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[105] II. Die Wiedervereinigung als Rechtsgedanke
Universitätsprofessor Dr. Hans Eibl (Wien)

Die Vereinigten Staaten von Europa • Briands Europapolitik • Die Unsicherheit Europas hat nicht nur wirtschaftliche, sondern vor allem auch moralische Gründe • Das allgemeine Rechtsgefühl erschüttert • Winston Churchill • Der Machtgedanke im Staate • Französische und englische Ideologie • Absolutistisches und demokratisches System • Die positivistische Rechtstheorie • Ordnung kann nur auf Recht beruhen • Deutsch-französische Verständigung nur auf der Grundlage des Rechtes möglich.

Man spricht heute viel von den Vereinigten Staaten von Europa. Einstweilen begegnet Briands Vorschlag noch der Zurückhaltung, im besten Falle vorsichtig verklausulierter Zustimmung, aber, wenn auch die Mehrzahl der Staatsmänner begreiflicherweise zögert, schon der Umstand, daß ein bedeutender Politiker sich zum Herold dieses Gedankens macht, beweist, daß der Plan sozusagen in der Luft liegt. Mehrere Umstände wirken zusammen, um ihn einem großen Teil der Europäer zu empfehlen: einmal die Einsicht, daß die Zertrümmerung der europäischen Mitte den ganzen Kontinent wirtschaftlich geschwächt hat, während die nordamerikanische Wirtschaft zielbewußt ihre Herrschaft auch über Europa erweitert; dann die Sorge Frankreichs, daß bei zunehmenden politischen Spannungen die französische Vorherrschaft auf dem Kontinent in Frage gestellt werden könnte. Aber die Weitestblickenden halten die Annäherung der europäischen Völker aneinander überhaupt für eine Notwendigkeit angesichts der Bedrohung, welcher der gesamte Kulturkreis der weißen Rasse durch den Aufstieg alter und neuer Völker in Asien und Afrika ausgesetzt ist.

Vom Standpunkt der Deutschen aus gesehen sind nicht alle diese Beweggründe erfreulich – wir sind gegen jenen Teil der Motive mißtrauisch, welche besonders Frankreich antreiben. Wir wittern hinter Plänen, die aus dem französischen Interesse stammen, nur die Absicht, die jetzigen Zustände zu verewigen. Aber täuschen wir uns darüber nicht: der Zug zur Annäherung hat tieferliegende Gründe, ist ein Zeichen der Zeit, Ankündigung neuer politischer Formen, und man darf Briand die Anerkennung nicht versagen, [106] daß er es verstanden hat, etwas Werdendes zu erfassen, freilich zunächst, um es dem Interesse Frankreichs dienstbar zu machen. Das muß man Briand lassen: er hat eine ausgezeichnete Witterung. Darum darf man an dem Schachzug Briands, der eine moralische Offensive gegen eine ganz bestimmte Mächtegruppe in Europa ist, unterscheiden zwischen dem tieferen Ideenstrom, den einstweilen noch nur wenige leise rauschen hören, und der Fassung, die Briand diesem Strom zu geben versucht, um ihn in einen der französischen Politik günstigen Kanal zu leiten.

Die Zusammenfassung der europäischen Völker ist ein großes Ziel künftiger Politik. Dieses Ziel ist ohne jeden Zweifel anzustreben. Die Zurückhaltung der europäischen Staatsmänner stammt nicht aus dem Zweifel an dem Werte einer Zusammenfassung, sondern aus dem Zweifel hinsichtlich der konkreten Form.

