[198] V. Die
weltpolitische Kräftelagerung und der
Anschluß
Oberregierungsrat Dr. Wilhelm Ziegler
(Berlin)
Bedeutung der Anschlußfrage für die
europäische und Weltpolitik Die Weltmächte
und die Anschlußfrage Neugruppierung der
Weltstaaten Stellung Amerikas und Japans
Österreich geographisch das Herz Europas
Österreichs Schicksal durch die Haltung Frankreichs und Italiens
ausschlaggebend bestimmt Revision der
Verträge "Die Grenzen unsichtbar
machen!" Die Anschlußfrage als Problem der
deutsch-französischen Verständigung Die Zeit
arbeitet für den Anschluß Der Appell an die
politische und wirtschaftliche Vernunft.
Klingt es nicht etwas bombastisch oder gar vermessen, die Weltpolitik und die
Anschlußfrage in einem Atem zu nennen? Ist es nicht, als wenn man eine
wandernde Düne aus der Wüste Sahara mit deren Schicksal in
Beziehung brächte? Besteht nicht die Gefahr, daß schließlich
der Zwergstaat Österreich mit insgesamt 6½ Millionen
Menschen und ganzen 83.000 km2 Land zum Nabel der Welt wird?
Und doch, ist nicht auch der Weltkrieg,
der schließlich alle
Weltmächte in seinen Strudel gezogen hat, aus ganz kleiner Ursache
entstanden, aus Grenzstreitigkeiten in einem Winkel Europas, der selbst den
meisten Europäern nur dem Namen nach bekannt war? Es war eben der
Wetterwinkel Europas. Ist nicht sogar dieses gigantische Weltbeben gerade in der
unmittelbaren Nachbarschaft des heutigen Österreich, an der Peripherie des
alten Österreich-Ungarn, entstanden? Das Argument, als ob die Dimensionen der
Anschlußfrage doch zu winzig seien für die erdumspannenden
Bahnen der heutigen Weltpolitik, kann also nicht verfangen. Genau so wie im
August 1914 kann, nicht nur hypothetisch, hier an dieser Stelle der Knäuel
der Weltpolitik wieder einmal aufgewickelt werden.
Warum gerade hier? Weil hier das Zentrum Mitteleuropas liegt. Und weil hier
dichter als sonst irgendwo in der Welt die Fäden der politischen
Interessenverflechtung zusammenlaufen und sich miteinander verstricken. Denn
dieses ganze durch den Versailler Vertrag zusammengewürfelte
Schachbrett der mitteleuropäischen Staatenwelt ist von einem ganz
engmaschigen Netz von
Bündnis- und Neutralitäts- [199] verträgen
durchwoben, das sie in unmittelbare Verquickung mit der Weltpolitik bringt wie
keine andere Region der Erdoberfläche in demselben Augenblick, da sich
ein Steinchen lockert. Da ist z. B.
die – um Österreich und
Ungarn – herumgebaute Kombination der Kleinen Entente. Da sind
weiterhin die (auch militärisch verankerten) Gegenseitigkeitsverträge
Frankreichs mit seinen Vasallenstaaten Polen, Tschechoslowakei, Jugoslawien
und Rumänien. Da sind auch die italienischen Ambitionen und
Durchdringungstendenzen, die in diesen Raum hineinragen und sich mit den
französischen kreuzen. Da sind schließlich die Gefahrenquellen, die
am Rande des Gebietes von Rußland her drohen, über Bessarabien
für Rumänien und über die Ukraine für Polen. So
hängt dieser zentraleuropäische Raum an zahlreichen Strängen
und Sehnen aus dem größeren Raum der europäischen und der
Weltpolitik, von denen nur einer zu reißen braucht, um sofort das ganze
lockere, erst gestern verfertigte Gefüge dieses Staatenmikrokosmos ins
Rutschen zu bringen. Schon allein das dumpfe Grollen, das jedesmal sich
einstellt, wenn eine so äußerliche Möglichkeit wie die
Rückkehr der Habsburger nach Budapest oder nach Wien sich
ankündigt, läßt erkennen, wie gespannt und nervös noch
die politische Atmosphäre in dieser Wetterecke der Weltpolitik ist. Hier
herrscht immer noch elektrische Hochspannung.
[196]
Das zerstückelte Europa.
