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[206] VI. Anschluß oder Donauföderation
Dr. Karl Janovsky (Teplitz-Schönau)

Die seit 1919 erfolgten wirtschaftlichen Strukturveränderungen in Österreich und in der Tschechoslowakei • Vermehrung des industriellen Apparates in Österreich • Die Tschechoslowakei verfügt über unzureichende Wirtschaftsreserven zur Dauersanierung Österreichs • Voraussetzungen und Folgen einer Zollunion Wien-Prag • Österreich hat in einer slawischen Wirtschaftsentente keine wirtschaftlichen Aufstiegsmöglichkeiten • Deutschland und der mitteleuropäische Raum • Deutschland verfügt über Wirtschaftsreserven zur Dauersanierung Österreichs • Österreichs Bedeutung für Deutschlands Außenhandel in Ungarn und Südslawien • Die wirtschaftlichen Vorteile des Anschlusses für das Deutsche Reich • Unmöglichkeit einer Aufrichtung einer slawischen Wirtschaftsentente • Das Projekt des Hradschin • Die Konferenzen von Bukarest, Sinaia und Warschau • Der mitteleuropäische Raum eine lebendige Einheit • Der Umfang der Abhängigkeit der Tschechoslowakei von der Wirtschaft Deutschlands • Prags Anschluß an Mitteleuropa • Die der Tschechoslowakei erwachsenden Sondervorteile im Rahmen Mitteleuropas • Die Militärlasten und die tschechoslowakische Wirtschaft.

1. Die seit 1919 erfolgten wirtschaftlichen Strukturveränderungen in Österreich und in der Tschechoslowakei

Es kann nicht genug oft und eindringlich betont werden, daß sich während der zwölf Jahre, welche seit dem Zerfalle Österreich-Ungarns bereits verflossen sind, die Produktionsgrundlagen in den beiden Staaten unter dem Einflusse der damals neu errichteten Zollmauern sowie der seit diesem Zeitpunkte zur Anwendung gekommenen unterschiedlichen Methoden in der Industrie-, Handels-, Zoll-, Steuer- und Währungspolitik ganz erheblich voneinander entfernt haben. Ein einheitliches, geschlossenes und sowohl in der Produktion als auch in dem Verbrauche auf sich gegenseitig abgestimmtes und eingespieltes Wirtschaftsgebiet ließe sich somit nicht mehr durch die bloße Tatsache der Abtragung der gegenseitigen Zollmauern (ganz gleichgültig, ob dieser Vorgang plötzlich oder allmählich erfolgen würde) wiederum neu schaffen. Es müßten vielmehr die in der Zwischenzeit stark voneinander abgewichenen künstlichen Produktionsgrundlagen wiederum nach Möglichkeit aufeinander abgestimmt werden. Diesen Umstand stellen aber alle jene Kreise nicht genügend in Rechnung, die nicht die seit dem Jahre 1919 in beiden Staaten platzgegriffenen wirtschaftlichen Strukturveränderungen ständig mit aufmerksamen Augen verfolgt haben. Bei dem gegenwärtigen Stande der Dinge wären im Zuge der Durchführung einer Prag-Wiener Zollunion auf beiden Seiten belangreiche industrielle Umstellungen sowie vor allen Dingen namhafte Betriebsstillegungen eine unabweisbare Notwendigkeit. Der Begriff einer Zollunion Prag-Wien schließt somit nicht nur ein größeres Wirtschaftsgebiet in sich, sondern er beinhaltet in [207] erster Linie Sanierung der österreichischen Wirtschaft und rücksichtslose Zurechtstutzung und Eingliederung des beiderseitigen Produktionsapparates in den Rahmen der neuen Situation, und zwar immer unter Zugrundelegung der im Nachbarstaate tätigen Produktivgüter. Um was für Größen es sich bei Liquidierung eines Großteiles der auf beiden Seiten erfolgten Neugründungen handeln würde, darüber kann man sich erst dann ein Bild machen, wenn man sich ziffernmäßig die ungefähre Emanzipationsbilanz Österreichs gegenüber der Tschechoslowakei und umgekehrt vor Augen hält. Es dürfte nicht unangebracht sein, deshalb an dieser Stelle zu vermerken, daß sich – amtlichen Nachrichten zufolge – der industrielle Apparat Österreichs seit 1919 wie folgt vermehrt hat:

    im Jahre 1919       6283 fabriksmäßige Betriebe
    im Jahre 1920 6391 fabriksmäßige Betriebe
    im Jahre 1921 6915 fabriksmäßige Betriebe
    im Jahre 1922 7419 fabriksmäßige Betriebe

An diesem Zuwachse der industriellen, fabriksmäßig organisierten Produktion waren fast alle Zweige beteiligt gewesen (Erschließung von Kaolinlagern und Braunkohlenfeldern, Neugründung von Glas-, Porzellan-, Textil-, Holzverwertungs-, Maschinen-, Nahrungsmittel- und chemischen Fabriken). Wenn man bedenkt, daß das Tempo der industriellen Neugründungen auf der tschechoslowakischen Gegenseite keineswegs ein geringeres gewesen ist, so kann man sich so ungefähr die geradezu beängstigende Größe des gegenseitigen Liquidierungsproblemes im Zuge einer allfälligen Prag-Wiener Zollunion vorstellen. Die Verluste an volkswirtschaftlich werbendem Produktivkapital wären auf beiden Seiten geradezu ungeheure, nachdem bekanntlich industrielles Anlagekapital bei dem schnellen und ständigen Wechsel, welchem die Produktionstechnik unterworfen ist, in verhältnismäßig kurzer Zeit auf den Wert von Alteisen sinkt, wenn einmal die Räder für längere Zeit aus dem Schwunge kommen.


