Dr. Otto Bauer
Staatssekretär des Äußern
Eine Zollunion?*
Auf dem Boden der zertrümmerten
österreichisch-ungarischen Monarchie sind sieben neue Staaten entstanden.**
Das einheitliche Wirtschaftsgebiet ist in sieben Stücke zerrissen. Die
Industrie, der Handel, die Banken sehen durch die Zerstückelung des
Wirtschaftsgebietes ihre Lebensinteressen bedroht. Sie alle fragen, ob es nicht
möglich ist, aus dem politischen Zusammenbruch die wirtschaftliche
Gemeinschaft zu retten. Können die sieben Nationen, die politisch frei
geworden sind, nicht trotzdem in wirtschaftlicher Gemeinschaft verbunden
bleiben? Die Antwort [17] scheint einfach zu sein: die sieben
souveränen Staaten sollen eine Zollunion gründen, ein
Zoll- und Handelsbündnis miteinander eingehen; so können die
sieben Völker trotz ihrer nationalen Selbständigkeit und staatlichen
Selbstherrlichkeit wirtschaftlich vereint bleiben. Und kaum hat wirtschaftliche
Not diesen Plan geboren, klammern sich an ihn auch schon politische
Bestrebungen. Die Monarchisten hoffen, was wirtschaftlich vereint bleibt, werde
doch auch staatlich wieder zusammenwachsen; so werde das Habsburgerreich in
neuer Gestalt wiedererstehen. Und alle die, die Deutschland für alle Zeiten
zerteilt und zerstückelt sehen wollen, stimmen freudig zu. Daß
Deutsch-Österreich, auf sich selbst gestellt, nicht leben könnte,
wissen auch sie; darum wollen sie uns an Slawen und Ungarn binden, damit wir
uns nicht mit den anderen deutschen Stämmen vereinigen können
und vereinigen müssen.
Ein Zollbündnis mit unseren Nachbarstaaten - so lautet jetzt das
Schlagwort. Sehen wir also zu, wie ein solches Bündnis aussehen
würde! Sind mehrere Staaten in einem Zollbündnis vereinigt, so
müssen sie den autonomen Zolltarif gemeinsam festsetzen und gemeinsam
die Handelsverträge schließen. Es müßten also
zunächst sieben Regierungen zusammenkommen und jeden einzelnen
Zollsatz miteinander vereinbaren. Und dann müßten sieben
Parlamente diesen Vereinbarungen zustimmen. Wir haben es seit 1867 erlebt,
welche Mühen und Opfer und Wirren es gekostet hat, von zehn zu zehn
Jahren den Ausgleich mit Ungarn zu schließen. Jetzt aber sollen nicht nur
zwei Regierungen miteinander immer wieder den Ausgleich vereinbaren, sondern
sieben; nicht zwei, sondern sieben Parlamente den Vereinbarungen zustimmen!
Und während sich Österreich und Ungarn, durch die Fesseln der
Krone, der gemeinsamen Armee und der gemeinsamen auswärtigen Politik
aneinander gekettet, schließlich doch immer wieder einigen mußten,
sollen sich jetzt sieben vollständig souveräne Staaten, über
denen kein Zwingherr zur Einigkeit steht, über jeden Zollsatz miteinander
verständigen!
Deutsch-Österreich hat eine ganz unbedeutende, der
tschecho-slowakische Staat eine gewaltige Zuckerindustrie; man stelle sich die
Verhandlungen über den Zoll auf Zucker vor!
Deutsch-Österreich muß ein Drittel seines Bedarfes an Brotgetreide,
mehr als die Hälfte seines Bedarfes an Futtergetreide durch die Zufuhr aus
dem Ausland decken; und es soll sich über die Getreidezölle mit
Agrarländern wie Ungarn, Jugoslawien, Polen verständigen!
Wäre ein Zollbündnis, das jeden Zollsatz an die Vereinbarung von
sieben Regierungen und sieben
Parla- [18] menten knüpft, die so grundverschiedene
Interessen vertreten, überhaupt ein handlungsfähiges Gebilde?
Aber selbst wenn die sieben Staaten die Zölle vereinbart, die
Handelsverträge gemeinsam geschlossen hätten, wäre die
Einheit des Wirtschaftsgebietes noch keineswegs gesichert. Sie erfordert mehr.
Vor allem setzt die Einheit des Wirtschaftsgebietes Einheit der Währung
voraus. Die sieben Regierungen und sieben Parlamente müßten sich
also über das künftige Verhältnis der Krone zum Golde,
über das ganze Gebiet der
Währungs- und Bankgesetzgebung einigen. Aber Industriestaaten und
Agrarstaaten, Gläubigerstaaten und Schuldnerstaaten, Länder mit
aktiver und mit passiver Zahlungsbilanz haben entgegengesetzte
währungspolitische Interessen! Dann werden sich die sieben Regierungen
und sieben Parlamente über die indirekten Steuern und die Monopole
einigen müssen; denn Verschiedenheit der indirekten Steuern würde
ja die Verkehrsfreiheit innerhalb des Bundesgebietes unmöglich machen.