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Wer also von Amts wegen oder aus innerer Berufung sich für die Zukunft
des Völkerfriedens verantwortlich fühlt, der wird aus der Perspektive
der Weltpolitik heraus gerade diesem Winkel Europas sein besonderes
Augenmerk zu widmen und alle Störungsmomente aus dem feinen und
verzwickten Räderwerk des mitteleuropäischen Staatenmechanismus
zu entfernen haben, damit nicht das Exempel von 1914 sich, so oder so, noch
einmal wiederhole.
Es war die Koalition der Weltmächte, die im Jahre 1919 dem Deutschen
Reiche und der Republik Deutschösterreich den gegenseitigen
Zusammenschluß und dieser sogar das Prädikat "Deutsch" untersagt
hat. Dem Deutschen Reich in dem Artikel 80
des Versailler Vertrages, der
dem Reiche die Anerkennung der "Unabhängigkeit" Österreichs
aufzwang, der Republik Deutschösterreich in dem Artikel 88 des
Vertrages von
St. Germain-en-Laye, der, ebenso wie der Versailler Vertrag, den
Anschluß von der Zustimmung des Völkerbundrates abhängig
machte. Diese Intoleranz der Koalition der Weltmächte ging sogar soweit,
daß die Siegerstaaten es durchsetzten, daß der Artikel 61 der
deutschen Reichsverfassung vom 11. August [200] 1919, der den
Anschluß vorsah, von
der deutschen Reichsregierung außer Kraft
gesetzt werden mußte. Es war also eine Einheitsfront der
Weltmächte, die dem Einheitswillen zweier Stämme eines
einheitlichen Volkes in diesen beiden Staaten in den Arm fiel, ihm ein
kategorisches Veto entgegensetzte und so das Anschlußproblem schuf. So
stand an der Wiege der "Anschlußfrage" eine Koalition der
Weltmächte – ein Symbol! In dieser Einheitsfront standen, vielleicht
mit mehr oder weniger entfachtem Herzen, aber doch in gemeinsamer Ordnung
die Vereinigten Staaten, England, Japan, Frankreich und Italien. Es ist keine
Frage, daß heute in der Gruppierung der Weltmächte ein derartiges
gemeinsames Interesse an der Anschlußfrage nicht mehr besteht, daß
auch die Blickpunkte und die Zielscheiben der Politik der großen
Mächte sich mittlerweile so stark untereinander verschoben haben,
daß auch die Lösung der Anschlußfrage unter einem neuen
Gesichtswinkel steht. Vielleicht bis jetzt nur latent, potentiell, aber doch
existent.
Die Koalition von einst ist den Weg alles Irdischen gegangen. Zwar ist sie nicht
mit großem Knall in die Luft geflogen oder mit lautem Krach
auseinandergeborsten. Aber es klaffen starke Risse und Lücken in dem
Fassade von einst. Vielleicht wäre es dem Haupthintertreiber des
Zusammenschlusses, Frankreich, heute viel angenehmer, wenn noch diese
Interessensolidarität von einst bestünde. Aber viel zu deutlich zeigt
der Gang der praktischen Politik, daß mindestens in der
Anschlußfrage die Wege heute unter den Bundesgenossen von einst stark
auseinandergehen. Ja es ist die Frage, ob heute bei den überseeischen
Weltmächten überhaupt noch ein wirkliches ernstes Interesse an der
Anschlußfrage besteht, einerlei ob pro oder contra. Bei den Vereinigten
Staaten und auch bei Japan ist es im Ernstfall sicher nur eine stumpfe
Neutralität oder eine gewisse Indifferenz, aber keine entschiedene
Stellungnahme. Dafür sind diese Überseemächte doch diesem
Fleck Erde zu stark entrückt. Sicher ist irgendein Grenzstreit, wie der
Tacna-Arica-Streit zwischen Peru und Bolivien oder eine Anleihe für die
Mandschurei für beide viel interessanter und brennender. Hinzu mag
kommen, daß das finanzpolitische "Protektorat", das der Völkerbund
mittels der Völkerbundanleihen ausgeübt hat und noch ausübt,
das Interesse der Amerikaner vielleicht noch mehr abschwächt. So kann
man wohl sagen, daß das Spiel der Interessenpolitik der
Überseemächte weit ab von der Anschlußfrage liegt. Das sind
Kreise, die sich gegenseitig nicht schneiden [201] und darum auch nicht
stören. Es ist auch anzunehmen, daß selbst Japan, das als Mitglied
des Völkerbundrates ja vielleicht einmal als Schiedsrichter allein oder
Schiedsrichter neben anderen in der Anschlußfrage in Funktion treten
könnte, wohl kaum mit seinen Lebensinteressen von dem
Anschlußproblem berührt wird. Alles das sind nur indirekte
Ausstrahlungen und Rückwirkungen, ähnlich wie im Jahre 1921
etwa bei dem Spruch des Völkerbundrates über die Grenzziehung in
Oberschlesien. Auch damals ist Japan mit seinen Verbündeten von einst in
einer Reihe marschiert, ohne Rücksicht auf die sachlichen Erfordernisse
und die moralischen Gebote der Situation. Es hat einseitig Partei genommen,
gerade weil ihm diese Dinge nicht unmittelbar auf die Nägel brannten und
weil keine Lebensinteressen seiner Politik berührt wurden. Und so wird es
auch in der Zukunft nicht anders gehen.
