November 1918 und in der folgenden Nacht verhandelten die Parteiführer mit der kaiserlichen Regierung. In den ersten Vormittagsstunden des 11. November wurde bekannt, daß Kaiser Karl die Absicht habe, in einem Manifest seinen Thronverzicht zu erklären. In der sofort einberufenen Sitzung des Staatsrates berichtete Staatskanzler Dr. Renner über die Lage. Er wies auf die jüngsten Ereignisse hin, vor allem auf die Übernahme der Regierung in Berlin durch die beiden sozialdemokratischen Fraktionen und auf ihre Wirkung auf die Bevölkerung, insbesondere die Arbeiterschaft. Seine Partei habe heute früh den Beschluß gefaßt, die Koalition mit den bürgerlichen Parteien solange als möglich aufrecht zu erhalten, weil sie die einzige Garantie sei, das Land vor der Anarchie zu bewahren. "Wenn wir" – fuhr er fort – "von der Arbeiterschaft gezwungen werden, eine Regierung unter dem Soldatenrat zu bilden, würde mehr als die Staatsform, würde die ganze wirtschaftliche Ordnung auf dem Spiel stehen." Er wies auch auf die dem Deutschen Reiche benachbarten deutschen österreichischen Randgebiete hin, wo die Gefahr bestehe, daß diese Gebiete den Anschluß selbständig vollziehen, wodurch eine Spaltung [70] im deutschösterreichischen Volk herbeigeführt würde. Dazu käme noch die bevorstehende Verzichtserklärung des Kaisers, wodurch eine unhaltbare Lage entstünde. Er schlage daher vor, der Nationalversammlung in der morgigen Sitzung einen Gesetzentwurf vorzulegen, in dem Deutschösterreich zur demokratischen Republik und zu einem Bestandteil der Deutschen Republik erklärt wird. Die Veröffentlichung dieses Gesetzes hätte gleichzeitig mit der Verzichtserklärung des Kaisers zu erfolgen.

In der folgenden Debatte erklärte sich der deutschnationale Staatsrat Dr. Sylvester mit dem Antrage einverstanden. Der sozialdemokratische Präsident Seitz führte aus: "Wir Sozialdemokraten haben nur noch die Wahl, entweder mit den anderen bürgerlichen Parteien die große Umwälzung vorzunehmen, die notwendig ist, oder uns von ihnen zu scheiden und, dem Wunsche der Massen entsprechend, unsere eigene Politik, die der Sozialdemokratie zu machen. Wir sind der Ansicht, daß eine rein sozialdemokratische Regierung, wie sie in Deutschland heute besteht, bei uns nicht ohne die allergrößten Gefahren möglich wäre. Wir glauben die Pflicht zu haben, als verantwortliche Vertreter der Arbeiter mit den bürgerlichen Parteien gemeinsam die Wahl einer Konstituante in die Wege zu leiten." Einige Bedenken machten die beiden christlichsozialen Vertreter geltend, die auf die Schwierigkeit hinwiesen, die für alle die bestehe, die sich bisher zur Monarchie bekannt haben und nun sich ohne weiteres für die Republik entscheiden sollen. Auch bezüglich des Anschlusses wisse man noch nicht, ob er dem Wunsche der Bevölkerung entspräche. Der Sozialdemokrat Dr. Otto Bauer, Unterstaatssekretär im Staatsamt des Äußern, hob hervor, das Entscheidende sei, daß der dem Deutschen Reich bewilligte Waffenstillstand nach 30 Tagen ablaufe. Man müsse unbedingt den Anspruch, unser Schicksal selbst zu bestimmen, sofort anmelden, weil es fraglich sei, ob dies später überhaupt noch möglich sein werde. Bei der nun folgenden Abstimmung wurde der Gesetzentwurf angenommen, das Wort Republik im Artikel 1 mit allen gegen drei Stimmen, der Artikel 2 – Deutschösterreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik – mit allen gegen die eine Stimme des christlichsozialen Dr. Jerzabek.

Der Beschluß des Staatsrates wurde sofort in die Druckerei der amtlichen Wiener Zeitung geschickt und allen Landeshauptstädten telephonisch bekanntgegeben. Schon in den ersten Nachmittagsstunden des 11. November 1918 erschienen Plakate an den Häusern, die neben- [71] einander die Verzichtserklärung des Kaisers und die Proklamation der Republik verkündeten.

Am 12. November 1918 beschloß dann die Provisorische Nationalversammlung einstimmig das Gesetz "über die Staats- und Regierungsform", St. G. Bl. Nr. 5, dessen zwei Artikel lauteten:

      "Artikel 1. Deutschösterreich ist eine demokratische Republik. Alle öffentlichen Gewalten werden vom Volke eingesetzt.
      Artikel 2. Deutschösterreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik. Besondere Gesetze regeln die Teilnahme Deutschösterreichs an der Gesetzgebung und Verwaltung der Deutschen Republik sowie die Ausdehnung des Geltungsbereiches von Gesetzen und Einrichtungen der Deutschen Republik auf Deutschösterreich."

Dieser Beschluß wurde vom Staatssekretär des Äußeren dem deutschen Volksbeauftragten Haase am 30. November 1918 mit folgenden Begleitworten mitgeteilt: "Durch diesen Beschluß seiner provisorischen Vertretung hat Deutschösterreich seinen Willen kundgetan, sich mit den anderen deutschen Stämmen, von denen es vor 52 Jahren gewaltsam getrennt wurde, wieder zu vereinigen. Ich bitte Sie und die deutsche Regierung, diese Bestrebungen des deutschen Volkes in Österreich zu unterstützen und in direkte Verhandlungen mit uns über die Vereinigung Deutschösterreichs mit der Deutschen Republik und über ihre Teilnahme an der Gesetzgebung und Verwaltung des Deutschen Reiches einzutreten."8

Damit war die Frage der Staatsform und die des Anschlusses grundsätzlich entschieden. Auch die, die noch vor wenigen Tagen an den Fortbestand der Monarchie und eine staatliche Verbindung mit den übrigen österreichischen Nationen geglaubt hatten, sahen ein, daß die Ereignisse stärker waren, als der Wille des einzelnen. Aus der Tiefe des Volksbewußtseins war, einen Augenblick zögernd – das jahrhundertelange Zusammenleben mit den anderen Völkern konnte nicht spurlos vorbeigehen –, dann mit Urgewalt, jeden Widerspruch von sich schleudernd, der nationale Gedanke hervorgebrochen. Aber das Volk, das im Vertrauen auf das von der Entente verkündete Selbstbestimmungsrecht der Völker die alte Sehnsucht erfüllt glaubte, wußte noch nicht, daß jetzt der Kampf [72] um die Vereinigung erst beginnen sollte, ein Kampf, der heute noch nicht beendet ist.

