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Bd. 2: Teil 2: Die politischen Folgen des Versailler Vertrages

II. Politische Aufgaben des Völkerbundes   (Teil 3)

B) Das Abrüstungsproblem   (Teil 2)

2) Das Landheer

Dr. phil. h. c. Bernhard Schwertfeger
Oberst a. D.

Die Bestimmungen des Vertrages von Versailles über das deutsche Landheer sind in den Artikeln 159-179, die Bestimmungen über die Befestigungen im Artikel 180 enthalten. Die Artikel 203-210 behandeln die zur dauernden Prüfung der deutschen Entwaffnung eingerichteten interalliierten Überwachungsausschüsse, ihre Tätigkeit und ihre Rechte, während der Artikel 211 - allgemeine Bestimmungen - von der Pflicht der deutschen Regierung handelt, ihre Gesetzgebung mit den Bestimmungen des Versailler Vertrages in Übereinstimmung zu bringen. Artikel 212 setzt sodann die Aufrechterhaltung einiger Bestimmungen des Waffenstillstandes vom 11. November 1918 fest, und im Artikel 213 muß Deutschland sich verpflichten, jede Untersuchung zu dulden, die der Rat des Völkerbundes mit Mehrheitsbeschluß für notwendig erachtet.

Von grundlegender Bedeutung ist zunächst die allgemeine Bemerkung im Anfange der Bestimmungen über Landheer, Seemacht und Luftfahrt. Danach werden die Deutschland aufgezwungenen Bestimmungen ausdrücklich dahin ausgedeutet, daß sie die Einleitung einer allgemeinen Rüstungsbeschränkung aller Nationen ermöglichen sollen. Deutschland sollte, von den Siegermächten gezwungen, den ersten Schritt zur Abrüstung tun, die anderen Mächte ihm folgen. Ganz offensichtlich ergibt sich diese Forderung aus der Anschauung, daß Deutschland, wie es ja auch im Artikel 231 und in der begründenden Mantelnote vom 16. Juni 1919 gesagt ist, den Weltkrieg entfesselt haben soll, und zwar aus dem einzigen Grunde, weil es nach der Weltherrschaft strebte. Sämtliche Vorschriften über das Landheer sind daher auf das innigste mit der Frage der Schuld am Kriege verknüpft und insofern auch für die Zukunft von den Ergebnissen abhängig, die sich aus einer unparteiischen Prüfung der Kriegsschuldfrage ergeben werden.


Stärke und Einteilung des deutschen Landheeres

Zu den wesentlichsten Rechten eines jeden selbständigen Staatsgebildes gehört es, Umfang und Art der Machtmittel festzusetzen, [134] deren es zur Verteidigung seiner Unabhängigkeit bedarf. Deutschland ist im Vertrage von Versailles einer solchen Selbständigkeit nicht gewürdigt worden: die Siegerstaaten haben vielmehr festgesetzt, wie Deutschlands militärische Machtmittel für die Zukunft beschaffen sein sollen, und sie haben gerade diese Bestimmungen zum tragenden Pfeiler des ganzen Vertrages gemacht.

Nach Artikel 160 mußte das deutsche Heer spätestens zum 31. März 1920 auf sieben Infanterie- und drei Kavallerie-Divisionen herabgesetzt werden. Von diesem Zeitpunkte ab sollte die gesamte Iststärke des Heeres sämtlicher deutschen Einzelstaaten nicht mehr als einhunderttausend Mann einschließlich der Offiziere und Depots betragen.

Es lag auf der Hand, daß bei der Unsicherheit der politischen Lage in Mitteleuropa 1919 und bei der für Deutschland vorliegenden Notwendigkeit, sich nach außen und innen gegen Angriffe auf seine Staatsoberhoheit zu verteidigen, der Termin des 31. März 1920 unhaltbar war. Das eigene Interesse der Siegerstaaten erforderte daher in diesem Punkte ein Entgegenkommen. In dem Abkommen von Spa vom 9. Juli 1920 bewilligte man eine Abänderung des Artikels 160 dahin, daß bis zum 1. Oktober 1920 eine Herabminderung des Heeres auf 150 000 Mann und zum 1. Januar 1921 auf 100 000 Mann zugestanden wurde. Dem noch weitergehenden Antrage der deutschen Regierung, das Heer von 200 000 Mann vorläufig beibehalten zu dürfen und die Herabminderung auf 100 000 Mann erst zum 10. Oktober 1921 vornehmen zu müssen, wurde seitens der Siegerstaaten nicht entsprochen.

