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VII. Die großdeutsche Kultureinheit

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Der deutsche Mensch im großdeutschen Raum
Rechtsanwalt Dr. Friedrich F. G. Kleinwaechter, Ministerialrat a. D. (Klagenfurt)

Werden des deutschen Volkes aus der Gemeinsamkeit der Abstammung und des Raumes • Die Ostmark • Die Idee eines deutschen Gesamtstaates im Mittelalter • Der cäsarische Weltstaatsgedanke • Die Reformation • Habsburg • Brandenburg-Preußen • Der deutsche Einheitsgedanke • Bismarck • Die kleindeutsche Teillösung • Der Weltkrieg • Deutsche Wesenheit • "Vertilgung des Deutschtums oder seine Vollendung" • Deutschlands Zweifrontenproblem • Entwicklung des Partikularismus und seine Wirkung auf den deutschen Menschen • Frankreich und die deutsche Einheit • Weltkrieg und Zusammenbruch beschleunigten die Volkwerdung der Deutschen • Kleindeutschland und die Deutschen Österreichs • Der Zweibund und das österreichisch-ungarische Staats- und Reichsproblem • Verfehlte Reichspolitik nach Bismarck • Der Artikel 88 des Staatsvertrages von St. Germain • Gegnerische Argumente gegen den Anschluß • "Die Österreicher ein besonderes Volk" • Die "Besonderheit des österreichischen Volkes" innerhalb des gesamtdeutschen • Begriff des Selbstbestimmungsrechtes • Österreich keine Schweiz • Österreich kein Belgien • Die deutsche Frage in Mitteleuropa.

Voraussetzung für das Entstehen einer völkischen Kultureinheit ist die Gemeinsamkeit der Abstammung und des Raumes einer Volk genannten Menschengesamtheit. Das Gewordensein einer solchen Kultureinheit ist nur zu verstehen aus dem Entwicklungsgang dieser Gemeinsamkeit, das heißt aus der Geschichte des Volkes und seines Raumes.

Wenn wir daher zeigen wollen, daß es eine großdeutsche Kultureinheit gibt, und zwar als Wirklichkeit, nicht als bloße Idee, so müssen wir uns den Verlauf der deutschen Geschichte vor Augen halten.

Tacitus berichtet in seiner Germania von einer altgermanischen Sage, die den Ursprung der Germanen vom Gotte Tuisto herleitet, dessen Sohn Mannus der Stammvater der Germanen wurde, indem von seinen drei Söhnen die drei germanischen Hauptstämme – Ingväonen, Istväonen, Herminonen – abstammen.

Diese Sage ist der Ausdruck der in gemeinsamen erblichen Körpermerkmalen sichtbaren Verwandtschaft der germanischen Völkerschaften. Aber in das Licht der Geschichte treten die Germanen schon als getrennte, wenn auch verwandte Stämme ein. Erst die moderne Wissenschaft faßt sie unter der keltischen, ursprünglich für das zwischen Rhein und Oder seßhafte Volk ver- [224] wendeten Bezeichnung Germanen zusammen und bringt so die ursprüngliche Einheit wieder zum Ausdruck.

Die Völkerwanderung genannte Völkerbewegung treibt diese Völkerschaften aus ihren Wohnsitzen durch die ganze damals bekannte Welt. Die alten Völkerbezeichnungen verschwinden, neue treten auf, äußere Zeichen vom Untergange und Neuentstehen germanischer Völker. Die sich zu Stämmen zusammenschließenden Völkerschaften werden Träger staatlicher Bildungen.

Zum erstenmal faßt Karl der Große die festländischen Germanenstämme zusammen. Aber diese Zusammenfassung bedeutet noch keine "deutsche" Vereinigung. Schaffung eines übernationalen christlichen Weltstaates, als Nachfolger des römischen Imperiums, ist der leitende Gedanke. Erst die Teilung des Reiches im Vertrag von Verdun (843) schafft im ostfränkischen Reich die Grundlage für das Werden eines deutschen Gesamtstaates. Noch immer halten die Stammesherzöge an ihrer Selbständigkeit fest. Erst den sächsischen Kaisern gelingt es, sie zu unterwerfen und damit den Keim für das Entstehen eines deutschen Nationalbewußtseins in die deutsche Erde zu senken. Aber es braucht Jahrhunderte, bis dieser Keim aufgeht. Auch Otto I. fühlt sich als römisch-deutscher Kaiser, als Nachfolger der Cäsaren. Die faszinierende Anziehung südlicher Landschaft und antiker Kultur lockt weg von der eigentlichen heimatlichen Aufgabe. Die deutschen Könige verbrauchen ihre Kräfte im Streben nach der Verwirklichung des römischen Kaisergedankens, während daheim die Lösung der staatlichen Probleme den Sondergewalten, Herzögen und Bischöfen, überlassen bleibt, die nichts wissen von Gemeinsamkeit, sondern nur von Stärkung der eigenen Macht.

Wieder lebt vorübergehend unter den fränkischen Kaisern die Kaisermacht auf. Im Kampf mit den Sondergewalten und dem Papsttum versiegt aber ihre Kraft. Noch einmal erwacht – unter den Staufern – die Idee des deutschen Gesamtstaates. Friedrich Barbarossa zerbricht die Stammesherzogtümer und erhebt das Reich zur höchsten weltlichen Macht. Das Problem scheint gelöst. Aber wieder blendet der lockende Süden den Blick für die drängende Wirklichkeit. In der vernachlässigten Heimat wächst aus den Trümmern der Stammesherzogtümer eine neue, auf Territorialherrschaft gegründete Sondergewalt empor. Konradin, der letzte Staufer, stirbt unter dem Beil eines französischen [225] Henkers. Das deutsche Königtum als Verkörperung des Reichsgedankens ist erloschen.

Nun liegt der politische Schwerpunkt in den Territorien, den Ländern und Städten, deren Herren nur darauf bedacht sind, möglichst viel von der königlichen Macht an sich zu reißen. Nicht mehr der König, sondern die Versammlung der Landesfürsten ist der eigentliche Herrscher im Reich. Darum wählen sie gern den zum König, dem die Macht fehlt, es wirklich zu sein. Zeiten der Anarchie – Interregnum – wechseln mit der Scheinherrschaft von Königen aus verschiedenen Häusern. Rudolf von Habsburg, dem zum deutschen König gewählten Schweizer Grafen, gelingt es zwar, die innere Ordnung wieder herzustellen. Aber auch er ist kein Herrscher im Stile seiner großen Vorgänger, denn ihm fehlt noch das, was allein jetzt dem Herrscher Kraft geben kann, die Hausmacht. So wird nun der Hausmachtgedanke, als zwingende Folge der Verhältnisse, der leitende Staatsgedanke bis in die neueste Zeit, bis – an ihm das Reich zugrunde geht.

Aus der Ostmark, aus Steiermark, Kärnten und Krain, schafft Rudolf sich die Grundlage seiner königlichen Macht. Aber auch ihm gelingt es nicht, dem Werke Dauer zu verleihen. Kämpfe um die Nachfolge zerstören den Reichsgedanken, bis es dem Luxemburger Karl IV. gelingt, die Kaiserkrone wieder zu Ansehen zu bringen, freilich beschränkt durch den in der Goldenen Bulle nun zum Gesetz gewordenen Brauch der Königswahl durch die Landesfürsten. Die Kurfürsten sind nun die verfassungsmäßigen Repräsentanten des Reiches. Damit ist eigentlich, trotz dem äußeren Glanze, das Reich im Kern zerstört.