Mit Feuereifer ging Deutschösterreich an die praktische Anschlußarbeit. In den Wiener Ministerien wurden die Vorarbeiten für die erforderlichen Gesetze und Verordnungen in Angriff genommen. Der sozialdemokratische Abgeordnete Professor Ludo Hartmann, der Sohn des Dichters und Abgeordneten der Paulskirche, Moritz Hartmann, ging als Gesandter nach Berlin. Er wurde dem Staatenausschusse zugezogen und arbeitete als Mitglied des Verfassungsausschusses an der neuen deutschen Reichsverfassung mit. In geheimen Besprechungen wurde zwischen den beiden Regierungen über die Vorarbeiten für die Durchführung der Vereinigung verhandelt. Mit dem Gesetz vom 18. Dezember 1918, über die Einberufung der Konstituierenden Nationalversammlung, St. G. Bl. Nr. 114, wurde den in Deutschösterreich wohnhaften deutschen Reichsangehörigen das Wahlrecht zur Konstituierenden Nationalversammlung erteilt. Das gleiche Recht erhielten die im Reich lebenden Deutschösterreicher für die reichsdeutsche Konstituante, so daß die verfassunggebenden Versammlungen der beiden Staaten mit reichsdeutschen und deutschösterreichischen Stimmen gewählt wurden.

Daß der Beschluß der Provisorischen Nationalversammlung nicht der bloße Ausdruck einer augenblicklichen Stimmung war, beweist das von der neugewählten Konstituierenden Nationalversammlung beschlossene Gesetz vom 12. März 1919, über die Staatsform, St. G. Bl. Nr. 174, das den Beschluß der Provisorischen Nationalversammlung: "Deutschösterreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik" "wiederholt, bestätigt und feierlich bekräftigt" und im Artikel 1 erklärt: "Deutschösterreich ist ein Bestandteil des Deutschen Reiches". "Wenn wir" – führte der Staatssekretär für Äußeres, Dr. Otto Bauer, in der Sitzung vom 12. März 1919 aus – "heute bekräftigen, daß Deutschösterreich als demokratische Republik ein Bestandteil der großen Deutschen Republik werden soll, so wird niemand bezweifeln können, daß wir befugt sind, diesen Beschluß zu fassen im Namen unserer Wählerschaft, im Namen des ganzen deutschösterreichischen Volkes. Die Vereinigung Deutschösterreichs mit der großen deutschen Republik bekräftigen wir heute wieder als unser Programm."

Nicht verschwiegen soll werden, daß sich in Deutschösterreich auch Stimmen gegen die Vereinigung mit dem Deutschen Reiche [73] fanden. In Tirol machten die christlichsozialen Abgeordneten, in der Hoffnung, Südtirol retten zu können, dem Anschluß gegenüber Vorbehalte geltend, während ihre großdeutschen und sozialdemokratischen Kollegen für den sofortigen Anschluß eintraten. In Vorarlberg wieder trat eine starke Bewegung für den Anschluß an die Schweiz hervor. Eine nichtoffizielle, vom Landeswerbeausschuß am 11. Mai 1919 durchgeführte Abstimmung ergab 47.131 Stimmen für und 11.386 Stimmen gegen den Anschluß an die Schweiz.9 Wie aber in kurzer Zeit sich die Ansichten änderten, geht daraus hervor, daß schon zwei Jahre später Tirol an der Spitze jener – weiter unten zu erörternden – Bewegung marschierte, die den Anschluß länderweise durchführen wollte. Auch die Bewegung für den Anschluß an die Schweiz in Vorarlberg verlief im Sande und heute spricht niemand mehr von ihr.

Im Reich wurde der Anschlußwille Deutschösterreichs von der Regierung sofort mit Begeisterung aufgenommen. Um ins Volk zu dringen, brauchte es einige Zeit. Die lebende Generation, im kleindeutschen Gedanken aufgewachsen und politisch ungeschult, hielt das Reich von 1871 für die endgültige Lösung der deutschen Frage. Der Sturz aus unerhörtem Glanz in das tiefe Dunkel der Niederlage raubte wie ein Keulenschlag dem Volke die Besinnung. Es bedurfte erst der Erkenntnis, daß das, was geschehen war, nicht ein Blitz aus heiterem Himmel, sondern entwicklungsgeschichtlich vorbereitet war. Mit dem Erwachen dieser Erkenntnis drang von selbst der, wohl verschüttete, aber niemals erloschene großdeutsche Gedanke an die Oberfläche, um die Brücke von der Gegenwart in die großdeutsche Vergangenheit zu schlagen. Schon am 8. November 1918 forderte ein Aufruf reichsdeutscher Professoren die Wiedervereinigung der deutschen Gebiete Österreichs mit dem Reich. Die gleiche Forderung stellte die sächsische Regierung in einer Kundgebung vom 18. November 1918. Ihrem Beispiel folgten zahlreiche andere Regierungen der Einzelstaaten. Am 18. November 1918 bestimmte eine Verordnung der Reichsregierung: "Beschließt die deutsche Nationalversammlung, daß Deutschösterreich seinem Wunsche entsprechend in das Deutsche Reich aufgenommen wird, so treten ihr die deutschösterreichischen Abgeordneten als gleichberechtigte Mitglieder bei."10 [74] Am 17. Jänner 1919 demonstrierte die reichsdeutsche Presse in einer Kundgebung "für das Selbstbestimmungsrecht der deutschen Nation" und forderte "die sofortige Durchführung des am 12. November 1918 in der deutschösterreichischen Nationalversammlung ausgesprochenen Anschlusses". "Der Wille Deutschösterreichs ist auch der unsrige. Wir grüßen unsere Brüder in Deutschösterreich, besonders auch die tapferen Verteidiger Deutschböhmens, des Sudetenlandes und der deutschen Südalpen als Bürger Großdeutschlands. Sie gehören nach Namen und Art zu uns und wollen mit uns durch ein ewiges Band eng verbunden bleiben."11 Am 21. März 1919 wurde der Antrag des Abgeordneten Friedrich Naumann, "Deutschösterreich tritt als Ganzes, als ein Gliedstaat dem Deutschen Reiche bei", im Verfassungsausschuß einstimmig angenommen. Schon im Entwurf des deutschen Reichswahlgesetzes ist der Beitritt der deutschösterreichischen Abgeordneten als Mitglieder der deutschen Nationalversammlung vorgesehen. Und der Artikel 61 der Reichsverfassung vom 11. August 1919 enthält die Bestimmung: "Deutschösterreich erhält nach seinem Anschluß an das Deutsche Reich das Recht der Teilnahme am Reichsrat mit der seiner Bevölkerung entsprechenden Stimmenzahl. Bis dahin haben die Vertreter Deutschösterreichs beratende Stimme."