Wir Deutschen haben dazu folgendes zu sagen: Wir wünschen eine Annäherung der Völker; wir als das Volk der Mitte mit den ungünstigsten Grenzen haben das größte Interesse an einer allgemeinen Befriedung. Aber wir lehnen es ab, den gegenwärtigen Zustand schon als Frieden zu betrachten. An wenigen Stellen wird die Unhaltbarkeit, die Ungerechtigkeit und Unsittlichkeit des gegenwärtigen, auf die Friedensdiktate gegründeten Zustandes so klar wie an der Frage der Vereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reiche. Es hat sich in dem letzten Dezennium herausgestellt, daß die Zertrümmerung der europäischen Mitte wirtschaftlich ein Unsegen war; aber die Staatsmänner des Westens geben vor, das Übel in Kauf nehmen zu müssen, weil dadurch ein höheres Gut verwirklicht würde: die Selbstbestimmung der Völker. Leider muß man ihnen diesen Gewissenstrost nehmen: gerade die Selbstbestimmung des größten Volkes der Mitte, der Deutschen, ist mißachtet worden; Österreich durfte sich nicht mit dem Deutschen Reiche vereinigen, und die zu den fremdvölkischen Staaten geschlagenen deutschen Volksteile werden in einer Weise unterdrückt, daß man sagen muß, das moralische Niveau ist seit dem Zusammenbruch der Donaumonarchie beträchtlich gesunken. Aber wir wollen nicht verzagen und nicht bloß anklagen, wir weisen den Weg zur Konsolidierung der mitteleuropäischen und überhaupt der europäischen Verhältnisse. Der Weg führt über das ehrlich eingehaltene Recht. – Im Juni-Heft der Zeitschrift Nord und Süd stellt Winston Churchill eine Betrachtung über die Vereinigten Staaten von Europa an. Uns Österreicher freut [107] die Feststellung, daß die Zerlegung der Donaumonarchie Europa als Ganzes geschwächt habe. Wir vermissen aber bei dieser und zahlreichen anderen Betrachtungen, die von Seiten unserer ehemaligen Gegner über das Europa nach dem Kriege gemacht werden, immer die wesentliche Feststellung, daß die Unruhe und die Unsicherheit in Europa nicht nur wirtschaftliche Gründe hat, sondern vor allem moralische. Der in der Geschichte einzig dastehende Rechtsbruch von Versailles und St. Germain, die Hemmungslosigkeit, mit welcher sich die Mächtigen dieser Erde über den soeben geschlossenen Präliminarfriedensvertrag hinwegsetzten, ist eine der tiefsten Ursachen der Erkrankung unseres Kontinents. Dieser Frevel hat das allgemeine Rechtsgefühl bis in die Wurzeln erschüttert, aber eben dadurch auch bei den Siegern ein Gefühl der Angst erzeugt, weil sie sich innerlich doch sagen, daß die Zerstörung von Recht und Vertrauen eine zweischneidige Sache sei, die sich einmal auch gegen diejenigen wenden kann, die sie zunächst zu ihrem Vorteil zu gebrauchen verstanden. – Natürlich weiß auch Winston Churchill, daß dies alles so ist, genau so, wie heute auch Lloyd George es weiß, aber es ist begreiflich, daß diese Männer nicht alles, was sie wissen, so aufrichtig sagen. Jeder dieser Staatsmänner, wenn er von der europäischen Misere spricht, macht die eine Hälfte des Mundes weit auf und gestikuliert pathetisch mit der einen Hand, mit der anderen stopft er die andere Hälfte des Mundes zu, damit ihm nicht zuviel entfahre, was einen etwas grotesken Anblick gewährt. Wir Deutschen aber können und sollen aufrichtig sprechen. Wir müssen unverdrossen an der Vereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reiche festhalten, vor allem deshalb, weil wir dadurch ein Recht verwirklichen, weil wir dadurch dem Präliminarfriedensvertrag vom November 1918 treu bleiben, weil wir dadurch zur Befriedung Europas beitragen.