Auch Karl IV. vermag die Kaiserkrone seinem Haus nicht zu erhalten. Wieder zerrütten innere Fehden das Reich. Mit Albrecht II. kommt die deutsche Königskrone wieder an das Haus Habsburg, um – mit Ausnahme der kurzen Unterbrechung unter Karl VII. von Bayern, 1742 bis 1745 – bei ihm bis zum Untergang des Reiches – 1806 – zu bleiben.

Vergebens sucht Maximilian I. durch die Reichsreform einen deutschen Staat zu schaffen. Der Versuch konnte nicht zum Erfolg führen, weil er für sein Werk die Hilfe der Fürsten brauchte, die aber nicht ernstlich mittun wollten an einem Werk, das ihrer Macht den Boden entzogen hätte.

[226] Inzwischen hatte eine Bewegung das deutsche Volk erfaßt, vom Nordmeer bis in die fernsten Alpentäler, die bis heute nicht beendet ist, die Reformation. Zu allen den vielen politischen Spaltungen kam nun die große Spaltung der Weltanschauung. Gleichzeitig feiert der habsburgische Hausmachtgedanke seinen höchsten Triumph. In Karls V. Reich geht die Sonne nicht unter. Aber es ist ein aus spanischen, burgundischen, italienischen und deutschen Landen zusammengefügtes Imperium, in dem das deutsche Volk eines von vielen ist. Erst die Loslösung aus der Verbindung mit Spanien unter Karls Bruder Ferdinand, die Trennung des Hauses Habsburg in eine spanische und eine österreichische Linie, schafft wieder den Rahmen für ein Deutsches Reich. Wieder ist es der Hausmachtgedanke, der das Werden eines wirklichen deutschen Einheitsstaates verhindert. Die großangelegte Hausmachtpolitik – bella gerant alii: tu felix Austria nube! – vergrößert das Reich um Böhmen und Ungarn, bringt ihm damit freilich den Keim des späteren Verfalls. Die habsburgischen Herrscher werden immer mehr österreichische, immer weniger deutsche Kaiser. Der Dreißigjährige Krieg macht Deutschland zur Wüste. Im Westphälischen Frieden verliert das Reich weite Gebiete. Das Kaisertum ist zur leeren Form herabgesunken. Die Landesfürsten haben die volle Souveränität errungen. Das Reich ist nur mehr ein lockerer Staatenbund. Vergeblich bemüht sich der "immerwährende Reichstag" zu Regensburg, eine neue Reichsverfassung zu schaffen. Der Gedanke eines großen, alle Deutschen umfassenden Staates ist aufgegeben. Die deutsche Kaiserkrone dient nur noch dazu, den Glanz des österreichischen Herrscherhauses zu erhöhen.

Inzwischen wächst eine neue deutsche Territorialmacht heran: Brandenburg-Preußen. Nach dem Tode des letzten männlichen Habsburgers beginnt der Wettkampf zwischen Preußen und Österreich um die Vormachtstellung in Deutschland. Josef II. bemüht sich noch einmal vergeblich, das deutsche Kaisertum wieder zu Ansehen zu bringen. Leopold II. und Franz II. sind nur mehr österreichische Herrscher. Als Ersatz für die verbleichende deutsche Kaiserwürde nimmt Franz 1804 den österreichischen Kaisertitel an – als Franz I. von Österreich – und legt 1806 die deutsche Kaiserkrone nieder. Der Traum vom alten Deutschen Reich ist ausgeträumt.

[227] Aber der Reichsgedanke, der Drang nach Vereinigung aller Deutschen, ist darum nicht erloschen. Er glimmt unter den Trümmern des Reiches weiter. In den Befreiungskriegen wird er zur Flamme. Der 1815 geschaffene Deutsche Bund ist der, zwar mangelhafte, äußere Ausdruck des in der Tiefe lebenden, durch die französische Revolution bedeutsam gewandelten Reichsgedankens. Ins Volk gedrungen, drängte er nun von unten nach Verwirklichung. Die Regierungen sahen zu ihrer Überraschung, daß sie die Geister, die sie in den Befreiungskriegen gerufen, nicht los werden können. Zwei Kräfte wirken jetzt in der Richtung der deutschen Einigung. Die Regierung der deutschen Staaten suchen eine Einigungsform nach altem Muster, wollen die Einigung von oben schaffen. Das durch die französische Revolution zu politischem Leben geweckte Volk will die Einigung in der Form eines deutschen Volksstaates. Der Reichsgedanke ist zum revolutionären Gedanken geworden. Die Regierungen suchen gewaltsam – Karlsbader Beschlüsse – den revolutionären Gedanken zu unterdrücken, hemmen damit aber auch die Einigung. So wird der Deutsche Bund zu einer bloßen völkerrechtlichen Vereinigung zur Erhaltung der äußeren und inneren Ruhe. Der Reichsgedanke kommt auf einen toten Punkt.

Die französische Julirevolution von 1830 gibt dem Reichsgedanken neuen Auftrieb. Unabhängig davon erzwingt das wirtschaftliche Bedürfnis den Preußisch-Deutschen Zollverein und damit den ersten Schritt zur wirtschaftlichen Einigung Deutschlands. Wirtschaftlicher Aufschwung und starke Volksvermehrung sind die Folge. Die in der Revolution von 1848 neuentflammte Freiheitsidee führt von selbst wieder zur Reichsidee. Die Verwirklichung des demokratischen Gedankens erscheint nur möglich in einem großen deutschen Einheitsstaat. So vereinigen sich Demokratie- und Reichsgedanke. Das junge deutsche Parlament bietet dem König von Preußen die deutsche Kaiserkrone an. Der Versuch mißlingt, weil ein solches Reich den Untergang der Einzelstaaten bedeutet hätte. Der König von Preußen lehnt die Krone ab, weil er sie nicht von den Fürsten erhalten kann, nicht vom "Volk" empfangen will. Der Versuch mußte aber auch deswegen mißlingen, weil es im demokratischen Reich keine Lösung gibt für die Einordnung Österreichs. Einordnung mit den weiten, nichtdeutschen Gebieten hätte das Reich gesprengt. Einordnung bloß [228] der deutschen, Sonderstellung der nichtdeutschen Gebiete wäre eine auf die Dauer unhaltbare staatsrechtliche Konstruktion gewesen. Das Problem der deutschen Einigung ist wieder unlösbar.

Bismarck erscheint. Er erkennt, daß der Knoten nicht aufzulösen, sondern nur zu durchhauen ist. Das Reich kann nur ohne die nichtdeutschen Gebiete Österreichs geschaffen werden und, da diese nicht von Österreich abtrennbar sind, also nur ohne Österreich. Es kann nicht geschaffen werden auf demokratischer Basis wegen des Widerstandes der Fürsten, also muß es geschaffen werden als Bund der Fürsten.

Der Kampf um die Verdrängung Österreichs aus Deutschland beginnt. Mit diplomatischen Mitteln und schließlich mit ihrer Fortsetzung, dem Krieg von 1866. Österreich ist aus Deutschland ausgeschieden, die Bahn frei für das neue Reich, das als "ewiger Bund" der Fürsten – also von oben – geschaffen wird, nachdem der Krieg von 1870/71 das letzte äußere Hindernis hinweggeräumt hat. Am 18. Jänner 1871 wird im Spiegelsaale des Schlosses von Versailles der König von Preußen zum deutschen Kaiser ausgerufen.