Während die Stunde der Wiedervereinigung immer näher zu rücken schien, beratschlagte man in Paris über das Schicksal der österreichischen Deutschen. Zunächst war man sich noch nicht klar darüber, was mit der Österreichisch-Ungarischen Monarchie geschehen soll. Gewichtige Stimmen wünschten ihre Erhaltung. Auch über die Anschlußfrage war man sich nicht einig. Gegen den Anschluß war vor allem Frankreich, das im Anschluß eine Stärkung des Reiches und damit eine Bedrohung für sich erblickte. Amerika, England und Italien waren nicht unbedingt gegen den Anschluß.12 Schließlich drang aber doch der Wille Frankreichs durch. Inzwischen suchte eine großzügige französische Propaganda das deutschösterreichische Volk von seinem Anschlußwillen abzubringen. Sie bediente sich hiebei ebenso lockender Versprechungen wie schwerster Drohungen. Am 3. Mai 1919 erhielt das deutschösterreichische Staatsamt für Äußeres aus Paris die amtliche Mitteilung, daß die Entente beschlossen habe, Deutschösterreich zu einem selbständigen, neutrali- [75] sierten, unter der Garantie des Völkerbundes stehenden Staat zu machen. Diese Mitteilung erregte einen Sturm der Entrüstung im ganzen Lande. In feierlichen Protesten, verzweifelten Aufrufen an das Weltgewissen, mit dem Hinweis auf das zugesagte Selbstbestimmungsrecht der Völker suchten sich die Deutschösterreicher gegen die Vergewaltigung zu wehren. Alles blieb vergeblich. Das Weltgewissen schwieg. Am 7. Mai 1919 empfingen die Vertreter des Deutschen Reiches die Friedensbedingungen, die im Artikel 80 die Bestimmung enthielten, "Deutschland erkennt die Unabhängigkeit Österreichs in den durch den Vertrag zwischen diesem Staate und den alliierten und assoziierten Hauptmächten festzusetzenden Grenzen an und verpflichtet sich, sie unbedingt zu achten; Deutschland erkennt an, daß diese Unabhängigkeit unabänderlich ist, es sei denn, daß der Rat des Völkerbundes einer Abänderung zustimmt". Nun wußten die Deutschen im Reich und in Deutschösterreich, daß das ihnen zugesagte Selbstbestimmungsrecht offen verraten worden war. "Eine klarere Verleugnung des angeblichen Selbstbestimmungsrechtes ist kaum zu denken als dieses Verbot des fast vom einmütigen Wunsche des deutschösterreichischen Volkes getragenen Anschlusses an Deutschland", nennt Lansing, Wilsons Staatssekretär des Äußeren, diese Vertragsbestimmung.13

Vergeblich suchten die deutschen Vertreter durch Vorstellungen gegen diese Gewalttat anzukämpfen. Die Note der deutschen Friedensdelegation vom 29. Mai 191914 erklärt, daß Deutschland nie die Absicht gehabt habe und sie nie haben werde, die deutschösterreichische Grenze gewaltsam zu verschieben. "Sollte aber die Bevölkerung Österreichs, dessen Geschichte und Kultur seit tausend Jahren auf das engste mit dem deutschen Stammland verbunden ist, wünschen, den erst in jüngster Zeit durch kriegerische Entscheidung gelösten staatlichen Zusammenhang mit Deutschland wieder herbeizuführen, so kann Deutschland sich nicht verpflichten, dem Wunsche seiner deutschen Brüder in Österreich sich zu widersetzen, da das Selbstbestimmungsrecht der Völker allgemein und nicht lediglich zuungunsten Deutschlands gelten muß. Ein anderes Verfahren würde den Grundsätzen der Kongreßreden des Präsidenten Wilson vom [76] 11. Februar 1918 widersprechen." Die Mächte fanden keine andere Antwort, als daß sie in ihrer Antwortnote vom 16. Juni 1919 "Kenntnis nehmen" von der Erklärung, "durch die Deutschland versichert, daß es niemals die Absicht hat, noch haben wird, die österreichische Grenze mit Gewalt zu ändern". Auf den Einwand, daß ihr Vorgehen ein Verrat der von ihnen verkündeten eigenen Grundsätze sei, gaben sie überhaupt keine Antwort, weil es darauf keine Antwort gab. Deutschösterreich, das zu dieser Zeit seine Friedensbedingungen noch nicht erhalten hatte, protestierte in einer an die deutsche Nationalversammlung gerichteten Kundgebung, die der Präsident des Reichsministeriums, Scheidemann, in seiner am 12. Mai 1919 in der Nationalversammlung gehaltenen Rede mit den Worten erwiderte: "Ich danke allen, aus denen ein empörtes Herz und Gewissen spricht, ich danke vor allem und erwidere in unvergänglicher Anhänglichkeit das Gelöbnis der Treue, das gerade jetzt aus Wien zu uns herüberschallt. Brüder in Deutschösterreich, die auch in der dunkelsten Stunde den Weg zum Gesamtvolk nicht vergessen, wir grüßen euch, wir danken euch und wir halten zu euch."15

