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[450] XIV. Wiens Bedeutung im großdeutschen Raum
Ministerialdirektor a. D. Dr. h. c. Adolf Goetz (Stuttgart)

Als junger Elsässer in Wien • Wien ein geopolitisches Kräftezentrum ersten Ranges • Wien als Sitz der deutschen Kaiser • Wien als Hauptstadt der Völkermonarchie • Wiens industrielle und wirtschaftliche Entwicklung • Wien als kultureller Mittelpunkt • Musik • Literatur • Malerei • Architektur • Wiens Stellung im großdeutschen Raum • Wien kann aus eigener Kraft seine großen Aufgaben nicht erfüllen • Kulturelle Bedeutung Wiens in Großdeutschland • Berlin–Wien.

"Wien" – wenn ich von Wiens Bedeutung schreiben soll, so steigt in mir die Zeit meiner Jugend auf, die Zeit, als ich dort im Realgymnasium in der Leopoldstadt und dann die letzten vier Jahre bis zur Matura im Akademischen Gymnasium meine Gymnasialzeit verbrachte, in der Leopoldstadt bei dem Mitbegründer des Deutschen Schulvereines, Viktor Ritter v. Kraus, Geographie und Geschichte betrieb, und im Akademischen Gymnasium bei Blume in Deutsch und Geschichte, ich der Elsässer, die Grundlagen deutscher Gesinnung begeistert in mich aufsog, denen ich bis zum heutigen Tag unerschütterlich treu geblieben bin.

"Wien" – die einzig schöne Stadt, die mich zeit meines Lebens in ihrem Banne gehalten hat, wunderbar gelegen an der blauen Donau, die im Norden sie in breitem Strome abschließt. Im Westen und im Süden in weitem Bogen umfaßt von den nordöstlichen Ausläufern der Alpen, dem Wiener Wald mit dem Kahlengebirge, das in seinen vorgeschobenen Gipfeln, dem Kahlen- und dem Leopoldsberge, bis an die Donau vorstößt, einem großartigen umfangreichen Gebiet von grünenden Wäldern, die der Großstadt eine unversiegbare Quelle von Naturgenüssen darbieten, durchquert von Tälern und Wässern und besät mit einer Fülle von lieblich gelegenen Städtchen, Dörfern und Villenorten. Am Fuße des Kahlenberges und an seinen Hängen ein breiter Gürtel von Reben, die trefflichen Wein hervorbringen, dazwischen die Weinorte in mannigfacher Zahl, worunter das vielbesungene Grinzing.

[451] Im Osten und nördlich der Donau dehnt sich die Stadt in die weitausladende Ebene des Wiener Beckens über den Prater und die Lobau hinaus und in das breite Marchfeld hinein.

Diese landschaftlich so entzückende Lage macht aber Wien, wie Paul Rohrbach mit Recht sagt, darüber hinaus zu einem "geopolitischen Kräftezentrum ersten Ranges". Diese Lage am Durchbruch der Donau zwischen den Alpen und den Karpathen und flankiert durch den Bisamberg als Ausläufer des mährischen Gebirges, bildet "den Schlüsselpunkt für den Verkehr zwischen dem gesamten nördlichen und westlichen Mitteleuropa auf der einen Seite und allen Ländern an der unteren Donau am Balkan und am Schwarzen Meer auf der anderen. Bei Wien treffen sich der obere und der untere Teil des Donauwasserweges, die Straße, die aus Schlesien und Polen die March entlang kommt, die natürlichen Verkehrslinien von Böhmen her und schließlich die Semmeringstraße vom Adriatischen Meer."

Zugleich bildet Wien die Grenzscheide des deutschen, ungarischen und slawischen Sprachgebietes.

Dieser wichtige geopolitische Punkt, an dem sich in der vorrömischen Zeit bereits eine keltische Niederlassung befand, war dem Scharfblick der Römer nicht entgangen und aus der keltischen Niederlassung schufen sie das zuerst Vindomina, dann Vindobona genannte Wien als befestigten Ort zur Beherrschung der Donau.