 
2. Die Tschechoslowakei verfügt über unzureichende Wirtschaftsreserven zur Dauersanierung Österreichs

Bei der allfälligen Verwirklichung einer Prag-Wiener Zollunion müßte die Tschechoslowakei mit vollem Bewußtsein und aus freien Stücken die österreichische Volkswirtschaft auf ihre eigenen [208] Kosten an mehr als einem Punkte bevorzugen und so halb freiwillig und halb unfreiwillig ständig Handlungen setzen, die wohl im Zuge der Verfolgung eines großen Planes liegen, aber die dennoch so und so vielen, auf kurze Strecken laufenden egoistischen privaten und volkswirtschaftlichen Interessen sowie nationalen Prestigeauffassungen entgegenstreben würden. Beim näheren Durchdenken der unerläßlich notwendigen volkswirtschaftlichen Sanierung Österreichs muß man zu dem Schlusse kommen, daß diese nicht nur auf produktionspolitischem, sondern vorwiegend auf kommerziellem Gebiete Platz greifen müßte, indem man Wien auf Kosten Prags und Preßburgs wieder zu jener Bedeutung als mitteleuropäische Handelsmetropole verhülfe, zu welcher diese Stadt kraft der Gunst ihrer wirtschaftsgeographischen Lage berechtigt ist. Diese Stärkung der Wiener internationalen Handelsbasis müßte besonders im Hinblicke auf den Warendurchzugsverkehr mit den einzelnen Balkanstaaten und darüber hinaus mit dem Orient Platz greifen. Prag, das sich in den Nachkriegsjahren allmählich zu einem Knotenpunkte des Warenverkehres nach dem europäischen Südosten und dem Oriente emporgearbeitet hat, müßte sich somit im Zuge der Sanierung freiwillig dazu verstehen, diesen Mantel wieder der Donaustadt umzuhängen und sich künftighin wiederum mit der Funktion einer bloßen Station des Güterdurchzugsverkehres bescheiden. Das wäre ein solcher Fall, wo die auf eine haltbare Zollunion eingestellte tschechoslowakische Staatspolitik in einen schweren Konflikt mit den eigenen volkswirtschaftlichen Interessen und nationalen Prestigeauffassungen käme. Wer die Meinung vertritt, daß die bloße Zollunion Prag-Wien noch nicht die Lebensfähigkeit Österreichs auf lange Sicht beinhalte, sondern daß zur Erreichung dieses Zieles im Rahmen der zur Erörterung stehenden Kombination auch noch die zusätzliche Schaffung neuer und ständiger privatwirtschaftlicher Betätigungs- und Verdienstmöglichkeiten hinzukommen müßte, wird in der angedeuteten Wiederbelebung Wiens einen der Kernpunkte des Problems erblicken müssen. Von industriell-produktionspolitischer Seite her könnte die Tschechoslowakei nämlich Österreich – trotz aller von ihr zu bringender Opfer – nicht dauernd sanieren. Die von der Tschechoslowakei zu tragenden Kosten einer Aufsaugung österreichischer, erst in der Nachkriegszeit entstandener Konkurrenzbetriebe im Wege der Kartellierung könnten nur mit Einrichtungsspesen gelegentlich des Einziehens in die gemeinsame Wohnung verglichen werden, welch letztere von der tsche- [209] choslowakischen Industrie à fond perdu zu verausgaben wären. Soweit die Tschechoslowakei dagegen eine Reihe eigener neugegründeter Kleinbetriebe zugunsten einer Erweiterung des nachkriegszeitlichen österreichischen Absatzradius opfern würde, käme dies wohl zweifelsohne einer Stärkung der Lebensfähigkeit Österreichs von der produktionspolitischen Seite her gleich. Wenn auch diese Opfer die tschechoslowakische Volkswirtschaft außerordentlich stark belasten und vorübergehend selbst die allgemeine tschechoslowakische Industrielage und den Arbeitsmarkt nachteilig beeinflussen würden, wären sie wohl umsonst gebracht, da die Gewähr für den dauernden Bestand einer Zollunion nur gegeben wäre, wenn man gleichzeitig auch Wien wiederum als Handelsmetropole die erste Geige in Mitteleuropa spielen ließe. Es wäre zu wünschen, wenn sich die tschechoslowakische Staatspolitik auch nach dieser zweifelsohne nicht besonders angenehmen Richtung hin mit dem Problem beschäftigen würde.

Aus diesen vorhergehenden Ausführungen ergibt sich, daß Österreich im Rahmen einer slawischen Wirtschaftsentente keinen wirtschaftlichen Aufstiegsmöglichkeiten entgegenzusehen vermag, sondern bestenfalls eine Interessengemeinschaft des Blinden mit dem Lahmen eingehen könnte.


 
3. Deutschland und der mitteleuropäische Raum

Ganz abgesehen von der gefühlsmäßigen Einstellung ist die großdeutsche Lösung für Österreich insoferne von Vorteil, als Deutschland über die nötigen Wirtschaftsreserven zur dauernden Sanierung seines ehemaligen Bundesgenossen aus dem Weltkriege verfügt. Während die Tschechoslowakei den als unbedingt notwendig bezeichneten Neuaufbau Wiens als Handelsmetropole nur begünstigen könnte, wenn sie künftighin die im eigenen Lande gelegenen Handelsplätze Prag und Preßburg, die in den letzten zehn Jahren auf Kosten Wiens groß geworden sind, wieder verkümmern ließe, kommt Wien im Rahmen der deutschen Konzeption geradezu zwangsläufig die außerordentlich bedeutsame Stellung eines Ausfalltores nach dem Osten und Südosten zu, und zwar im Hinblicke auf die gemeinsame deutsche und österreichische Industriewerkstätte. Nachdem diese Erhöhung Wiens auf den Rang Hamburgs ohne irgendwelche Opfer seitens des deutschen Partners möglich ist, erscheint dieser um so eher in die Lage versetzt, tatsächliche Zugeständnisse an allen jenen Punkten zu machen, wo im Zuge des Zusammenschlusses Verände- [210] rungen in der beiderseitigen industriellen Apparatur nicht zu umgehen sind.

