[105] II. Die
Wiedervereinigung als Rechtsgedanke
Universitätsprofessor Dr. Hans Eibl
(Wien)
Die Vereinigten Staaten von Europa Briands
Europapolitik Die Unsicherheit Europas hat nicht nur
wirtschaftliche, sondern vor allem auch moralische
Gründe Das allgemeine Rechtsgefühl
erschüttert Winston Churchill Der
Machtgedanke im Staate Französische und englische
Ideologie Absolutistisches und demokratisches
System Die positivistische Rechtstheorie
Ordnung kann nur auf Recht beruhen
Deutsch-französische Verständigung nur auf der Grundlage des
Rechtes möglich.
Man spricht heute viel von den Vereinigten Staaten von Europa. Einstweilen
begegnet Briands Vorschlag noch der Zurückhaltung, im besten Falle
vorsichtig verklausulierter Zustimmung, aber, wenn auch die Mehrzahl der
Staatsmänner begreiflicherweise zögert, schon der Umstand,
daß ein bedeutender Politiker sich zum Herold dieses Gedankens macht,
beweist, daß der Plan sozusagen in der Luft liegt. Mehrere Umstände
wirken zusammen, um ihn einem großen Teil der Europäer zu
empfehlen: einmal die Einsicht, daß die Zertrümmerung der
europäischen Mitte den ganzen Kontinent wirtschaftlich geschwächt
hat, während die nordamerikanische Wirtschaft zielbewußt ihre
Herrschaft auch über Europa erweitert; dann die Sorge Frankreichs,
daß bei zunehmenden politischen Spannungen die französische
Vorherrschaft auf dem Kontinent in Frage gestellt werden könnte. Aber die
Weitestblickenden halten die Annäherung der europäischen
Völker aneinander überhaupt für eine Notwendigkeit
angesichts der Bedrohung, welcher der gesamte Kulturkreis der weißen
Rasse durch den Aufstieg alter und neuer Völker in Asien und Afrika
ausgesetzt ist.
Vom Standpunkt der Deutschen aus gesehen sind nicht alle diese
Beweggründe
erfreulich – wir sind gegen jenen Teil der Motive mißtrauisch, welche
besonders Frankreich antreiben. Wir wittern hinter Plänen, die aus dem
französischen Interesse stammen, nur die Absicht, die jetzigen
Zustände zu verewigen. Aber täuschen wir uns darüber nicht:
der Zug zur Annäherung hat tieferliegende Gründe, ist ein Zeichen
der Zeit, Ankündigung neuer politischer Formen, und man darf Briand die
Anerkennung nicht versagen, [106] daß er es
verstanden hat, etwas Werdendes zu erfassen, freilich zunächst, um es dem
Interesse Frankreichs dienstbar zu machen. Das muß man Briand lassen: er
hat eine ausgezeichnete Witterung. Darum darf man an dem Schachzug Briands,
der eine moralische Offensive gegen eine ganz bestimmte Mächtegruppe in
Europa ist, unterscheiden zwischen dem tieferen Ideenstrom, den einstweilen noch
nur wenige leise rauschen hören, und der Fassung, die Briand diesem Strom
zu geben versucht, um ihn in einen der französischen Politik
günstigen Kanal zu leiten.
Die Zusammenfassung der europäischen Völker ist ein großes
Ziel künftiger Politik. Dieses Ziel ist ohne jeden Zweifel anzustreben. Die
Zurückhaltung der europäischen Staatsmänner stammt nicht
aus dem Zweifel an dem Werte einer Zusammenfassung, sondern aus dem Zweifel
hinsichtlich der konkreten Form.