Am 2. Juni 1919 erhielten nun auch die deutschösterreichischen Vertreter in St. Germain die Friedensbedingungen. Diese enthielten noch nichts über den Anschluß. Erst der dritte und letzte, am 2. September 1919 übergebene Entwurf enthält den berüchtigten Artikel 88: "Die Unabhängigkeit Österreichs ist unabänderlich, es sei denn, daß der Rat des Völkerbundes einer Abänderung zustimmt. Daher übernimmt Österreich die Verpflichtung, sich, außer mit Zustimmung des gedachten Rates, jeder Handlung zu enthalten, die mittelbar oder unmittelbar oder auf irgendwelchem Wege, namentlich – bis zu seiner Zulassung als Mitglied des Völkerbundes – im Wege der Teilnahme an den Angelegenheiten einer anderen Macht seine Unabhängigkeit gefährden könnte."16

Obwohl die deutschösterreichische Öffentlichkeit, da die analoge [77] Bestimmung im deutschen Vertrag schon bekannt war, durch den Artikel 88 nicht überrascht wurde, erregte er doch allgemeine Empörung. Vor allem war es die aus ihm sprechende Unaufrichtigkeit, die ein mit Verachtung gemischtes Gefühl des Zornes erregte. Die Entente hatte nicht den Mut gefunden, ihre Gewalttat offen einzugestehen, sondern sie in die Form der Erhaltung der "Unabhängigkeit" Deutschösterreichs gekleidet. So kam zur Verleugnung eigener Grundsätze auch noch Verlogenheit.

In einer gewaltigen Kundgebung protestierte die deutschösterreichische Nationalversammlung am 6. September 1919 gegen diese Vergewaltigung des Selbstbestimmungsrechtes. In der in der Note vom gleichen Tage der Entente mitgeteilten Kundgebung erhebt die Nationalversammlung "vor aller Welt feierlich ihren Protest dagegen, daß der Friedensvertrag von St. Germain unter dem Vorwande, die Unabhängigkeit Deutschösterreichs zu schützen, dem deutschösterreichischen Volk sein Selbstbestimmungsrecht nimmt, ihm die Erfüllung seines Herzenswunsches, seine wirtschaftliche, kulturelle und politische Lebensnotwendigkeit, die Vereinigung mit dem deutschen Mutterlande, verweigert. Die Nationalversammlung spricht die Hoffnung aus, daß, sobald der Friede den Geist nationaler Gehässigkeit und Feindseligkeit, den der Krieg hervorgerufen hat, überwunden haben wird, der Völkerbund auch dem deutschen Volke das Recht auf Einheit der Nation, das er allen anderen Völkern gewährt, nicht dauernd verweigern werde."17

Am 10. September 1919 unterzeichneten die deutschösterreichischen Vertreter den Vertrag von St. Germain. Am 21. Oktober 1919 mußte die Nationalversammlung in dem Gesetz über die Staatsform, St. G. Bl. Nr. 484, den Namen Deutschösterreich ablegen, den aufgezwungenen Namen Österreich für das Land annehmen und "in Durchführung des Staatsvertrages von St. Germain" die bisherige gesetzliche Bestimmung "Deutschösterreich ist ein Bestandteil des Deutschen Reiches" (Artikel 2 des Gesetzes vom 12. November 1918, St. G. Bl. Nr. 5, und Z. 2 des Artikels 1 des Gesetzes vom 12. März 1919, St. G. Bl. Nr. 174) außer Kraft setzen.

Vom Deutschen Reich verlangten die Ententemächte die Kraftloserklärung des früher erwähnten Artikels 61 der Reichsverfassung, [78] der die Teilnahme Deutschösterreichs am Reichsrat vorsieht, und drohten mit einer Ausdehnung der Besetzung auf dem rechten Rheinufer "unter Vorbehalt weiterer Zwangsmittel". Auf die eingehende Antwort der Reichsregierung begnügten sich die Ententemächte dann die Unterfertigung eines Protokolls zu fordern, das am 22. September 1919 von den deutschen Vertretern unterfertigt wurde. In diesem Protokoll erklären die deutschen Vertreter im Namen der deutschen Regierung, "daß alle Vorschriften der deutschen Verfassung vom 11. August 1919, die mit den Bestimmungen des in Versailles am 28. Juni 1919 unterzeichneten Friedensvertrages im Widerspruch stehen, ungültig sind.18 Die deutsche Regierung erklärt und erkennt an, daß demzufolge der Artikel 6119 der erwähnten Verfassung ungültig ist und daß namentlich die Zulassung österreichischer Vertreter zum Reichsrat nur dann stattfinden kann, wenn gemäß Artikel 80 des Friedensvertrages der Völkerbundrat einer entsprechenden Änderung der internationalen Lage Österreichs zugestimmt haben wird." Obwohl die Nationalversammlung dem Protokoll ihre Zustimmung gegeben hat, kann ihm vom Standpunkt des deutschen Staatsrechtes keine Gesetzeskraft zuerkannt werden, weil es nicht im Reichsgesetzblatt verkündet worden ist (Artikel 70 der Verfassung). Formalrechtlich ist es nicht vorhanden.20 Wenn auch der Vertrag von Versailles heute die praktischen Wirkungen des Artikels 61, 2. Absatz, hemmt, so bleibt dieser Artikel dennoch als politisches Ziel in der Verfassung verankert.