Im mitteleuropäischen Blickfeld verkörpert der Wien-Berliner Anschluß nichts weiter als eine Etappe zu den Vereinigten Staaten von Mitteleuropa, die wesentlich leichter zu verwirklichen sind als die paneuropäischen Wirtschaftsziele Coudenhove-Kalergis und sonstiger guter Paneuropäer, die heute noch nicht sehen wollen, an wie vielen Stellen sich ihre ideellen Ziele im harten Raume der Wirklichkeit stoßen und verletzen. Für den Tatsachenmenschen wirkt Mitteleuropa als Realität und Paneuropa als liebliche, aber nicht von dieser Welt stammende Sphärenmusik.

In die erste Zone des deutsch-österreichischen Kraftfeldes würden zweifelsohne die Staaten Ungarn, Bulgarien, Jugoslawien und Rumänien fallen. Während das Deutsche Reich derzeit auf dem Balkan in wirtschaftlicher Beziehung lediglich in Bulgarien und in Rumänien an erster Stelle steht, würde die Verwirklichung Großdeutschlands diesen Machtkampf mit einem Male zugunsten Berlins entschieden haben, und zwar mit einem derart erdrückenden Übergewichte, daß die übrigen Interessenten des Balkans, vornehmlich die Tschechoslowakei und Italien, völlig in die Hinterhand kämen. Der zu einer Einheit verschmolzene Wien-Berliner Wirtschaftskomplex würde aber nicht nur an der Ausfuhr und Einfuhr der Balkanstaaten, sondern auch an dem zwischenstaatlichen Warenverkehre der Tschechoslowakei und Ungarns künftighin mit 30 bis 40% beteiligt sein. Österreich besitzt nämlich, trotz seiner unzulänglichen volkswirtschaftlichen Kräfte, ein großes Aktivum in seinen auf dem mitteleuropäischen Markt seit langen Jahren festgelegten und gleicherweise wohlausgebauten Handelsbeziehungen. Dabei gereicht es der Wien–Berliner Vereinigung noch überdies zum großen Vorteile, daß der österreichische Außenhandel gerade dort eine starke Stellung aufweist, wo sie Deutschland am meisten brauchen kann, nämlich in Jugoslawien und in Ungarn. In dieser Beziehung kann man geradezu von einer idealen Ergänzung der beiden Volkswirtschaften sprechen. Schon im Rahmen dieser Betrachtungsweise verwandeln sich die von Deutschland gelegentlich der Sanierung Österreichs auf produktionspolitischem Gebiete zu bringenden Opfer in Geschäftsspesen, die sich in nicht allzu ferner Zeit bezahlt machen werden.

Vom Standpunkte der Verwirklichungsmöglichkeit aus betrachtet, wäre zu bemerken, daß Ungarn und Bulgarien schon seit [211] langem mitteleuropäisch ausgerichtet sind. Ein begünstigtes Zollregime zwischen Berlin–Wien–Budapest und Sofia hätte in produktionspolitischer Hinsicht lediglich auf gewisse Zweige der erst in der Entwicklung befindlichen ungarischen Industrie entsprechend Bedacht zu nehmen (z. B. auf die dortige Textil- und Schuhindustrie). Was nun Rumänien und Jugoslawien betrifft, so gehören diese beiden Staaten bekanntlich der franko-slawische politische und in den letzten drei Jahren auch wirtschaftliche Ziele verfolgenden Kleinen Entente an. Sie sind demzufolge derzeit gefühlsmäßig noch nicht auf die aktive Verfolgung mitteleuropäischer Wirtschaftsziele eingestellt, trotzdem ihre ökonomischen Entfaltungsmöglichkeiten einzig und allein auf dieser Ebene liegen. Soweit in diesen beiden Staaten industrielle Keimzellen vorhanden sind, verkörpern diese im Gegensatze zu Ungarn vornehmlich industriell-gewerbliche Ausläufer der einheimischen Land- und Forstwirtschaft (Holz- und Sägewerke), beziehungsweise sie gehören der Nahrungs- und Genußmittelbranche an. Im Hinblicke auf Rumänien kommt noch die an und für sich konkurrenzlose Erdölindustrie sowie die Kohlenförderung hinzu, welch letztere im Rahmen Mitteleuropas von dem reichlicheren Kohlenvorkommen in anderen Gebietsteilen nicht berührt wird, weil bekanntlich die Braunkohlenindustrie als besonders frachtempfindliches Gut an einen bestimmten örtlichen Wirkungskreis gebunden ist. Daraus ergibt sich, daß die industrielle Seite der beiden erwähnten Volkswirtschaften für die mitteleuropäische Konzeption überhaupt kein Problem vorstellt. Umgekehrt können aber weder Belgrad noch Bukarest Mitteleuropa selbst in seinen Anfängen übersehen, denn Jugoslawien ist lebenswichtig an einer ununterbrochenen und gleicherweise belangreichen Ausfuhr nach Deutschland hinsichtlich folgender Artikel angewiesen: Eier, Kupfer, Hopfen, getrocknete Pflaumen und Fleisch, also alles Güter, die Deutschland unschwer auch aus anderen Verkehrsrichtungen zu beziehen vermag. Rumäniens lebenswichtige Abhängigkeit von Deutschland umfaßt dagegen die folgenden Güter und Waren: Gerste, Mais, Eier, Nutz- und Bauholz sowie Mineralöle. Der politische Bundesgenosse von Belgrad und Bukarest, die Tschechoslowakei, ist selbst zur guten Hälfte ein Agrarstaat; demzufolge wäre er völlig außerstande, auf diesem Gebiete helfend einzugreifen. Diese zutiefst im Strukturellen der Tschechoslowakei in ihrer Doppeleigenschaft als Agrar-Industriestaat verankerten Schwierigkeiten sind auch der Grund, warum es bisher Prag noch nicht einmal gelungen [212] ist, mit Jugoslawien den derzeit in Geltung stehenden losen und recht labilen Meistbegünstigungsvertrag durch entsprechend breit ausgebaute Abmachungen auf tarifarischer Grundlage (ganz zu schweigen von Vereinbarungen auf Basis von Vorzugszöllen) zu ersetzen. Ganz besonders kritisch liegen aber die Verhältnisse auf dem Gebiete der Forstwirtschaft. Da ergeben sich für die Gesellschafter der Kleinen Entente überhaupt keinerlei nutzbringende Austauschmöglichkeiten, denn alle drei Staaten sind gleicherweise am Holzexport interessiert. Für Jugoslawien sind die naturgegebenen Holzabsatzmärkte Italien und Ungarn; für Rumänien Ungarn und Deutschland und für die Tschechoslowakei in der Hauptsache das Deutsche Reich. In Berücksichtigung dieser Tatsachen kann man ruhig vorhersagen, daß die gegenseitigen Tarifverträge, bis sie einmal zustande kommen, nur einen recht bescheidenen Tarifteil aufweisen werden.