Wir Deutschen haben dazu folgendes zu sagen: Wir wünschen eine
Annäherung der Völker; wir als das Volk der Mitte mit den
ungünstigsten Grenzen haben das größte Interesse an einer
allgemeinen Befriedung. Aber wir lehnen es ab, den gegenwärtigen Zustand
schon als Frieden zu betrachten. An wenigen Stellen wird die Unhaltbarkeit, die
Ungerechtigkeit und Unsittlichkeit des gegenwärtigen, auf die
Friedensdiktate gegründeten Zustandes so klar wie an der Frage der
Vereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reiche. Es hat sich in dem
letzten Dezennium herausgestellt, daß die Zertrümmerung der
europäischen Mitte wirtschaftlich ein Unsegen war; aber die
Staatsmänner des Westens geben vor, das Übel in Kauf nehmen zu
müssen, weil dadurch ein höheres Gut verwirklicht würde: die
Selbstbestimmung der Völker. Leider muß man ihnen diesen
Gewissenstrost nehmen: gerade die Selbstbestimmung des größten
Volkes der Mitte, der Deutschen, ist mißachtet worden; Österreich
durfte sich nicht mit dem Deutschen Reiche vereinigen, und die zu den
fremdvölkischen Staaten geschlagenen deutschen Volksteile werden in
einer Weise unterdrückt, daß man sagen muß, das
moralische Niveau ist seit dem Zusammenbruch der Donaumonarchie
beträchtlich gesunken. Aber wir wollen nicht verzagen und nicht bloß
anklagen, wir weisen den Weg zur Konsolidierung der mitteleuropäischen
und überhaupt der europäischen Verhältnisse. Der Weg
führt über das ehrlich eingehaltene
Recht. – Im Juni-Heft der Zeitschrift Nord und Süd stellt
Winston Churchill eine Betrachtung über die Vereinigten Staaten von
Europa an. Uns Österreicher freut [107] die Feststellung,
daß die Zerlegung der Donaumonarchie Europa als Ganzes
geschwächt habe. Wir vermissen aber bei dieser und zahlreichen anderen
Betrachtungen, die von Seiten unserer ehemaligen Gegner über das Europa
nach dem Kriege gemacht werden, immer die wesentliche Feststellung, daß
die Unruhe und die Unsicherheit in Europa nicht nur wirtschaftliche
Gründe hat, sondern vor allem moralische. Der in der Geschichte einzig
dastehende Rechtsbruch von Versailles und St. Germain, die
Hemmungslosigkeit, mit welcher sich die Mächtigen dieser Erde
über den soeben geschlossenen Präliminarfriedensvertrag
hinwegsetzten, ist eine der tiefsten Ursachen der Erkrankung unseres Kontinents.
Dieser Frevel hat das allgemeine Rechtsgefühl bis in die Wurzeln
erschüttert, aber eben dadurch auch bei den Siegern ein Gefühl der
Angst erzeugt, weil sie sich innerlich doch sagen, daß die Zerstörung
von Recht und Vertrauen eine zweischneidige Sache sei, die sich einmal auch
gegen diejenigen wenden kann, die sie zunächst zu ihrem Vorteil zu
gebrauchen
verstanden. – Natürlich weiß auch Winston Churchill,
daß dies alles so ist, genau so, wie heute auch Lloyd George es weiß,
aber es ist begreiflich, daß diese Männer nicht alles, was sie wissen,
so aufrichtig sagen. Jeder dieser Staatsmänner, wenn er von der
europäischen Misere spricht, macht die eine Hälfte des Mundes weit
auf und gestikuliert pathetisch mit der einen Hand, mit der anderen stopft er die
andere Hälfte des Mundes zu, damit ihm nicht zuviel entfahre, was einen
etwas grotesken Anblick gewährt. Wir Deutschen aber können und
sollen aufrichtig sprechen. Wir müssen unverdrossen an der Vereinigung
Österreichs mit dem Deutschen Reiche festhalten, vor allem deshalb, weil
wir dadurch ein Recht verwirklichen, weil wir dadurch dem
Präliminarfriedensvertrag vom November 1918 treu bleiben, weil wir
dadurch zur Befriedung Europas beitragen.