Karl der Große schob seine Ostmark bis an den Ostrand der Alpen und bis nach Wien vor. Sie ging an die Ungarn verloren. Im 10. Jahrhundert entstand dann unter den Ottonen eine neue Ostmark und Wien wurde in rascher Entwicklung Mitte des 11. Jahrhunderts die Residenz der Babenberger. Nach deren Aussterben kam es nach den entscheidenden Kämpfen zwischen Rudolf von Habsburg und Ottokar von Böhmen 1276 in den Besitz der Habsburger. Seit Ferdinand I. war Wien das ständige Hoflager der deutschen Kaiser.

Während in der nachkarolingischen Zeit der Schwerpunkt des Reiches im Westen am Rhein, dann unter den Hohenstaufen, zuerst im Südwesten – die Kaiserkrone und die Reichsinsignien wurden unter Friedrich Barbarossa in der Pfalz zu Hagenau im Elsaß aufbewahrt –, dann im Süden in Italien lag, lag derselbe von nun an im Osten in Wien. Das Gesicht der deutschen Entwicklung war nach Osten gewandt. Im Nordosten wurden die preußischen und die bal- [452] tischen Lande kolonisiert, im Südosten vollzog sich einerseits die Abwehr der Türken, deren Eroberungswille vor Wien 1529 unter Nikolaus von Salm und 1683 unter Rüdiger von Starhemberg, dem Herzog von Lothringen mit der Reichsarmee und Johann Sobiesky, dem Polenkönig, gebrochen wurde, anderseits der Ausbau der Hausmacht der Habsburger, die neben ihren damaligen Besitzungen im Elsaß und im heutigen Baden alle die Lande an sich zogen, aus denen sich zusammen mit den deutschen Ländern nach und nach das Gebiet zusammenschloß, das später die Österreichisch-Ungarische Monarchie bildete.

Wie die Züge der Hohenstaufen nach Italien und ihre dortigen Erwerbungen, so wird auch diese Einbeziehung fremdsprachiger Völker zu deutschem Land vielfach und stark als schädliche Politik gebrandmarkt. Ich will dazu in diesem Rahmen keine Stellung nehmen, aber doch hervorheben, daß einerseits deutsche Sprache und Kultur durch den Zuzug von deutschen Einwanderern in Ungarn, in Siebenbürgen, in Slawonien, in Dalmatien, Krain und Istrien festen Fuß gefaßt haben und diese deutschen Volksinseln im heutigen Rumänien, Südslawien und Ungarn einen Aktivposten für unser gesamtdeutsches Volkstum bedeuten und daß anderseits die starke Verbreitung der deutschen Sprache im gesamten Südosten Europas für unsere Handelsbeziehungen von größtem Wert ist.

Auch Wien hat bewiesen, daß es imstande war, den überwiegenden Teil des ihm aus Böhmen, Ungarn, Galizien, Kroatien und Slowenien zugewachsenen Menschenmaterials nicht nur der Sprache nach, sondern auch allgemein dem Deutschtum zu assimilieren. Von den 1856 gezählten 469.223 Einwohnern waren 207.817 in Wien geboren (44,31%), im übrigen Österreich 235.111 (50,2%), im Ausland 26.293 (5,5%). Die Zahl der Einwohner Wiens betrug 1820: 256.225, 1923: 1,865.780. Kurz vor dem Weltkrieg betrug dieselbe über 2 Millionen, nach demselben sind etwa 200.000 teils abgewandert, teils als kriegsgefallen zu bezeichnen. Nach der sprachlichen Zugehörigkeit wurden 1923 gezählt: 81.344 Tschechen und Slowaken (4,4%), andere fremdsprachige (2,1%), der Rest, die ganz große Mehrzahl, waren Deutsche.

So war Wien, nachdem die im Jahre 1848 von den Süddeutschen angestrebte großdeutsche Lösung der deutschen Frage gescheitert, Österreich 1867 aus dem Deutschen Reiche ausgeschieden und 1871 die kleindeutsche Lösung unter preußischer Führung zum Erfolge [453] gebracht war, die Hauptstadt der Österreichisch-Ungarischen Monarchie und damit, um mit Rohrbach zu reden, zum "Zentrum des Großstaates zwischen dem Elbedurchbruch bei Tetschen und dem Donaudurchbruch bei Orsowa" geworden.

In dieser Lage hatte es sich nicht nur zu einer modernen Großstadt Europas, nicht nur zur Zentrale der Wirtschaft Österreich-Ungarns, sondern insbesondere zum Zentralpunkt von Handel und Industrie des Südostens Europas entwickelt, dessen Einfluß bis Galatz, bis Konstantinopel und über das Gesamtgebiet der Adria hinaus beherrschend war; in ihm verkörperte sich die stärkste Finanzkraft dieses Südostens Mitteleuropas.

