[450] XIV. Wiens
Bedeutung im großdeutschen Raum
Ministerialdirektor a. D. Dr. h. c. Adolf Goetz
(Stuttgart)
Als junger Elsässer in Wien Wien ein
geopolitisches Kräftezentrum ersten Ranges Wien als
Sitz der deutschen Kaiser Wien als Hauptstadt der
Völkermonarchie Wiens industrielle und wirtschaftliche
Entwicklung Wien als kultureller Mittelpunkt
Musik Literatur Malerei
Architektur Wiens Stellung im großdeutschen
Raum Wien kann aus eigener Kraft seine großen
Aufgaben nicht erfüllen Kulturelle Bedeutung Wiens in
Großdeutschland
Berlin–Wien.
"Wien" – wenn ich von Wiens Bedeutung schreiben soll, so steigt in mir die Zeit
meiner Jugend auf, die Zeit, als ich dort im Realgymnasium in der Leopoldstadt
und dann die letzten vier Jahre bis zur Matura im Akademischen Gymnasium
meine Gymnasialzeit verbrachte, in der Leopoldstadt bei dem Mitbegründer
des Deutschen Schulvereines, Viktor Ritter v. Kraus, Geographie und
Geschichte betrieb, und im Akademischen Gymnasium bei Blume in Deutsch und
Geschichte, ich der Elsässer, die Grundlagen deutscher Gesinnung
begeistert in mich aufsog, denen ich bis zum heutigen Tag unerschütterlich
treu geblieben bin.
"Wien" – die einzig schöne Stadt, die mich zeit meines Lebens in ihrem
Banne gehalten hat, wunderbar gelegen an der blauen Donau, die im Norden sie in
breitem Strome abschließt. Im Westen und im Süden in weitem
Bogen umfaßt von den nordöstlichen Ausläufern der Alpen,
dem Wiener Wald mit dem Kahlengebirge, das in seinen vorgeschobenen Gipfeln,
dem
Kahlen- und dem Leopoldsberge, bis an die Donau vorstößt, einem
großartigen umfangreichen Gebiet von grünenden Wäldern, die
der Großstadt eine unversiegbare Quelle von Naturgenüssen
darbieten, durchquert von Tälern und Wässern und besät mit
einer Fülle von lieblich gelegenen Städtchen, Dörfern und
Villenorten. Am Fuße des Kahlenberges und an seinen Hängen ein
breiter Gürtel von Reben, die trefflichen Wein hervorbringen, dazwischen
die Weinorte in mannigfacher Zahl, worunter das vielbesungene Grinzing.
[451] Im Osten und
nördlich der Donau dehnt sich die Stadt in die weitausladende Ebene des
Wiener Beckens über den Prater und die Lobau hinaus und in das breite
Marchfeld hinein.
Diese landschaftlich so entzückende Lage macht aber Wien, wie Paul
Rohrbach mit Recht sagt, darüber hinaus zu einem "geopolitischen
Kräftezentrum ersten Ranges". Diese Lage am Durchbruch der Donau
zwischen den Alpen und den Karpathen und flankiert durch den Bisamberg als
Ausläufer des mährischen Gebirges, bildet "den
Schlüsselpunkt für den Verkehr zwischen dem gesamten
nördlichen und westlichen Mitteleuropa auf der einen Seite und allen
Ländern an der unteren Donau am Balkan und am Schwarzen Meer auf der
anderen. Bei Wien treffen sich der obere und der untere Teil des
Donauwasserweges, die Straße, die aus Schlesien und Polen die March
entlang kommt, die natürlichen Verkehrslinien von Böhmen her und
schließlich die Semmeringstraße vom Adriatischen Meer."
Zugleich bildet Wien die Grenzscheide des deutschen, ungarischen und
slawischen Sprachgebietes.
Dieser wichtige geopolitische Punkt, an dem sich in der vorrömischen Zeit
bereits eine keltische Niederlassung befand, war dem Scharfblick der
Römer nicht entgangen und aus der keltischen Niederlassung schufen sie
das zuerst Vindomina, dann Vindobona genannte Wien als befestigten Ort zur
Beherrschung der Donau.
Karl der Große
schob seine Ostmark bis an den Ostrand der Alpen und bis
nach Wien vor. Sie ging an die Ungarn verloren. Im 10. Jahrhundert
entstand dann unter den Ottonen eine neue Ostmark und Wien wurde in rascher
Entwicklung Mitte des 11. Jahrhunderts die Residenz der Babenberger.