Es ist erstaunlich, wie lange sich erstarrte Worthäufungen und erstarrte Ideengänge halten. Frankreich erblickt heute noch in der Herstellung des natürlichen Rechtes der Deutschen eine Bedrohung der europäischen Ordnung, weil es hypnotisiert ist von dem Gedanken, ein mächtiges Deutschland würde Rache nehmen. Nichts ist überflüssiger als diese Sorge – wir sind nun einmal nicht wie die Franzosen, denen Revanche und Prestige im Blute liegen, wie der fremde Klang dieser Wörter schon beweist; unsere seelischen Verwundungen heilen rascher und vernarben glatter; – nichts ist törichter, als Ordnung und [108] Frieden durch fortgesetzten Rechtsbruch herstellen zu wollen. Es liegt nun einmal in der Struktur der sittlichen Weltordnung, daß ihre Störung an einer Stelle Störungen an anderen Stellen nach sich zieht, welche wieder sehr komplizierte Gegenmaßregeln nötig machen. Eine solche Gegenmaßregel sind die phantastischen Rüstungen unserer siegreichen Nachbarn. Denken wir uns, ein mächtiges Wesen risse aus dem Planetensystem einen großen Wandelstern, etwa den Jupiter, heraus, so würden zugleich alle anderen Planeten aus ihren Bahnen geworfen. Und wenn dieses Wesen vollends etwa die Masse der Sonne verringerte, so ginge das Planetensystem aus den Fugen. Die tangentialen Kräfte würden so überwiegen, daß die Planeten in langgestreckten Bahnen in den Weltraum hinausschössen. So steht es auch mit der furchtbaren Erschütterung der europäischen Rechtsordnung durch die Vertragsbrüche von Versailles und St. Germain. Es gibt nur eine Heilung: Wiederherstellung des Rechtes: Die Vereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich ist der erste Schritt zu einem neuen Recht, und daher der erste Schritt zur Vereinigung der europäischen Völker in einem politischen Bau höherer Ordnung.

Es ist richtig, durch die Vereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reiche wird nicht nur ein Recht hergestellt, es wird auch die deutsche Macht in Mitteleuropa erhöht. Aber in der Macht liegt eine eigentümliche Dialektik. Deutschland vor dem Kriege war gewiß mächtig, wurde aber doch zum Schluß durch die Politik der Entente Schachmatt gesetzt. Und Frankreich nach dem Kriege ist ohne Zweifel mächtig, aber es hat doch das strategische Ziel der Rheingrenze aufgeben müssen, gezwungen u. a. auch durch das machtlose Deutschland mit rein moralischen Mitteln. Und so wird auch durch die Vereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reiche das Gewicht der deutschen Nation in Mitteleuropa größer. Aber die Grenze wird noch ungünstiger als sie jetzt schon ist. Das heißt, daß das größere Deutschland ein noch größeres Interesse als das heutige an einer friedlichen Politik haben wird. Dafür durchbricht Deutschland durch die Vereinigung mit Österreich die Einkreisung im Südosten und wird Nachbar rivalisierender Staaten. Die bloße Möglichkeit zu Annäherungen an den deutschen Block erhöht das außenpolitische Ansehen Deutschlands. Eine Folge der Vereinigung dürfte auch die Annäherung der Tschechoslowakei an irgendwelche seiner [109] Nachbarn sein. Deutschland müßte diesen Moment wiederum dazu benützen, um das Recht der Sudetendeutschen im Einvernehmen mit diesen zu wahren. Ist einmal der Wille zur Ordnung auf Rechtsgrundlagen mit dem Ziel einer Zusammenarbeit zunächst in den geographisch, wirtschaftlich, geschichtlich und kulturell eng verbundenen Teilen des mitteleuropäischen Raumes da, dann wird sich auch eine Form finden, die sowohl den berechtigten Ansprüchen der Tschechen wie dem Selbstbestimmungsrechte der Deutschen entspricht. Man darf erwarten, daß eine neue Rechtsordnung, einmal im Entstehen begriffen, weiter wachsen werde. So würde die Vereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich, erflossen aus dem Rechtsgedanken, zu einer Ausdehnung des Rechtes und zum organischen Aufbau der europäischen Mitte führen.