Mit der Unterzeichnung der beiden Friedensverträge war das erste Kapitel der Anschlußfrage geschlossen. Bei der Wehrlosigkeit der beiden deutschen Staaten gibt es von nun an eine Verwirklichung [79] des Anschlusses nur mit Zustimmung des Völkerbundrates. Die Anschlußpolitik muß sich daher bis auf weiteres auf dieses Ziel einstellen. So aussichtslos die Erlangung dieser Zustimmung auch war und auch heute noch sein mag, die Bestimmung des Artikels 88 des Staatsvertrages von St. Germain ist dennoch von größtem Wert, denn politische Konstellationen sind nicht von Ewigkeit und es kann sehr wohl – vielleicht überraschender, als die Schöpfer des Artikels 88 erwarten – der Augenblick kommen, wo der Völkerbundrat sich zur Zustimmung bereit findet.

Solche nüchterne Erwägungen vermag wohl der kühle politische Denker anzustellen, nicht aber das in seinen nationalen Gefühlen aufs tiefste verletzte deutschösterreichische Volk. Immer stärker machte sich in den deutschösterreichischen Ländern eine Bewegung geltend, die unabhängig von der durch den Vertrag gebundenen Wiener Zentralregierung den Anschluß länderweise durchzuführen gedachte. Die Landesregierungen machten Versuche, mit Ententemächten wegen des Anschlusses in direkte Verbindung zu treten. Hieraus ergaben sich heftige Konflikte mit der Staatsregierung, die einerseits von der Entente mit Drohungen bedrängt wurde, anderseits aber den Landesregierungen gegenüber machtlos war. Nach schwerem inneren Ringen kam am 1. Oktober 1920 die neue Bundesverfassung (Gesetz vom 1. Oktober 1920, B. G. Bl. Nr. 1) zustande, die den Ländern weitgehende Selbständigkeit einräumte und ihnen damit erst recht Bewegungsfreiheit für ihre Anschlußbestrebungen gab. Die neue Verfassung enthält zwar keine Bestimmung mehr über den Anschluß. Der wahre Wille der die Verfassung beschließenden Nationalversammlung kam jedoch in der in der gleichen Sitzung einstimmig beschlossenen Resolution zum Ausdruck, in der die Regierung aufgefordert wurde, innerhalb von sechs Monaten eine Volksabstimmung über den Anschluß durchzuführen.21

[80] Mit allen Mitteln suchte die Entente die Durchführung dieser Resolution zu verhindern und auf die Staatsregierung mit Drohungen, insbesondere der Hungerblockade, einzuwirken. Unter diesen Umständen konnte die Regierung die erforderlichen Maßnahmen zur Durchführung der Abstimmung nicht vornehmen. Als die sechsmonatige Frist sich ihrem Ende näherte, ohne daß die Regierung dem ihr erteilten Auftrage nachgekommen war, brachten die Abgeordneten Dinghofer und Genossen am 10. Februar 1921 den Entwurf eines Bundesgesetzes ein, in dem eine Volksabstimmung angeordnet wird, bei der die Bundesbürger zu erklären haben, "ob sie den Anschluß an das Deutsche Reich wünschen". Der Entwurf erklärt im § l, Absatz 2, ausdrücklich, daß die Bestimmung des Artikels 88 des Staatsvertrages von St. Germain durch dieses Gesetz nicht berührt wird. In der Begründung des Antrages wird hervorgehoben, daß, "auch wenn sich die Mehrheit der Bundesbürger für den Anschluß der Republik Österreich an das Deutsche Reich aussprechen wird", "dieses Abstimmungsergebnis weder den Vollzug noch die Vorbereitung des tatsächlichen Anschlusses zur Folge haben" wird. "Zweck der Abstimmung ist lediglich, die grundsätzliche Meinung der Bundesbürger über diese Frage zu erfahren. Die Anordnung der Abstimmung bedeutet somit weder eine Gefährdung der Unabhängigkeit Österreichs noch eine Teilnahme an den Angelegenheiten einer anderen Macht und steht demnach mit der Bestimmung des Artikels 88 des Staatsvertrages von St. Germain-en-Laye vom 10. September 1919 in keinerlei Widerspruch. Um jeden Zweifel auszuschließen, wird dies im § 1, Absatz 2, noch ausdrücklich hervorgehoben." Auf Grund des zu erwartenden günstigen Abstimmungsergebnisses sollte dann, da Österreich inzwischen Mitglied des Völkerbundes geworden, demnach die im Artikel 88 vorgesehene Bedingung "namentlich – bis zu seiner Zulassung als Mitglied des Völkerbundes –" eingetreten war, beim Völkerbund um die Zustimmung zum Anschluß angesucht werden.

Unter dem Druck der Ententedrohungen machte die Regierung alle Anstrengungen, die Annahme dieses Gesetzentwurfes zu verhindern. Nun wurde, um der Entente jede Angriffsfläche zu nehmen, im Verfassungsausschuß der Entwurf dahin abgeändert, daß die an die Bundesbürger zu stellende Frage zu lauten hat: "Soll die Bundesregierung beim Rate des Völkerbundes um die Zustimmung zum Anschluß der Republik Österreich an das Deutsche Reich ansuchen?" [81] In dieser Fassung wurde der Entwurf am 12. Mai 1921 vom Nationalrat22 auch angenommen.

Gegen diese Fassung der Abstimmung schien ein Einwand nicht mehr möglich. Da der Friedensvertrag ausdrücklich den Anschluß mit Zustimmung des Völkerbundrates für zulässig erklärt, kann ein an den Völkerbundrat gerichtetes Ansuchen um diese Zustimmung keine Vertragsverletzung bedeuten. Nichtsdestoweniger liefen die Wiener Ententevertreter Sturm gegen den Beschluß des Nationalrates. Die Motive sind klar. Es war vorauszusehen, daß die Abstimmung eine ungeheure Mehrheit für das Ansuchen an den Völkerbundrat ergeben hätte. Damit wäre der Welt neuerlich in unanfechtbarer Weise der Anschlußwille der Deutschösterreicher verkündet worden. Im Völkerbundrat hätte nun die ganze Anschlußfrage erörtert werden müssen, wobei der Rat in große Verlegenheit gekommen wäre. Er hätte entweder den Anschluß gestatten oder ihn ablehnen müssen. Für die Ablehnung hätten sich aber keine anderen Gründe als machtpolitische finden lassen. Der Völkerbundrat hätte, da in ihm ja die Ententemächte entscheiden, das Ansuchen selbstverständlich abgelehnt. Aber damit hätte sich der Völkerbund, der angebliche Hort der Weltgerechtigkeit, vor der ganzen Welt als das, was er ist, nämlich als Machtinstrument der Siegerstaaten erwiesen. Das Prestige des Völkerbundes hätte einen Stoß erlitten, der vielleicht seine Existenz in Frage gestellt hätte. Das mußte unter allen Umständen verhindert werden.