Die deutsche Frage ist endlich gelöst. Aber es ist nur eine Teillösung, denn Millionen ehemaliger Reichsgenossen, die österreichischen Deutschen, stehen außerhalb des Reiches. Bismarck weist den verloren Dastehenden eine neue nationale Aufgabe zu. Sie haben die nichtdeutschen österreichischen Völker zu "führen", als Flankendeckung für das Reich, das sich im übrigen an ihnen "desinteressiert" erklärt. Diese Aufgabe ist aber nur so lange zu erfüllen, als der kulturelle und wirtschaftliche Vorsprung der österreichischen Deutschen vor den Nichtdeutschen das Mißverhältnis der Zahl ausgleicht. Mit dem Emporkommen der Slawen werden die Deutschen auch zur politischen Minderheit. Ihre Aufgabe schrumpft zusammen auf das Ringen um die Selbsterhaltung. Die Österreichisch-Ungarische Monarchie entwickelt sich zum unlösbaren Problem. Wieder durchhaut ein Krieg – der Weltkrieg – einen politischen Knoten. Der gemeinsame Kampf läßt das Gemeinschaftsgefühl der Deutschen hüben und drüben in hellen Flammen emporlodern. Sein Ausgang zertrümmert die Österreichisch-Ungarische Monarchie. Aber er schafft endlich die Möglichkeit zur Verwirklichung des Reichsgedankens. Die österreichischen Deutschen sind frei. Sie folgen nur einem in der [229] Tiefe wirkenden Gesetz, indem die Provisorische Nationalversammlung am 12. November 1918 verkündet: Deutschösterreich ist ein Bestandteil der deutschen Republik.

In diesen geschichtlichen Entwicklungsgang greift – als deus ex machina – die Entente mit ungeschickter Hand ein, zwingt die österreichischen Deutschen in einen "selbständigen" Staat und verhindert so die Lösung eines tausend Jahre alten Problems.


Diese Geschichte ist im Grunde nichts anderes als ein tausendjähriger Kampf des deutschen Menschen um seine Wesenheit und seinen Raum, ein Kampf, der sowohl im Innern wie nach außen geführt werden muß. Denn so wie der deutsche Staat bis heute keine festen endgültigen Grenzen, also noch keine feste Form gefunden hat, so hat auch der deutsche Mensch seine Form noch nicht gefunden. Auch bei ihm "schwimmen" noch die Grenzen um den Kern. Hier liegt die Ursache dessen, was man am Deutschen als "unausgeglichen", "widerspruchsvoll" und beunruhigend findet, denn alles, was man nicht verstehen kann, wirkt beunruhigend. Deutsche Wesenheit ist eben für den Nichtdeutschen sehr schwer zu verstehen, weil sie noch nicht fertig ist, weil darum alle fremden Maßstäbe versagen, besonders die der romanischen Völker mit ihrem ausgebildeten Formbewußtsein, die beim Messen deutliche Begrenzung des zu Messenden als selbstverständlich voraussetzen und daher immer wieder vor dem deutschen Menschen als etwas Irrationalem stehen. Dieses bezeichnend deutsche Irrationale tritt ebenso zutage in seinen Menschen wie in seiner Musik, seiner Dichtkunst und seiner Malerei. Dieses Problem wird nicht dadurch gelöst, daß man das Deutschtum bekämpft, sondern dadurch, daß man ihm zur Vollendung verhilft. Vielleicht liegt die Tragik Europas darin, daß die andern diese Zusammenhänge nicht erkennen. Denn würden sie sie erkennen, dann wüßten sie, daß es nur zwei Wege gibt: Vertilgung des Deutschtums oder seine Vollendung. Da den ersten Weg wohl auch die haßerfülltesten Feinde als ungangbar erkannt haben, bleibt nur der zweite übrig. Es ist darum jedes Hindernis, das auf diesen Weg gelegt wird, eine Versündigung an der europäischen Menschheit.

[230] Franzosen und Engländer sind zur Einheit von Volk und Raum gelangt, bevor noch solche Einheit zur leitenden politischen Idee geworden war, bevor sie in den Kampf um ihre Großmachtstellung eingetreten sind. Glückliche Grenzen haben ihnen die Möglichkeit gegeben, eine Arbeit in der Vergangenheit zu leisten, die die Deutschen in der Zukunft erst werden leisten müssen. England ist als Insel, Frankreich durch zwei Meere und zwei mächtige Gebirgszüge geschützt. Und es ist kein Zufall, daß Frankreich die schwersten Kämpfe um seine "Form" immer im Nordosten ausgefochten hat.

Der deutsche Raum ist im Osten wie im Westen ohne natürlichen Schutz. Alles, was vom Osten nach Europa hereinbricht, flutet über deutschen Boden. Immer mußte das deutsche Volk an zwei langgestreckten Fronten Wache halten, als Puffer zwischen dem Osten und dem Westen, Asien und Europa. Immer wurde die Arbeit an der inneren Form durch den Kampf um die äußere unterbrochen. Der Weltkrieg war die letzte, gewaltigste Unterbrechung.

Alle Einigungen der Deutschen in ihrer tausendjährigen Geschichte waren mechanische Vermengungen, keine organischen Verbindungen. Der Karolingerstaat war eine gewaltsame Zusammenfassung getrennter Stämme. Aber auch die Vereinigung unter den sächsischen und fränkischen Königen war noch nicht mehr als ein Rahmen. Der deutsche Mensch hätte werden können, wenn das Deutsche Reich des Mittelalters sich hätte organisch weiterentwickeln, aus dem Lehensstaat in den modernen Staat hätte hineinwachsen können. Diesen Rahmen konnte nur eine Macht, die Kaisermacht, zusammenhalten. Aber sie hat versagt. Die Idee eines cäsarischen Weltstaates zog sie von ihrer eigentlichen Aufgabe ab und ermöglichte so die Entstehung der Territorialmächte, die schließlich den Rahmen sprengten.

Diese Entwicklung mußte entscheidend für die Gestaltung des deutschen Menschen sein. Die Höfe der Länder werden zu politischen und in weiterer Folge zu kulturellen Mittelpunkten. Der Kaiser ist weit, nahe ist der Landesherr. Der erwachende Landespatriotismus verdrängt den Reichspatriotismus. Indem der Landesherr seine Macht zu stärken sucht, schwächt er den Reichsgedanken. Schließlich muß – vom Landesherrn gesehen – der Reichsgedanke zum revolutionären Gedanken werden. Dazu [231] kommt noch, daß der Landesherr im absoluten Staat über die stärksten Mittel zur Förderung des Landesgedankens verfügt. Wie die Geschichte uns zeigt, haben die deutschen Landesherren von diesen Mitteln ausgiebigsten Gebrauch gemacht. Wenn sie Prunkbauten aufführen, Universitäten und Theater schaffen, Gelehrte und Dichter an ihre Höfe ziehen, so geschieht es nicht bloß aus Freude an Kunst und Wissenschaft, aus Eitelkeit und dem Streben, es den Großen gleich zu tun, sondern aus bewußtem oder unbewußtem Erkennen, daß sie damit ihren eigenen politischen Zwecken, Stärkung ihrer Sondermacht, dienen. Nicht zu bestreiten ist, daß hiedurch eine Vielheit und Vielgestaltigkeit deutscher Kulturmittelpunkte geschaffen wurde, die aufeinander wirkend ein Geistesleben zur Blüte gebracht haben, für das es in der Geschichte wenige Beispiele gibt. Freilich um den Preis, daß die seelische Entwicklung nicht in die Weite führte, in der Richtung zur Vereinheitlichung, zum Entstehen eines deutschen Menschen, sondern in die Enge, zum besonderen Landesangehörigen. Man wird nicht Deutscher, sondern Sachse, Bayer, Österreicher, Preuße. Die Nachbarn fördern diese Entwicklung, denn sie möchten, daß in alle Ewigkeit die Deutschen sich mit der Rolle der Dichter und Denker begnügen. Deutsches Einigkeitsstreben wird zum unfreundlichen Akt, ja 1870 zum Casus belli für Frankreich, das die deutsche Zersplitterung als sein Menschenrecht ansieht. Nicht anders ist es 1918, wo der Wunsch Frankreichs, das Reich wieder in seine Bestandteile zu zerlegen, am Widerstand seiner Bundesgenossen scheiterte, nicht anders heute, wo Frankreich derjenige Staat ist, der die Vereinigung der österreichischen Deutschen mit dem Reich am schärfsten bekämpft.

