XV. Die Angleichung
[460]
Recht
Reichsminister a. D. Dr. Eugen Schiffer
(Berlin)
Rechtsangleichung als Mittel internationaler
Verständigung Europas Zerrissenheit nach
Versailles Die
österreichisch-deutsche Rechtsangleichung trägt
internationalen und nationalen Charakter
Rechtsangleichungsbestrebungen vor dem Weltkriege Nach
dem Weltkriege Methoden der
Rechtsangleichung Vertrag über Rechtsschutz und
Rechtshilfe Abkommen über
Vormundschafts- und Nachlaßwesen Gewerblicher
Rechtsschutz und Urheberrecht Soziale
Gesetzgebung Das neue Strafgesetzbuch
Presserecht und Arbeitsvertragsrecht
Staatsbürgerschaftsrecht Geplantes
Vergleichsordnung Plan einer umfassenden
Justizreform.
Sobald Staaten in anderer als lediglich feindseliger Weise miteinander in
Berührung kommen, empfinden sie sehr bald das Bedürfnis, ihre
wechselseitigen Beziehungen rechtlich auszugestalten und zu sichern. Dies
geschieht zunächst durch Abmachungen und Verträge für
Krieg und Frieden. Sie sind im Anfang meist rein völkerrechtlicher Natur,
erstrecken sich aber allmählich auf alle möglichen
Lebens- und Rechtsgebiete. Sachlich spielen in der ersten Periode politische,
späterhin in immer steigendem Maße wirtschaftliche Gesichtspunkte
die Hauptrolle. Letztere sind es auch, die im Verlauf der Zeit über den
Rahmen der bloß vertragsmäßigen Vereinbarungen
hinausdrängen. Je stärker, lebhafter und engmaschiger der
Wirtschaftsverkehr zwischen Staaten und Völker wird, desto peinlicher
empfindet er die Verschiedenheit der geltenden Rechte als Hemmung,
Erschwerung und Gefährdung des durch ihn vermittelten
Menschen- und Güteraustausches. Deshalb begnügt er sich nicht
damit, daß diese Verschiedenheit durch Verträge
überbrückt wird; er verlangt ihre Beseitigung. Er prüft sie
daraufhin, ob sie sachlich begründet oder nicht vielmehr nur geschichtlich
zu erklären, zufällig oder willkürlich entstanden ist; er geht
darauf aus, gegenüber dem tatsächlich gewordenen Recht der
einzelnen Nation das übereinstimmende Bedürfnis aller oder
mehrerer Nationen nach einem gleichmäßigen rationellen Recht zu
betonen. So entsteht das Streben nach Rechtsgleichheit. Neben den Ausbau der
zwischenstaatlichen Beziehungen [461] tritt die
Vereinheitlichung der Gesetze verschiedener Staaten als Mittel internationaler
Verknüpfung durch Rechtsangleichung.
Dieser Prozeß, der in mannigfachen Phasen und Formen schon lange vor
dem Weltkrieg begonnen hatte, wurde durch ihn jäh unterbrochen, hat aber
nach seiner Beendigung mit gesteigerter Kraft eingesetzt. Das kann nicht
wundernehmen. Mußten doch vorerst einmal die zerrissenen Fäden
wieder aufgenommen und aufs neue geknotet werden; und solche Arbeit hatte auf
einer zu Ungunsten und zu Lasten des Völkerverkehrs veränderten
Grundlage zu erfolgen. Denn die staatlichen Verschiedenheiten waren durch die
Bildung zahlreicher neuer Staaten noch vermehrt. In Europa gibt es statt
früher 26 Staaten jetzt deren 35, 27 Währungen statt 13, 38
Zollgebiete statt 26. Ihre Grenzen stellen nicht weniger als 20.000 Kilometer
Zollschranken gegenüber 9000 dar. Sie mußten, wie es in Briands
"Memorandum über die Organisation eines Regimes eines
europäischen Staatenbundes" heißt, durch die Friedensverträge
geschaffen werden, damit den nationalen Bestrebungen Europas Genüge
getan würde, bedeuten aber eine entsprechende Menge neuer
Wegsperrungen für die Wirtschaft, die sich um so empfindlicher geltend
machen, als der Weltverkehr, durch die sich überstürzenden
Fortschritte der Technik beflügelt, einen unerhörten Aufschwung
genommen hat. Er muß sich noch steigern, wenn die durch den
Young-Plan statuierten Verpflichtungen wirklich erfüllt werden sollen.
Denn dies kann letzten Endes nur durch vermehrte Herstellung und Lieferung von
Sachgütern geschehen. Freilich steht dem die Neigung zu wirtschaftlicher
Absperrung entgegen, die teils auf nationalem Selbstbewußtsein, teils auf
der durch den Krieg erzeugten ungesunden, weil künstlichen und nicht in
natürlichen Verhältnissen begründeten Erweckung neuer
Industrien beruht. Aber wenn schon die wirtschaftlichen Schlagbäume nicht
weggeräumt werden können, dann will die Wirtschaft wenigstens
nicht auch noch über juristische Zwirnsfäden stolpern. So hat denn
das letzte Dezennium eine wahre Hochflut politischer und ökonomischer
Vereinbarungen gebracht und Rechtsangleichungsbestrebungen gezeitigt, die, frei
von jedem naturrechtlichen Illusionismus, aus praktischer Erfahrung und
Notwendigkeit heraus auf das Ziel eines Weltrechtes zusteuern. Wechselrecht,
Scheckrecht,
Post-, Eisenbahn- und Luftverkehrsrecht,
Obligationen- und Konkursrecht,
Patent- und Musterschutzrecht,
Erfinder- und
Autorenrecht – diese und manche anderen Rechtsgebiete erhalten [462] eine mehr oder minder
lückenlose gemeinsame Prägung, die sich bald auf die gesamte
Kulturwelt, bald nur auf einzelne Staatengruppen erstreckt.