Nach deren Aussterben kam es nach den entscheidenden Kämpfen
zwischen Rudolf von Habsburg
und Ottokar von Böhmen 1276 in den
Besitz der Habsburger. Seit Ferdinand I. war Wien das ständige
Hoflager der deutschen Kaiser.
Während in der nachkarolingischen Zeit der Schwerpunkt des Reiches im
Westen am Rhein, dann unter den Hohenstaufen, zuerst im
Südwesten – die Kaiserkrone und die Reichsinsignien wurden unter Friedrich Barbarossa
in der Pfalz zu Hagenau im Elsaß
aufbewahrt –, dann im Süden in Italien lag, lag derselbe von nun an
im Osten in Wien. Das Gesicht der deutschen Entwicklung war nach Osten
gewandt. Im Nordosten wurden die preußischen und die
bal- [452] tischen Lande
kolonisiert, im Südosten vollzog sich einerseits die Abwehr der
Türken, deren Eroberungswille vor Wien 1529 unter Nikolaus von Salm
und 1683 unter Rüdiger
von Starhemberg, dem Herzog von Lothringen mit
der Reichsarmee und Johann Sobiesky, dem Polenkönig, gebrochen wurde,
anderseits der Ausbau der Hausmacht der Habsburger, die neben ihren damaligen
Besitzungen im Elsaß und im heutigen Baden alle die Lande an sich zogen,
aus denen sich zusammen mit den deutschen Ländern nach und nach das
Gebiet zusammenschloß, das später die
Österreichisch-Ungarische Monarchie bildete.
Wie die Züge der Hohenstaufen nach Italien und ihre dortigen
Erwerbungen, so wird auch diese Einbeziehung fremdsprachiger Völker zu
deutschem Land vielfach und stark als schädliche Politik gebrandmarkt. Ich
will dazu in diesem Rahmen keine Stellung nehmen, aber doch hervorheben,
daß einerseits deutsche Sprache und Kultur durch den Zuzug von deutschen
Einwanderern in Ungarn, in Siebenbürgen, in Slawonien, in Dalmatien,
Krain und Istrien festen Fuß gefaßt haben und diese deutschen
Volksinseln im heutigen Rumänien, Südslawien und Ungarn einen
Aktivposten für unser gesamtdeutsches Volkstum bedeuten und daß
anderseits die starke Verbreitung der deutschen Sprache im gesamten
Südosten Europas für unsere Handelsbeziehungen von
größtem Wert ist.
Auch Wien hat bewiesen, daß es imstande war, den überwiegenden
Teil des ihm aus Böhmen, Ungarn, Galizien, Kroatien und Slowenien
zugewachsenen Menschenmaterials nicht nur der Sprache nach, sondern auch
allgemein dem Deutschtum zu assimilieren. Von den 1856 gezählten
469.223 Einwohnern waren 207.817 in Wien geboren (44,31%), im übrigen
Österreich 235.111 (50,2%), im Ausland 26.293 (5,5%). Die Zahl der
Einwohner Wiens betrug 1820: 256.225, 1923: 1,865.780. Kurz vor
dem Weltkrieg betrug dieselbe über 2 Millionen, nach demselben
sind etwa 200.000 teils abgewandert, teils als kriegsgefallen zu bezeichnen. Nach
der sprachlichen Zugehörigkeit wurden 1923 gezählt: 81.344
Tschechen und Slowaken (4,4%), andere fremdsprachige (2,1%), der Rest, die
ganz große Mehrzahl, waren Deutsche.
So war Wien, nachdem die im Jahre 1848 von den Süddeutschen
angestrebte großdeutsche Lösung der deutschen Frage gescheitert,
Österreich 1867 aus dem Deutschen Reiche ausgeschieden und 1871 die
kleindeutsche Lösung unter preußischer Führung zum Erfolge
[453] gebracht war, die
Hauptstadt der
Österreichisch-Ungarischen Monarchie und damit, um mit Rohrbach zu
reden, zum "Zentrum des Großstaates zwischen dem Elbedurchbruch bei
Tetschen und dem Donaudurchbruch bei Orsowa" geworden.
In dieser Lage hatte es sich nicht nur zu einer modernen Großstadt Europas,
nicht nur zur Zentrale der Wirtschaft
Österreich-Ungarns, sondern insbesondere zum Zentralpunkt von Handel
und Industrie des Südostens Europas entwickelt, dessen Einfluß bis
Galatz, bis Konstantinopel und über das Gesamtgebiet der Adria hinaus
beherrschend war; in ihm verkörperte sich die stärkste Finanzkraft
dieses Südostens Mitteleuropas.