Betrachten wir nun umgekehrt die Warengruppen, die hauptsächlich Deutschland nach Jugoslawien exportiert, so besteht die Hälfte der deutschen Produkte aus Textilien, Eisenwaren und Maschinen, nächst diesen aus elektrischen Maschinen und elektrotechnischen Erzeugnissen, aus Kupferwaren, Farben und Farbwaren sowie verschiedenen Lederwaren, während an der deutschen Fertigwarenausfuhr nach Rumänien schon derzeit fast alle deutschen Industriezweige beteiligt sind. Die Tschechoslowakei dagegen, im Verhältnis zu ihrer Größe ein maßgeblicher Industriestaat, verliert auf dem Balkan zugunsten der reichsdeutschen Konkurrenz ständig an Boden; sie muß notgedrungen diese Ausfälle durch Vergrößerung des Absatzes im Westen und in Übersee wettmachen. Der Grund für diesen auf den ersten Blick befremdlichen Umstand ist in der Tatsache verankert, daß der Industrieapparat von Böhmen, Mähren und Schlesien besonders in jenen Industrieartikeln nicht leistungsfähig ist, welche die erst im Aufschlusse begriffenen Balkanländer gerade am meisten benötigen. In diesem Zusammenhange sei auf folgende Artikel und Warengruppen verwiesen: hochwertige Maschinen und elektrotechnische Erzeugnisse aller Art, Farben, Chemikalien, feine Eisen- und Metallwaren, Instrumente und Apparate der Feinmechanik usw. Die mangelnde Leistungsfähigkeit der Tschechoslowakei in diesen von Jugoslawien und Rumänien besonders benötigten Einfuhrgütern geht schon aus dem Umstande hervor, daß die erstere selbst importbedürftig ist.


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4. Die Unmöglichkeit der Aufrichtung einer slawischen Wirtschaftsentente

Die Projekte des Hradschins

Auf den alljährlich stattfindenden Konferenzen der Kleinen Entente tritt in den letzten Jahren immer mehr das Bestreben zutage, neben der politischen Einheitsfront, welche das letztemal im Haag anläßlich der Regelung der Ostreparationen praktisch in Erscheinung getreten ist, auch eine wirtschaftliche aufzurichten. Bis zu den Konferenzen von Sinaia, Bukarest und Warschau suchte man eine zollpolitische Annäherung zwischen Prag–Belgrad–Bukarest auf dem Umwege über die sogenannte regionale Klausel herbeizuführen, nachdem die im Art. 222 des Friedensvertrages von St.-Germain-en-Laye (Einführung eines Präferenzzollsystems) vorgesehenen Möglichkeiten schon seit Jahren infolge Zeitablaufes hinfällig geworden sind. Wer im eingehenden unsere vorhergehenden Betrachtungen verfolgt hat, kann sich über den praktischen Erfolg eines nicht unter die Meistbegünstigung fallenden Zollbündnisses nicht einen Augenblick im unklaren sein. Infolge der sich beinahe bei jeder Position der einzelnen Zolltarife ergebenden, fast unüberbrückbaren Schwierigkeiten hat man sich bisher dem leichter zu bewältigenden Teile des Wirtschaftsprogrammes zugewendet, das wohl reich an Punkten, aber im Vergleiche zu dem vorschwebenden Ziele mehr als dürftig im Inhalte ist. (Vereinheitlichung der Gesetzgebung, besonders in finanzrechtlicher Beziehung, Abschluß wechselseitiger Rechtshilfeverträge und Behebung der Schwierigkeiten bei Exekution tschechoslowakischer Urteile in Rumänien und Jugoslawien, Beseitigung der Verkehrshindernisse bei Eisenbahn und Schiffahrt, Aufhebung des Sichtvermerkzwanges und seiner Gebühren, Behebung der Mängel der einzelnen statistischen Apparate u. dgl. m.) Desgleichen hat man mit den bereits in Gründung befindlichen beiden wechselseitigen Auslandshandelskammern zwischen Prag und Bukarest, als vereinzelte Maßnahme betrachtet, kaum die Peripherie des vorschwebenden Zieles gestreift. Selbst die restlose Verwirklichung sämtlicher Programmpunkte sekundärer Bedeutung kann noch keinen einheitlich ausgerichteten slawischen Wirtschaftsblock im Herzen Mitteleuropas schaffen, wenn die innere Gemeinsamkeit im Sinne einer sich gegenseitig ergänzenden Wirtschaftsstruktur fehlt. Hier muß Benesch zwangsläufig scheitern, denn dies- [214] mal geht es nicht um Fragen politisch-diplomatischer Geschicklichkeit und Beweglichkeit, sondern um letzte Existenzfragen.