In dieses Netz internationaler Rechtsbeziehungen ordnen sich auch Deutschland
und Österreich in ihrem Verhältnis zueinander ein. Sie heben sich
aus der Masse extensiv und intensiv, durch die Zahl wie durch die Innigkeit der
sie verknüpfenden rechtlichen Bande ab. Aber ihre Sonderstellung ist nicht
bloß quantitativer Art; sie ist auch von qualitativer Beschaffenheit. Denn sie
ist nicht so sehr Ausdruck der
Interessen- als vielmehr der Blutsgemeinschaft. Deutschösterreichische
Rechtsangleichung trägt gleichzeitig internationalen und
nationalen Charakter; und man kann ruhig sagen, daß letzterer
überwiegt. An ihrer idealen Grundlage ändert sich auch dadurch
nichts, daß wiederum die Wirtschaft, also die Vertreterin materieller Dinge
die Führung hat. Für sie gilt nun einmal, was Schiller vom Kaufmann
sagt:
... Güter zu suchen
Geht er, doch an sein Schiff knüpfet das Gute sich an.
Man braucht bloß an die Bedeutung zu denken, die vor einem Jahrhundert
die Schaffung des Zollvereines für die politische Einigung Deutschlands
hatte, um zu erkennen, wie stark oft die Wirkung ist, die die Wirtschaft, selbst
unbewußt, über sich und ihr eigenes Gebiet hinaus erzielt. Darum
kann es nur begrüßt werden, daß auch auf dem Gebiete der
Rechtsangleichung die Wirtschaft aus durchaus gesundem Egoismus heraus
vorangeht und den Weg weist; zumal es ihrer ganzen Stoßkraft bedurfte, um
ihn frei zu machen.
Rechtsgleichheit liegt nämlich nicht von Haus aus im Wesen der
Deutschen. Schon der Begriff des Staates als der rechtlichen Zusammenfassung
der Nation lag ihnen so fern, daß ihnen sogar das Wort dafür fehlte;
es kam erst im Dreißigjährigen Kriege von Frankreich nach
Deutschland. Ihr Konzentrationsbedürfnis endete im Stamme; und ebenso
erschöpfte sich ihr Rechtsbildungstrieb, so kraftvoll er auch war, im
Stammesrecht. Diese seine zentrifugale Natur wurde ihm zum Verhängnis.
Sie trug einen wesentlichen Teil der Schuld daran, daß er durch ein fremdes
Recht erstickt wurde, dessen Hauptvorzug gerade darin erblickt wurde, daß
es gegenüber den
Stammes-, Landes- und Ortsrechten und ihrer Vielgestaltigkeit die Einheitlichkeit
[463] repräsentierte,
die für den erwachenden Wirtschaftsverkehr notwendig war. Zwar
entbehrten jene Sonderrechte keineswegs der gemeinsamen Grundzüge. Sie
offenbarten sich überall in den zugleich individualistischen und sozialen
Rechtsanschauungen, in der Scheidung unbeweglichen und beweglichen
Vermögens, in der Verbindung von öffentlichem und Privatrecht, in
der Berücksichtigung von Stand und Beruf, in der Ausgestaltung des
ehelichen Güterrechtes und der Erbfolge. Aber gerade im Recht der
Schuldverhältnisse, wie überhaupt im gesamten
Wirtschafts- und Verkehrsrecht wimmelte es von Verschiedenheiten, die der
neuen Zeit und ihren Bedürfnissen unerträgliche Schwierigkeiten
bereiteten. Sie trugen mindestens dazu bei, jene rätselhafte Erscheinung
heraufzuführen, die man als Rezeption des römischen Rechtes
bezeichnet. Nirgends trat sie radikaler auf als in deutschen Landen. Die
Rechtseinheit setzte sich hier auf Kosten des nationalen Rechtes durch. Als
letzteres, das zunächst nur im usus modernus pandectarum sein
Leben fristete, sich stark genug fühlte, um das Joch des fremden Rechtes
abzuschütteln, geschah es umgekehrt auf Kosten der Rechtseinheit: Karl
Gottlieb Suarez Preußisches Allgemeines Landrecht, Franz
v. Zeillers Österreichisches Allgemeines Bürgerliches
Gesetzbuch und die anderen deutschen Partikularrechte bedeuten den Sieg des
deutschen Rechtes, aber die Niederlage der deutschen Rechtseinheit. Als nach
dem nationalen Aufschwung der Freiheitskriege Thibaut beides miteinander
verschmelzen und ein einheitliches deutsches Recht geschaffen sehen wollte,
unterlag er mit seiner Forderung dem kühlen Widerspruch Savignys. Aber
was nationalem Empfinden nicht in großem Schwunge und Wurfe gelang,
vollbrachte in schrittweisem Voranschreiten die Wirtschaft. Der Deutsche Bund
schuf 1850 ein Wechselrecht, 1863 ein Handelsrecht, das für das ganze,
damals noch Österreich mit umfassende Deutschland galt, und war auf dem
Wege zu einem einheitlichen Obligationenrecht, als die Politik dazwischen trat
und durch den blutigen Schnitt des Jahres 1866 es verhinderte, die angesponnenen
Fäden weiter zu spinnen.
Das Deutsche Reich und
Österreich-Ungarn, politisch geschieden, entfernten sich auch in ihren
Rechtssystemen mehr und mehr voneinander. Unter den Juristen, Theoretikern
wie Praktikern, hielt allerdings der Deutsche Juristentag die persönliche
Verbindung aufrecht; und in Österreich hatte man noch längere Zeit
hindurch das Bedürfnis, sich in seiner Gesetzgebung von Deutschland nicht
zu trennen. Schon 1867 brachte die Regierung im Abgeordnetenhause [464] einen
Strafgesetzentwurf ein, der, wie die Begründung hervorhebt, "die im
Wechsel- und Handelsrecht erreichte und in anderen Zweigen des Rechtes
angebahnte Einheit der Gesetzgebung für Österreich und alle
übrigen Länder deutscher Bildung und Zunge auch bezüglich
des Strafgesetzes anstrebte". Später stand durch volle 26 Jahre eine
Regierungsvorlage aus dem Jahre 1874 in parlamentarischer Beratung, der eine
Umarbeitung des deutschen Reichsstrafgesetzbuches von 1870 zugrunde lag.