Es ist zu wundern, daß bei solchem Erleben der Reichsgedanke nicht vollständig erloschen ist. Immer wieder quillt er aus der Tiefe hervor und fordert Verwirklichung. Dies beweist, daß es sich hier nicht um politische Erfindung einzelner Chauvinisten handelt, sondern um das Ans-Licht-Drängen in der Tiefe lebender und wirkender Kräfte, daß trotz aller Stammesverschiedenheiten allen Deutschen ein innerer Kern gemeinsam ist.

Die Bismarcksche Reichsgründung schien die Verwirklichung eines tausendjährigen Strebens. Wenn auch das Reich ein Bund der Fürsten war, der Bestand der Länder also erhalten blieb, der Reichsgedanke drang dennoch in die Tiefe. Ohne daß die Reichs- [232] verfassung sich geändert hätte, wuchs der deutsche Kaiser über einen primus inter pares zum wirklichen "Kaiser" hinaus, sanken die Bundesfürsten zu "Vasallen" herab. Als 1914 das Reich in den Kampf trat, gab es keine Länder mehr, sondern nur ein Reich.

Ein deutscher Mensch war im Werden begriffen. Wie weit seine Entwicklung bereits fortgeschritten war, hat 1918 bewiesen. Lautlos sanken die Landesfürsten, die Verkörperungen der Landespatriotismen, dahin. Ereignisse, die ein Menschenalter früher sicher zum Zerfall des Reiches, zum Wiedererstehen zahlreicher deutscher Einzelstaaten geführt hätten, kitteten die Deutschen um so fester aneinander. Und was jetzt sich im Reich abspielt, ist, wenn man sich den Blick durch manche üble Begleiterscheinung nicht trüben läßt, unverkennbar eine neue, beschleunigte Entwicklung in der Richtung zum deutschen Menschen. Wenn um "Zentralismus" und "Föderalismus", "Bundesstaat" und "Einheitsstaat" oder "dezentralisierten Einheitsstaat", um "Auflösung", "Auflockerung" oder "Aufhebung" Preußens gestritten wird, es ist das äußere Wellengeplätscher eines in der Tiefe sich abspielenden soziologischen Prozesses. Der deutsche Mensch ist im Werden begriffen, ob Freunde und Feinde es wollen oder nicht. Hier hat die Revolution ein Problem mit einem Schlag gelöst, für das auf normalem Wege keine Lösungsmöglichkeit sichtbar war, das aber dennoch hätte gelöst werden müssen, um den deutschen Menschen zu verwirklichen, nämlich die Beseitigung der der Vollendung des Reichsgedankens im Wege stehenden Landesfürsten. Auf die Dauer wäre diese komplizierte Staatsform nicht haltbar gewesen. Ein Deutsches Reich als Bund von 25 Staaten, darunter 22 monarchisch und 3 republikanisch regierte, und einem Reichsland, konnte, wenn man zum Ziele gelangen wollte, nur eine Übergangsform sein. Die Bundesfürsten mußten, ob sie wollten oder nicht, Sammelpunkte für die Erhaltung der Landespatriotismen bleiben, mußten, wenn sie nicht den Boden unter ihren Füßen schwinden sehen wollten, die Stärkung des Reichsgedankens über ein gewisses Maß zu verhindern trachten. Je länger das Reich bestand, desto anachronistischer mußte seine Form werden. Die Frage ist heute nicht zu beantworten, ob eine Lösung zu finden gewesen oder wieder einmal das Reich an seinen Einzelstaaten zugrunde gegangen wäre; ob eine im Laufe der Zeit zur leeren Form verblaßte Landesherrschaft still oder unter [233] schweren inneren und dann wahrscheinlich auch äußeren Verwicklungen verschwunden wäre. Erst heute sehen wir, wie unfertig das Reich und seine Menschen waren. Sie waren aber auch noch aus einem anderen Grunde unfertig.

Die Bismarcksche Reichsgründung war unter den damaligen Voraussetzungen die einzig mögliche Lösung, aber sie war nur eine Teillösung, ein zweckmäßiger, aber doch nur ein erster Schritt, denn sie war die kleindeutsche Lösung, sowohl was den Raum, wie was den Menschen betrifft. Daß dies nicht erkannt wurde, ist der schwerste politische Fehler der Reichspolitik.

Kleindeutschland hatte nur so lange einen Sinn, als die Verwirklichung von Großdeutschland undurchführbar war. Das "Desinteressement" an den österreichischen Deutschen war ein politischer Gedanke, solange zwei Voraussetzungen vorlagen: noch nicht vollendete Festigung des Reiches, um den Kampf um Großdeutschland aufzunehmen; deutsche Führung in Österreich.

In dem Augenblicke, wo durch das Emporkommen des Slawen die deutsche Führung gefallen war, war auch die wichtigste Voraussetzung für das "Desinteressement" an den österreichischen Deutschen gefallen. Die bisherige Politik der Österreichisch-Ungarischen Monarchie gegenüber hatte damit ihren Sinn verloren. Wenn Bismarck sein eigener Nachfolger gewesen wäre, er wäre der letzte gewesen, der dies nicht erkannt hätte. Geänderte Voraussetzungen fordern eine geänderte Politik. Jetzt hätte es nur eine Politik gegeben, nämlich die deutschen Gebiete der Monarchie als deutsche Interessensphäre zu betrachten und alles für den Zeitpunkt vorzubereiten, wo sich die Möglichkeit ergibt, diese Gebiete für das Reich zu erwerben. Diese Politik wäre, abgesehen von dem zu erwartenden Gewinn, schon aus dem Grunde Gebot gewesen, weil eine nicht mehr deutsch-magyarisch geführte Monarchie in ihrer bisherigen Gestalt nicht zu erhalten gewesen wäre. Die Entwicklung der slawischen Völker drängte zu einer Lösung, die nur zwei Möglichkeiten offen ließ: Umbau der Monarchie in einen vielvölkischen Bundesstaat, der schließlich auch die Balkanvölker in seinen Machtbereich zieht, oder Umkehrung der Anziehungskräfte, das heißt Zerfall. Die erste Lösung hätte zu einem großen, wegen seiner erdrückenden slawischen Mehrheit slawisch geführten Staat geführt, der unvermeidbar in Gegensatz zum Reich hätte kommen müssen. Ihn unter Opferung der österreichi- [234] schen Deutschen zu erhalten, wäre heller Wahnsinn gewesen. Die zweite Lösung wäre auch ohne Weltkrieg kaum ohne schwere europäische Verwicklungen möglich gewesen. Eine entsprechende diplomatische und innerpolitische Vorbereitung für diesen Fall hätte dem Reich das durchsetzbare Recht geben müssen, die deutschen Gebiete für sich zu fordern. Eine solche Stellungnahme zum Problem der österreichisch-ungarischen Monarchie hätte zur völligen Umorientierung der deutschen Außenpolitik führen müssen. Verständigung mit England: England erste Macht zur See, das Deutsche Reich erste Macht zu Land, dafür freie Hand den deutschen Gebieten der Monarchie gegenüber.

