III. Das Deutschtum in nichtdeutschen Staaten 7. Das Burgenland Die madjarische Hälfte der österreichisch-ungarischen Monarchie umfaßte 1910 rund 2 Millionen Deutsche, die mehr als 10% der Gesamtbevölkerung ausmachten. Diese Deutschen Ungarns, die heute unter sechs Staaten - Österreich, Ungarn, [78] Tschechoslowakei, Rumänien, Südslawien und Italien (Fiume) - aufgeteilt worden sind, leben jedoch in ihrer großen Mehrheit außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets, gehören also dem Auslanddeutschtum im engeren Sinne an. Nur mit einem verhältnismäßig kleinen Stück hatte auch Ungarn am geschlossenen deutschen Volksboden Mitteleuropas Anteil: das war sein mittlerer westlicher Grenzstrich, der heute gewöhnlich mit dem Namen "Burgenland" bezeichnet wird und im Westen an Niederösterreich und die Steiermark anschließt. Er setzte sich aus den ungarischen Gespanschaften Preßburg, Wieselburg, Ödenburg und Eisenburg zusammen und zählte 1910 etwa 300 000 Deutsche. Das Deutschtum des Burgenlandes ist sehr alten Ursprungs und geht bereits auf die Zeit Karls des Großen zurück, ist jedoch auch durch spätere Einwanderung im Laufe des Mittelalters verstärkt worden. Durch den Vertrag von Trianon, der Ungarn auf etwa ein Viertel seiner früheren Bodenfläche verkleinerte, sollte auch der größte Teil des Burgenlandes von Ungarn abgetrennt werden. Das am nördlichen Ende des Burgenlandes gelegene Preßburg fiel an die Tschechoslowakei, ein kleiner Zipfel im Süden an Südslawien, ein Teil der östlichen Landeshälfte mit den Städten Wieselburg, Güns, St. Gotthardt und Ungarisch-Altenburg verblieb bei Ungarn, der Rest des Landes sollte ohne Volksabstimmung an Deutsch-Österreich abgetreten werden. Daß hier, in dem einen und einzigen Falle des Burgenlandes, die angeblich nach Gesichtspunkten der nationalen Zugehörigkeit erfolgte Grenzziehung zugunsten des Deutschtums ausfiel, ist sicherlich nicht etwa darauf zurückzuführen, daß den Ententemächten das Gewissen geschlagen hätte und sie sich hier ausnahmsweise des Wilson-Programms erinnert hätten. Einmal mögen wirtschaftliche Gründe mitgespielt haben, da die Stadt Wien in hohem Maße auf die Versorgung mit Lebensmitteln aus dem Burgenlande angewiesen ist. Dann aber ist sicherlich der Gedanke maßgebend gewesen, daß die neue Grenz- [79] ziehung eine schwere Belastung für die politischen Beziehungen zwischen Deutsch-Österreich und dem ungarischen Reststaate bedeutete. In dieser Hinsicht hat sich die Entente auch nicht getäuscht; jahrelang hat Ungarn einen zähen Kampf darum geführt, um wenigstens gegenüber dem schwächsten der Staaten, die an seinem Gebiete Anteil haben sollten, seine alten Grenzen zu wahren. Nach buntem Hin und Her, in dem der Einfall ungarischer Truppen kurz vor dem vorgesehenen Abtretungstermin, dem 29. August 1921, eine große Rolle spielte, erreichte es Ungarn, daß über die staatliche Zugehörigkeit der größten burgenländischen Stadt, Ödenburg, und seiner Umgebung eine Volksabstimmung entscheiden sollte. Diese fand am 14. Dezember 1921 statt und stand unter so scharfem madjarischem Drucke, daß der wirkliche Wille der Bevölkerung nicht zu freiem Ausdruck kommen konnte und über den Ausfall der Abstimmung von vornherein ein Zweifel bestand. Trotzdem wurden 8227 Stimmen für Österreich abgegeben (34,9%); das beweist, daß bei wirklich unbeeinflußter Abstimmung der Ausfall wahrscheinlich ganz anders gewesen wäre. Ungarn behielt dadurch aus dem ursprünglich für Österreich bestimmten Teile des Burgenlandes 25 Gemeinden mit etwa 56 000 Deutschen. Es ist sehr bedauerlich, daß der ungarische Staat (ähnlich wie Dänemark in Nordschleswig) im Interesse eines guten Einvernehmens mit Deutschland nicht darauf verzichtet hat, sich wider höheres Recht einen Teil des geschlossenen deutschen Volksbodens anzueignen, der im Hinblick auf Ungarns ungeheure Verluste durch den Vertrag von Trianon für seinen nationalen Bestand von keinerlei Bedeutung sein konnte. Wirtschaftlich und verkehrspolitisch bedeutete die Losreißung Ödenburgs aus dem Organismus der burgenländischen Wirtschaft eine schwere Schädigung des ganzen Landes. Innerhalb Österreich bildet das Burgenland heute ein eigenes Land mit ca. 290 000 Einwohnern, von denen 80% [80] Deutsche sind; es gibt eine Anzahl kroatischer Dörfer (insgesamt 42 000 Kroaten), die madjarische Minderheit ist unbeträchtlich. Sitz der Landesregierung ist Eisenstadt.
Seiner wirtschaftlichen Struktur nach ist das Deutschtum auf beiden Seiten der
Grenze überwiegend landwirtschaftlich. Eine bedeutende Rolle spielt der
Großgrundbesitz, der sich in den Händen einer kleinen Anzahl von
ungarischen Magnatenfamilien befindet.
Zehn Jahre Versailles, besonders Bd. 3 Kapitel "Gebietsverlust durch erzwungene Abtretung oder Verselbständigung: Deutsch-Österreich und seine Grenzgebiete."
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