Wenn wir Ernst machen mit dem Gedanken der Vereinigung der Deutschen aus dem von den kriegführenden Parteien im November 1918 gemeinsam anerkannten Grundsatz der Selbstbestimmung der Völker, so wird dieser neue Gedanke zugleich aus der europäischen Ideologie Vorstellungen entfernen, welche nicht mehr zu leben verdienen, deren gespensterhaftes Weiterbestehen am Leben der Völker frißt. Ich meine gewisse verrostete Gedanken über die Herkunft von Recht und Volkstum aus der Macht des Staates und von der Herkunft dieser Macht aus der Willkür der einzelnen. Diese Gedanken haben seit dem gegen Ende des Mittelalters aufgekommenen Individualismus sich immer mehr durchsetzt und die ältere mittelalterliche Rechts- und Staatsauffassung, der zufolge es ein in der absoluten sittlichen Weltordnung gegründetes Recht, metaphysisch verbundene Einzelseelen und Gesellschaften, Völker und Staaten gebe, mit einem Worte: die Idee des Gottesreiches, der Civitas Dei, immer mehr verdrängt, dabei allerdings – wegen der großen, immer noch nachwirkenden Macht des Gottesreichsgedankens – die ältere mittelalterliche Lehre nicht nur zersetzt, sondern auch durchsetzt, sich mit ihr verbunden, wodurch verschiedene, nicht ganz stilreine, aber lebenskräftige Geschichts- und Staatslehren entstanden sind. Die französische und die englische Ideologie sind solche überaus erfolgreiche Mischgebilde aus Gottesreichsideen und individualistischer Aufklärung, wobei bei den Engländern bis in die Gegenwart der ältere religiöse Auserwählungsgedanke nachwirkt, während bei den Franzosen seit der Revolution an Stelle Gottes die zu einem unbedingten, allgemein gültigen Wert erhobenen Ideale der bürgerlichen [110] Freiheit getreten sind. Es verlohnt sich, einen Augenblick bei der individualistischen Staatslehre, ihren Voraussetzungen und ihrer Geschichte zu verweilen, weil erst in diesem Zusammenhang die geistesgeschichtliche Bedeutung der Vertragsbrüche von 1919 und des in die Zukunft weisenden deutschen Berufes in der ganzen Größe hervortreten.

Nach Hobbes beruht die Staatsmacht darauf, daß die ursprünglich selbstherrlichen Einzelnen sich freiwillig dahin geeinigt haben, auf einen Teil ihrer Willkür zu verzichten, und sie taten dies, weil sich herausstellte, daß der aus der hemmungslosen Willkür hervorgehende Krieg aller gegen alle auch für die einzelnen verderblich ist. Aus dieser Grundauffassung lassen sich zwei politische Systeme ableiten, die nacheinander in der ablaufenden Periode geherrscht haben: das absolutistische und das liberal-demokratische. Nimmt man an, daß die Übertragung der Einzelwillkür an den Staat ein einmaliger und endgültiger Akt war, so steht der Staat in absoluter Selbstherrlichkeit dem einzelnen Menschen, aber es stehen auch in absoluter Selbstherrlichkeit die einzelnen Staaten einander gegenüber. Es ist konsequent, wenn Hobbes in rauher Ehrlichkeit den Staat, der aus der Willkür der einzelnen hervorging, die im hypothetischen Urzustand einander als Raubtiere entgegentraten, als das Riesenraubtier, als den Leviathan bezeichnet. Nimmt man anderseits an, daß die Übertragung des Rechtes der einzelnen auf den Staat nicht ein einmaliger, sondern ein durch periodisch wiederkehrende Einzelhandlungen regelmäßig erneuter Akt ist, so entsteht der demokratische Staat. Der Übergang vom absolutistischen zum demokratischen Staat vollzieht sich nach dieser Theorie gewaltsam, da irgendeinmal die vielen das vom absolutistischen Staat ein für allemal in Anspruch genommene Recht der vielen diesem Staat neuerdings entreißen müssen, soll das Rechtsverhältnis zwischen den einzelnen und dem Staat in die natürliche Ordnung einer nicht einmaligen, sondern periodisch zu wiederholenden Machtübertragung zurückversetzt werden. Aber außenpolitisch ändert sich nichts. Solange es nicht über den Staaten eine höhere verpflichtende Rechtsordnung gibt, stehen sie einander als Leviathane gegenüber. Demokratische Staaten sind nicht weniger angriffslustig als absolutistische. In der praktischen Außenpolitik der letzten drei Jahrhunderte wirkte aber noch eine in der reinen individualistischen Theorie nicht vorgesehene Gedankenwelt tatsächlich nach: es waren Erinnerungen an das [111] natürliche Recht, ferner Erinnerungen an das Recht als einen Teil der vom absoluten Wesen gesetzten sittlichen Ordnung. Dazu kamen seit der französischen Revolution Gedanken anderer Färbung: es war eine Ideenwelt, in der sich Naturrechtsgedanken mit demokratischen Idealen vereinigten. Glatt konstruiert war diese demokratische Ideologie nicht, denn sie setzte zwar die Willkür und das Recht des einzelnen an die Spitze, ließ aber dann doch die Erwartung durchblicken, daß durch den einzelnen hindurch die allgemeine menschliche Natur und durch diese hindurch eine allgemeine sittliche Anlage und damit auch eine allgemeine sittliche Ordnung sich durchsetzen werde. Der prägnante Ausdruck dieser doch wieder an etwas Überindividuelles sich anlehnenden Ethik und Politik der Aufklärung ist Kants Begriff eines "Bewußtseins überhaupt", eines allgemeinen Geistes, der sich in den einzelnen Menschen verwirklicht, so daß diese, indem sie dem allgemeinen Geiste gemäß handeln, wohl in völliger Autonomie handeln, aber eben nur dann autonom sind und sein können, wenn sie das in dem allgemeinen Geiste angelegte Gesetz verwirklichen, so daß der Willkür und Laune des einzelnen die Berechtigung abgesprochen wird. Es ist aber klar, damit wird auch die ursprüngliche Voraussetzung über die raubtierhafte Natur des Menschen aufgegeben, denn der Mensch ist nach dieser Theorie seinem Wesen nach auf das Sittengesetz hin angelegt. Durch diesen Glauben erhielt die individualistische Staatstheorie doch wieder eine metaphysische Verklärung. Das ist in der romantischen Staatstheorie geschehen.