Statt diese Zusammenhänge zu erkennen und danach seine Politik einzurichten, machte das Reich eine Politik, als stünde vor ihm noch das Österreich-Ungarn von 1871. Geblendet von diesem Trugbild, verlor es sein nationales Ziel und damit auch sein Lebensziel aus den Augen und verband sich in verderblicher Schicksalsgemeinschaft mit dem in seiner bisherigen Form unhaltbaren Donaustaat. Wie sinnwidrig diese Politik des Reiches war, zeigt sich am deutlichsten, wenn man sich einen Sieg der Mittelmächte vorstellt. Das Reich wäre dann erst recht gezwungen gewesen, an dem Umbau der Monarchie in einen slawisch geführten Völkerstaat mitzuwirken – denn ein Zurückschrauben der Entwicklung zu einem deutschgeführten Österreich, wie naive politische Denker ihn vom Sieg erhofften, wäre nicht mehr möglich gewesen – und damit sich einen Feind an seiner Grenze zu züchten. Hier liegt der letzte Grund, warum es für das Reich eigentlich kein Kriegsziel gab.

Der Krieg hat die verfehlte Reichspolitik mit harter Faust gerächt. Nun gilt es, wieder zurückzufinden zum eigentlichen wahren nationalen Ziel, zum deutschen Menschen im großdeutschen Raum.

Das von der Entente als Kriegsziel verkündete Selbstbestimmungsrecht der Völker schien dieses Ziel in greifbare Nähe gerückt zu haben. Aber kurzsichtiger, politischer Eigennutz verführte die Sieger dazu, ihr eigenes Ideal zu verraten.

Im Friedensvertrag von St. Germain verhinderten die Sieger die Durchführung der von der österreichischen Provisorischen Nationalversammlung beschlossenen Vereinigung der österreichischen Deutschen mit dem Reich. Die Vereinigung zu verbieten – [235] was härter, aber aufrichtiger gewesen wäre –, wagten sie doch nicht. So kleideten sie die Verhinderung der Vereinigung scheinheilig in die Form der Sicherung der österreichischen "Unabhängigkeit". Die Bestimmung des Artikels 88 des Vertrages von St. Germain ist eine der größten offiziellen Unaufrichtigkeiten des letzten Jahrhunderts, die nur deswegen so wenig Aufsehen macht, weil die wenigsten Menschen den einen dicken Band bildenden Vertrag lesen. Jemand, der von der Anschlußfrage nichts weiß, würde aus den Worten des Artikels 88 "Die Unabhängigkeit Österreichs ist unabänderlich, es sei denn, daß der Rat des Völkerbundes einer Abänderung zustimmt", niemals auf den Einfall kommen, daß der Zweck dieser Bestimmung die Verhinderung der Vereinigung der österreichischen Deutschen mit dem Reiche ist. Zu dieser offiziellen Unaufrichtigkeit wird noch die offiziöse gefügt, indem die Kundgebungen der Entente in der Anschlußfrage die Bestimmung des Artikels 88 immer in ein Verbot des Anschlusses umdeuten.

Diese Haltung der Entente ist symbolisch. Nichts hätte die Sieger hindern können, ein Anschlußverbot auszusprechen. Wenn sie es nicht taten, so ist dies ein Beweis dafür, daß es psychologische Kräfte gibt, die sich selbst von der stärksten Gewalt nicht völlig beugen lassen, daß die Selbstherrscher in den Pariser Vororten auf Hemmungen stießen, die sie nicht zu überwinden vermochten. Diese Hemmungen schafft der in der Tiefe sich abspielende soziologische Prozeß des deutschen Werdens. Die innere Unsicherheit der Siegerstaaten der Anschlußfrage gegenüber tritt bei jeder Gelegenheit zutage. Mit einem ungeheuren Aufwand von Dialektik suchen ihre Staatsmänner, ihre Presse, diesen schwachen Punkt in ihrer Politik zu verschleiern.

Die Geschichte beweist, daß auch die scheinbar festesten politischen Kombinationen dem Wandel der Zeiten, oft kurzer Zeiten, unterworfen sind. Es ist nicht so lange her, daß das Hissen der französischen Flagge in Faschoda durch den Leiter der französischen Sudanexpedition, Marchand (1898), um ein Haar einen Krieg zwischen Frankreich und England entfacht hätte, daß die Beschießung einer englischen Fischerflottille durch die russische Ostseeflotte bei der Dogger-Bank (1904) den alten englisch-russischen Gegensatz knapp vor die gewaltsame Erledigung gedrängt hat. Trotzdem kämpften im Weltkrieg Frankreich, England und [236] Rußland als Bundesgenossen. Die Möglichkeit, daß eine Gestaltung der europäischen Politik eintritt, bei der der Völkerbundrat der Vereinigung zustimmt oder sie wenigstens widerspruchslos duldet, gehört daher durchaus nicht in das Reich der Phantasie.

Das wissen die Anschlußgegner auch. Und nun greifen sie zu einem Mittel, das sich auf jene Kräfte beruft, die zur Vereinigung aller Deutschen drängen. Dieses Mittel ist die Behauptung, die österreichischen Deutschen seien keine Deutschen, sondern ein besonderes Volk, dessen nationale Selbständigkeit gegen die Eroberungsgelüste des Deutschen Reiches geschützt werden müsse.

In der Anwendung dieses Mittels liegt eigentlich die Anerkennung der Gründe, die für den Anschluß geltend gemacht werden, denn damit wird zugegeben, daß, wenn die Österreicher Deutsche sind, der Widerstand gegen den Anschluß der sittlichen Begründung entbehrt. Und es ist höchst bezeichnend, daß so die Gegner ohne ihren Willen durch die Macht einer Idee schließlich gezwungen werden, mit der Umdeutung einer Anschlußbegründung ihr Glück zu versuchen, die dann zu so verstiegenen Schlußfolgerungen führt, wie Briands Behauptung, der Anschluß sei unzulässig, weil er den Untergang des österreichischen Volkes, daher Selbstmord bedeute, und keinem Volke das Recht auf Selbstmord zuerkannt werden könne.

Die planmäßige Umdeutung der österreichischen Deutschen in ein besonderes österreichisches Volk, so fadenscheinig sie auch sein mag, rechnet mit der Unkenntnis der Welt über das österreichische Land und seine Menschen. Darum müssen Dinge wiederholt werden, die für den Kenner Selbstverständlichkeiten sind.

Daß die Menschen in Österreich deutsch sprechen, wird auch von den heftigsten Anschlußgegnern zugegeben. Deswegen sollen sie aber noch keine Deutschen sein. Ein französisches Blatt hat in jüngster Zeit sogar behauptet, die Österreicher seien so sehr mit romanischem Blut gemischt, daß sie den Franzosen näher verwandt seien als den Deutschen im Reich. Wenn auch derartige, die Geschichte auf den Kopf stellende Behauptungen keiner Widerlegung bedürfen, sie sind doch bezeichnend für die Methode und das Maß der Urteilsfähigkeit der Leser, denen offenbar solche [237] Märchen ungestraft zugemutet werden können. Daß das Gebiet der heutigen Republik Österreich ebenso wie die übrigen deutschen Gebiete von deutschen Stämmen besiedelt wurde, die heutigen Österreicher die Nachkommen von Bajuvaren, Schwaben, Franken, Sachsen sind, beweist ein Blick in ein beliebiges Lehrbuch der deutschen oder österreichischen Geschichte. Diese Tatsachen werden von den Anschlußgegnern auch nicht offen bestritten. Aber man spricht nicht von ihnen, um sie, wo sie bekannt sind, vergessen zu machen, wo sie nicht bekannt sind, nicht ans Licht zu ziehen. Um so eifriger wird eine Theorie, die die Besonderheit des österreichischen Volkes beweisen soll, verfolgt und ausgebaut, die Theorie, eine vom Reich getrennte Entwicklung habe den österreichischen Menschen im Verlaufe der Zeit so umgestaltet, daß er zu einem besonderen, vom deutschen Menschen grundverschiedenen Menschen geworden sei.