Als Bestimmung des deutschen Reichsheeres setzte Artikel 160 die Erhaltung der Ordnung innerhalb des deutschen Gebietes und den polizeilichen Dienst an der Grenze fest. Deutscherseits war man mit vollem Rechte der Anschauung, daß auch der "Grenzschutz" zu den Aufgaben des Reichsheeres gehöre. Die interalliierte Militärkontrollkommission (siehe weiter unten Artikel 203-213) beanstandete diese Auffassung. Die deutsche Regierung blieb in diesem Punkte fest und wird bei einer Neuausgabe des Vertrages von Versailles im Artikel 160 die französische Fassung "la police des frontières" nicht mehr mit "Grenzpolizei", sondern mit "Schutz der Grenzen" übersetzen. Bezeichnend ist aber, daß noch im Spätsommer 1925 in einer Besprechung des deutschen Reichkommissars mit General Walch von letzterem die Forderung geltend gemacht wurde, das deutsche Heer sei nur als Grenzpolizei bestimmt und dürfe nur dementsprechend ausgebildet werden. Deutscherseits wurde diese Auffassung zurückgewiesen. Ihren Niederschlag fanden aber die gegnerischen Auffassungen in der Entwaffnungsnote vom 4. Juni 1925, wonach es Deutschland nicht gestattet wurde, seine Truppen [135] an den ihm nicht vertragsmäßig gestatteten Waffen auszubilden. Die Botschafterkonferenz entschied schließlich dahin, daß für Deutschland zwar das Studium der Waffen, die es nicht besitzen dürfe, erlaubt, daß aber die technische Ausbildung an derartigen Waffen unzulässig sei. Die interalliierte Militärkontrollkommission forderte daraufhin die Vorlage sämtlicher deutschen Ausbildungsvorschriften, um nachzuprüfen, ob man in Deutschland der Entscheidung der Botschafterkonferenz Genüge geleistet habe.

Die Gesamtstärke an deutschen Offizieren einschließlich der Stäbe war ursprünglich auf 4 000 festgesetzt worden. Durch Abkommen vom 9. Juli 1920 wurden noch weitere 300 Sanitätsoffiziersstellen und 200 solche Stellen für Veterinäroffiziere über die Stärke des 100 000-Mann-Heeres hinaus bewilligt.

Die Einteilung und Stärke des Heeres in seinen einzelnen Teilen ist in langwierigen Verhandlungen mit der Botschafterkonferenz und der I. M. K. K. festgesetzt worden. Bis in die Einzelheiten hinein haben die Siegerstaaten ihren Willen geltend zu machen und durchzusetzen gewußt, so bei den Rekrutendepots der Ausbildungsformationen und der Pionierbataillone, bei der Offizierverteilung, bei der Beseitigung der Radfahrerkompagnien, da diese im Vertrage von Versailles nicht ausdrücklich vorgesehen seien, bei der Aufhebung der Linienkommissionen, in denen die I. M. K. K. nichts anderes als die früheren Linienkommandanturen erblicken wollte. Da nach Artikel 178 alle Mobilmachungsmaßnahmen oder solche, die auf eine Mobilmachung hinzielten, untersagt waren, wurde die Aufhebung der Linienkommissionen gefordert. Die Entwaffnungsnote vom 4. Juni 1925 gestand dann wenigstens Transportoffiziere bei den Stäben der Divisionen usw. zu. Die Bevormundung ging so weit, daß man auch die Kommandierung von Offizieren zu den Divisionsstäben, also die Heranbildung von Führergehilfen, beanstandete; auch wurde nicht gestattet, daß einzelne Kommandanturen über einen General als Kommandanten und einen Generalstabsoffizier verfügten.