Die gewaltige industrielle und wirtschaftliche Entwicklung Europas seit 100
Jahren hatte sich auch in Wien und seiner Umgebung stark ausgewirkt. Es waren
zur Befriedigung der Bedürfnisse der ganzen Monarchie zahlreiche
Industriebetriebe entstanden. Ich nenne nur Bierbrauereien,
Erzeugnisstätten für
Lebens- und Genußmittel, Fabriken von Maschinen und Metallwaren,
Lokomotiv- und Waggonfabriken,
Kabel- und Automobilfabriken, Bauunternehmungen, chemische Fabriken,
Druckereien,
Möbel- und Klavierfabriken,
Bekleidungs- und Lederwarenstätten,
Gas- und Elektrizitätswerke sowie alles, was unter der Bezeichnung
"Wiener Geschmacksindustrie" begründeten Weltruf genießt.
Die finanzielle Kraft Wiens zeigte sich in seiner wachsenden Bedeutung als
Handels-, Banken- und Börsenplatz. Nach dem gesamten Südosten
hatten sich im Verlauf der Jahrhunderte starke Handelsbeziehungen
geknüpft, die sich im Zeitalter der Industrie wesentlich erweiterten und
vertieften. Der Wiener Kaufmann beherrschte den Südosten Europas.
Daneben entwickelten sich die großen
Bank- und Kreditanstalten von Weltbedeutung: die Kreditanstalt für Handel
und Gewerbe, die Bodenkreditanstalt, und neben diesen Großbanken die
niederösterreichische
Escompte-Gesellschaft, der Wiener Bankverein, die zentraleuropäische
Länderbank, die Merkurbank, die erste österreichische und
Zentralsparkasse der Gemeinde Wien, das Dorotheum und die
Österreichische Postsparkasse sowie das österreichische
Noteninstitut, die Österreichische Nationalbank.
Die geopolitische Lage Wiens bedingt auch seine Bedeutung auf dem Gebiete des
Verkehrs. Hier treffen sich die großen Bahnlinien: Von Osten nach Westen,
von Süden nach Norden, die große [454] Wasserstraße der
Donau von Westen nach Osten und Südosten; riesige Getreidespeicher
zeugen von dem bedeutenden Donauverkehr.
Die zentrale Lage Wiens und seine Schönheit zog nicht nur die Bewohner
der Monarchie immer wieder von neuem an, sondern war auch der Grund eines
starken Fremdenverkehrs von außen, der das wirtschaftliche Leben der Stadt
befruchtete und geistige und künstlerische Leistungen zu weiteren Taten
anspornte. Wer die schönen österreichischen Alpenländer, die
grüne Steiermark, das südlich milde Kärnten, Tirol, Salzburg,
Nieder- und Oberösterreich besuchte, versäumte kaum jemals, der
Reichshauptstadt seinen Besuch abzustatten.
Für die Länder der Monarchie bedeutete Wien den großen
Konsumenten ihrer landwirtschaftlichen Produkte. Was die Riesenstadt an
Fleisch, Käse, Butter, Eiern, Milch, Getreide, Obst und Wein verbrauchte,
war sehr beachtlich. Beide Teile kamen auf ihre Kosten, die Länder durch
die starke Anforderung, die Stadt durch die vorzügliche Qualität des
Gelieferten, das die emsige Arbeit des Landvolkes und der vortreffliche Boden
hervorzubringen vermochte.
Aber nicht nur auf dem Gebiete der Wirtschaft hatte sich Wien einen hohen und
stolzen Rang in Europa erworben, sondern auch auf dem Gebiet der Kultur. Wenn
man von deutscher Kultur spricht, hat die deutschösterreichische Kultur
eine ganz besonders eigene Note, der Wien insbesondere seinen Stempel
aufgedrückt hat. Die Wissenschaften und die Kunst, von letzterer
insbesondere die Musik, die Literatur, die bildenden Künste, Malerei,
Plastik, Architektur, und das Kunstgewerbe wurden in Wien von jeher gepflegt
und haben Leistungen von universaler Bedeutung hervorgebracht. Die
Universität – 1365 von Rudolf IV.
gestiftet –, die 1815 eröffnete Technische Hochschule, die
Hochschule für Bodenkultur, die Akademie der bildenden Künste,
eine Reihe von höheren Lehranstalten (Mittelschulen) und Fachschulen,
eine Reihe von wissenschaftlichen Instituten, Bibliotheken, Sammlungen und
Galerien, unter denen das kunsthistorische und naturhistorische Museum
besonders hervorragen, die vielen und guten Theater, unter denen das
Operntheater und das Burgtheater Institute allerersten Ranges sind, sind die
bedeutsamen Stätten gewaltiger Leistungen von Wissenschaft und Kunst.