Die gewaltige industrielle und wirtschaftliche Entwicklung Europas seit 100 Jahren hatte sich auch in Wien und seiner Umgebung stark ausgewirkt. Es waren zur Befriedigung der Bedürfnisse der ganzen Monarchie zahlreiche Industriebetriebe entstanden. Ich nenne nur Bierbrauereien, Erzeugnisstätten für Lebens- und Genußmittel, Fabriken von Maschinen und Metallwaren, Lokomotiv- und Waggonfabriken, Kabel- und Automobilfabriken, Bauunternehmungen, chemische Fabriken, Druckereien, Möbel- und Klavierfabriken, Bekleidungs- und Lederwarenstätten, Gas- und Elektrizitätswerke sowie alles, was unter der Bezeichnung "Wiener Geschmacksindustrie" begründeten Weltruf genießt.

Die finanzielle Kraft Wiens zeigte sich in seiner wachsenden Bedeutung als Handels-, Banken- und Börsenplatz. Nach dem gesamten Südosten hatten sich im Verlauf der Jahrhunderte starke Handelsbeziehungen geknüpft, die sich im Zeitalter der Industrie wesentlich erweiterten und vertieften. Der Wiener Kaufmann beherrschte den Südosten Europas.

Daneben entwickelten sich die großen Bank- und Kreditanstalten von Weltbedeutung: die Kreditanstalt für Handel und Gewerbe, die Bodenkreditanstalt, und neben diesen Großbanken die niederösterreichische Escompte-Gesellschaft, der Wiener Bankverein, die zentraleuropäische Länderbank, die Merkurbank, die erste österreichische und Zentralsparkasse der Gemeinde Wien, das Dorotheum und die Österreichische Postsparkasse sowie das österreichische Noteninstitut, die Österreichische Nationalbank.

Die geopolitische Lage Wiens bedingt auch seine Bedeutung auf dem Gebiete des Verkehrs. Hier treffen sich die großen Bahnlinien: Von Osten nach Westen, von Süden nach Norden, die große [454] Wasserstraße der Donau von Westen nach Osten und Südosten; riesige Getreidespeicher zeugen von dem bedeutenden Donauverkehr.

Die zentrale Lage Wiens und seine Schönheit zog nicht nur die Bewohner der Monarchie immer wieder von neuem an, sondern war auch der Grund eines starken Fremdenverkehrs von außen, der das wirtschaftliche Leben der Stadt befruchtete und geistige und künstlerische Leistungen zu weiteren Taten anspornte. Wer die schönen österreichischen Alpenländer, die grüne Steiermark, das südlich milde Kärnten, Tirol, Salzburg, Nieder- und Oberösterreich besuchte, versäumte kaum jemals, der Reichshauptstadt seinen Besuch abzustatten.

Für die Länder der Monarchie bedeutete Wien den großen Konsumenten ihrer landwirtschaftlichen Produkte. Was die Riesenstadt an Fleisch, Käse, Butter, Eiern, Milch, Getreide, Obst und Wein verbrauchte, war sehr beachtlich. Beide Teile kamen auf ihre Kosten, die Länder durch die starke Anforderung, die Stadt durch die vorzügliche Qualität des Gelieferten, das die emsige Arbeit des Landvolkes und der vortreffliche Boden hervorzubringen vermochte.

Aber nicht nur auf dem Gebiete der Wirtschaft hatte sich Wien einen hohen und stolzen Rang in Europa erworben, sondern auch auf dem Gebiet der Kultur. Wenn man von deutscher Kultur spricht, hat die deutschösterreichische Kultur eine ganz besonders eigene Note, der Wien insbesondere seinen Stempel aufgedrückt hat. Die Wissenschaften und die Kunst, von letzterer insbesondere die Musik, die Literatur, die bildenden Künste, Malerei, Plastik, Architektur, und das Kunstgewerbe wurden in Wien von jeher gepflegt und haben Leistungen von universaler Bedeutung hervorgebracht. Die Universität – 1365 von Rudolf IV. gestiftet –, die 1815 eröffnete Technische Hochschule, die Hochschule für Bodenkultur, die Akademie der bildenden Künste, eine Reihe von höheren Lehranstalten (Mittelschulen) und Fachschulen, eine Reihe von wissenschaftlichen Instituten, Bibliotheken, Sammlungen und Galerien, unter denen das kunsthistorische und naturhistorische Museum besonders hervorragen, die vielen und guten Theater, unter denen das Operntheater und das Burgtheater Institute allerersten Ranges sind, sind die bedeutsamen Stätten gewaltiger Leistungen von Wissenschaft und Kunst. Es ist nicht möglich, hier alle die Männer und Frauen zu nennen, die auf dem Gebiet der Wissenschaft und der darstellenden Kunst Großes geleistet haben.