Diese Theorie hat schon mehr Aussicht auf Beifall, weil sie sich verschwommener, schwer faßbarer Begriffe bedient, und es schließlich immer eine Frage des Geschmackes oder Absicht sein wird, wo man die Grenze zwischen Stammesbesonderheit und eigener Volkheit ziehen will. Man kann ebensogut begründen, daß die Provençalen und Katalanen besondere Völker sind, wie daß die Holländer zu den Deutschen gehören. Die Entscheidung kann immer nur die betreffende Menschengemeinschaft selbst treffen. Wohin sie selbst sich als völkisch gehörig fühlt, dorthin gehört sie. Die Schweizer Deutschen fühlen sich als Schweizer. Ihr Gemeinschaftsgefühl gegenüber der Eidgenossenschaft ist stärker als das den Stammesgenossen im Reich gegenüber. Also haben sie das Recht, eine Vereinigung mit dem Reich abzulehnen und mit den Angehörigen anderer Nationen einen Staat zu bilden. Ebenso haben die österreichischen Deutschen das Recht, sich mit ihren Volksgenossen im Reich zu vereinigen, wenn sie es wollen. Macht man die staatliche Zugehörigkeit eines Volkes von Umständen abhängig, die außerhalb seines Willens liegen, dann nimmt man dem Begriff des Selbstbestimmungsrechtes seinen Inhalt, macht ihn zu einem hohlen Schlagwort, in das jeder hineinlegen kann, was er will. Es geht auf die Dauer nicht, in demselben Atemzug das Selbstbestimmungsrecht der Völker als Ideal zu verkünden und, wenn es aus politischen Gründen vorteilhaft erscheint, es wieder zu verbieten. Briand soll einmal in einem Ge- [238] spräch über dieses Thema gesagt haben, man möge ihn mit dem Selbstbestimmungsrecht schon endlich in Ruhe lassen. Ich zweifle nicht daran, daß die Sieger dieses Wort, das sie in die Welt geworfen, schon oft verflucht haben. Aber das wäre vorher zu überlegen gewesen. Jetzt werden Herr Briand und seine Mitsieger nicht mehr in Ruhe gelassen werden.

Im Begriff des Selbstbestimmungsrechtes liegt aber noch ein Gedanke, der merkwürdigerweise gar nicht beachtet wird. Für den Begriffsinhalt des Selbstbestimmungsrechtes ist es keineswegs wesentlich, daß die Menschengesamtheit, die sich in einem Staate vereinigen will, dem gleichen Volke angehören muß. Es ist nicht einzusehen, wie man, wenn man das Recht auf Selbstbestimmung der staatlichen Zugehörigkeit anerkennt, zwei Völkern das Recht auf Vereinigung nur deswegen absprechen kann, weil sie zwei verschiedene Völker sind. Ein lebendiges Beispiel für eine solche Vereinigung ist die Schweiz. Hier haben sich Deutsche, Franzosen und Italiener in einem Staate vereinigt, obwohl sie verschiedenen Völkern angehören, die besondere nationale Staaten – unmittelbar angrenzend – geschaffen haben. Nach der den österreichischen Deutschen gegenüber angewendeten Theorie, daß der Anschluß wegen der völkischen Eigenart der Österreicher unzulässig sei, müßte man die Schweiz gegen ihren Willen in ihre nationalen Bestandteile zerreißen und diese dann entweder den betreffenden gleichnationalen Nachbarstaaten zuteilen oder zur Bildung selbständiger Staaten zwingen. Ebenso kann man, wenn man logisch bleiben will, Österreich nicht zur Vereinigung mit dem Reiche zwingen, wie man ihm diese Vereinigung nicht verbieten kann. Die Österreicher hätten das Recht, sich mit dem Reiche zu vereinigen, auch wenn sie keine Deutschen wären. Gilt das Selbstbestimmungsrecht, dann haben über diese Frage nur Österreich und das Deutsche Reich zu entscheiden, einerlei, wohin man ihre Staatsbürger völkisch einreihen will.

Nur weil diese unbestreitbare Schlußfolgerung nicht gezogen wird, gehe ich auf die Frage ein, ob die österreichischen Deutschen infolge einer vom Reich getrennten Entwicklung zu einem besonderen Volk geworden sind.

Die österreichischen Deutschen sind, wie wir gesehen haben, ebenso deutschsprechende Abkömmlinge von deutschen Stämmen, wie die Deutschen im Reich. Abkömmlinge der Bajuvaren, Sach- [239] sen, Franken und Alemannen bewohnen weite Gebiete im Reich ebenso wie in Österreich. Nun wäre es wohl denkbar, daß im Laufe einer langen Geschichte ein abgetrennter Teil eines Volkes sich in einer anderen Richtung entwickelt, so daß man wirklich trotz Gemeinsamkeit der Sprache und Abstammung von einem neuen Volk sprechen kann. Die Nachkommen englischer Einwanderer in Kanada und Australien sind heute schon wesentlich verschieden von den Engländern der britischen Inseln. Sie fühlen sich schon als Kanadier und Australier, und es ist nur eine Frage der Zeit, daß sie neue, von den Engländern verschiedene Völker sein werden. Noch mehr gilt dies von den Nordamerikanern, die – besonders infolge Rassenmischung – heute bereits ein eigenes Volk sind. Aber gerade diese Beispiele beweisen, wie lange auch unter ungünstigen Bedingungen sich ein Volkscharakter erhalten kann. Denn alle diese "neuen" Völker sind durch weite Räume vom Mutterlande getrennt, leben in völlig verschiedenen Klimaten, unter durchaus anderen Lebensbedingungen, so daß alle Voraussetzungen zum Entstehen neuer Völker gegeben sind. Trotzdem fühlen sich die englischen Kolonien mit dem Mutterlande immer noch so eng verbunden, daß sie im Weltkrieg freiwillig an seiner Seite gekämpft haben. Selbst die Vereinigten Staaten, die sich vom Mutterlande losgerissen haben und auf dem Wege der Entwicklung zum besonderen Volk am weitesten fortgeschritten sind, hängen noch durch zahlreiche Fäden mit dem alten England zusammen. Niemand würde den Kanadiern oder Australiern, wenn es praktisch möglich wäre, das Recht, ihre staatliche Selbständigkeit aufzugeben und sich mit dem Mutterlande zu vereinigen, mit der Begründung absprechen, daß sie besondere Völker seien. Betrachten wir daneben den Fall der Österreicher, so sehen wir, daß er mit ihnen gar nicht zu vergleichen ist.