Inzwischen hatte die Anschlußbewegung in den Bundesländern einen ungeheuren Umfang angenommen. Als die deutschösterreichische Bevölkerung sah, daß die Staatsregierung außerstande war, in der Anschlußfrage nach ihrem Willen vorzugehen, nahm sie die Sache selbst in die Hand. Die Länderregierungen, dem diplomatischen Druck entrückt, waren im Anschlußwillen mit dem Volk einig und beschlossen, die Abstimmung länderweise vorzunehmen. Daraufhin erschien am 14. April 1921 der französische Gesandte in Wien, Lefèvre-Pontalis, beim Bundeskanzler Dr. Mayr und gab im Auftrage seiner Regierung folgende Erklärung ab: "Falls die österreichische Regierung nicht imstande sein sollte, die gegenwärtigen, auf den Anschluß an das Deutsche Reich hinzielenden Umtriebe wirkungslos zu machen, so würde die französische Regierung das Hilfswerk für Österreich einstellen und die Entschädigungskommission in ihren Befugnissen [82] wieder hergestellt werden." Diesem Schritt hatten sich auch der englische und italienische Vertreter angeschlossen.

Die erhoffte Wirkung dieses Schrittes blieb aus. Am 24. April 1921 fand in Tirol die vom Landtage beschlossene Abstimmung statt, bei der von 147.439 abgegebenen Stimmen – fast neun Zehntel aller Abstimmungsberechtigten – 145.302 für und 1805 gegen den Anschluß waren, bei 332 ungültigen Stimmen. Am 27. April 1921 faßte der Salzburger Landtag den Beschluß, ebenfalls eine Volksabstimmung durchzuführen, mit der Begründung, er könne "in den Einwendungen und Vorbehalten der Bundesregierung einen berechtigten Grund, keine Abstimmung über den Anschlußwillen im Lande durchzuführen, nicht erblicken. Der Landtag legt Verwahrung gegen die vom französischen Gesandten in Wien unternommene Demarche ein, die nicht imstande sei, die Bevölkerung in ihrem Anschlußwillen wankend zu machen".23 Am selben Tag faßte der oberösterreichische Landtag den Beschluß, die Bundesregierung werde aufgefordert, die eingebrachte Gesetzvorlage (das ist der Antrag Dinghofer) zu verabschieden, widrigenfalls das Land Oberösterreich die Abstimmung selbständig vornehmen werde.

Die Entente griff nun mit den schwersten Drohungen ein. Deutschösterreich befand sich in einer verzweifelten wirtschaftlichen Lage. Die Währung sank unaufhörlich. Es fehlte an Lebensmitteln. Es gab nur einen Ausweg: eine auswärtige Anleihe. Die Entente drohte nun die angebahnten Anleiheverhandlungen einzustellen, Kärnten durch südslawische Truppen zu besetzen, das im Friedensvertrag Deutschösterreich zugesprochene Westungarn nicht zu übergeben. Ja sogar mit einer Aufteilung Deutschösterreichs unter seine Nachbarn wurde gedroht. Hiebei scheute man auch vor unlauteren Mitteln nicht zurück. In einer, später als Fälschung erwiesenen Note ersuchte die deutsche Reichsregierung weitere Abstimmungen zu unterlassen. Die Bundesregierung machte verzweifelte Anstrengungen, um die Anschlußbewegung in den Ländern zu unterdrücken. Es gelang ihr wohl, die von der Salzburger Landesregierung durchzuführende Abstimmung zu verhindern. Daraufhin hob der Salzburger Landtag am 18. Mai 1921 den Beschluß über die Volksabstimmung zwar auf, faßte aber gleichzeitig den Beschluß, daß "die im Landtag [83] vertretenen Parteien selbst die weitere Durchführung dieser Volksbefragung übernehmen" und "das Ergebnis der Volksbefragung den maßgebenden Behörden zu verfassungsmäßiger Weiterleitung an den Völkerbund zur Kenntnis zu bringen" haben. Die am 18. Mai 1921 durchgeführte "private" Abstimmung ergab von 126.482 Stimmberechtigten 98.546 Stimmen für und 877 Stimmen gegen den Anschluß; 365 Stimmen waren ungültig.24 Die Bemühungen der Bundesregierung, die auch in Steiermark beschlossene Abstimmung zu verhindern, schlugen fehl. In seinem Beschluß vom 31. Mai 1921 ordnete der steirische Landtag die Abstimmung für den 3. Juli 1921 an. Die Bundesregierung war in eine unhaltbare Lage gekommen. Am 1. Juni 1921 demissionierte das Kabinett Mayr.