Österreich ist das Herz Europas, geographisch noch eindeutiger und
sichtbarer als Deutschland. Das ist seine Mitgift, aber auch sein Schicksal. Die
eigentliche Auseinandersetzung, der ernste Entscheidungskampf um seine
Zukunft wird sich darum abspielen zwischen den großen Mächten,
beziehungsweise der Gruppierung der großen Mächte, die
unmittelbar an den Kräfteverhältnissen in Mitteleuropa engagiert
sind. Alle anderen werden ihnen Gefolgschaft leisten, je nachdem bei welcher
Partei sie sich in diesem betreffenden Fall besonderen Profit versprechen. Das
heißt praktisch, daß der Machtkampf sich drehen wird um die
Interessen und die Stellungnahme von Frankreich und Italien, wobei die Stellung
Rußlands als eines undurchsichtigen Faktors jedenfalls potentiell im Auge
behalten werden muß. Auch England wird sein Auge nicht von dem
Schachspiel dieser unmittelbar interessierten großen Konkurrenten im
Herzen des Kontinents lassen. Aber auch es wird sein Votum, seine Entscheidung
für oder wider wohl eher von weltpolitischen Erwägungen und
Spekulationen als von kontinentaleuropäischen abhängig machen.
Insofern reduziert sich der weltpolitische Rahmen, in den die Anschlußfrage
zweifellos verflochten ist, nach menschlichem Ermessen zunächst auf den
kontinentaleuropäischen Raum.
Der Anstoß wird also immer von einer der europäischen
Spitzenmächte ausgehen. Damit konzentriert sich praktisch das
Anschlußproblem auf die Haltung und Stellung Frankreichs und Italiens. An
ihrer Haltung wird sich primär auch das weltpolitische Schicksal des
Zwergstaates Österreich entscheiden. Und so weit die [202] Dinge
gegenwärtig zu übersehen sind, liegt das Interesse an einer
Änderung und Verflüssigung des bestehenden Erstarrungszustandes
bei Italien, das sich immer mehr als der Hecht im europäischen
Karpfenteich entpuppt. Mussolini hat in seiner Antwort auf die
Paneuropa-Umfrage Briands ja ausdrücklich das Stichwort von der
"Aufhebung der Schranken zwischen Siegern und Besiegten" in die Debatte
geworfen. Zum ersten Male hat sich damit der Sprecher einer europäischen
Hauptmacht zu dieser These bekannt. In dieser Kampagne ist ja auch aus dem
Munde von Mussolinis Bruder das interpretierende Wort von der "Revision der
Verträge" gefallen. Auch der Freundschaftsvertrag, den der
österreichische Bundeskanzler Dr. Schober im Frühjahr 1930
mit Italien abgeschlossen hat, läßt vermuten, daß die
österreichische Politik die Chancen zu einer künftigen
Wiedererringung ihrer Bewegungsfreiheit in ähnlicher Richtung sieht.
Umgekehrt scheint Frankreich sich immer mehr in die Rolle eines Hüters
des Konservativismus und des Legitimismus in Europa hineinzuverrennen. Eine
geschichtliche Ironie! Denn damit wird die europäische Vormacht, die
immer die Tradition des revolutionären Elements, der Menschenrechte und
des Selbstbestimmungsrechtes hoch gehalten hat, die selbst bei der Erringung der
Einheit und Freiheit des italienischen Volkes Pate gestanden hat, zum Hort der
Erstarrung und der Reaktion. Es nimmt damit die Rolle auf, die
Österreich-Ungarn zu seinem eigenen Schaden im Zeitalter der
Restauration und Reaktion vor einem Jahrhundert in Europa gespielt hat.