Mitteleuropa läßt sich nicht auf verschiedene Größenverhältnisse aus Gründen politischer Staatsraison zurechtschneiden, sondern kann nur als Ganzes angenommen oder abgelehnt werden. Der Politiker Benesch, für den der mitteleuropäische Raum in wirtschaftlicher Hinsicht Neuland ist, wird weder heute noch morgen das von seinem Standpunkte Tragische seiner Zielsetzung zu erkennen vermögen, das darin liegt, daß sich die slawische Wirtschaftsentente niemals ohne Großdeutschland verwirklichen läßt, und zwar weder in der kleinen Prag–Belgrad–Bukarester noch in der erweiterten Prag–Belgrad–Bukarest–Wien–Budapest–Sofia–Warschauer Fassung. Immer und immer wieder verfällt die slawische Politik in den Fehler, Wirtschaftskombinationen in der ihr zusagenden Form konstruieren zu wollen, statt zu bedenken, daß lebende Organismen nur unter Berücksichtigung der Gesetze organischen Lebens einander nähergebracht zu werden vermögen. Der gesamte mitteleuropäische Raum ist trotz der diesen durchziehenden Staats- und Zollgrenzen eine lebende Einheit, in welcher den einzelnen Landstrichen grundverschiedene Bedeutung zukommt. Figürlich könnte man sich Mitteleuropa wie folgt vorstellen: Das Herz hat seinen Lageort in Österreich, während die unteren Extremitäten im Südosten (Balkan) gelegen sind. Der Rumpf des Riesen nimmt dagegen auf die politischen Staatsgrenzen keinerlei Rücksicht, denn er schiebt sich zu einem Teile über Deutschland hinausgehend, nach der Tschechoslowakei und Ungarn vor. Deutschland gibt aber außer dem Rumpf auch noch in seinem Gebiete dem Kopfe und auch gleicherweise den Armen Unterkunft, welche nach der einen Seite systemverbindend nach dem Westen und auf der anderen wechselweise nach dem Norden und Osten ausgreifen. Daß in dem deutschen Volkskörper auch die Hauptschlagader Mitteleuropas zu Hause ist, welche bestimmend für die jeweilige Herzfunktion ist, bedarf wohl keiner besonderen Hervorhebung. In dieser wirtschaftspolitischen Beleuchtung wird eigentlich erst das Vergebliche aller jener Lösungsversuche offenkundig, welche einen lebenden Körper ohne Kopf und Arme und mit einem nur teilweisen Rumpfstück zusammensetzen wollen. Ein solcher Plan wird zur Unmöglichkeit, da er sich gegen die Gesetze organischen Lebens versündigt. Daß Deutschland unbedingt zu Mitteleuropa gehört, diese Wahrheit beginnt sich nun [215] langsam auch in den gefühlsmäßig der slawischen Lösung zugekehrten Ländern durchzusetzen. Damit erscheint aber auch gleichzeitig das Todesurteil über die noch nicht geborene slawische Donauföderation im Kleide der Kleinen Entente gesprochen. Die künftighin vom deutschen Wirtschaftsblock jeweils eingeschlagenen Bahnen werden von der Tschechoslowakei auf die Dauer nicht übersehen werden dürfen, wenn sich dieser Staat nicht in eine hoffnungslose Aschenbrödelrolle hineinmanövrieren will. Darüber hinaus muß wohl Prag in nicht allzu ferner Zeit geradezu zwangsläufig bestrebt sein, zu der deutschen Kombination in ein positives Verhältnis zu kommen. Diese Erwägungen sind dem Hradschin schon derzeit nicht ganz fremd.


Die Konferenzen von Bukarest, Sinaia und Warschau

Das Fehlen der inneren Gemeinsamkeit im Sinne einer sich gegenseitig ergänzenden Wirtschaftsstruktur hat bereits im Juli 1930 zu einer Sprengung der erst in den äußersten Umrissen sichtbar werdenden Kleinen Wirtschaftsentente geführt. Rumänien und Jugoslawien haben nämlich in Wahrung ihrer besonderen Interessen im heurigen Sommer in kurzer Aufeinanderfolge in Bukarest und in Sinaia Konferenzen abgehalten, zu welchen sie die Tschechoslowakei trotz aller politischer Verbundenheit einzuladen vergaßen. An der Bukarester Konferenz nahm übrigens auch Ungarn teil, also ein Staat, der einer Einbeziehung in das System einer slawischen Wirtschaftsentente von vornherein widerstrebt. Abreden von internationaler Bedeutung wurden dort allerdings nicht getroffen; man einigte sich lediglich, den Fragebogen der für den Herbst einberufenen Zollkonferenz des Völkerbundes gemeinsam zu beantworten. Bei der wenige Tage später stattgefundenen Aussprache in Sinaia, zu welcher Ungarn nicht mehr geladen war, haben sich dagegen Belgrad und Bukarest