Deutschösterreich stand vor der Auflösung und feindlicher Besetzung. Um das Land zu retten, mußte die Abstimmungsaktion aufgegeben werden. Das sahen schließlich auch die Länder ein. Der im Nationalrat angenommene Gesetzentwurf Dinghofer wurde wegen eines Formfehlers nicht publiziert.25 Die Bundesregierung machte [84] alle Anstrengungen, um eine Auslandsanleihe zu bekommen, denn nur auf diesem Wege waren die Staatsfinanzen in Ordnung zu bringen und der fortschreitenden Geldentwertung Einhalt zu tun. Als die Verhandlungen sich in die Länge zogen und die Lage völlig unhaltbar wurde, ersuchte die Regierung in ihrer an Lloyd George gerichteten Note vom 7. August 1922, sofort zu erklären, ob die Mächte bereit seien, die Garantie für eine Anleihe zu übernehmen, da die Regierung sonst nicht in der Lage sei, die Verwaltung des Staates weiterzuführen. Sie würde die Mächte für den Zusammenbruch verantwortlich machen und "die künftigen Geschicke Österreichs in die Hände dieser Mächte legen". Als Lloyd George in seiner Antwort vom 15. August 1922 dieses Ansuchen ablehnte und mitteilte, die Mächte hätten beschlossen, daß "die Lage Österreichs zur Untersuchung an den Völkerbund überwiesen wird", trat Bundeskanzler Dr. Seipel mit dem Deutschen Reich, der Tschechoslowakei und Italien in Verbindung, um durch die wirtschaftliche oder politische Anlehnung Deutschösterreichs an einen dieser Staaten das Land aus seiner hoffnungslosen Lage zu befreien. Die Wirkung dieses Schrittes war, daß die Verhandlungen wegen einer Anleihe in Fluß kamen. Das Ergebnis war das sogenannte Genfer Übereinkommen vom 4. Oktober 1922 zwischen England, Frankreich, Italien und der Tschechoslowakei einerseits und Deutschösterreich anderseits, in dem diese Mächte die Garantie für 84% einer Anleihe von 650 Millionen Goldkronen übernahmen, nicht ohne jedoch diesen Akt der Hilfe zu einer Erpressung zu benützen. Die Regierung Deutschösterreichs mußte sich verpflichten "gemäß dem Wortlaute des Artikels 88 des Vertrages von St. Germain, ihre Unabhängigkeit nicht aufzugeben; sie wird sich jeder Handlung und jeder wirtschaftlichen oder finanziellen Bindung enthalten, welche geeignet wäre, diese Unabhängigkeit direkt oder indirekt zu beeinträchtigen". Seine wirtschaftliche und finanzielle Selb- [85] ständigkeit wird Deutschösterreich zwar belassen, jedoch nur unter der Voraussetzung, daß es "seine wirtschaftliche Unabhängigkeit nicht antastet, daß es irgendeinem Staate ein Sondersystem oder ausschließliche Vorteile nicht zugesteht, die geeignet wären, die Unabhängigkeit zu gefährden".

In seiner Hilflosigkeit mußte Deutschösterreich die geforderten Bedingungen annehmen. Ihr Ziel haben die Mächte jedoch nicht erreicht. Der Anschlußwille Deutschösterreichs ist nicht gebeugt worden. Er ist in seinem Streben nach Verwirklichung nur in ein neues Stadium getreten.


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1Vgl. hierüber Bauer, Otto: Die österreichische Revolution, Wien 1923. ...zurück...

2Zitiert nach Kelsen, Hans: Die Verfassungsgesetze der Republik Deutschösterreich, I. Teil, Wien 1919, S. 1 und 2. ...zurück...

3Das vom 16. Oktober 1918 datierte Manifest ist veröffentlicht in einer Extraausgabe der amtlichen Wiener Zeitung vom 17. Oktober 1918. ...zurück...

4Nach Winkler, Dr. Wilhelm: Die Totenverluste der Österreichisch-Ungarischen Monarchie nach Nationalitäten, Wien 1919, hatten unter den österreichischen Völkern die Deutschen die größten Verluste. Sie betrugen auf je Tausend der Heimatbevölkerung bei den Deutschen 29.3 Tote. Bei den
Slowenen 28.0         Rumänen 19.2
Mährischen Slowaken 27.1 Italienern 17.0
Tschechen 23.4 Serbokroaten 16.9
Ukrainern 17.7 Polen 16.3
Am schärfsten treten die stärkeren Verluste der Deutschen in Böhmen zutage, wo der Tausendsatz beträgt in:
reindeutschen Gebieten 34.5         tschechisch-deutschen Gebieten 27.3
deutsch-tschechischen Gebieten 32.4 rein tschechischen Gebieten 22.5
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5Wie Polifka, R. W.: "Die Anschlußerklärung der Wiener Nationalversammlung. Aus den Geheimprotokollen des Deutschösterreichischen Staatsrates", Tagespost (Graz, 11. November 1928), berichtet, hat Dr. Dinghofer, einer der drei Präsidenten der Provisorischen Nationalversammlung, mit dem deutschen Botschafter in Wien, Grafen Botho von Wedel, über den Anschluß Besprechungen geführt. Nach dem vertraulichen Bericht, den Dinghofer über diese Besprechungen dem Vollzugsausschuß erstattete, habe Graf von Wedel gemeint, "man solle den Gedanken des Zusammenschlusses mit dem Deutschen Reich jetzt nicht zum Ausdruck bringen, weil es beim Friedensschluß schaden könnte". ...zurück...

6Vgl. Polifka, a. a. O. ...zurück...

7Vgl. Polifka, a. a. O. ...zurück...

8Zitiert nach Paller, Heinz v.: Der großdeutsche Gedanke, Leipzig 1928, S. 109. ...zurück...

9Bericht der Wiener Abendpost - Abendausgabe der amtlichen Wiener Zeitung - vom 13. Mai 1919. ...zurück...

10Paller, a. a. O., S. 110. ...zurück...

11Zitiert nach Paller, a. a. O., S. 137. ...zurück...

12Siehe den Beitrag von Paller in diesem Werke: "Entstehung der Anschlußfrage als Problem der europäischen Politik." ...zurück...

13Lansing, Robert: The Peace Negotiations, 1921; deutsch: Die Versailler Friedensverhandlungen, Berlin 1922. ...zurück...

14Veröffentlicht in Schücking, Walter: Kommentar zum Friedensvertrag, Berlin 1921. ...zurück...

15Zitiert nach Paller, a. a. O., S. 145. ...zurück...

16Das Fehlen der Anschlußbestimmung in den beiden ersten Entwürfen ist darauf zurückzuführen, daß man auf Seite der Entente den Anschlußwillen des Reiches als Willen zur Annexion ansah, den Deutschösterreichs aber bloß als einen Versuch, auf diese Weise einen Ausweg aus der bedrängten wirtschaftlichen Lage zu finden, der nach Gewährung von Lebensmitteln und Krediten bald aufgegeben werden würde. Auf Drängen der Tschechoslowakei hat dann Frankreich die Aufnahme einer der deutschen Anschlußbestimmung analogen Bestimmung in den mit Deutschösterreich zu schließenden Vertrag durchgesetzt. ...zurück...