Österreich bildet mit dem Reich eine geographische Einheit. Daß seine Geschichte bis auf die Zeit von 1866 bis 1914 – denn im Krieg waren beide ja praktisch wieder eine Einheit – gemeinsame deutsche Geschichte ist, kann nicht bestritten werden. Es ergibt sich also, daß neben einer mehr als tausendjährigen gemeinsamen Geschichte eine 48jährige getrennte Geschichte steht. Es wäre geradezu ein einzig dastehendes geschichtliches Wunder, wenn die österreichischen Deutschen es in dieser kurzen Spanne Zeit dazu gebracht hätten, ein besonders Volk zu werden. Aber [240] auch in dieser Zeit der politischen Trennung hat die Kulturgemeinschaft zwischen ihnen und dem Reich nie aufgehört. In Wissenschaft und Kunst, wie überhaupt im Geistesleben, hat es Grenzen überhaupt nie gegeben. Man könnte ganze Seiten mit den Namen von österreichischen Staatsmännern, Heerführern, Gelehrten, Schriftstellern, Künstlern füllen, die entweder unmittelbar aus dem Reich nach Österreich gekommen sind oder von Reichsdeutschen abstammen. Auch in den übrigen Schichten, insbesondere in Industrie, Handel und Gewerbe, sind aus dem Reich stammende Familien keine Seltenheit. Umgekehrt gibt es wieder zahllose Österreicher im Reich. Dieser durch die Jahrhunderte währende Austausch der Menschen hat nie eine Unterbrechung erfahren. Die Entstehung eines besonderen deutschösterreichischen Menschen kam aber schon aus dem Grunde gar nicht in Frage, weil die die heutige Republik Österreich bildenden Gebiete in der alten Monarchie niemals eine Einheit gebildet haben. In politischer Beziehung, im Kampfe mit den anderen österreichischen Nationen, fühlten sich die Deutschen wohl als Einheit. Aber diese Einheit umfaßte nicht bloß die Deutschen der jetzigen Republik Österreich. Dazu gehörten auch die 3,6 Millionen Deutschen Böhmens, Mährens und Schlesiens, die Deutschen in Südtirol, Südsteiermark, Krain, die an andere Staaten verteilt wurden. Wenn man also behauptet, die österreichischen Deutschen seien ein besonderes Volk, für das ein eigener Staat errichtet werden müsse, dann hätte man alle die abgetrennten Deutschen, insbesondere die, die man der Tschechoslowakei ausgeliefert hat, der Republik Österreich zuteilen sollen. Hier hat aber auf einmal die Besorgnis um die Erhaltung des "österreichischen Volkes" aufgehört.

Die heutige Republik Österreich ist ein künstlich, ohne jede Rücksicht auf die Geschichte geschaffener Staat, dem darum auch alle psychologischen Voraussetzungen für eine staatliche Einheit fehlen. Deswegen fehlt dem neuen Staat auch das Staatsgefühl. Man fühlt als Kärntner, Tiroler oder Steirer und dann als Deutscher, aber nicht als Österreicher. Der mit dem Zerfall der Monarchie aufflammende Anschlußwille entsprang daher nicht irgendwelchen politischen Absichten, sondern war der selbstverständliche instinktive Ausbruch des nationalen Gefühls, das Verlangen, dorthin zu kommen, wohin man nach Abstammung und durchlebter Geschichte hingehört.

[241] Die Österreicher sind ein deutscher Stamm, wie die anderen deutschen Stämme. Als solche haben sie ihre Eigenarten, die niemand leugnen will. Aber niemand, der nicht allen Tatsachen ins Gesicht schlagen will, kann behaupten, die Eigenart des österreichischen Stammes ginge so weit, daß sie ihn von den übrigen deutschen Stämmen stärker unterschiede, als die deutschen Stämme sich untereinander unterscheiden. Daß der Österreicher seiner Stammeseigenart nach dem Bayer verwandt und näher verwandt ist, als der Bayer dem Preußen, wird auch der verbissenste Anschlußgegner nicht bestreiten. Wenn also Bayern und Preußen als Deutsche, als Angehörige desselben Volkes im selben Staat vereinigt sein können, ist nicht einzusehen, warum nicht auch die Österreicher dazu gehören dürfen. Wenn man die Österreicher als besonderes Volk erklärt, dann gibt es in Europa überhaupt keinen Nationalstaat mehr. Dann muß man Frankreich, Italien, Spanien, selbst England – von Rußland gar nicht zu reden – in ungezählte Teile zerlegen, denn alle diese Staaten weisen in ihren Bevölkerungen Stammesunterschiede auf, die weitaus größer sind, als die zwischen den Österreichern und den Bayern. Wenn man die Unterscheidungen so weiter treibt, dann müßte man auch das kleine Österreich in eine Reihe von Staaten zerlegen, denn auch die Tiroler, Kärntner, Steirer, Oberösterreicher, Vorarlberger usw. haben ihre Eigenart, ihre Mundart, die jeder Österreicher sofort erkennt. Man kommt schließlich zu dem Ergebnis, daß jedes Tal in den österreichischen Alpen seine Besonderheit hat – der Oberkärntner z. B. spricht eine andere Mundart als der Unterkärntner – und darum ebenso einen eigenen Staat bilden sollte, wie etwa der Wiener Bezirk Währing, dessen Bewohner nach der Ansicht eingesessener Wiener nach Sprache und Eigenart einen besonderen Typus darstellen. Man sieht, man landet, wenn man die gegen den Anschluß geltend gemachten Gründe auf ihre Logik untersucht, beim Unsinn.

Eine sehr beliebte Einwendung gegen den Anschluß ist der Hinweis auf die Schweiz und Belgien, die ebenfalls selbständige Staaten sind, obwohl ihre Angehörigen Nationen angehören, die eigene nationale Staaten gebildet haben. Auch hier wird auf die Unkenntnis der Welt gerechnet, denn diese Vergleiche stimmen nicht.

Bereits im 12. Jahrhundert haben die Schweizer Urkantone nach Selbständigkeit gestrebt, die sie sich in der Schlacht am [242] Morgarten (1315) erkämpft haben. Im Verlaufe des 14. und 15. Jahrhunderts schlossen sich in unaufhörlichen Kämpfen dann die übrigen Kantone an, bis die Schweiz schließlich im Frieden von Basel (1499) ihre völlige Trennung vom Reich durchsetzte. Durch Jahrhunderte durchzieht die Schweizer Geschichte der Wille, vom Deutschen Reiche getrennt, ein staatliches Eigenleben zu führen. Niemals hat es jedoch in der deutschen Geschichte eine Zeit gegeben, wo sich bei den österreichischen Deutschen der Wunsch gezeigt hätte, sich vom Reiche zu trennen. Als 1866 die Habsburger Monarchie unfreiwillig aus dem Reiche ausschied, herrschte unter den Deutschen in Österreich eine Stimme der Trauer. Und es ist bezeichnend für die damalige innerpolitische Lage in Österreich, daß die Dynastie die schwersten Besorgnisse wegen einer deutschen Irredenta hegte. Wenn es zu einer Irredenta nicht kam, so ist dies nur auf die Bismarcksche Politik des "Desinteressements" an den österreichischen Deutschen zurückzuführen. Die Schweizer wollten nicht beim Reich bleiben und haben sich vor Jahrhunderten von ihm getrennt. Die Österreicher wollten niemals vom Reich fort und sind erst in der neuesten Zeit aus dem Reich ausgeschlossen worden. Das ist der entscheidende Unterschied.

Noch schiefer ist der Vergleich mit Belgien. Das Königreich Belgien sei, wird geltend gemacht, ebenso wie die Republik Österreich ein in neuerer Zeit (1830) künstlich geschaffener Staat. Die Bestrebungen Frankreichs, Belgien zu erwerben, seien von den Großmächten ebenso verhindert worden, wie die Absichten des Deutschen Reiches auf Österreich. In dem von England, Frankreich, Österreich, Preußen und Rußland geschlossenen Londoner Vertrag vom 15. November 1831 sei die Unabhängigkeit und dauernde Neutralität Belgiens ebenso festgelegt worden, wie die Unabhängigkeit der Republik Österreich im Vertrag von St. Germain. Also ist den Österreichern nichts anderes widerfahren als den Belgiern.