Auch das wird eine verdammt schwere Aufgabe sein! Steuern auf Zucker,
Spiritus, Petroleum würden ja jetzt bedeuten, daß
Deutsch-Österreich dem tschechischen und dem polnischen Staat
tributpflichtig würde! Auch über die Arbeiterschutzgesetzgebung
und über die Arbeiterversicherung werden sich die sieben Regierungen und
sieben Parlamente verständigen müssen; denn die Einheit des
Wirtschaftsgebietes läßt allzu verschiedene Belastung der Industrie
nicht zu. Wie soll sich aber die
deutsch-österreichische Regierung, die unter dem starken Drucke der
Arbeiterschaft stehen wird, mit der südslawischen, auf die die industrielle
Arbeiterschaft noch keinen Einfluß zu üben vermag, über den
Achtstundentag verständigen? Auch das österreichische und das
ungarische Parlament haben sich über die wirtschaftliche Gesetzgebung
längst nicht mehr einigen können. Aber da half der § 14;
wollte das österreichische Parlament nicht zustimmen, so wurden
Ausgleich und Handelsverträge oktroyiert. Der § 14 und das
Zollbündnis - sie gehörten untrennbar zusammen. In den
Verfassungen der neuen Nationalstaaten aber wird es keinen § 14
geben; wie wird man die sieben Parlamente zu übereinstimmender
Gesetzgebung zwingen können?
Selbst wenn man sich also die Volkswirtschaft der Zukunft ganz nach dem Bilde
der Volkswirtschaft vor 1914 vorstellt, kann man nicht leugnen, daß ein
Zollbündnis von sieben souveränen Staaten kein haltbares Gebilde
wäre. In Wirklichkeit aber wird die Volkswirtschaft der Zukunft ganz
anders aussehen, als die Volkswirtschaft der Vorkriegszeit [19]ausgesehen hat. Wir sind in das Zeitalter der
"Gemeinwirtschaft", der "Durchstaatlichung" der Wirtschaft eingetreten; wir
stehen an der Schwelle des Sozialismus. Sobald aber an die Stelle des freien
Wettbewerbs die staatliche Satzung, an die Stelle des "freien Spiels der
Kräfte" die organisierende Verwaltungstätigkeit tritt, genügt
auch die Einheit der wirtschaftlichen Gesetzgebung nicht mehr, die Einheit des
Wirtschaftsgebietes zu sichern. Auch das hat uns die Geschichte unserer
Beziehungen zu Ungarn gelehrt: sobald im Kriege an die Stelle des "freien
Handels" die "öffentliche Bewirtschaftung" trat, wurde die Einheit des
Wirtschaftsgebietes trotz dem
Zoll- und Handelsbündnis gesprengt. Wie wird es in Zukunft sein? Sollen
die sieben Staaten ein gemeinsames Wirtschaftsgebiet bilden, so
müßte jede Verstaatlichung eines Industriezweiges, jede
Begründung eines Zwangssyndikats, jede Kontingentierung eines Zweiges
der Produktion, jede Normalisierung der Warentypen einer Industrie, jede
staatliche Preistaxe, mit einem Wort, es müßte jede der
täglichen Verwaltungsmaßregeln, die das kollektivierte
Wirtschaftsleben erfordert, von sieben Regierungen vereinbart werden. Es ist
einleuchtend, daß das unmöglich ist. Oder können und sollen
wir hier um der Einheit des Wirtschaftsgebietes willen zum individualistischen
Kapitalismus zurückkehren in einer Zeit, in der sich in aller Welt die
Sozialisierung des Wirtschaftslebens vollziehen wird?
Die Einheit des Wirtschaftsgebietes erfordert gemeinsame Gesetzgebung und
gemeinsame Verwaltung. Gemeinsame Gesetzgebung und Verwaltung erfordern
aber gemeinsame Organe: ein gemeinsames Parlament und eine gemeinsame
Regierung. Eine bloße Zollunion kann die Einheit des Wirtschaftsgebietes
nicht sichern. Durch bloße Vereinbarungen von sieben Regierungen und
sieben Parlamenten kann die Gemeinschaft der wirtschaftlichen Gesetzgebung
und Verwaltung nicht begründet werden. Wollen die sieben Staaten ein
gemeinsames Wirtschaftsgebiet bilden, dann müssen sie auf ihre
Souveränität verzichten, müssen sie einen Bundesstaat mit
gemeinsamer Bundesregierung und gemeinsamem Bundesparlament
begründen; müssen sie sich eine Bundesverfassung geben,
ähnlich der Verfassung des Deutschen Reiches, der Schweiz oder der
Vereinigten Staaten.