Justizminister Glaser brachte bei dieser Gelegenheit das Bedürfnis nach
deutscher Rechtseinheit mit schöner Offenheit zum Ausdruck. Aber in
Wirklichkeit gingen die Wege der juristischen Gesetzgebung mehr und mehr
auseinander. Den Reichsjustizgesetzen trat in Österreich Franz Kleins
Zivilprozeßordnung gegenüber, und das Bürgerliche
Gesetzbuch für das Deutsche Reich untergrub die Grundlagen für das
Handelsgesetzbuch dergestalt, daß auch letzteres neu gestaltet werden
mußte. Nur schüchtern wagte sich im März 1909 Professor
Sperl als Berichterstatter der Wiener Handelskammer mit seinem Vorschlage
hervor, einen Vertrag über wechselweise Anerkennung und Vollstreckung
der Entscheidungen bürgerlicher Gerichte zu schließen, um, auf ihm
weiterbauend, zu einer umfassenden Rechtsangleichung zu gelangen. Er wurde,
als er im September 1911 auf dem Heidelberger Juristentage wiederholt wurde,
freundlich begrüßt, aber nicht weiterverfolgt.
Der Weltkrieg brach
aus. Hatte ein Krieg die sich anbahnende Rechtsangleichung ein halbes
Jahrhundert vorher unterbrochen, so verhalf dieser Krieg ihr zu neuem Leben. Die
todgeweihte Gemeinschaft des Kampfes sollte in den Tagen des Friedens
fortgesetzt, die Blutgemeinschaft zur Lebensgemeinschaft, die
Lebensgemeinschaft zur Rechtsgemeinschaft entwickelt und ausgebaut werden.
Wieder ging die Wirtschaft voran. Im August 1915 beschlossen die
Ältesten der Kaufmannschaft in Berlin einen Plan zu entwerfen, um die
Vereinheitlichung der auf Handel und Industrie bezüglichen Gesetzgebung
Deutschlands und Österreichs zu betreiben, und am 3. Jänner
1916 bekannten sie sich erneut zu der Überzeugung, daß die
wirtschaftliche Annäherung beider Staaten unterstützt werden
müßte durch eine Annäherung auf dem Gebiete der
Gesetzgebung, durch welche die Gesetze, die Handel, Industrie und Verkehr
unmittelbar berühren, wie das Handelsrecht, insbesondere das
Aktien-, Versicherungs-, Börsen- und Seerecht, die Gesetze über den
gewerblichen Rechtsschutz in den betreffenden [465] Ländern
möglichst der Vereinigung zugeführt würden. Die
Ausführung dieser Aufgabe sollte dadurch vorbereitet werden, daß
durch den ehemaligen österreichischen Justizminister Franz Klein das in
Betracht kommende Material auf die Möglichkeit der Vereinheitlichung hin
kritisch gesichtet, und ein Programm für die Vereinheitlichung selbst
aufgestellt würde. Am 8. April 1916 gelangte die ständige
Deputation des Deutschen Juristentages auf Grund von Anträgen der
Professoren Zitelmann und von Liszt zur einstimmigen Annahme einer
Entschließung, in der der Überzeugung Ausdruck gegeben wurde,
"daß, entsprechend der von allen Seiten als notwendig erkannten Vertiefung
des politischen Bündnisses zwischen dem Deutschen Reich und
Österreich-Ungarn und der erhofften wirtschaftlichen Annäherung
auch eine Vereinheitlichung des Rechtes in möglichst weitem Maße
und großzügig geschaffen werden kann und muß... Die
Vereinheitlichung ist zunächst in Angriff zu nehmen für das gesamte
Handels-, Wechsel- und Scheckrecht, das
Schiffahrts-, Versicherungs- und Konkursrecht sowie den gewerblichen
Rechtsschutz. Im übrigen bedarf es zuvor einer genaueren Feststellung, wie
weit auf dem Gebiete des bürgerlichen, des
Straf- und des Prozeßrechtes und darüber hinaus auf anderen
Rechtsgebieten eine Rechtsvereinheitlichung unter Berücksichtigung der
Verschiedenheiten in den wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen
durchführbar ist". Unmittelbar darauf traten die Waffenbrüderlichen
Vereinigungen Deutschlands, Österreichs und Ungarns zusammen und
schufen Rechtsausschüsse, um auch ihrerseits die mit Begeisterung
aufgenommene Idee der Rechtsangleichung zu verwirklichen.
Auf die Idee wie auf die Begeisterung fiel der Reif des für die
Mittelmächte unglücklichen Kriegsausganges und der für sie
vernichtenden Friedensverträge. Aber der Zusammenbruch, der so vieles
unter sich begrub, brachte zwar zunächst auch den Plan der
deutsch-österreichischen Rechtsangleichung ins Stocken, erwies sich aber
sehr bald für ihn geradezu fördernd. Er befreite ihn von Hemmungen,
die ihm in der früheren Lage aus der Beschaffenheit der beiden Staaten als
unübersteigbare Schranken erwachsen waren. Bisher mußte man
ängstlich darauf bedacht sein, die Souveränität jedes der
beteiligten Staatswesen zu schonen und selbst den Anschein zu vermeiden, als
könnte sie in irgendeinem Punkte angetastet werden. Schon der bloße
Verdacht, daß die Rechtsangleichung etwa gar der Vorläufer eines
Zusammenschlusses zur Staatseinheit werden könnte, [466] hätte das ganze
Werk unweigerlich scheitern lassen. Jetzt lag es gerade gegenteilig. Nach dem
Wegfall der Monarchien und der Loslösung Deutschösterreichs aus
der staatlichen Verbindung mit nichtdeutschen Nationen ist der Gedanke des
vollkommenen Anschlusses und der gänzlichen Verschmelzung mit
elementarer Macht erstanden, hat in dem Beschluß der Provisorischen
Nationalversammlung in Wien vom 12. November 1918 und in Art. 61 der Weimarer Verfassung seinen Ausdruck gefunden und ist zwar durch den Machtspruch
er Sieger der Möglichkeit sofortiger
Verwirklichung beraubt worden, aber auf beiden Seiten das Ziel nationaler
Sehnsucht geblieben; und dieser Gedanke wirkt anfeuernd und anspornend auf
den der Rechtsangleichung. Denn sie ist die Vorbereitung des Anschlusses, die
gar nicht entbehrt werden kann, wenn er sich, sobald seine Stunde gekommen,
einigermaßen glatt und reibungslos vollziehen soll. Zu sehr haben sich im
Laufe der Jahrhunderte die beiden Staaten bis in alle Äußerlichkeiten
und Kleinigkeiten hinein auseinandergelebt, als daß nicht ein nicht
genügend vorbereiteter Zusammenschluß nach dem ersten
Freudenrausch zu allerlei Peinlichkeiten, verdrießlichen Weiterungen und
ärgerlichen Reibungen führen müßte. Gewiß soll
die Rechtsangleichung keine juristische Dampfwalze sein, die in
rücksichtsloser Gleichmacherei alles Recht nivelliert; sie soll tiefere,
innerlich begründete Unterschiede schonen; aber sie soll den Schutt
beseitigen, den Eigenbrötelei und eigensinnige Absperrung,
Unüberlegtheit und Kurzsichtigkeit aufgehäuft haben.