Abgesehen davon, daß ein Belgien zugefügtes Unrecht – wenn es eines wäre – keine Begründung für ein Unrecht an Österreich abgeben kann, ist diese Ähnlichkeit nur eine oberflächliche.

Die später Belgien genannten Gebiete – der Name taucht, in Anknüpfung an den keltischen Stamm der Belgen, zum erstenmal 1790 auf – wurden 1797 und 1801 von Österreich an Frankreich [243] abgetreten. Nach dem Sturz Napoleons wurden sie 1815 mit Holland zu dem "Königreich der Vereinigten Niederlande" vereinigt. Der Gegensatz zwischen Wallonen und Holländern führte zu einem Aufstand und am 4. Oktober 1830 zur Unabhängigkeitserklärung Belgiens, die dann die Anerkennung der Großmächte fand. Belgien hat sich also revolutionär von dem "Königreich der Vereinigten Niederlande" losgerissen, weil es diesem staatlichen Verbande nicht angehören wollte, und sich zum selbständigen Staat gemacht, weil es ein selbständiger Staat sein wollte. Den schon unter Ludwig XIV. beginnenden Annexionsgelüsten Frankreichs und seinen späteren Ansprüchen gegenüber – Frankreich forderte 1871 Belgien als Preis für die Einigung Deutschlands – hat sich Belgien trotz seiner Sympathien für Frankreich stets ablehnend verhalten. Belgien, das nur vorübergehend, gegen seinen Willen – rund 15 Jahre – zu Frankreich gehört hatte, wollte niemals mit Frankreich vereinigt werden. Belgien ist nicht mit Gewalt verhindert worden, sich mit einem Staate zu vereinigen, mit dem es sich hatte vereinigen wollen, sondern die Großmächte haben seinem Willen, ein selbständiger Staat zu werden, nachgegeben. Der Wille Belgiens war also ein anderer als der Österreichs. Dazu kommt aber noch ein weiterer Unterschied, der immer planmäßig verschwiegen wird, weil er sowohl den Anschlußgegnern wie den in Belgien herrschenden Schichten sehr unbequem ist.

Belgien ist kein französisches Land. Nach der Volkszählung von 1923 hat Belgien 7,606.820 Einwohner, deren Mehrheit nicht die Franzosen (Wallonen), sondern die Flamen sind. Nach der eigenen, französisch gefärbten belgischen Statistik sprechen 38,55% nur Französisch, 43,04% nur Flämisch (das ist Holländisch), 0,23% nur Deutsch und 12,18% Französisch und Flämisch. Die Sprachgrenze verläuft von der Maas (südlich von Maastricht) durch Brabant (südlich von Brüssel), zum Teil auch über französisches Staatsgebiet ans Meer westlich von Dünkirchen und scheidet so das Land scharf in einen flämischen und einen wallonischen Teil. Die Bemühungen der Regierungen, das Land zu französisieren, haben keinen Erfolg gehabt. Die flämische Bewegung hat vielmehr an Kraft zugenommen. Beweis dafür die jüngst erfolgte Flämisierung der Genter Universität.

Österreich hingegen ist ein Land mit 6,535.363 Einwohnern, von denen lediglich 89.798, also 1,38%, geschlossen siedelnde Nicht- [244] deutsche sind (41.788 Kroaten, 10.804 Magyaren, 37.224 Slowenen). Rechnet man noch die größtenteils in Wien unter Deutschen eingestreut wohnenden Bundesbürger tschechischer und slowakischer Volkszugehörigkeit (48.352) hinzu, so ergeben sich selbst dann erst 138.150, also 2,11%.1

Damit dürfte die Beweiskraft des belgischen Beispiels erledigt sein.

Fassen wir das Ergebnis unserer Untersuchung zusammen, so sehen wir, daß das Streben der österreichischen Deutschen nach Vereinigung mit dem Reiche nicht die Erfindung nationaler Hitzköpfe und europäischer Friedensstörer ist, sondern das aus einer Jahrtausend alten Geschichte hervorquellende selbstverständliche Streben nach Verwirklichung des deutschen Menschen in dem ihm von der Natur zugewiesenen Raum. Was bedeuten daneben die Verschiedenheiten der deutschen Stämme? Etwa die härtere Art des Berliners und die weichere des Wieners? Nur deutsche Gründlichkeit bringt es fertig, sich forschend in diese Verschiedenheiten zu vertiefen und Unterschiede auszugraben, um aus ihnen bedeutungsvolle Schlüsse zu ziehen. An sich wäre das ein Sport, den man den so Beflissenen gönnen könnte, wenn damit nicht – und das ist das Verhängnisvolle – den Anschlußfeinden immer wieder freudig aufgenommenes Material geliefert würde. Mir ist keine französische Literatur bekannt, die sich damit beschäftigen würde, die Unterschiede zwischen den Nord- und Südfranzosen herauszuarbeiten, um dann die Frage zu untersuchen, ob denn die beiden in einem Staate zusammen bleiben können. Der deutsche Mensch ist eben noch nicht fertig. Denn wenn er fertig wäre, wüßte er, daß nicht das kleine Unterscheidende, sondern das große Gemeinsame entscheidend ist.

Die Welt – und auch mancher Deutscher – weiß es noch nicht, daß Europa wieder vor der deutschen Frage steht, die so lange ungelöst bleibt, als die österreichischen Deutschen nicht mit den übrigen Deutschen vereinigt sind. Sie weiß noch nicht, daß der Beschluß der österreichischen Provisorischen Nationalversammlung "Deutschösterreich ist ein Bestandteil der deutschen [245] Republik" nur das instinktive Wiederanknüpfen eines durch ein Jahrtausend sich ziehenden, plötzlich abgerissenen Fadens war. Jede ungelöste politische Frage ist eine dauernde Quelle der Unruhe. Österreich als selbständiger Staat hat keinen Lebenssinn. Jede Sinnwidrigkeit ist störend. Auf jeden Nachbarn wirkt das heutige Österreich in irgendeiner Weise beunruhigend, als Gegenstand des eigenen oder fremden Begehrens. Kein Staat weiß eigentlich, welche Politik er Österreich gegenüber machen soll, wenn er nicht für den Anschluß ist. Wendet er sich feindlich gegen Österreich, so treibt er es in die Arme des andern. Sucht er es an sich zu ziehen, so erregt er den Widerstand der andern. Gleichgültig kann keiner bleiben. Diese Unruhequelle wird erst versiegen, wenn die österreichischen Deutschen aufgehen im großdeutschen Raum. Richtig gesehen ist das Werden des deutschen Menschen im großdeutschen Raum keine Familienangelegenheit der deutschen Stämme, sondern eine europäische Angelegenheit, von deren sinngemäßer Erledigung das Schicksal des deutschen Volkes und auch Europas abhängen wird.


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1Da die Volkszählung von 1923 noch nicht aufgearbeitet ist, ist die Zahl der Tschechen und Slowaken in den übrigen Bundesländern nicht genau feststellbar. Sie ist jedoch so klein, daß sie den Hundertsatz nicht wesentlich beeinflußt. ...zurück...

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Die Anschlußfrage
in ihrer kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Bedeutung

Friedrich F. G. Kleinwaechter & Heinz von Paller