wechselseitige Zugeständnisse im Zuge der neuen handelsvertraglichen Abmachungen versprochen; darüber hinausgehend wurde auch eine jugoslawisch-rumänische Zollunion in Aussicht genommen, welche den politischen Kristallisationspunkt für eine Donauföderation, dieses Mal der Abwechslung halber unter der Führung des Balkans, zu bilden hätte. Die allfällige Verwirklichung der dort beschlossenen Richtlinien soll diesen beiden Donaustaaten die Möglichkeit geben, auf den wichtigsten europäischen Absatzmärkten für ihre verschiedenen [216] landwirtschaftlichen und tierischen Erzeugnisse nicht unter die Meistbegünstigung fallende Vorzugszölle durchzusetzen. Dagegen gedenken sie ihrerseits, den Industriestaaten keinerlei Kompensationen dafür einzuräumen, scheinbar um sich nicht das Wohlwollen Englands und der Vereinigten Staaten von Nordamerika zu verscherzen. Daß aber umgekehrt jene Industriestaaten, welche sich zu der Einräumung derartiger zollbegünstigter Einfuhrkontingente für tierische und landwirtschaftliche Erzeugnisse jugoslawischer und rumänischer Herkunft verstehen würden, geradezu zwangsläufig in eine schwere Situation gegenüber den dadurch benachteiligten, Getreide und Fleisch exportierenden Überseeländern kommen müßten, hat man scheinbar nicht bedacht. Selbst wenn sich Österreich im Zuge der Einführung eines Getreidemonopols zu seinem eigenen Schaden mit derartigen Einfuhrkontingenten zugunsten Jugoslawiens, Rumäniens und allenfalls auch Ungarns belasten sollte, so wird sich ein gleiches Vorgehen vermutlich die Tschechoslowakei und noch mehr Deutschland überlegen. Bei Österreich würde man vielleicht die Einräumung von agrarischen Einfuhrkontingenten für die südosteuropäischen Donaustaaten, und zwar auf Grundlage von Vorzugszöllen, noch übersehen, da der dortige Markt für den Import überseeischer Agrarprodukte nicht wesentlich in Betracht kommt, im Gegensatze zur Tschechoslowakei oder gar zu Deutschland. Sowohl Belgrad als auch Bukarest geben sich einer Täuschung hin, wenn sie meinen, daß Deutschland oder die Tschechoslowakei ihre in der Hauptsache auf dem Weltmarkte verankerten Interessen, der Behebung der südosteuropäischen Agrarkrise zuliebe, ohne geifbare Gegenkonzessionen opfern werden. Aber auch Österreich wäre schlecht beraten, wenn es sich für vielfach nur einen problematischen Wert habende Zugeständnisse industrieller Natur seitens der beiden Balkanstaaten dazu verstehen würde, diese neuste Konzeption zu stützen. Auf alle Fälle machen die Besprechungen von Bukarest und Sinaia eines klar: Die Führung in der Schaffung einer slawischen Wirtschaftsentente ist Dr. Benesch nicht nur aus der Hand geglitten, sondern die Tschechoslowakei ist seit Juli 1930 derart in das Hintertreffen gekommen, daß man beinahe von einer wirtschaftlichen Vereinsamung Prags sprechen kann. Von den eigentlichen politischen Freunden in Wahrung selbstsüchtiger Eigeninteressen rücksichtslos von heute auf morgen fallen gelassen, wird man sich am Hradschin um so [217] mehr umsehen müssen, mit Berlin in ein angenehmeres Verhältnis als bisher zu kommen. Wenn man den durchaus glaubwürdigen Berichten verschiedener Stellen vertrauen darf, hat Prag auch bei der Ende August 1930 stattgefundenen Warschauer Konferenz keine in die Augen springende Rolle gespielt. Die Tschechoslowakei mußte sich bei den dortigen Verhandlungen, an welchen sich die Staaten Polen, Bulgarien, Estland, Ungarn, Lettland, Rumänien und Jugoslawien beteiligten, jedenfalls mit einem sehr bescheidenen Sitzplatze im Zuschauerraum begnügen. Während Sinaia vom Standpunkte gewisser Donaubündnisse ernstere Beachtung verdient, wurde in Warschau das Hauptaugenmerk auf die Schaffung eines osteuropäischen Agrarblocks gerichtet, für welche Kombination Polen nachdrücklichst Propaganda macht. Nachdem diese Zusammenfassung aber ausgesprochen feindselige Spitzen sowohl gegen Berlin als auch gegen Moskau aufweist, dürfte sie bei allfälligen Verwirklichungsabsichten auf unerwartet große Schwierigkeiten stoßen. Vom sachlichen Standpunkt wiederum betrachtet, muß ein osteuropäischer Agrarblock ohne Rußland immer eine höchst unvollständige Angelegenheit bleiben.