Mit der
Begeisterung allein ist es nicht getan. Gefühlswerte sind freilich
unentbehrlich; und je länger es dauert, bis sie sich in reale Gestaltung
umsetzen, desto notwendiger ist es, alles zu tun, um sie lebendig, die Stimmung
aufrechtzuerhalten und die seelische Triebkraft nicht ermüden zu lassen.
Kein Mittel aber ist hiezu tauglicher als gemeinsame praktische Arbeit, die in
ihrer Nüchternheit der sonst verrauschenden idealistischen
Empfindungswelle äußeren und inneren Halt gewährt. So stark
jedoch die Impulse sind, die
Anschluß- und Rechtsangleichungsbestrebungen sich gegenseitig
geben – unlösbar sind letztere mit ersteren keineswegs
verknüpft. Die Rechtsangleichung ist vom Anschluß nicht unbedingt
abhängig, nicht auf ihn angewiesen, nicht durch ihn bedingt; sie
empfängt nicht nur aus ihm Kraft und Bedeutung; sie besitzt ihren
Eigenwert. Auch wenn der Anschluß niemals kommen sollte, würde
die Rechtsangleichung von wesenhafter Wichtigkeit sein; und auch wer ihn nicht
für möglich, ja sogar [467] aus irgendwelchen
Gründen nicht einmal für wünschenswert halten sollte,
könnte und müßte für die Rechtsangleichung eintreten.
Ist sie doch ein Teil der kulturellen Ausprägung der zwischen den
Bürgern beider Staaten auch ohne staatliche Einigung bestehenden
nationalen Einheit, also ein unzerstörbares Recht, aber auch eine
unerläßliche Pflicht eines Volkes, das sich seines Seins bewußt,
auf sein Wesen stolz und im Besitz der moralischen Kraft ist, es sich zu wahren
und zu erhalten. Hier haben weder die Verträge von Versailles und
St. Germain noch das Genfer Protokoll vom 4. Oktober 1922 es
gewagt, Schranken aufzurichten und Zäune zu ziehen. Dieser Weg ist frei,
und materielle und ideelle Interessen heischen übereinstimmend, ihn zu
betreten.
Dies ist denn auch geschehen. Die deutschösterreichische
Rechtsangleichung wird betrieben. Vielerlei Mächte sind am Werke
beteiligt: die Regierungen, der Volksbund, die Arbeitsgemeinschaft, die
Wissenschaft, die Wirtschaft. Über die Methode hat man gestritten. Soll das
gesamte Recht in beiden Ländern systematisch auf die
Angleichungsfähigkeit durchgeprüft und je nach dem Ausfall dieser
Prüfung der Vereinheitlichung zugeführt werden? Eine
unmögliche Aufgabe; unmöglich nicht bloß wegen der
technischen Schwierigkeiten eines so riesenhaften Unterfangens, sondern auch
wegen der unerträglichen Verwirrung, die entstehen müßte,
wenn man auf einmal den gesamten Rechtszustand in Frage stellen wollte. Oder
soll man nur da, wo in dem einen oder dem anderen Lande ohnedies eine
Änderung des geltenden Rechtes beabsichtigt wird, sie benutzen, um sie
gleichzeitig und gleichmäßig in beiden Ländern
herbeizuführen und insofern allmählich eine Rechtseinheit
herzustellen? Wollte man sich hierauf beschränken, so würde die
Rechtsangleichung nicht bloß überaus langwierig sein, sondern auch
sich ungeregelt und unzusammenhängend entwickeln, so daß die
innere Einheit des ganzen Systems Schaden leiden müßte. Eine
feinfühlige Kombination beider Methoden von Fall zu Fall dürfte das
einzig Richtige und einzig Mögliche sein. Sie wird angewandt.
Überblickt man nun, was auf diese Weise geleistet wird, so gliedert sich der
Stoff zwanglos in drei Gruppen. Die erste umfaßt das schon Erreichte, die
zweite das bereits in der Arbeit Befindliche, die dritte das nur erst ins Auge
Gefaßte. Für alle drei Gruppen gilt das Wort: Geben und Nehmen. Es
kann gar keine Rede davon sein, daß etwa Österreich das Deutsche
Recht im wesentlichen
un- [468] besehen auf sich
übertragen könnte. Das wäre nicht bloß psychologisch,
sondern auch sachlich verfehlt. Gerade im Recht hat Österreich vielfach
Ausgezeichnetes geleistet und kann mindestens volle Gleichberechtigung
beanspruchen. Sie muß ohne kleinliches Mäkeln und Feilschen auf
beiden Seiten bestehen und geübt werden.
Erreicht sind umfassende Vereinbarungen auf den verschiedensten Gebieten. Von
außerordentlicher Wichtigkeit ist der Vertrag über Rechtsschutz und
Rechtshilfe vom 21. Juni 1923, der am 14. Juni 1924 in Kraft
getreten ist. Einen Vertrag dieser Art hat Deutschland mit keinem anderen Lande
abgeschlossen; er geht so weit, als man im Verhältnis zweier
selbständiger Staaten zueinander überhaupt gehen kann.