Es ist erstaunlich, wie lange sich erstarrte Worthäufungen und erstarrte
Ideengänge halten. Frankreich erblickt heute noch in der Herstellung des
natürlichen Rechtes der Deutschen eine Bedrohung der europäischen
Ordnung, weil es hypnotisiert ist von dem Gedanken, ein mächtiges
Deutschland würde Rache nehmen. Nichts ist überflüssiger als
diese Sorge – wir sind nun einmal nicht wie die
Franzosen, denen Revanche und
Prestige im Blute liegen, wie der fremde Klang dieser Wörter schon
beweist; unsere seelischen Verwundungen heilen rascher und vernarben
glatter; – nichts ist törichter, als Ordnung und [108] Frieden durch
fortgesetzten Rechtsbruch herstellen zu wollen. Es liegt nun einmal in der
Struktur der sittlichen Weltordnung, daß ihre Störung an einer Stelle
Störungen an anderen Stellen nach sich zieht, welche wieder sehr
komplizierte Gegenmaßregeln nötig machen. Eine solche
Gegenmaßregel sind die phantastischen Rüstungen unserer
siegreichen Nachbarn. Denken wir
uns, ein mächtiges Wesen risse aus dem Planetensystem einen großen
Wandelstern, etwa den Jupiter, heraus, so würden zugleich alle anderen
Planeten aus ihren Bahnen geworfen. Und wenn dieses Wesen vollends etwa die
Masse der Sonne verringerte, so ginge das Planetensystem aus den Fugen. Die
tangentialen Kräfte würden so überwiegen, daß die
Planeten in langgestreckten Bahnen in den Weltraum hinausschössen. So
steht es auch mit der furchtbaren Erschütterung der europäischen
Rechtsordnung durch die Vertragsbrüche von Versailles und
St. Germain. Es gibt nur eine Heilung: Wiederherstellung des Rechtes:
Die Vereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich ist der erste
Schritt zu einem neuen Recht, und daher der erste Schritt zur Vereinigung der
europäischen Völker in einem politischen Bau höherer
Ordnung.
Es ist richtig, durch die Vereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reiche
wird nicht nur ein Recht hergestellt, es wird auch die deutsche Macht in
Mitteleuropa erhöht. Aber in der Macht liegt eine eigentümliche
Dialektik. Deutschland vor dem Kriege war gewiß mächtig, wurde
aber doch zum Schluß durch die Politik der Entente Schachmatt gesetzt.
Und Frankreich nach dem Kriege ist ohne Zweifel mächtig, aber es hat
doch das strategische Ziel der Rheingrenze aufgeben müssen, gezwungen
u. a. auch durch das machtlose Deutschland mit rein moralischen Mitteln.
Und so wird auch durch die Vereinigung Österreichs mit dem Deutschen
Reiche das Gewicht der deutschen Nation in Mitteleuropa größer.
Aber die Grenze wird noch ungünstiger als sie jetzt schon ist. Das
heißt, daß das größere Deutschland ein noch
größeres Interesse als das heutige an einer friedlichen Politik haben
wird. Dafür durchbricht Deutschland durch die Vereinigung mit
Österreich die Einkreisung im Südosten und wird Nachbar
rivalisierender Staaten. Die bloße Möglichkeit zu
Annäherungen an den deutschen Block erhöht das
außenpolitische Ansehen Deutschlands. Eine Folge der Vereinigung
dürfte auch die Annäherung der Tschechoslowakei an irgendwelche
seiner [109] Nachbarn sein.
Deutschland müßte diesen Moment wiederum dazu benützen,
um das Recht der Sudetendeutschen im Einvernehmen mit diesen zu wahren. Ist
einmal der Wille zur Ordnung auf Rechtsgrundlagen mit dem Ziel einer
Zusammenarbeit zunächst in den geographisch, wirtschaftlich,
geschichtlich und kulturell eng verbundenen Teilen des mitteleuropäischen
Raumes da, dann wird sich auch eine Form finden, die sowohl den berechtigten
Ansprüchen der Tschechen wie dem Selbstbestimmungsrechte der
Deutschen entspricht. Man darf erwarten, daß eine neue Rechtsordnung,
einmal im Entstehen begriffen, weiter wachsen werde. So würde die
Vereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich, erflossen aus dem
Rechtsgedanken, zu einer Ausdehnung des Rechtes und zum organischen Aufbau
der europäischen Mitte führen.