 
5. Der Umfang der Abhängigkeit der Tschechoslowakei von der Wirtschaft Deutschlands

Schon im gegenwärtigen Zeitpunkte, wo das politische Barometer zwischen Berlin und Prag noch lange nicht auf andauernd Schönwetter zeigt, sondern sich beständig auf einer etwas frostigen Vorfrühlingstemperatur hält, war Deutschland am tschechoslowakischen Gesamtaußenhandel im Jahre 1929 mit 19,3% (3932 Millionen tschechoslowakischer Kronen) bei der Ausfuhr, und mit 25% (4986 Millionen tschechoslowakischer Kronen) bei der Einfuhr beteiligt. Dabei muß noch hinzugefügt werden, daß diese Milliarden Umsätze mit dem deutschen Nachbar auf der schmalen und völlig unzureichenden Grundlage eines bloßen Meistbegünstigungsvertrages erzielt wurden, der naturgemäß nicht allzusehr auf die individuellen Bedürfnisse der einzelnen Wirtschaftszweige Bedacht nehmen kann.

Die typischen Exportgüter, die Deutschland auf dem tschechoslowakischen Markte absetzt, entstammen der Eisen-, Metall-, Elektro-, Maschinen-, feinmechanischen und chemischen Industrie. Die Liste der volkswirtschaftlichen Lebensnotwendigkeiten, welche die Tschechoslowakei aus verkehrsgeographischen und frachttarifari- [218] schen Gründen sowie auch vielfach infolge des Umstandes der reichsdeutschen Monopolstellung aus Deutschland zu beziehen gewöhnt ist, deckt sich wohl in der Hauptsache mit jenen Artikeln und Warengruppen, die für den deutschen Export nach der Tschechoslowakei typisch sind, doch ist sie noch um ein gutes Stück länger. Die Tschechoslowakei braucht nämlich lebensnotwendig, wenn auch vielfach nur zur Ergänzung der eigenen gleichnamigen Produktion, die folgenden Rohstoffe, Halb- und Fertigfabrikate: Roh- und Hilfsstoffe für die Glas- und Porzellanindustrie, Gips, Kali, Kobald, lithographische Steine, Harz, Schmirgel und Schmirgelfabrikate, Stahl, Aluminium, Farbstoffe (Anilinfarben, Teerfarben, synthetischen Indigo), chemisch-pharmazeutische Artikel und Spezialmaschinen, Apparate und Werkzeuge verschiedener Branchen (beispielsweise Buchdruckerei- und Setzmaschinen, Müllerei-, Ziegel-, Spinnmaschinen, Webstühle, landwirtschaftliche Maschinen, Aufbereitungsmaschinen für den Bergbau, Brechbacken für Steinbrecher, Bagger, Separatoren, Elektromotore, Lötwerkzeuge, Lötapparate, verschiedene Heiz- und Kochapparate und mannigfache Kleineisenwaren). Schon unmittelbar nach der Gründung der Tschechoslowakei hat man sich in Prag die Aufgabe der ökonomischen Loslösung von der deutschen Abhängigkeit gestellt, welches Ziel aber nicht einmal andeutungsweise erreicht werden konnte. Es gelang lediglich unter großen Opfern eine bescheidene künstliche Loslösung von der deutschen Salzproduktion, und zwar durch Vollinbetriebsetzung der in Karpathorußland gelegenen staatlichen Salinen. Die inländische Erzeugung kann aber weder in qualitativer Hinsicht noch in bezug auf die Rentabilität mit dem deutschen Salze in Konkurrenz treten. Desgleichen ist die tschechoslowakische Glasindustrie derzeit nicht mehr ausschließlich auf den Bezug sächsischen Glassandes angewiesen. Mit staatlicher Subvention wurde auch vor einigen Jahren ein Gipssteinbruch in der Slowakei erschlossen, der aber ebenfalls noch nicht seine Probe auf die Rentabilität sowie die qualitative Eignung, gemessen an der konkurrierenden Auslandsware, erfolgreich bestanden hat. Soweit die chemische Industrie in Betracht kommt, wird ja diese Frage in Prag ständig vom hochmilitärischen Standpunkte aus überprüft. Die tschechoslowakische Abhängigkeit von der deutschen chemischen Industrie hat aber nicht nur einen militärpolitischen Hintergrund, sondern sie erstreckt sich gleicherweise auch auf maßgebliche wirtschaftliche (beispielsweise Anilin- [219] und Teerfarben für die Textilindustrie) und sanitäre Interessengebiete (chemisch-pharmazeutische Artikel). Selbst wenn sich die Tschechoslowakei vollkommen von der deutschen chemischen Großindustrie loslösen könnte, bleibt noch ihre Abhängigkeit in der Eisen-, Metall-, Maschinen- und Werkzeugindustrie bestehen. Diese Abhängigkeit bleibt vorhanden, ganz unbeschadet der Tatsache, daß auch im eigenen Lande Produktionsstätten für eine große Anzahl dieser Artikel bodenständig sind. Zweifelsohne werden sich die gesunden Betriebe dieser Art im Inlande weiter entwickeln, aber sie werden sowohl was Breite als auch Vielfältigkeit der Erzeugnisse betrifft, niemals die deutschen Fabrikate auf der ganzen Linie des Bedarfes zu ersetzen imstande sein. Die Abhängigkeit vom Auslande im Maschinen-, Apparate- und Werkzeugpark kommt nämlich einem Dauerzustande gleich, denn auch tote Gegenstände bedürfen während ihrer Dienstzeit nicht nur der Wartung und Pflege, sondern auch fortwährender sorgfältiger Durchführung aller notwendig gewordener Ausbesserungen sowie ständig wiederkehrender Generalreparaturen.

Soweit die sich gegenseitig stark konkurrenzierenden Zweige der Urproduktion, Halbfabrikateerzeugung und der Fertigwarenindustrie in Frage kommen (Baumwoll- und Wollindustrie, Musikinstrumenten- und Spielwarenindustrie, Bierbrauerei u. dgl. m.), so würden diese keineswegs im Falle des Beitrittes der Tschechoslowakei zur mitteleuropäischen Konzeption vor eine Existenzfrage gestellt werden, denn im Gegensatze zur industriellen Apparatur Jugoslawiens und Rumäniens haben die maßgeblichen tschechoslowakischen Industriezweige ihre Kinderschuhe bereits zu Zeiten Altösterreichs ausgetreten und haben schon seit Jahrzehnten ihre Leistungsfähigkeit auf dem Weltmarkte erwiesen. Unter den Konkurrenzartikeln nimmt die Schuhindustrie eine ganz besondere Stellung ein, nachdem sich dieser Industriezweig in der Tschechoslowakei in den vergangenen zehn Jahren in einem auf amerikanische Verhältnisse zugeschnittenen Ausmaße vergrößert hat. So hat sich die tschechoslowakische Ausfuhr an Lederschuhen nach Deutschland seit dem Jahre 1924 von 42.260 Paar Schuhen in vier Jahren um fast 2.8 Millionen Paar vermehrt. Wenn im Jahre 1929 die Ausfuhr nach Deutschland von 2.8 Millionen Paar auf 1.4 Millionen Paar nachgab, welche Menge aber immer noch 72.7% der deutschen Gesamteinfuhr ausmacht, so war dies neben der schwebenden Schutzzollerhöhung vornehmlich darauf zurückzuführen, daß der tschechoslowakische Schuhkönig Bata einen [220] Teil seiner deutschen Abnehmerschaft durch das Einrichten eigener Verkaufsstellen in Deutschland verloren hat. Bata zeigt uns somit neben der Kartellierung einen zweiten gangbaren Weg der Verständigung.

Ein engeres handelspolitisches Verhältnis mit Deutschland im Rahmen Mitteleuropas müßte nicht mit tiefeingreifenden produktionspolitischen Störungen rechnen, nachdem sich die auftretenden Schwierigkeiten verhältnismäßig leicht und einfach durch Abreden auf kartellpolitischer Grundlage beheben ließen. Als weitere erleichternde Umstände können noch die Tatsachen gelten, daß es sich zumeist um gleichwertige Vertragspartner handeln wird, wie auch das Beschreiten dieses Weges keineswegs eine Neuheit bedeuten würde. Wir möchten in diesem Zusammenhange nur auf die folgenden, schon bestehenden und in der Praxis sich bewährten Vereinbarungen verweisen: das deutsch-tschechoslowakische Kohlenaustauschabkommen, die Abkommen der Kalkindustrie, der Druckfarbenindustrie, der chemischen Fabrik Aussig mit der deutschen chemischen Fabrik Griesheim-Elektron und den Kaolinverband. An internationalen Kartellen unter Beteiligung beider Staaten wären wiederum zu erwähnen: das europäische Schienenkartell, die internationale Rohstahlgemeinschaft, die Kugellager-Konvention, das Abkommen der Röhrenwerke, das Leimkartell und das Drahtkartell.