Gerichtsurteile und Schiedssprüche werden wechselseitig in einem denkbar
einfachen Verfahren anerkannt und vollstreckt, und damit die wichtigsten
Voraussetzungen für einen konstanten Wirtschaftsverkehr, insbesondere
für die Kreditaktionen geschaffen, ohne die er nicht bestehen kann. In
derselben Richtung wirkt der gleichzeitig abgeschlossene Beglaubigungsvertrag,
der für gerichtliche und anderweitige behördliche und notarielle
Beglaubigungen eine beinahe unbeschränkte Anerkennung
gewährleistet. Sehr bewährt hat sich hiebei eine neue Vorschrift,
wonach die oberste Justizverwaltungsbehörde jedes der beiden Staaten der
anderen auf Ansuchen Auskunft über das in ihrem Gebiet geltende Recht
erteilt; eine Bestimmung, die von den Gerichten bereits in zahlreichen
Fällen zur Feststellung von sonst schwer zu ermittelnden
Rechtsvorschriften nutzbar gemacht wird. Bei der Überfülle und
Zersplitterung des Rechtes in beiden Staaten, das durch das Nebeneinander von
Reichs-, Landes- und Ortsrecht für den Außenstehenden noch
unübersichtlicher wird, ist die Eröffnung dieser authentischen
Informationsquelle von nicht zu unterschätzender
Bedeutung. – Am 5. Februar 1927 wurden in Wien zwei Abkommen
unterzeichnet, das
Vormundschafts- und das Nachlaßwesen betreffend, die am
24. Oktober 1927 in Kraft getreten sind. Ersteres bestimmt im
wesentlichen, daß für die Zuständigkeit zur Führung
einer Vormundschaft über Minderjährige im Verhältnis
zwischen Österreich und dem Deutschen Reich nicht die
Staatsangehörigkeit,
sondern – abweichend von den sonst für die Führung von
Vormundschaften über Ausländer geltenden
Grundsätzen – der gewöhnliche Aufenthalt des
Pflegebefohlenen maßgebend ist. Das Nachlaßabkommen bedeutet
vor [469] allem insofern einen
Fortschritt, als die Behandlung von Nachlässen der beiderseitigen
Staatsangehörigen bisher im Verhältnis zu den einzelnen
Ländern des Deutschen Reiches nicht einheitlich geregelt war.
Außerdem soll der gesamte Nachlaß, gleichviel, ob er nur bewegliche
oder auch unbewegliche Sachen umfaßt, grundsätzlich als Einheit
behandelt und der Regelung durch die Heimatbehörden des Erblassers nach
seinem Heimatrecht überlassen werden, so daß der Erbe sich nicht
mehr an die Behörden zweier Staaten zu wenden braucht und die
Anwendung verschiedener Erbrechte
entfällt. – Auch die Verhandlungen wegen eines Vertrages
über die Sozialversicherung haben zu einem positiven Ergebnis
geführt. Er regelt das Gegenseitigkeitsverhältnis in beiden Staaten
auf dem Gebiete der
Kranken-, Unfall-, Angestellten- und Knappschafts- und Pensionsversicherung
und enthält auch Bestimmungen für die Invalidenversicherung, die
jedoch erst wirksam werden, sobald in Österreich die Invalidenversicherung
in Kraft gesetzt wird.
Auf dem Gebiete des gewerblichen Rechtsschutzes und des Urheberrechtes
bestanden zwischen Deutschland und Österreich früher zwei
Übereinkommen, das eine vom 17. November 1908, das andere vom
30. Dezember 1899. Beide haben nach österreichischer Auffassung
durch die staatsrechtlichen Veränderungen nach dem Kriege ihre
Rechtswirksamkeit verloren. Wenn auch ihr Inhalt durch den Beitritt
Österreichs zur Pariser und Berner Verbandsübereinkunft (in den
Jahren 1909 und 1920) zum Teil gegenstandlos geworden ist, legten doch beide
Teile nach dem Kriege großen Wert darauf, den noch praktisch
bedeutsamen Bestimmungen der Abkommen wieder Geltung zu verleihen und sie
durch Regelung einiger anderer Fragen zu ergänzen, die in der Pariser und
Berner Verbandsübereinkunft, den beiden großen
Kollektivverträgen auf dem Gebiete des gewerblichen Rechtsschutzes und
des Urheberrechtes, noch nicht nach Wunsch zum Abschluß gebracht
worden sind. Dies ist gelungen. Am 15. Februar 1930 ist die neue
Übereinkunft unterzeichnet und von beiden Staaten auch bereits ratifiziert
worden. Sie bringt die Beseitigung des Ausführungszwanges bei Patenten,
gewerblichen Mustern und Modellen, indem davon ausgegangen wird, daß
es keinen Unterschied begründen soll, ob die Ausführung in
Deutschland oder Österreich erfolgt: die Gebiete beider Länder
sollen in dieser Hinsicht als ein Land, und zwar hier wie dort als Inland gelten.
Ausgeschlossen wird ferner die Entstehung des Vorbenutzungsrechtes für
das Prioritätsintervall. Ein
Reichsdeut- [470] scher oder
Österreicher, der eine Erfindung im anderen Lande mit der Priorität
seiner Heimatsanmeldung gemäß dem Unionsvertrag anmelden will,
kann also nicht mehr in seinem Patentrecht durch dritte Personen auf Grund
angeblicher Benutzung der Erfindung in der Zeit zwischen beiden Anmeldungen
im anderen Lande beeinträchtigt werden. Das gleiche gilt für
Gebrauchsmuster. Mit rückwirkender Kraft wird die Unabhängigkeit
des Schutzes der Marke vom Heimatschutz begründet, den das neue
österreichische Markengesetz von Angehörigen aller anderen Staaten
verlangt. Dem Interesse vor allem der österreichischen Sensenindustrie
dient die Aufrechterhaltung der Bestimmung, daß öffentliche
Wappen aus dem Gebiet eines der beiden Staaten in dem anderen nicht als
Freizeichen angesehen werden dürfen. Beibehalten ist auch die Vorschrift,
daß die reichsdeutschen und österreichischen Urheber auch für
solche literarischen und künstlerischen Werke, die sie außerhalb des
Gebietes der Berner Union, z. B. in Rußland, zum erstenmal
veröffentlichen, Schutz im anderen Lande genießen. Endlich ist in
Nachbildung des Art. 3 der Pariser Übereinkunft bestimmt,
daß nicht nur die Staatsangehörigen, die in einem der Staaten
Wohnsitz oder Niederlassung haben, die Vergünstigungen des
Übereinkommens genießen sollen.