Wenn wir Ernst machen mit dem Gedanken der Vereinigung der Deutschen aus
dem von den kriegführenden Parteien im November 1918 gemeinsam
anerkannten Grundsatz der Selbstbestimmung der Völker, so wird dieser
neue Gedanke zugleich aus der europäischen Ideologie Vorstellungen
entfernen, welche nicht mehr zu leben verdienen, deren gespensterhaftes
Weiterbestehen am Leben der Völker frißt. Ich meine gewisse
verrostete Gedanken über die Herkunft von Recht und Volkstum aus der
Macht des Staates und von der Herkunft dieser Macht aus der Willkür der
einzelnen. Diese Gedanken haben seit dem gegen Ende des Mittelalters
aufgekommenen Individualismus sich immer mehr durchsetzt und die ältere
mittelalterliche
Rechts- und Staatsauffassung, der zufolge es ein in der absoluten sittlichen
Weltordnung gegründetes Recht, metaphysisch verbundene Einzelseelen
und Gesellschaften, Völker und Staaten gebe, mit einem Worte: die Idee
des Gottesreiches, der Civitas Dei, immer mehr verdrängt, dabei
allerdings – wegen der großen, immer noch nachwirkenden Macht
des
Gottesreichsgedankens – die ältere mittelalterliche Lehre nicht nur
zersetzt, sondern auch durchsetzt, sich mit ihr verbunden, wodurch verschiedene,
nicht ganz stilreine, aber lebenskräftige
Geschichts- und Staatslehren entstanden sind. Die französische und die
englische Ideologie sind solche überaus erfolgreiche Mischgebilde aus
Gottesreichsideen und individualistischer Aufklärung, wobei bei den
Engländern bis in die Gegenwart der ältere religiöse
Auserwählungsgedanke nachwirkt, während bei den Franzosen seit
der Revolution an Stelle Gottes die zu einem unbedingten, allgemein
gültigen Wert erhobenen Ideale der bürgerlichen [110] Freiheit getreten sind.
Es verlohnt sich, einen Augenblick bei der individualistischen Staatslehre, ihren
Voraussetzungen und ihrer Geschichte zu verweilen, weil erst in diesem
Zusammenhang die geistesgeschichtliche Bedeutung der Vertragsbrüche
von 1919 und des in die Zukunft weisenden deutschen Berufes in der ganzen
Größe hervortreten.
Nach Hobbes beruht die Staatsmacht darauf, daß die ursprünglich
selbstherrlichen Einzelnen sich freiwillig dahin geeinigt haben, auf einen Teil
ihrer Willkür zu verzichten, und sie taten dies, weil sich herausstellte,
daß der aus der hemmungslosen Willkür hervorgehende Krieg aller
gegen alle auch für die einzelnen verderblich ist. Aus dieser
Grundauffassung lassen sich zwei politische Systeme ableiten, die nacheinander
in der ablaufenden Periode geherrscht haben: das absolutistische und das
liberal-demokratische. Nimmt man an, daß die Übertragung der
Einzelwillkür an den Staat ein einmaliger und endgültiger Akt war,
so steht der Staat in absoluter Selbstherrlichkeit dem einzelnen Menschen, aber es
stehen auch in absoluter Selbstherrlichkeit die einzelnen Staaten einander
gegenüber. Es ist konsequent, wenn Hobbes in rauher Ehrlichkeit den Staat,
der aus der Willkür der einzelnen hervorging, die im hypothetischen
Urzustand einander als Raubtiere entgegentraten, als das Riesenraubtier, als den
Leviathan bezeichnet. Nimmt man anderseits an, daß die Übertragung
des Rechtes der einzelnen auf den Staat nicht ein einmaliger, sondern ein durch
periodisch wiederkehrende Einzelhandlungen regelmäßig erneuter
Akt ist, so entsteht der demokratische Staat. Der Übergang vom
absolutistischen zum demokratischen Staat vollzieht sich nach dieser Theorie
gewaltsam, da irgendeinmal die vielen das vom absolutistischen Staat ein
für allemal in Anspruch genommene Recht der vielen diesem Staat
neuerdings entreißen müssen, soll das Rechtsverhältnis
zwischen den einzelnen und dem Staat in die natürliche Ordnung einer
nicht einmaligen, sondern periodisch zu wiederholenden Machtübertragung
zurückversetzt werden. Aber außenpolitisch ändert sich nichts.