Es ist nicht möglich, hier alle die Männer und Frauen zu nennen, die
auf dem Gebiet der Wissenschaft und der darstellenden Kunst Großes
geleistet haben.
[455] Daß auf dem
Gebiete der Musik in Wien das Bedeutendste geleistet wurde, was die letzten
eineinhalb Jahrhunderte hervorgebracht haben, scheint mir zweifellos zu sein, und
zwar sowohl bezüglich der Produktion, wie auch bezüglich der
Reproduktion. Ich brauche bloß die Namen Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Brahms, Bruckner, Hugo Wolf und Johann Strauß zu nennen und
auf das Philharmonische Orchester, das Operntheater, das Theater an der Wien
hinzuweisen und auf alles andere, was da spielt und geigt und singt. Wien ist die
Weltstadt der Musik.
Was die Literatur anbelangt, nenne ich Anastasius Grün und Grillparzer,
Anzengruber und Wildgans und gedenke der ausgezeichneten und formgewandten
Feuilletons und Essays, die die Tagespresse bevölkern. In der Malerei sehen
wir als hervorragende Vertreter Rahl, Feuerbach, Eisenmenger, Canon und den
genialen Makart, in der Skulptur Schwanthaler, Donner, Zanner, Fernkorn,
Tilgner, Zumbusch, Kundmann. Die Architektur zeigt uns herrliche Werke der
Gotik und des insbesondere in Österreich und in Wien zu "Berauschenden
Wundern ausgestalteten Barocks" vor allem das Wahrzeichen Wiens, den
Stephansdom mit seinem hochragenden Turme (139 m), erbaut von Wenzel
von Korneuburg, Hans von Prachatitz und Anton Pilgram, restauriert von dem
Schwaben Friedrich von Schmidt, die
Augustiner-, St.-Michael-, Kapuziner-, Karls- und Votivkirche und viele andere
Kirchen hohen architektonischen Wertes. Ferner eine große Reihe
hervorragender Bauten, vor allem die Hofburg, ein Gebäudekomplex aus
den verschiedensten Zeiten vom 16. Jahrhundert bis zur Vollendung des
von Semper
und Hasenauer entworfenen abschließenden Neubaus 1897, als
deren hervorragendster Baumeister Fischer von Erlach zu nennen ist, das
Belvedere-Schloß von Hildebrandt (Rokoko) und eine ganze Reihe
monumentaler Paläste in der Innenstadt von Fischer von Erlach, Martinelli,
Hildebrandt, van der Nüll, Siccardsburg, Ferstel, Hansen, Förster und
anderen in Barock, Rokoko und modernem Stil erbaut.
Das Schleifen der Umwallung der Inneren Stadt hatte Platz für die
monumentale Ringstraße geschaffen, die in stattlicher Breite die Altstadt
umschließt und Raum für eine Fülle von hervorragenden
Bauten bot. Der Gelegenheit, zu bauen, bescherte ein glückliches Geschick
zugleich eine große Zahl hervorragender Baumeister, was nicht jeder Stadt
in ihrer Entwicklung in dem Maße beschieden war, wie es Wien zuteil
wurde.
[456] So entstand zwischen
1872 und 1897 dieser großartige Komplex an Monumentalbauten um den
Burg- und Franzensring, wie ihn in dieser Fülle, Schönheit und
Vollendung keine andere Stadt besitzt, eingebettet in das Grün des
Hof- und des Volksgartens und des Rathausparkes: rechts von der Oper (van der
Nüll und Siccardsburg) aus der Neubau der Hofburg und des Burgtheaters
(Semper und Hasenauer), links das Kunsthistorische und Naturhistorische
Museum (Hasenauer), dazwischen das Maria-Theresia-Denkmal
von Zumbusch, dann der Justizpalast (Wielemanns), das
Parlamentsgebäude (Hansen), das gewaltige Rathaus (Fr. Schmidt),
die Universität (Ferstel) und abschließend die Votivkirche (Ferstel).