So erfreulich diese Einigung ist,
so erfüllt sie freilich noch durchaus nicht die gerade auf diesem Gebiete
gehegten weitergehenden Wünsche. Die Beschlüsse der im Mai 1928
in Rom abgehaltenen internationalen Urheberrechtskonferenz machen eine
Ergänzung des österreichischen Urheberrechtsgesetzes in zweierlei
Richtung notwendig. Einerseits muß das sogenannte droit moral,
worunter die unveräußerlichen Persönlichkeitsrechte des
Urhebers an seinem Werke zu verstehen sind, in das Urhebergesetz eingebaut
werden; anderseits bedarf das Recht der rundfunkmäßigen
Wiedergabe eines Werkes einer ausdrücklichen Regelung. Daraufhin hatte
sich schon im Sommer 1928 Österreich an Deutschland mit der Anregung
gewandt, "mit Rücksicht auf die engen Beziehungen zwischen dem
Deutschen Reich und Österreich auf kulturellem Gebiete und auf dem
Gebiete des Verkehrs ein einheitliches Urheberrechtsgesetz für beide
Staaten zu schaffen". Die Anregung ist gut aufgenommen, ihr jedoch bisher keine
praktische Folge geleistet worden, weil man in Deutschland erst prüft, ob
überhaupt ein neues Urheberrechtsgesetz geschaffen werden soll, oder ob
man sich nicht mit bloßen Einzeländerungen und Ergänzungen
begnügen [471] kann. Nun hat
inzwischen Österreich das Gesetz vom 19. Dezember 1929 erlassen,
durch das die Schutzfrist für Werke der Literatur und Kunst, soweit sie am
31. Dezember 1929 oder 31. Dezember 1930 endet, bis
31. Dezember 1931 verlängert wird. Es schafft ein Provisorium, im
wesentlichen mit Rücksicht auf die Werke des am 3. Juni 1899
verstorbenen Komponisten Johann Strauß. Einer endgültigen
Regelung der vielumstrittenen Frage einer Verlängerung der
dreißigjährigen Schutzfrist sollte damit nicht vorgegriffen werden. Im
Gegenteil betonte der Bericht des Justizausschusses an den Nationalrat
ausdrücklich, daß die Bande, die im Bereiche des gesamten
Geisteslebens zwischen Österreich und dem Deutschen Reiche bestehen,
ein einseitiges Vorgehen Österreichs in der für die kulturelle
Entwicklung des ganzen deutschen Volkes so wichtigen Frage der
urheberrechtlichen Schutzfrist ausschließen. Er schlug deshalb folgende
Entschließung vor, die auch die Zustimmung des Nationalrates fand: "Die
Bundesregierung wird aufgefordert, bei der durch die Beschlüsse der im
Jahre 1928 in Rom abgehaltenen Urheberrechtskonferenz notwendig gewordenen
Reform des österreichischen Urheberrechtes im Einvernehmen mit der
deutschen Reichsregierung vorzugehen, um hiedurch die Schaffung inhaltlich
übereinstimmender Urheberrechtsgesetze in der Republik Österreich
und im Deutschen Reich herbeizuführen." Übrigens war es schon in
der Begründung zu der Urheberrechtsnovelle vom 13. Juni 1920 als
naheliegend bezeichnet worden, in erster Linie sogar an die Übernahme des
Deutschen Rechts zu denken; jedenfalls müsse es das Ziel sein, zu einer
vollkommen gleichförmigen Urheberrechtsgesetzgebung zu kommen. Es ist
damals und auch heute noch nicht erreicht worden, obgleich in den Grundfragen
des materiellen Rechtes schon jetzt vielfach volle Übereinstimmung
besteht, die allerdings hie und da durch die Rechtsprechung wieder gestört
ist. Insbesondere ist die Verbreitung durch den Rundfunk ohne Zustimmung des
Autors vom Reichsgericht für unzulässig, vom Obersten Gerichtshof
in Wien für zulässig erklärt worden; und nicht minder
drängen die noch offenen Fragen, wem das Urheberrecht am Film
zuzugestehen ist, und wie es um die rechtliche Natur des Tonfilms steht, nach
einheitlicher Beantwortung.
Eine wirkliche Rechtsangleichung ist hingegen durch das
österreichische Gesetz vom 16. Februar 1928 erfolgt, durch das eine
Reihe von Bestimmungen, insbesondere über den Begriff des Kaufmanns
und die Unterscheidung von
Voll- und Minderkaufleuten mit Wirkung vom [472] 1. April 1928 ab
aus dem Deutschen Handelsgesetzbuch in das österreichische
übernommen worden sind. Hiebei wurde im Bericht des Justizausschusses
des Nationalrates ausdrücklich festgestellt, daß "die volle
Übernahme der seit 27 Jahren in Geltung stehenden bewährten
Vorschriften des Deutschen Handelsgesetzbuches nicht nur einen erheblichen
Fortschritt auf dem Gebiete der Rechtsangleichung zwischen Österreich
und dem Deutschen Reich bedeutet, sondern den Vorteil bietet, daß damit
für die österreichische Praxis die reiche deutsche Literatur und
Rechtsprechung nutzbar gemacht
wird". – Sodann ist das bedeutsame Gebiet des Eisenbahnverkehrsrechtes in
beiden Staaten übereinstimmend geregelt und zugleich die Grundlage
für eine einheitliche Eisenbahnverkehrsordnung gelegt
worden. – Durch Bundesgesetz vom 2. Juli 1929 über
Änderung des gerichtlichen Verfahrens
(6. Gerichtsentlastungsnovelle) hat Österreich in engster und
bewußter Anlehnung an die deutsche Gesetzgebung das Gebiet der Kleinen
Justizreform, also der Übertragung bisher richterlicher Geschäfte auf
befähigte Fachbeamte der Gerichtskanzlei, unter Überwindung
heftiger Widerstände, besonders aus richterlichen Kreisen, weiter
ausgedehnt. – Endlich ist die jüngst verabschiedete Reform der
österreichischen Verfassung in wesentlichen Punkten, vornehmlich in
Ausgestaltung der Rechtsstellung des Bundespräsidenten, dem deutschen
Vorbild gefolgt.