Zusammenfassend läßt sich bemerken, daß sich die Tschechoslowakei infolge ihrer starken wirtschaftlichen Abhängigkeit von Deutschland keineswegs auf die Dauer einer Mitteleuropakonstellation fernhalten könnte. Prags Anschluß an Mitteleuropa würde vor allen Dingen der Tschechoslowakei den deutschen Markt in einem bisher nicht gekannten Ausmaße erschließen, denn der Grad der Austauschbeziehungen mit Deutschland hat noch bei weitem nicht den optimalen Höhepunkt erreicht, sondern er muß sich bei der gegenwärtigen Sachlage an vielen Punkten noch mit dem kleinsten, nach unten nicht mehr zu unterschreitenden Ausmaße bescheiden. Aber auch nach dem Südosten ergeben sich für die Tschechoslowakei, zusammen mit Großdeutschland (im Gegensatze zur Donauföderation) neue und vermehrte Absatzmöglichkeiten, soweit es sich um Produkte und Fabrikate handelt, die für die dortigen Märkte in Frage kommen (Textilien, Schuhwaren, gewisse Maschinen u. dgl.). Die Tschechoslowakei würde schon viel unter dem Titel eines Anrainers der Donau gewinnen, wenn diese wichtigste mitteleuropäische west- [221] östliche Wasserstraße wieder ein einheitlicher Strom würde und demzufolge die einzelnen Schiffsladungen nicht wie bisher von mehreren Staaten geprüft würden und die Tarife nicht in den unterschiedlichsten Währungen zusammengestellt wären. Im mitteleuropäischen Wirtschaftsblock würden zweifelsohne auch die alten Kanalprojekte, welche auf eine Verbindung des Rheins, der Elbe und der Oder mit der Donau abzielen, schnell der Verwirklichung entgegenreifen.


 
6. Die der Tschechoslowakei im Rahmen Mitteleuropas erwachsenden Sondervorteile

Der Tschechoslowakei käme im Rahmen dieser organischen Lösung noch ein Sondervorteil zugute. Sie könnte nämlich dann das seit der Gründung offene innere Wirtschaftsproblem einer endgültigen Lösung zuführen. Solange man sich aber in Prag als einer der Wächter gegen Deutschland innerhalb des franko-slawischen Alliancesystems fühlt, kann die Tschechoslowakei die hohen Militärlasten, welche die Wirtschaft mit der Zeit zum Verbluten bringen müssen, nicht durchgreifend abbauen (einschließlich der für den militärischen Ausrüstungsbedarf vorgesehenen Summen beanspruchen die Ausgaben für das Heer rund 18% sämtlicher Ausgaben innerhalb des für 1930 aufgestellten Budgets der Staatsverwaltung). Eine derartige Abrüstung könnte erst bei einer entsprechenden Änderung der politischen wie wirtschaftlichen Systemeingliederung erfolgen. Von der produktionspolitischen Seite aus betrachtet, würde sich diese Maßnahme sofort in einer Verbilligung der Produktionskosten (infolge verringerten Steuerdruckes) äußern. Damit wäre gleichzeitig die Möglichkeit gegeben, die vom jeweiligen Umfange des Staatshaushaltes bedingte künstliche Produktionsgrundlage um ein nicht zu unterschätzendes Stück tiefer zu halten, als das mit schweren Reparationslasten auf Jahrzehnte hinaus belastete Deutsche Reich. Die Tschechoslowakei könnte sich dann mit annähernder Sicherheit auf einem Preisniveau stabilisieren, das eine Konkurrenz ihrer typischen Exportfabrikate auf den einzelnen Märkten verhältnismäßig leicht ermöglicht. Die Bindung der Tschechoslowakei an Mitteleuropa (mit vollem Einschlusse Deutschlands) ist heute dringender denn je, da ja bekanntlich auch Prag auf der Haager Konferenz verhalten wurde, in Hinkunft Reparationen zu zahlen, die in den bisherigen Budgets weder im Kapital noch in der laufenden Verzinsung Berücksichtigung gefunden haben. Die von nun an durch 37 Jahre jährlich zu ent- [222] richtenden 80 Millionen tschechoslowakischer Kronen Befreiungstaxe sowie die abzutragenden sogenannten Kriegsschulden an Italien und Frankreich müßten einen noch höheren Steuerdruck als bisher auf die werteschaffende Arbeit und somit Einbußen in der Konkurrenzfähigkeit im Gefolge haben, wenn diese zusätzlichen Lasten nicht durch Abstriche im Militärbudget ausgeglichen werden könnten. Nachdem aber bei einer restlosen politischen Befriedung mit Deutschland diese Reduktion für die Ausgaben der Wehrmacht noch weit über dieses Maß hinausgehen könnte, könnte dieser freie Saldo zur Herabsetzung der Steuern auf das Maß der wirtschaftlichen Tragfähigkeit Verwendung finden; mit anderen Worten ausgedrückt, es könnte dann das noch offene tschechoslowakische Wirtschaftsproblem einer befriedigenden Lösung, mit den bereits angedeuteten Rückwirkungen, zugeführt werden. Die politische und wirtschaftliche Systemeingliederung der Tschechoslowakei in den mitteleuropäischen Komplex würde überdies auch noch mit einem Schlage die innerpolitische Frage des endgültigen Ausgleiches mit der 3½ Millionen Seelen zählenden deutschen Minderheit klären.

Wir mußten bei unseren Betrachtungen so eingehend die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und der Tschechoslowakei behandeln und außerdem noch andeutungsweise auf unerläßlich notwendige politische Voraussetzungen verweisen, da die Tschechoslowakei innerhalb sämtlicher slawischer Donauföderationsprojekte der wichtigste Gegenspieler gegen die deutsche Mitteleuropalösung ist, welch letztere, ausgehend von Großdeutschland, beinahe zwangsläufig in dem von uns angedeuteten Rahmen weiter wachsen muß, bis sie die folgenden Staaten umfaßt: Deutschland, Österreich, Ungarn, Bulgarien; dann weiters Jugoslawien, Rumänien und die Tschechoslowakei und zuletzt Polen. Auch dieser Staat wird nach Bereinigung der Korridorfrage sowie der sonstigen mit Berlin noch offenen politischen Konfliktsfragen zu Mitteleuropa heimkehren müssen, nachdem auch er in seiner Wirtschaft lebenswichtig an Deutschland gebunden ist.


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Die Anschlußfrage
in ihrer kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Bedeutung

Friedrich F. G. Kleinwaechter & Heinz von Paller