[455] Daß auf dem Gebiete der Musik in Wien das Bedeutendste geleistet wurde, was die letzten eineinhalb Jahrhunderte hervorgebracht haben, scheint mir zweifellos zu sein, und zwar sowohl bezüglich der Produktion, wie auch bezüglich der Reproduktion. Ich brauche bloß die Namen Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Brahms, Bruckner, Hugo Wolf und Johann Strauß zu nennen und auf das Philharmonische Orchester, das Operntheater, das Theater an der Wien hinzuweisen und auf alles andere, was da spielt und geigt und singt. Wien ist die Weltstadt der Musik.

Was die Literatur anbelangt, nenne ich Anastasius Grün und Grillparzer, Anzengruber und Wildgans und gedenke der ausgezeichneten und formgewandten Feuilletons und Essays, die die Tagespresse bevölkern. In der Malerei sehen wir als hervorragende Vertreter Rahl, Feuerbach, Eisenmenger, Canon und den genialen Makart, in der Skulptur Schwanthaler, Donner, Zanner, Fernkorn, Tilgner, Zumbusch, Kundmann. Die Architektur zeigt uns herrliche Werke der Gotik und des insbesondere in Österreich und in Wien zu "Berauschenden Wundern ausgestalteten Barocks" vor allem das Wahrzeichen Wiens, den Stephansdom mit seinem hochragenden Turme (139 m), erbaut von Wenzel von Korneuburg, Hans von Prachatitz und Anton Pilgram, restauriert von dem Schwaben Friedrich von Schmidt, die Augustiner-, St.-Michael-, Kapuziner-, Karls- und Votivkirche und viele andere Kirchen hohen architektonischen Wertes. Ferner eine große Reihe hervorragender Bauten, vor allem die Hofburg, ein Gebäudekomplex aus den verschiedensten Zeiten vom 16. Jahrhundert bis zur Vollendung des von Semper und Hasenauer entworfenen abschließenden Neubaus 1897, als deren hervorragendster Baumeister Fischer von Erlach zu nennen ist, das Belvedere-Schloß von Hildebrandt (Rokoko) und eine ganze Reihe monumentaler Paläste in der Innenstadt von Fischer von Erlach, Martinelli, Hildebrandt, van der Nüll, Siccardsburg, Ferstel, Hansen, Förster und anderen in Barock, Rokoko und modernem Stil erbaut.

Das Schleifen der Umwallung der Inneren Stadt hatte Platz für die monumentale Ringstraße geschaffen, die in stattlicher Breite die Altstadt umschließt und Raum für eine Fülle von hervorragenden Bauten bot. Der Gelegenheit, zu bauen, bescherte ein glückliches Geschick zugleich eine große Zahl hervorragender Baumeister, was nicht jeder Stadt in ihrer Entwicklung in dem Maße beschieden war, wie es Wien zuteil wurde.

[456] So entstand zwischen 1872 und 1897 dieser großartige Komplex an Monumentalbauten um den Burg- und Franzensring, wie ihn in dieser Fülle, Schönheit und Vollendung keine andere Stadt besitzt, eingebettet in das Grün des Hof- und des Volksgartens und des Rathausparkes: rechts von der Oper (van der Nüll und Siccardsburg) aus der Neubau der Hofburg und des Burgtheaters (Semper und Hasenauer), links das Kunsthistorische und Naturhistorische Museum (Hasenauer), dazwischen das Maria-Theresia-Denkmal von Zumbusch, dann der Justizpalast (Wielemanns), das Parlamentsgebäude (Hansen), das gewaltige Rathaus (Fr. Schmidt), die Universität (Ferstel) und abschließend die Votivkirche (Ferstel). Außerdem sind an besonders bemerkenswerten Bauten jener Zeit das Deutsche Volkstheater (Fellner und Hellmer), das Museum für Kunst (Ferstel) und die neue Wiener Börse (Hansen) zu bemerken.