17Veröffentlicht in dem Bericht über die Tätigkeit der deutschösterreichischen Friedensdelegation in St. Germain-en-Laye, Wien 1919. ...zurück...

18Diese Bestimmung ist überflüssig, da der Artikel 178, 2. Absatz, der Reichsverfassung dasselbe, nur mit anderen Worten, sagt, nämlich: "Die Bestimmungen des am 28. Juni 1919 in Versailles unterzeichneten Friedensvertrages werden durch die Verfassung nicht berührt." ...zurück...

19Die Ungültigkeitserklärung des Artikels 61 überhaupt ist eine unberechtigte Forderung, weil nur der Absatz 2 Bestimmungen über die Teilnahme Deutschösterreichs am Reichsrat, der übrige Text aber allgemeine Bestimmungen über die Vertretung der deutschen Länder im Reichsrat enthält, bezüglich welcher der Entente auf Grund des Friedensvertrages keine Einflußnahme zusteht. ...zurück...

20Vgl. hierüber Anschütz, Georg: Die Verfassung des Deutschen Reiches, Berlin 1921, S. 120 und 121, und Pohl, Heinrich: Reichsverfassung und Versailler Vertrag, Tübingen 1927. ...zurück...

21Der vom großdeutschen Abgeordneten Dr. Straffner eingebrachte Resolutionsentwurf lautete: "Die Staatsregierung wird aufgefordert, spätestens innerhalb sechs Monaten, womöglich gelegentlich der Wahlen in die Nationalversammlung am 17. Oktober 1920, eine Volksabstimmung bezüglich des Anschlusses Deutschösterreichs an das Deutsche Reich anzuordnen." Der Entwurf wurde, jedoch ohne den Satz "womöglich gelegentlich der Wahlen in die Nationalversammlung am 17. Oktober 1920", der abgelehnt wurde, vom Hause einstimmig angenommen. – Stenographisches Protokoll, 102. Sitzung der Konstituierenden Nationalversammlung, S. 3471. ...zurück...

22Nach der neuen Bundesverfassung heißt die früher Nationalversammlung genannte Volksvertretung nun Nationalrat. ...zurück...

23Am 15. April 1921 hatte auch der Nationalrat in einer einstimmig angenommenen Entschließung gegen die Demarche des französischen Gesandten Verwahrung eingelegt. ...zurück...

24Zur Erinnerung wurde am Rathaus der Stadt Salzburg eine Gedenktafel mit folgender Inschrift angebracht: "Bei der Volksabstimmung am 29. Mai 1921 stimmten im Land Salzburg für den Anschluß an das Deutsche Reich 98.546 Stimmberechtigte, dagegen 877. In unerschütterlicher Zuversicht, daß die verlorene Einheit des Vaterlandes wieder errungen wird, wurde diese Gedenktafel im Sommer 1923 errichtet." ...zurück...

25Nach Artikel 46 des Bundes- Verfassungsgesetzes vom 1. Oktober 1920, B. G. Bl. Nr. 1, wird das Verfahren für das Volksbegehren und die Volksabstimmung durch Bundesgesetz geregelt. Ein solches Ausführungsgesetz bestand zur Zeit der Einbringung des Antrages Dinghofer noch nicht. Die Regierung brachte nun den Entwurf dieses Ausführungsgesetzes im Nationalrat ein, der in abgeänderter Fassung in derselben Sitzung, wie der Entwurf Dinghofer – am 12. Mai 1921 – angenommen wurde. Es ist dies das spätere Gesetz vom 24. Juni 1921, B. G. Bl. Nr. 367. Dieses Gesetz war notwendig, weil es erst die technischen Voraussetzungen für die Durchführung einer Abstimmung schuf. Der angenommene Entwurf Dinghofer wurde jedoch nicht im Bundesgesetzblatt publiziert. Ich nahm an, daß die Publikation aus dem Grunde unterblieben war, weil der Bundesrat gegen den Gesetzesbeschluß Einspruch erhoben hat. Auf meine Anfrage bei der Direktion der Kanzlei des Nationalrates erhielt ich in der Zuschrift vom 19. Jänner 1922 jedoch die Antwort, daß der Bundesrat gegen den Gesetzbeschluß Dinghofer keinen Einspruch erhoben habe, die Publikation jedoch aus den in der abschriftlich beiliegenden Note des Bundeskanzleramtes vom 11. Juli 1921, Z. 53/80 B. K., angeführten Gründen unterblieben sei. Aus dieser Note geht hervor, daß der Gesetzesbeschluß Dinghofer den § 2 des Gesetzesbeschlusses über das Abstimmungsverfahren zitiert, gegen welchen der Bundesrat in der Sitzung vom 11. Juli 1921 Einspruch erhoben hatte. Der Bundeskanzler sei daher nicht in der Lage, den Gesetzesbeschluß Dinghofer im Bundesgesetzblatt zu verlautbaren. – Das Vorgehen des Bundeskanzlers ist einwandfrei. Da der Gesetzesbeschluß Dinghofer eine Bestimmung zitiert, die infolge des Einspruches des Bundesrates nicht Gesetz geworden ist, so lag tatsächlich eine Unstimmigkeit vor, die nicht übergangen werden konnte. Sie hätte aber leicht behoben werden können, indem Nationalrat und Bundesrat sich über eine Formulierung einigen oder indem der Nationalrat seinen Beschluß wiederholt. Unter den gegebenen Verhältnissen war es aber begreiflich, daß die Regierung nichts dazu tat, um die Unstimmigkeit zu beheben, sondern sie dazu benützte, um die Gesetzwerdung des Antrages Dinghofer zu verhindern. ...zurück...

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Die Anschlußfrage
in ihrer kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Bedeutung

Friedrich F. G. Kleinwaechter & Heinz von Paller