Aus der Masse des werdenden Gemeinschaftsrechtes ragt das Riesenwerk des
neuen Strafgesetzbuches hervor, an das sich im Oktober 1921 der reichsdeutsche
Ministerialdirektor Dr. Bumke und der Wiener Professor Graf Gleispach
nach eingehender Erörterung herantrauten. Es war ein Wagnis. Gerade das
Gebiet des Strafrechtes war die längste Zeit hindurch als eines derjenigen
betrachtet worden, die nach ihrer ganzen Beschaffenheit und ihrer engen
Verknüpfung mit eingewurzelten Sonderanschauungen und
Rechtsgewohnheiten der Rechtsangleichung am wenigsten zugänglich
seien. Der Deutsche Juristentag hatte erst nachträglich und zögernd
am 21. Mai 1916 das Strafrecht in ihren Kreis einbezogen; und selbst
Wilhelm Kahl, der jetzt die Schaffung des gemeinsamen Werkes als die
Krönung seiner Lebensarbeit betrachtet und mit unermüdlicher
Hingabe, diplomatischer Geschicklichkeit und zäher Energie betreibt, hatte
ursprünglich es für nötig gehalten, "den Wein der
Begeisterung für Strafrechtseinheit mit Wasser zu vermischen", weil man in
den Bestrebungen nach Rechtseinheit nicht wesentlich über
Wirtschafts- und Verkehrswesen, [473] beide allerdings im
weitesten Sinne gedacht, werde hinausschreiten können. Aber bei dem
Zusammenwirken zwischen den Vertretern der beiden Staaten, die
diesen – für Deutschland
siebenten – Strafrechtsentwurf aufstellten, ergab sich, daß über
die großen Ziele der Reform eigentlich bereits seit langem beiderseitiges
Einverständnis bestand. Mit Genugtuung stellt dies die Begründung
des Entwurfes fest und fährt fort: "Daß es gelungen ist, auch in den
Einzelheiten, insbesondere in der Abgrenzung der einzelnen Tatbestände,
zu einer Übereinstimmung zu gelangen, ist ein schönes Zeichen
dafür, wie sehr die sittlichen Grundanschauungen in den beiden
Bruderländern übereinstimmen. Gewiß bringt die
Rechtsangleichung es mit sich, daß beide Teile auf manche hergebrachte
Einrichtung, auf den einen oder anderen überlieferten Ausdruck verzichten
müssen; das Opfer ist gering, gemessen an dem hohen Ziele, der Praxis und
der Wissenschaft in beiden Ländern eine einheitliche Grundlage und der
kulturellen Gemeinschaft der deutschen Stämme einen sichtbaren Ausdruck
zu geben." Der nationale Schwung, der in diesen Worten liegt, übertrug
sich auch auf die parlamentarische Behandlung des Stoffes, und es zeigte sich,
daß er geeignet war, über manche Schwierigkeit hinwegzuhelfen, die
mit juristischen Gesichtspunkten allein vielleicht kaum zu überwinden
gewesen wäre. Er trat am stärksten in den deutschen und
österreichischen parlamentarischen Strafrechtskonferenzen zutage, in denen
sich ganz offiziell Vertreter des deutschen Reichstages und des
österreichischen Nationalrates trafen, um je nach dem Fortgang der
Verhandlungen in beiden Körperschaften eine tunlichste
Übereinstimmung der Ergebnisse zu sichern. In den fünf
Konferenzen dieser Art, die abwechselnd in Deutschland und in Österreich
stattfanden, wurde dieses Ziel fast vollständig erreicht. Auf solche Weise
konnte die erste Lesung des Entwurfes in erfreulichster Harmonie beendet und in
die zweite Lesung eingetreten werden,
die – ein Beweis für die sorgfältige Arbeit der
ersten – rasch vorwärts kommt. Zwar liegt noch eine ganze Reihe
wichtiger Fragen vor, deren Nachprüfung sich der
Reichstagsausschuß und die Reichsregierung ausdrücklich
vorbehalten haben. Aber je weiter die Arbeit fortschreitet, desto stärker
wird die Empfindung, daß sie nicht vergeblich aufgewendet sein darf, und
daß sie vor allen Dingen aus nationalen Gründen zu einem positiven
Ende gebracht werden muß, weil andernfalls die nationalen Schäden
die juristischen weitaus überwiegen würden.
Das gleiche gilt
für das der parlamentarischen [474] Behandlung harrende
Strafvollzugsgesetz als notwendige Ergänzung des Strafgesetzbuches. In
gemeinsamer Bearbeitung der beiden Regierungen befinden sich sodann das
Presserecht und das Arbeitsvertragsrecht, während das Tarifvertragsrecht
von den Rechtsausschüssen der deutschen und der österreichischen
Arbeitsgemeinschaft unter Mitwirkung von Regierungsvertretern gestaltet wird.
Diese Mitwirkung wird auch den Arbeiten zuteil, die eine aus Vertretern der
Rechtsausschüsse und der beiderseitigen Handelskammern
paritätisch zusammengesetzte Kommission dem Konkursrecht, der
Vergleichs- (Ausgleichs-) Ordnung und dem Offenbarungseidverfahren widmet.
Sie werden von hervorragenden Vertretern der juristischen Wissenschaft und der
Praxis sowie des Wirtschaftslebens geleistet und stehen kurz vor dem
Abschluß.
Rechtsangleichungspläne endlich beziehen sich gleichfalls auf fast alle
Teile des Rechtssystems. Man wünscht ein gemeinsames
Staatsangehörigkeitsrecht oder ein deutsches Volksbürgerrecht mit
der Folge, daß die beiderseitigen Staatsangehörigen, falls sie ihren
Wohnsitz im Gebiet des anderen Teiles haben, dort auch für letzteren aktiv
und passiv wahlberechtigt werden. Dieser Vorschlag hat sich bereits zu einem
Antrag im Deutschen Reichstag verdichtet (Drucks., III. Wahlperiode,
Nr. 3629), der den in Deutschland niedergelassenen Österreichern
einen Anspruch auf Einbürgerung geben will. Anderseits hat der
österreichische Nationalrat zum zweitenmal eine Entschließung auf
Angleichung des heillos
zer- und verfahrenen österreichischen Eherechtes an das deutsche
angenommen. Der Deutsche Reichstag wiederum faßte eine
Entschließung, die Reichsregierung zu ersuchen, mit Österreich
über die Ausfuhr deutscher Kunstwerke in Verbindung zu treten mit dem
Ziele, eine Übereinkunft im Sinne einer möglichst umfassenden
Erhaltung des gesamtdeutschen Kunstbesitzes zu erzielen. Auf strafrechtlichem
Gebiete erwägt man die Schaffung eines gemeinsamen
Militärstrafgesetzbuches, auf wirtschaftlichem Rechtsangleichung für
Aktienrecht, Kartellrecht und Haftung von Großverkehrsmitteln. Auch ein
Rechtshilfeabkommen in Verwaltungssachen ist angeregt.