An Wohltätigkeits- und Sanitätseinrichtungen besaß Wien neben dem großen Allgemeinen Krankenhaus, an das die Universitätskliniken und Institute, geleitet von hervorragenden wissenschaftlichen Kapazitäten, angeschlossen waren, eine große Anzahl von Krankenhäusern, viele große und gut eingerichtete Badeanstalten (auch an der Donau), eine wohlgeordnete und reich dotierte Armenpflege und eine Hochquellwasserleitung, die, angeschlossen durch weit verzweigte Leitungen von Quellen der Alpen, der Stadt Wasser von einer Qualität und Quantität liefert, wie es kaum eine andere Großstadt ihr eigen nennen kann.

So sah Wien aus vor dem Weltkrieg. Da kam der Zusammenbruch und das Auseinanderfallen der Habsburgermonarchie. Letzteres manchem unerwartet, von den meisten aber längst vorausgesehen und erwartet beim ersten Anlaß.

Das Reich an der Donau war im Laufe der Jahrhunderte zu einer wirtschaftlich gesunden Einheit zusammengewachsen. Der immer stärker gewordene Gegensatz der verschiedenen in ihm vereinigten Nationalitäten hat es gesprengt. Vielleicht bedauert der eine oder der andere diese Entwicklung. Wir wollen uns damit abfinden und es begrüßen, daß für die Deutschen der gesprengten Monarchie der Rückweg frei geworden ist zur Heimkehr ins alte Vaterland, in den großdeutschen Raum.

Welche Bedeutung wird Wien in diesem Raum zufallen? Wirtschaftlich, politisch, kulturell?

[457] Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß sich die Nachfolgestaaten bemüht haben und noch bemühen, Wiens wirtschaftliche Stellung zu untergraben. Sie haben sich großenteils von den Wiener Banken so weit als möglich unabhängig gemacht, sie haben sich bemüht, eine neue eigene Industrie aufzubauen und den Wiener Handel lahmzulegen, auch dies großenteils mit Erfolg. Aus eigener Kraft wird sich Wien wirtschaftlich aus dieser Lage nicht befreien können. Auf sich allein gestellt, würde es nach und nach langsam zugrunde gehen. Im großdeutschen Raum aber wird es als Teil des großdeutschen Reiches an der gesamtdeutschen Wirtschaft teilhaben. Es wird als Teilhaber an diesem großen Wirtschaftsgebiet seine glänzende geopolitische Lage für sich und das ganze Reich fruchtbar auswerten können. Es wird, wie Rohrbach sagt, "ein nach Osten gekehrtes Land-Hamburg Großdeutschlands sein, der Platz, wo sich alle Wirtschaftsbeziehungen nach dem Südosten sammeln und verteilen".

Wiens Aufgabe als Vermittler des Handels des gesamten deutschen Wirtschaftsgebietes nach dem Südosten wird viel aussichtsreicher sein, als die Vermittlung für das derzeitige kleine Wirtschaftsgebiet. Ebenso wie für die Ausfuhr von Deutschland nach Südosten wird auch für die Einfuhr nach Deutschland durch die Oststaaten Wien die Vermittlungsstelle bilden. Die gesteigerte Konsumkraft Großdeutschlands wird auch den Absatz der Oststaaten nach Großdeutschland steigern. Es werden zwar einzelne Unternehmungen in Wien leiden, Wien als Ganzes wird aber ungeheuer gewinnen, die früher so erfolgreiche Wiener Qualitätsindustrie wird sich außerordentlich heben und wird für die deutsche Massenindustrie eine wertvolle und auch einträgliche Ergänzung bilden. Die Industrie Wiens in ihrer Gesamtheit wird sich den wirtschaftlichen Interessen Großdeutschlands anpassen und mit ihnen gemeinsam den Aufschwung mitmachen, der in dem großen Wirtschaftsgebiet zu erwarten ist.

So glaube ich, daß die Wirtschaft Wiens durch die Wiedervereinigung mit dem Reich nur gewinnen kann.