Es ist schwer zu sagen, wann und wie und von wo aus der Stein einmal ins Rollen
kommen wird. Eine klug geleitete deutsche Politik wird es natürlich
vermeiden, die Anschlußfrage überhaupt zu einer cause
célèbre zu machen. Sie wird vielmehr alle
Möglichkeiten ausschöpfen, ohne Antastung der Verträge,
durch praktische Arbeit das Band mit dem anderen deutschen Volke jenseits der
Grenze so eng als möglich zu knüpfen. "Die Grenzen unsichtbar
machen", das ist das Schlagwort, das heute in der Politik modern ist. In dieser
Richtung wird auch das Ziel der deutschen Anschlußpolitik liegen und
liegen müssen. Der Weg ist die wirtschaftliche, legislative und geistige
Angleichung der Lebensnormen und Lebensverhältnisse in den beiden
heute getrennten Staaten. Das ist ohnedies der Zug der modernen Politik. Aber es
wird doch der Tag kommen, da auch äußerlich die staatliche Einheit
sich wird bekunden müssen. Dann [203] werden sich die
nationalen Triebkräfte nicht mehr zügeln lassen, sondern auch auf
äußerliche Manifestierung dessen, was ist, dringen. Und dann wird es
darauf ankommen, auch das zu legalisieren und zu sanktionieren, was ohnedies
der legitimste Rechtsanspruch im Völkerleben ist, weil es zu den
ungeschriebenen Gesetzen der Menschheitsordnung gehört: das Recht auf
Lebensgemeinschaft zweier Gruppen, die miteinander leben wollen. Und dann
wird es darauf ankommen, auch die Interessen im Völkerbund und im
Völkerbundrate, dem ja die Entscheidung zusteht, so zu gruppieren,
daß daraus kein casus belli entsteht.
Die motorische Kraft und der moralische Elan wird dann wohl Italien liegen.
Denn es hat den Geist der Zeit und die Logik der Idee auf seiner Seite. Aber auch
Frankreich wird nicht in die Rolle eines direkten Gegners sich verbeißen
dürfen. Und damit greift die Anschlußfrage auch irgendwie in das
Problem der
deutsch-französischen Verständigung über. Zugleich damit
kompliziert sich aber auch wieder das Problem der Harmonisierung der in der
Anschlußfrage mündenden Interessenströmungen, so daß
selbst einen guten Europäer bisweilen Zweifel an einer friedlichen
Lösung beschleichen.
Vielleicht verheißt auch die Konzeption "Pan-Europa", wenn dieses
Staatengebäude nicht nur der Extrakt einer chemischen Formel aus der
Retorte der Rationalisierung, sondern ein blutvolles Lebewesen aus dem
Blutkreislauf der europäischen Völker heraus sein soll, Hoffnungen
auf Erfüllung des Anschlußtraumes. Denn auch ein wirklich erlebtes
und aus der Geschichte geborenes Großeuropa wird nicht einfach alle
territorialen Grenzen ausradieren können, sondern immer nur eine
Föderation der national in sich homogenen Einzelstaaten sein
können. Paneuropa wird entweder auf den gegebenen Fundamenten der
europäischen Völkerfamilie aufbauen oder es wird nicht sein, es wird
entweder ehrlich das Prinzip der Freiheit im einzelnen und der Einheit im ganzen
anerkennen oder es wird nicht sein.
Hier aber im Herzen Europas wird auch das Schicksal Europas entschieden
werden. Hier arbeitet die Zeit im Sinne des Anschlusses: die Tendenz der
modernen geschichtlichen Entwicklung in der Weltpolitik. Das ist unsere
große Hoffnung. Das ist der große Verbündete, der auf Seiten
der Anschlußfreunde ficht. Denn überall in der Welt drängen
die wirtschaftlichen Zusammenhänge auf Kartellierung und Syndizierung,
auf Zusammenfassung in großen Räumen und
Ein- [204] heiten. Selbst im
mitteleuropäischen Raum beginnt bereits diese Logik des Zeitalters sich
wider alle künstlichen Hindernisse und über alle willkürlichen
Grenzzäune hinweg durchzusetzen. Schon heben sich die Umrisse eines
Agrarsyndikats zwischen Ungarn, Rumänien und Jugoslawien (also
zwischen zwei
Sieger- und einem Besiegtenstaat) am Horizont ab. Es ist einfach die Diktatur der
realen Tatsachen und der Wirtschaftsziffern, gegen die kein Kraut gewachsen ist.