Die weiteren Folgerungen aus diesem Grundgedanken hängen davon ab, wie der im Menschen sich verwirklichende allgemeine Geist näher bestimmt wird. Man kann ihn so bestimmen, daß die Staatstheorie tatsächlich zu dem mittelalterlichen Gottesreichsgedanken zurückgebogen wird. Dies geschieht bei Fichte, auch bei Hegel finden sich Annäherungen an diesen Gedanken, vollends aber hat die durch Fichte mächtig angeregte romantische Staatstheorie auf diesem Wege den Anschluß an die mittelalterliche Gesellschaftslehre gefunden. Es läßt sich ferner das allgemeine geistige Wesen, das sich im Staate verwirklichen soll, auch so fassen, daß es dem Staate schlechthin gleichgesetzt wird, wodurch der Staatsabsolutismus eine neue Rechtfertigung erhält. Dies geschieht im heutigen Faschismus. Aber schon bei Hegel finden sich Ansätze auch zu dieser Übertreibung, die dann von den Epigonen, den kleindeutschen Lehrern der Geschichte und Staatskunst förmlich [112] zu einem deutschen Dogma erhoben worden ist. Es läßt sich dieser allgemeine Geist endlich so fassen, daß er lediglich in den einzelnen sich äußert und in Wechselschlägen und Kämpfen, aus bitteren Erfahrungen heraus sich zum Bewußtsein der vernünftigen Formen des Zusammenlebens erhebt. Das ist die rein positivistische Rechtstheorie, die seit dem Zusammenbruch des deutschen Idealismus in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine weitverbreitete Lebensstimmung geworden ist. Da gleichzeitig die Erinnerungen an das Gottesreich in praktischer Politik immer unwirksamer wurden, so waren die europäischen Völker und Staaten am Schluß des 19. Jahrhunderts so ziemlich bei der klassischen Leviathantheorie und ‑praxis angelangt. In dieser Hinsicht waren die Mittelmächte noch ein wenig rückständiger – was ihnen wohl zum Schaden, aber nicht zur Schande gereichte. Deutschland war weithin auf dem Standpunkt der Hegelschen Staatsauffassung stehen geblieben, wenngleich sie an zahlreichen Stellen bereits abgebröckelt war, Österreich-Ungarn war noch weiter zurück, hier wirkten noch religiös gefärbte Vorstellungen nach von einem in Gott verwurzelten Recht, von einer beharrenden und sich immer wieder durchsetzenden Ordnung der Dinge nach. – Die "Rückständigkeit" der Mittelmächte und die hemmungslose Pfiffigkeit der Westmächte wurde aller Welt klar durch die Rechtsbrüche von Versailles und St. Germain. Eine Treulosigkeit wie diese, daß ein soeben abgeschlossener Präliminarfriede in allen Punkten gebrochen oder wesentlich verändert wurde, war in der europäischen Staatengeschichte bisher noch nicht dagewesen. Aber eben deshalb sind diese Ereignisse so überaus monumental und wichtig, sie sind die stilreine Form, in der sich die Leviathangesinnung aussprach, entlarvte und – zugleich widerlegte. Sie bezeichnen in der Staatengeschichte der neuesten Zeit einen Umschwung.