Für Deutsch-Österreich hätte ein solcher Bundesstaat
gewiß einen großen Vorteil: Er würde uns das alte große
Wirtschaftsgebiet wiedergeben, uns die Wiederanknüpfung unserer alten
wirtschaftlichen Be- [20] ziehungen ermöglichen. Freilich
müßten wir diesen Gewinn teuer bezahlen.
Deutsch-Böhmen und das Sudetenland, die geographisch mit
Innerösterreich nicht zusammenhängen, würden innerhalb
eines solchen Bundesstaates wohl an den
tschecho-slowakischen Gliedstaat fallen. Der
deutsch-österreichische Gliedstaat, dieser beiden Provinzen beraubt,
hätte nicht mehr als 6,5 Millionen Einwohner, während der
tschecho-slowakische wenigstens 12 Millionen, der polnische ungefähr 20
Millionen, der ungarische 10 Millionen, der südslawische mehr als 10
Millionen Einwohner zählen würde. Und nicht nur an Volkszahl,
sondern auch an wirtschaftlicher Kraft würden wir hinter den anderen
Gliedstaaten zurückstehen. Denn mit
Deutsch-Böhmen würden wir ja einen großen Teil unserer
Industrie verlieren und die Fruchtbarkeit unseres Alpenbodens steht hinter der
Fruchtbarkeit unserer Nachbarländer weit zurück. Unser
Einfluß auf die Politik des Bundesstaates wäre daher sehr klein. Seine
äußere Politik, von Tschechen und Polen beherrscht, würde uns in
Gegensatz gegen Deutschland bringen. Und die innere Politik? In
Deutsch-Österreich selbst würden nach dem Verlust
Deutsch-Böhmens die Industriearbeiter von der
klerikal-agrarischen Vertretung der Alpenländer majorisiert; im
Bundesparlament aber würden die deutschen und die tschechischen
Arbeitervertreter von den Abgeordneten der polnischen, ungarischen,
südslawischen Bauern überstimmt werden. Die nationalen
Gegensätze würden fortbestehen, die Nationen im Bundesparlament
aufeinander stoßen. Wir würden den alten österreichischen
Jammer nicht los.
Aber wozu darüber streiten, ob uns ein solcher Bundesstaat willkommen
wäre oder nicht? Besteht denn bei den anderen Nationen auch nur die
geringste Neigung, einen solchen Bundesstaat zu begründen? Werden die
Tschechen zu seinen Gunsten auf die eben errungene Souveränität
verzichten? Welches Bedürfnis könnte den großen, zwanzig
Millionen Einwohner zählenden, auf seine junge Unabhängigkeit
stolzen polnischen Staat in eine solche Föderation locken? Würde
sich der von den Serben beherrschte Südslawenstaat dem in dieser Gestalt
erneuerten Österreich anschließen wollen? Ach nein, der Bundesstaat
ist eine Utopie; und darum ist es müßig, darüber zu streiten, ob
er eine schöne Utopie ist.
Man spricht jetzt wieder sehr viel von einer Föderation der
mitteleuropäischen Völker. Aber jeder stellt sich diese
Föderation anders vor. Die einen denken nur an ein politisches
Bündnis der neuen slawischen Nationalstaaten, das gegen die deutsche
Republik gerichtet wäre; im [21] Rahmen eines solchen Bündnisses
wäre für uns selbstverständlich kein Raum. Andere denken an
eine Zollunion; aber sie könnte uns die Einheit des Wirtschaftsgebietes
nicht verbürgen. Nur die Vereinigung der jungen Nationalstaaten zu einem
Bundesstaat könnte vielleicht unseren Interessen entsprechen; würde
uns ein solcher Vorschlag gemacht, so müßten wir ihn ernst und
gewissenhaft prüfen. Aber keines unserer slawischen Nachbarvölker
ist zu einem solchen bundesstaatlichen Zusammenschluß bereit; ich sehe
daher nirgends einen Weg, das alte Wirtschaftsgebiet wiederherzustellen. Allein
aber können wir nicht bleiben, in der Enge unseres kleinen, armen
deutsch-österreichischen Gebietes nicht leben. Darum gibt es für
uns nur einen Weg: unsere Wiedervereinigung mit dem Deutschen Reiche.
Auch unsere Eingliederung in das Deutsche Reich wird freilich zunächst
einen schmerzhaften Anpassungsprozeß erfordern. Aber unsere
spätere Zukunft, unsere künftige Entwicklung wird im Schoße
des großen Gemeinwesens unseres Volkes viel besser gesichert sein, als sie
im Rahmen einer losen, durch ihre inneren Widersprüche zerrissenen, an
ihren inneren Gegensätzen unvermeidlich scheiternden Föderation je
gesichert werden könnte.
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