In politischer Beziehung wird Wien die Hauptstadt der derzeitigen österreichischen Länder bleiben und als die zweite Großstadt des Reiches Einfluß auf dasselbe auszuüben in der Lage sein. Es wird sich frei fühlen von der Sorge um eine unbestimmte Zukunft, die durch Aufteilungs- oder Besetzungspläne seiner Nachbarn hervorgerufen werden könnte. Im großdeutschen Raum wird es sich davor [458] sicher fühlen können, Kriegsschauplatz seiner heutigen Nachbarn zu werden oder Teile seines Hinterlandes, der übrigen deutschösterreichischen Länder zu verlieren. Seine politische Stellung wird als Teil Großdeutschlands nicht gemindert, sondern vergrößert werden.

Wenn schon auf wirtschaftlichem Gebiete Wien im großdeutschen Raum seine Stellung und seinen Rang steigern, in politischer Beziehung vergrößern wird, so ist mir für die kulturelle Bedeutung Wiens in Großdeutschland erst recht nicht bange. Es wird den ersten Rang darin einnehmen.

Ich weiß die Bedeutung Berlins durchaus zu würdigen, ich erkenne seine Arbeitskraft und sein Arbeitstempo restlos an, ich weiß auch, daß der Berliner auf sandigem Boden hart und schwer arbeiten mußte, um in die Höhe zu kommen, wobei ihm allerdings das ausgezeichnete Klima stark geholfen hat, aber die Tiefe und die Breite der Kultur ist dabei etwas zu kurz gekommen. Wien ist dagegen als Stadt langsam und ständig gewachsen und groß geworden, für die Entwicklung aller Künste waren die Mittel jederzeit aus allen Bevölkerungsschichten heraus reichlich vorhanden und die ganze Bevölkerung hatte fast ausnahmslos an diesen Dingen auch innerlich vollen Anteil. Die Burg und die Oper gehörten von jeher jedem Wiener, zwischen dem Publikum und den Darstellern bestand immer ein Konnex, der die Begeisterung der einen und die Leistungen der anderen anregte und steigerte; und der alte Steffel (Stephansturm) und der Prater gehören jedem Wiener zu eigen, wie auch der Mozart, der Beethoven, der Bruckner und der Strauß und wie auch der Makart, der Tilgner und der Zumbusch. Nicht zu vergessen das Land draußen (der Wiener Wald) und auch Grinzing und sein Heuriger. Das sind Dinge, die langsam gewachsen sind und nicht künstlich geschaffen werden können und sind heute noch vorhanden und fest eingewurzelt.

Und alles das wird Großdeutschland zugute kommen und wird sich da durchsetzen und der Zauber der Reichsstadt Wien wird die Deutschen alle mehr und mehr anziehen, denn sie haben doch Sinn für so etwas, und der Verkehr nach Wien wird zunehmen und damit auch der Verkehr nach den landschaftlich so schönen übrigen österreichischen Ländern.

So sehe ich neben Berlin als der politischen Hauptstadt des Reiches, neben Hamburg und Bremen den Städten des Überseeverkehres und den Städten des rheinischen Industriegebietes Köln, [459] Düsseldorf, Essen und die anderen Orte, im Südosten Wien als zweite Hauptstadt des Reiches erstehen, als die große Handels- und Industriestadt an der Donau, aber auch als Kleinod wissenschaftlicher, künstlerischer und allgemein-kultureller Bedeutung.

Und in Wien sehe ich wirken dieses begabte, lebhafte und doch geruhige, gemütstiefe, idealgesinnte und stets aufopferungsbereite Volk, das bei aller Schaffenslust und allem Schaffensdrang doch noch nicht den Sinn für naive Lebensfreude und wahre äußere und innere Kultur verloren hat.

Und so erhoffe und erwarte ich von der Wiederheimkehr Deutschösterreichs ins Reich eine gegenseitige Befruchtung von Nord und Süd und von Ost und West, so daß nördliche Tatkraft und Beharrlichkeit und südliche Kultur und Lebensfreude sich ergänzen und durchdringen und uns vereinigen zu einem großen, starken, einheitlich denkenden und fühlenden Volk, das dem deutschen Namen im Innern und nach außen Ehre und Geltung bringt.


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Die Anschlußfrage
in ihrer kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Bedeutung

Friedrich F. G. Kleinwaechter & Heinz von Paller