Solange es nicht über den Staaten eine höhere verpflichtende
Rechtsordnung gibt, stehen sie einander als Leviathane gegenüber. Demokratische
Staaten sind nicht weniger angriffslustig als absolutistische. In der
praktischen Außenpolitik der letzten drei Jahrhunderte wirkte aber noch
eine in der reinen individualistischen Theorie nicht vorgesehene Gedankenwelt
tatsächlich nach: es waren Erinnerungen an das [111] natürliche Recht,
ferner Erinnerungen an das Recht als einen Teil der vom absoluten Wesen
gesetzten sittlichen Ordnung. Dazu kamen seit der französischen
Revolution Gedanken anderer Färbung: es war eine Ideenwelt, in der sich
Naturrechtsgedanken mit demokratischen Idealen vereinigten. Glatt konstruiert
war diese demokratische Ideologie nicht, denn sie setzte zwar die Willkür
und das Recht des einzelnen an die Spitze, ließ aber dann doch die
Erwartung durchblicken, daß durch den einzelnen hindurch die allgemeine
menschliche Natur und durch diese hindurch eine allgemeine sittliche Anlage und
damit auch eine allgemeine sittliche Ordnung sich durchsetzen werde. Der
prägnante Ausdruck dieser doch wieder an etwas Überindividuelles
sich anlehnenden Ethik und Politik der Aufklärung ist Kants Begriff eines
"Bewußtseins überhaupt", eines allgemeinen Geistes, der sich in den
einzelnen Menschen verwirklicht, so daß diese, indem sie dem allgemeinen
Geiste gemäß handeln, wohl in völliger Autonomie handeln,
aber eben nur dann autonom sind und sein können, wenn sie das in dem
allgemeinen Geiste angelegte Gesetz verwirklichen, so daß der
Willkür und Laune des einzelnen die Berechtigung abgesprochen wird. Es
ist aber klar, damit wird auch die ursprüngliche Voraussetzung über
die raubtierhafte Natur des Menschen aufgegeben, denn der Mensch ist nach
dieser Theorie seinem Wesen nach auf das Sittengesetz hin angelegt. Durch
diesen Glauben erhielt die individualistische Staatstheorie doch wieder eine
metaphysische Verklärung. Das ist in der romantischen Staatstheorie
geschehen.
Die weiteren Folgerungen aus diesem Grundgedanken hängen
davon ab, wie der im Menschen sich verwirklichende allgemeine Geist
näher bestimmt wird. Man kann ihn so bestimmen, daß die
Staatstheorie tatsächlich zu dem mittelalterlichen Gottesreichsgedanken
zurückgebogen wird. Dies geschieht bei Fichte, auch bei Hegel finden sich
Annäherungen an diesen Gedanken, vollends aber hat die durch Fichte
mächtig angeregte romantische Staatstheorie auf diesem Wege den
Anschluß an die mittelalterliche Gesellschaftslehre gefunden. Es
läßt sich ferner das allgemeine geistige Wesen, das sich im Staate
verwirklichen soll, auch so fassen, daß es dem Staate schlechthin
gleichgesetzt wird, wodurch der Staatsabsolutismus eine neue Rechtfertigung
erhält. Dies geschieht im heutigen Faschismus. Aber schon bei Hegel
finden sich Ansätze auch zu dieser Übertreibung, die dann von den
Epigonen, den kleindeutschen Lehrern der Geschichte und Staatskunst
förmlich [112] zu einem deutschen
Dogma erhoben worden ist. Es läßt sich dieser allgemeine Geist
endlich so fassen, daß er lediglich in den einzelnen sich äußert
und in Wechselschlägen und Kämpfen, aus bitteren Erfahrungen
heraus sich zum Bewußtsein der vernünftigen Formen des
Zusammenlebens erhebt. Das ist die rein positivistische Rechtstheorie, die seit
dem Zusammenbruch des deutschen Idealismus in der Mitte des
19. Jahrhunderts eine weitverbreitete Lebensstimmung geworden ist. Da
gleichzeitig die Erinnerungen an das Gottesreich in praktischer Politik immer
unwirksamer wurden, so waren die europäischen Völker und Staaten
am Schluß des 19. Jahrhunderts so ziemlich bei der klassischen
Leviathantheorie und ‑praxis angelangt. In dieser Hinsicht
waren die Mittelmächte noch ein wenig
rückständiger – was ihnen wohl zum Schaden, aber nicht zur
Schande gereichte. Deutschland war weithin auf dem Standpunkt der Hegelschen
Staatsauffassung stehen geblieben, wenngleich sie an zahlreichen Stellen bereits
abgebröckelt war,
Österreich-Ungarn war noch weiter zurück, hier wirkten noch
religiös gefärbte Vorstellungen nach von einem in Gott verwurzelten
Recht, von einer beharrenden und sich immer wieder durchsetzenden Ordnung der
Dinge
nach. – Die "Rückständigkeit" der Mittelmächte und die
hemmungslose Pfiffigkeit der Westmächte wurde aller Welt klar durch die
Rechtsbrüche von Versailles und St. Germain. Eine Treulosigkeit
wie diese, daß ein soeben abgeschlossener Präliminarfriede in allen
Punkten gebrochen oder wesentlich verändert wurde, war in der
europäischen Staatengeschichte bisher noch nicht dagewesen. Aber eben
deshalb sind diese Ereignisse so überaus monumental und wichtig, sie sind
die stilreine Form, in der sich die Leviathangesinnung aussprach, entlarvte
und – zugleich widerlegte. Sie bezeichnen in der Staatengeschichte der
neuesten Zeit einen Umschwung.