Außerdem sind an besonders bemerkenswerten Bauten jener Zeit das
Deutsche Volkstheater (Fellner und Hellmer), das Museum für Kunst
(Ferstel) und die neue Wiener Börse (Hansen) zu bemerken.
An Wohltätigkeits- und Sanitätseinrichtungen besaß Wien
neben dem großen Allgemeinen Krankenhaus, an das die
Universitätskliniken und Institute, geleitet von hervorragenden
wissenschaftlichen Kapazitäten, angeschlossen waren, eine große
Anzahl von Krankenhäusern, viele große und gut eingerichtete
Badeanstalten (auch an der Donau), eine wohlgeordnete und reich dotierte
Armenpflege und eine Hochquellwasserleitung, die, angeschlossen durch weit
verzweigte Leitungen von Quellen der Alpen, der Stadt Wasser von einer
Qualität und Quantität liefert, wie es kaum eine andere
Großstadt ihr eigen nennen kann.
So sah Wien aus vor dem Weltkrieg. Da kam der Zusammenbruch und das
Auseinanderfallen der Habsburgermonarchie. Letzteres manchem unerwartet, von
den meisten aber längst vorausgesehen und erwartet beim ersten
Anlaß.
Das Reich an der Donau war im Laufe der Jahrhunderte zu einer wirtschaftlich
gesunden Einheit zusammengewachsen. Der immer stärker gewordene
Gegensatz der verschiedenen in ihm vereinigten Nationalitäten hat es
gesprengt. Vielleicht bedauert der eine oder der andere diese Entwicklung. Wir
wollen uns damit abfinden und es begrüßen, daß für die
Deutschen der gesprengten Monarchie der Rückweg frei geworden ist zur
Heimkehr ins alte Vaterland, in den großdeutschen Raum.
Welche Bedeutung wird Wien in diesem Raum zufallen? Wirtschaftlich, politisch,
kulturell?
[457] Es kann keinem
Zweifel unterliegen, daß sich die Nachfolgestaaten bemüht haben und
noch bemühen, Wiens wirtschaftliche Stellung zu untergraben. Sie haben
sich großenteils von den Wiener Banken so weit als möglich
unabhängig gemacht, sie haben sich bemüht, eine neue eigene
Industrie aufzubauen und den Wiener Handel lahmzulegen, auch dies
großenteils mit Erfolg. Aus eigener Kraft wird sich Wien wirtschaftlich aus
dieser Lage nicht befreien können. Auf sich allein gestellt, würde es
nach und nach langsam zugrunde gehen. Im großdeutschen Raum aber wird
es als Teil des großdeutschen Reiches an der gesamtdeutschen Wirtschaft
teilhaben. Es wird als Teilhaber an diesem großen Wirtschaftsgebiet seine
glänzende geopolitische Lage für sich und das ganze Reich fruchtbar
auswerten können. Es wird, wie Rohrbach sagt, "ein nach Osten gekehrtes
Land-Hamburg Großdeutschlands sein, der Platz, wo sich alle
Wirtschaftsbeziehungen nach dem Südosten sammeln und verteilen".
Wiens Aufgabe als Vermittler des Handels des gesamten deutschen
Wirtschaftsgebietes nach dem Südosten wird viel aussichtsreicher sein, als
die Vermittlung für das derzeitige kleine Wirtschaftsgebiet. Ebenso wie
für die Ausfuhr von Deutschland nach Südosten wird auch für
die Einfuhr nach Deutschland durch die Oststaaten Wien die Vermittlungsstelle
bilden. Die gesteigerte Konsumkraft Großdeutschlands wird auch den
Absatz der Oststaaten nach Großdeutschland steigern. Es werden zwar
einzelne Unternehmungen in Wien leiden, Wien als Ganzes wird aber ungeheuer
gewinnen, die früher so erfolgreiche Wiener Qualitätsindustrie wird
sich außerordentlich heben und wird für die deutsche
Massenindustrie eine wertvolle und auch einträgliche Ergänzung
bilden. Die Industrie Wiens in ihrer Gesamtheit wird sich den wirtschaftlichen
Interessen Großdeutschlands anpassen und mit ihnen gemeinsam den
Aufschwung mitmachen, der in dem großen Wirtschaftsgebiet zu erwarten
ist.