Ich habe bei anderen Gelegenheiten auseinandergesetzt, daß die Neuordnung der europäischen Mitte auf der Grundlage des Rechtes durch den Umstand ein im besonderen Sinne deutscher Beruf wird, daß wir diese Ordnung durchzusetzen gezwungen sind im Kampf gegen das unser Leben bedrohende Unrecht von Versailles und St. Germain, daß ferner, wenn wir unsere Zukunftsaufgabe so sehen, eine großartige Einheit in die deutsche und österreichische Geschichte kommt: Österreich wird wieder die Ostmark, wie vor 1000 Jahren, und das größere Deutschland wird durch Aufrichtung einer Rechtsordnung [113] wieder das Zentrum des Abendlandes wie vor 1000 Jahren; auch werden wir Österreicher nun in größerem Umfang, in einem viel größeren Verbande, auch unter etwas geänderten Verhältnissen, an der Aufgabe mit- und weiterarbeiten, die den Inhalt von Altösterreich ausmachte. Und nun bringt das Journal des vivants in der Mai-Nummer einen anonymen Aufsatz über die Geschichte des europäischen Einigungsgedankens und führt ihn mit Recht zurück auf das spätrömische Reich, auf die christliche Kirche, auf Augustins Gedanken der Civitas Dei, endlich auf das mittelalterliche Kaisertum. Das ist durchaus richtig gesehen. Der Briandsche Plan erhält durch derartige historische Erinnerungen den gewaltigen Hintergrund und wird in die große Einheit der abendländischen Konzeptionen einbezogen. Es ist Zeit, daß wir Deutschen die so evidente, leider von der Mehrzahl der Deutschen selbst gar nicht in der ganzen Tiefe gesehene Wahrheit, daß Ordnung nur auf Recht beruhen kann, der gegenwärtige Zustand aber auf Unrecht aufgebaut ist, uns selbst und der europäischen Öffentlichkeit zum Bewußtsein bringen, deshalb dem Briandschen Versuch, unter der Formel von Frieden und Ordnung die gegenwärtigen Zustande möglichst weitgehend erstarren zu lassen, einen anderen Plan entgegensetzen, der dadurch ein deutscher Plan wird, daß wir Deutschen ihn vertreten, obwohl er an sich auf dem übervölkischen Gedanken des reinen Rechtes beruht, und diesen Zukunftsgedanken, soweit er traditioneller Stützung und Erweiterung bedarf, einfügen in den Ideengehalt unserer 1000jährigen Geschichte. Seit 1000 Jahren streiten Franzosen und Deutsche um das Erbe Karls des Großen. Vielleicht verständigen wir uns in Zukunft auf der Grundlage des Rechtes. Dazu müssen wir diesen Gedanken mit der Kraft einer Überzeugung vortragen. Der archimedische Punkt aber ist die Vereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich. Das ist der Anfang der Vereinigten Staaten von Europa, das ist der Anfang des reinen Rechtes. Das bedeutet nicht etwa den Sieg der deutschen Macht – was Frankreich verabscheut –, das bedeutet den Sieg des Rechtes und die erneute Macht des erschütterten Abendlandes – wogegen sich zu wehren auch Frankreich keinen Grund haben sollte.


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Die Anschlußfrage
in ihrer kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Bedeutung

Friedrich F. G. Kleinwaechter & Heinz von Paller