Ich habe bei anderen Gelegenheiten auseinandergesetzt, daß die
Neuordnung der europäischen Mitte auf der Grundlage des Rechtes durch
den Umstand ein im besonderen Sinne deutscher Beruf wird, daß wir diese
Ordnung durchzusetzen gezwungen sind im Kampf gegen das unser Leben
bedrohende Unrecht von Versailles und St. Germain, daß ferner,
wenn wir unsere Zukunftsaufgabe so sehen, eine großartige Einheit in die
deutsche und österreichische Geschichte kommt: Österreich wird
wieder die Ostmark, wie vor 1000 Jahren, und das größere
Deutschland wird durch Aufrichtung einer Rechtsordnung [113] wieder das Zentrum
des Abendlandes wie vor 1000 Jahren; auch werden wir Österreicher
nun in größerem Umfang, in einem viel größeren
Verbande, auch unter etwas geänderten Verhältnissen, an der
Aufgabe
mit- und weiterarbeiten, die den Inhalt von Altösterreich ausmachte. Und
nun bringt das Journal des vivants in der
Mai-Nummer einen anonymen Aufsatz über die Geschichte des
europäischen Einigungsgedankens und führt ihn mit Recht
zurück auf das spätrömische Reich, auf die christliche Kirche,
auf Augustins Gedanken der Civitas Dei, endlich auf das mittelalterliche
Kaisertum. Das ist durchaus richtig gesehen. Der Briandsche Plan erhält
durch derartige historische Erinnerungen den gewaltigen Hintergrund und wird in
die große Einheit der abendländischen Konzeptionen einbezogen. Es
ist Zeit, daß wir Deutschen die so evidente, leider von der Mehrzahl der
Deutschen selbst gar nicht in der ganzen Tiefe gesehene Wahrheit, daß
Ordnung nur auf Recht beruhen kann, der gegenwärtige Zustand aber auf
Unrecht aufgebaut ist, uns selbst und der europäischen Öffentlichkeit
zum Bewußtsein bringen, deshalb dem Briandschen Versuch, unter der
Formel von Frieden und Ordnung die gegenwärtigen Zustande
möglichst weitgehend erstarren zu lassen, einen anderen Plan
entgegensetzen, der dadurch ein deutscher Plan wird, daß wir Deutschen ihn
vertreten, obwohl er an sich auf dem übervölkischen Gedanken des
reinen Rechtes beruht, und diesen Zukunftsgedanken, soweit er traditioneller
Stützung und Erweiterung bedarf, einfügen in den Ideengehalt
unserer 1000jährigen Geschichte. Seit 1000 Jahren streiten
Franzosen und Deutsche um das Erbe Karls des Großen. Vielleicht
verständigen wir uns in Zukunft auf der Grundlage des Rechtes. Dazu
müssen wir diesen Gedanken mit der Kraft einer Überzeugung
vortragen. Der archimedische Punkt aber ist die Vereinigung Österreichs
mit dem Deutschen Reich. Das ist der Anfang der Vereinigten Staaten von
Europa, das ist der Anfang des reinen Rechtes. Das bedeutet nicht etwa den Sieg
der deutschen Macht – was Frankreich
verabscheut –, das bedeutet den Sieg des Rechtes und die erneute Macht des
erschütterten
Abendlandes – wogegen sich zu wehren auch Frankreich keinen Grund
haben sollte.
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