Draußen in der Welt ist es nicht anders. Man schaue auf das britische
Weltreich, auf die Südafrikaunion, auf die Sowjetunion oder den fernen
Osten. Und so wird auf die Dauer auch der Zusammenschluß des gemischt
industriell und agrarischen Wirtschaftsstaates "Deutsches Reich" und seines
homogenen
Nachbar- und Bruderstaates "Österreich" einfach nicht aufzuhalten sein. Es
hieße einfach alle Gesetze der modernen weltpolitischen Entwicklung auf
den Kopf stellen, einem biologischen Prozeß in den Arm fallen, wenn man
dies unternehmen wollte. Es wäre nicht nur ein dilettantisches Experiment,
eine kurzsichtige Stümperei, sondern einfach ein Verstoß gegen die
moderne Physik der Weltpolitik, wenn man mitten im Herzen des aktivsten
Kontinents, da wo die wirtschaftlichen und politischen Kraftlinien sich geradezu
wie in einem Strahlenbündel schneiden, eine chinesische Mauer aufrichten
wollte.
Aber auch die immanente Logik der nationalpolitischen Entwicklung der
Völker selbst steuert in der gleichen Windrichtung. Auch die Zeiten der
absoluten Machtpolitik, der alten Diplomatie sind vorüber. Es gärt
und wogt in allen unterworfenen Völkern. Hier hilft nur Lockerung der
Zügelführung, Nachgiebigkeit gegen Freiheit im einzelnen um des
Zieles der Einheit im großen willen. Die englische Politik des
Simons-Berichtes gegenüber Indien ist richtunggebend für diesen
Zug der Zeit. Ausdehnung der Selbstverwaltung im inneren Radius, das
ist die Quintessenz dieser modernen Politik. Damit zugleich vollzieht sich ein
Kursrückgang der militärischen Valuta. Die Welt ist des ewigen
Kreislaufes der Politik des Wettrüstens müde, weil an deren Ende
immer das Blutvergießen steht. Präsident Hoover hat den Londoner
Flottenpakt angenommen und damit für Amerika die Führung in der
neuen Politik der moralischen Eroberungen an sich gerissen. Es ist der Appell an
die Vernunft und die guten Instinkte im Menschen, der dieser Politik zugrunde
liegt. Im Falle Amerika paart sich sogar die effektive Macht mit dem Mut zur
moralischen Offensive. Das wird nicht ohne Rückwirkung auf [205] den Kurs der modernen
Weltpolitik bleiben. Auch diese Elemente und Kräfte unterhöhlen
allmählich die moralischen Fundamente der Politik des ancien
régime, wie sie im Versailler Vertrag ihren klassischen Niederschlag
gefunden hat. Sie werden, in jedem Falle, der Revision des
Anschlußverbotes den Weg ebnen. Das ist die Lehre aus dem Studium der
Weltpolitik für die Anschlußfrage.
Es gibt eben keine Naturschutzterritorien in der Politik, in denen man
künstlich die Zeugen und den Geist einer prähistorischen Zeit am
Leben erhält. Das war ja gerade der Vorwurf, den man der
österreichisch-ungarischen Monarchie vor dem Kriege gemacht hat,
daß sie ein historischer Anachronismus, eine Barriere gegen den Strom der
Zeit sei. Heute sind die Rollen beinahe vertauscht. Aber an derselben Macht der
Tatsachen, an demselben unerbittlichen Tempo der Geschichte wird auch dieses
neue Experiment einer veralteten diplomatischen Methode zerschellen. Darum
liegt die eigentliche Hoffnung für die Anhänger der
Anschlußfrage in dem modernen Rhythmus, dem inneren Gesetz der
Weltpolitik und der Weltwirtschaft. Vielleicht weniger aus der
Kräftelagerung zwischen den einzelnen Mächten als solcher, als aus
dem Geist und der Logik der modernen Weltpolitik selbst schöpfen sie die
Kraft zum Ausharren und die Hoffnung auf Segen. Denn diesesmal ist der Geist
der Zeit und die Logik der Idee auf ihrer Seite. Und es gibt keinen besseren
Verbündeten als diesen, selbst nicht die starken Bataillone und vielleicht
nicht einmal das Glück.
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