Freilich stehen diesen Gewinnposten auch Verlustkonten gegenüber. Als
Deutschland seine Vergleichsordnung vom 5. Juli 1927 erließ,
beklagte man sich in Österreich darüber, daß dies ohne
ausreichende Fühlung mit ihm und in einer von der österreichischen
Ausgleichsordnung sehr abweichenden Form geschehen sei. Von [475] deutscher Seite wurde
demgegenüber betont, daß die wirtschaftlichen Verhältnisse in
beiden Ländern ganz verschieden gelagert seien und eine einheitliche
Lösung unmöglich machten. Österreich hat darauf jetzt mit
einem Entwurf geantwortet, der sich als eine Novelle zu seiner
Ausgleichsordnung darstellt und Wege einschlägt, die sich zwar zum Teil
den deutschen Einrichtungen nähern, zum anderen aber sehr erheblich von
ihnen wegführen. Damit wird zugleich die gemeinsame Arbeit der Juristen
und Wirtschaftler auf diesem Gebiete durchbrochen und bedroht. Es ist nur zu
wünschen und zu hoffen, daß diese Arbeit hinreichend beschleunigt
wird, um den österreichischen Sonderschritt zu verhüten.
Österreich klagt aber auch darüber, daß Deutschland das Recht
der unehelichen Kinder und der Adoption einseitig neu regeln will. Am meisten
verstimmt ist es über die Inangriffnahme einer Zivilprozeßreform
durch das Reich allein; es hätte ähnlich wie bei der Strafrechtsreform
von Anfang an mit Österreich Hand in Hand gehen sollen. Die Regierungen
haben sich schließlich dahin geeinigt, daß die Gemeinschaftsarbeit
sofort nach der Veröffentlichung des in Vorbereitung befindlichen
deutschen Referentenentwurfes beginnen soll.
Um alle diese gesetzgeberischen Akte und Versuche ranken sich, sie umrahmend,
unterstützend und fördernd, Maßnahmen anderer Art. Das
preußische Justizministerium zieht zu seinen Konferenzen ihrer
Justizverwaltung Vertreter Österreichs zu. Die juristische Literatur wendet
sich mehr und mehr der Rechtsvergleichung zwischen deutschem und
österreichischem Recht zu, indem sie dabei deutlich auf das Ziel lossteuert,
die aufgedeckten Verschiedenheiten zu überwinden. Diese Bestrebungen
werden durch die Universitäten unterstützt, indem zum Teil eigene
Vorlesungen ähnlichen Inhalts gehalten, zum anderen Teil Fragen dieser
Art im Rahmen anderer Vorlesungen berührt und erörtert werden.
Auch werden Themen zu Doktordissertationen gern unter solchen
Gesichtspunkten ausgewählt. Bibliotheken werden zusammengestellt und
ergänzt zu dem Zwecke, den Einblick in das Recht des anderen Teiles zu
vermitteln, und Studienreisen veranstaltet, um Gelegenheit zu geben, dieses Recht
nicht bloß theoretisch zu studieren, sondern auch in seiner praktischen
Handhabung zu beobachten. Dem gleichen Zweck dient der Austausch von
Beamten, durch den außerdem ebenso wie bei gemeinsamen Tagungen des
Deutschen Juristentages und anderer Kongresse die persönliche
Fühlungnahme zwischen den am Rechts- [476] leben führend
beteiligten Personen und Ständen vermittelt wird. Dies ist von
größter Bedeutung, weil die Erfahrung lehrt, daß selbst bei
gleichem Wortlaut der Gesetze ihre Ausübung vielfach ein ganz
verschiedenes Gesicht zeigt. Deshalb genügt es nicht einmal, wenn die
Rechtsangleichung bis zur wörtlichen Übereinstimmung der Gesetze
fortschreitet und sich nicht mit dem bloß Sachlichen, also mit der
Rechtsannäherung begnügt. Das tut allerdings auch not. "Zur raschen
Abwicklung des Eisenbahnverkehrs", sagt mit Bezug hierauf ein geistreicher
Wiener, "von einem Staate in den anderen genügt nicht, daß die
Schienenweite nur annähernd die gleiche ist; sie muß
vollständig gleich sein, soll sich der Verkehr reibungslos entwickeln." Aber
es muß auch dafür Sorge getroffen werden, daß die Auslegung
des gemeinsamen Wortlautes gemeinsam bleibt, und hiefür sind
persönliche Zusammenkünfte sehr geeignet und so lange
erforderlich, als nicht dauernde Einrichtungen geschaffen werden, die die
Erhaltung der Rechtseinheit sichern. Man wird nach Verabschiedung des neuen
Strafgesetzbuches gerade nach dieser Richtung hin Vorsorge treffen
müssen, weil sonst die Praxis der Gerichte die Erfolge der Gesetzgebung
sehr leicht wieder aufheben kann. Aber auch andere Gebiete, wie z. B. das
des Urheberrechtes, würden einen guten Boden für Besprechungen
abgeben, die etwa von den Richtern der beiderseitigen höchsten
Gerichtshöfe von Zeit zu Zeit abgehalten werden könnten.
Darüber hinaus ist nicht zu vergessen, daß am Horizont des
Deutschen Rechts der Plan einer umfassenden Justizreform aufgetaucht ist. Wird
sie in Angriff genommen, wie es der Reichstag wünscht, dann sollte dies
nicht geschehen, ohne daß sofort Österreich herangezogen wird.
Seine reichen Erfahrungen würden der großen Sache sehr zugute
kommen und dazu beitragen, daß die Rechtsangleichung den Charakter
hätte, den ihr Franz Klein wünschte: einer Rechtsangleichung nach
oben. Sie würde der deutschen Rechtsentwicklung einen wunderbaren
Aufschwung verleihen, der wiederum der nationalen Entwicklung des deutschen
Volkes zugute käme. So behält der große österreichische
Reformator recht, wenn er den Juristen hüben und drüben zuruft, es
sei ein Augenblick gekommen, wo auch sie Geschichte machen
können – aber sie sollten ihn nicht versäumen!
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