So glaube ich, daß die Wirtschaft Wiens durch die Wiedervereinigung mit
dem Reich nur gewinnen kann.
In politischer Beziehung wird Wien die Hauptstadt der derzeitigen
österreichischen Länder bleiben und als die zweite Großstadt
des Reiches Einfluß auf dasselbe auszuüben in der Lage sein. Es wird
sich frei fühlen von der Sorge um eine unbestimmte Zukunft, die durch
Aufteilungs- oder Besetzungspläne seiner Nachbarn hervorgerufen werden
könnte. Im großdeutschen Raum wird es sich davor [458] sicher fühlen
können, Kriegsschauplatz seiner heutigen Nachbarn zu werden oder Teile
seines Hinterlandes, der übrigen deutschösterreichischen
Länder zu verlieren. Seine politische Stellung wird als Teil
Großdeutschlands nicht gemindert, sondern
vergrößert werden.
Wenn schon auf wirtschaftlichem Gebiete Wien im großdeutschen Raum
seine Stellung und seinen Rang steigern, in politischer Beziehung
vergrößern wird, so ist mir für die kulturelle Bedeutung Wiens
in Großdeutschland erst recht nicht bange. Es wird den ersten
Rang darin einnehmen.
Ich weiß die Bedeutung Berlins durchaus zu würdigen, ich erkenne
seine Arbeitskraft und sein Arbeitstempo restlos an, ich weiß auch,
daß der Berliner auf sandigem Boden hart und schwer arbeiten mußte,
um in die Höhe zu kommen, wobei ihm allerdings das ausgezeichnete
Klima stark geholfen hat, aber die Tiefe und die Breite der Kultur ist dabei etwas
zu kurz gekommen. Wien ist dagegen als Stadt langsam und ständig
gewachsen und groß geworden, für die Entwicklung aller
Künste waren die Mittel jederzeit aus allen Bevölkerungsschichten
heraus reichlich vorhanden und die ganze Bevölkerung hatte fast
ausnahmslos an diesen Dingen auch innerlich vollen Anteil. Die Burg und die
Oper gehörten von jeher jedem Wiener, zwischen dem Publikum und den
Darstellern bestand immer ein Konnex, der die Begeisterung der einen und die
Leistungen der anderen anregte und steigerte; und der alte Steffel (Stephansturm)
und der Prater gehören jedem Wiener zu eigen, wie auch der Mozart, der Beethoven, der Bruckner und der Strauß und wie auch der Makart, der
Tilgner und der Zumbusch. Nicht zu vergessen das Land draußen (der
Wiener Wald) und auch Grinzing und sein Heuriger. Das sind Dinge, die langsam
gewachsen sind und nicht künstlich geschaffen werden können und
sind heute noch vorhanden und fest eingewurzelt.
Und alles das wird Großdeutschland zugute kommen und wird sich da
durchsetzen und der Zauber der Reichsstadt Wien wird die Deutschen alle mehr
und mehr anziehen, denn sie haben doch Sinn für so etwas, und der
Verkehr nach Wien wird zunehmen und damit auch der Verkehr nach den
landschaftlich so schönen übrigen österreichischen
Ländern.
So sehe ich neben Berlin als der politischen Hauptstadt des Reiches, neben
Hamburg und Bremen den Städten des Überseeverkehres und den
Städten des rheinischen Industriegebietes Köln, [459] Düsseldorf,
Essen und die anderen Orte, im Südosten Wien als zweite Hauptstadt des
Reiches erstehen, als die große
Handels- und Industriestadt an der Donau, aber auch als Kleinod
wissenschaftlicher, künstlerischer und
allgemein-kultureller Bedeutung.
Und in Wien sehe ich wirken dieses begabte, lebhafte und doch geruhige,
gemütstiefe, idealgesinnte und stets aufopferungsbereite Volk, das bei aller
Schaffenslust und allem Schaffensdrang doch noch nicht den Sinn für naive
Lebensfreude und wahre äußere und innere Kultur verloren hat.
Und so erhoffe und erwarte ich von der Wiederheimkehr
Deutschösterreichs ins Reich eine gegenseitige Befruchtung von Nord und
Süd und von Ost und West, so daß nördliche Tatkraft und
Beharrlichkeit und südliche Kultur und Lebensfreude sich ergänzen
und durchdringen und uns vereinigen zu einem großen, starken, einheitlich
denkenden und fühlenden Volk, das dem deutschen Namen im Innern und
nach außen Ehre und Geltung bringt.
|