Den allergrößten Wert legte der Vertrag von Versailles auf die Beseitigung des deutschen Großen Generalstabes und aller anderen ähnlichen Formationen. Ziffer 3 des Artikels 160 gestand nur zwei Generalkommandos für die vorhandenen zehn Divisionen zu und forderte die Auflösung des Großen Generalstabes, der unter keiner Gestalt neu gebildet werden durfte. In den Kriegsministerien der deutschen Einzelstaaten durften nicht mehr als 300 Offiziere vorhanden sein; diese waren auf die Höchststärke von 4 000 Offizieren mit anzurechnen. Bis in die Einzelheiten hinein hat sich die Gegenseite mit der Stellung des Chefs der deutschen Heeresleitung und mit der Einteilung des Reichswehrministeriums beschäftigt. Auch hier bildete die Entwaffnungsnote vom 4. Juni 1925 einen gewissen Ab- [136] schluß; einige Abteilungen des Reichwehrministeriums mußten aufgelöst werden, doch wurde die Fortführung von Referaten gestattet.

Die Besorgnis vor dem "Generalstabe" ging so weit, daß die Gegenseite bei Abschluß der Verhandlungen nachträglich sogar diesen - in allen Armeen üblichen - Namen verboten hat, der durch "Führerstab" ersetzt werden mußte. Risum teneatis, amici?

Die Stärke der Zivilangestellten des Heeres war im Artikel 161 auf ein Zehntel der Stärke von 1913 festgesetzt worden. Das Abkommen von Spa vom 9. Juli 1920 bewilligte weitere 735 Beamtenstellen. Die mehrfach erwähnte Entwaffnungsnote vom 4. Juni 1925 beanstandete trotzdem die Stärke des Zivilpersonals, die Zahl der vorhandenen Verwaltungseinrichtungen und die Höhe der Lebensmittelreserven. Letztere mußten entsprechend eingeschränkt werden. Auch forderten die Siegerstaaten eine Liste, aus der sämtliche militärische Kasernen usw., die sich nicht mehr im Besitze des Heeres befanden, und ihre gegenwärtige Verwendung hervorgehen mußten. Deutscherseits willigte man ein, die Veräußerung dieser Baulichkeiten, den Verkauf oder Umbau, mit je 20% in fünf Jahren erfolgen zu lassen.


Bewaffnung, Munition, Material

Die Bewaffnung des deutschen Heeres wurde in einer Übersicht - Beilage zum Artikel 164 - genau geregelt. Zugestanden waren 84 000 Gewehre, 18 000 Karabiner und ein Zuschlag von höchstens einem Fünfundzwanzigstel an Handfeuerwaffen als Ersatz für Ausfälle. Dieselbe Reserve durfte auch für die Ausrüstung an schweren Maschinengewehren (792 Stück) und an leichten Maschinengewehren (1134 Stück) gehalten werden. An mittleren Minenwerfern waren 63, an leichten 189 Stück mit einer Reserve von 2% zugestanden.

Am einschneidendsten machten sich die Vorschriften des Versailler Diktates bei der Ausrüstung der Artillerie bemerkbar. Es wird für alle Zeiten ein unvergängliches Ruhmesblatt für die deutsche Schwere Artillerie des Feldheeres bilden, daß die sorgenvollen Schöpfer des Versailler Diktates neben der Beseitigung des deutschen Großen Generalstabes gerade auch die Schwere Artillerie abschaffen zu müssen glaubten. Nur leichte Geschütze, 204 Feldkanonen zu 7,7 cm und 84 leichte Feldhaubitzen zu 10,5 cm, sowie eine Reserve von 2% wurden zugestanden. Dadurch blieb das deutsche Reichsheer hinsichtlich seiner artilleristischen Bewaffnung in einem so weiten Abstande hinter allen anderen Militärmächten zurück, daß es als Gegner im Feld- und Stellungskriege nicht mehr zu fürchten war. Nicht genug damit: man hat auch die Ausrüstung des Reichsheeres mit Munition und mit Handwaffen bis in die kleinsten Einzelheiten hinein beeinflußt, obwohl es sich hier nicht um schlachtentscheidende Waffen handelte, über die im Versailler Vertrage ganz allgemein [137] nichts Genaueres gesagt war. So mußte Deutschland z. B. auf seine Maschinenpistolen und Tankabwehrgewehre verzichten und die in seinem Besitz befindlichen Stücke auf Grund einer Entscheidung des Botschafterrates vom 25. Mai 1921 ausliefern. Auch von Granatwerfern war im Versailler Vertrage nicht die Rede; sie wurden daher nicht gestattet. Nur nach langen Verhandlungen gelang es, die Genehmigung der I. M. K. K. dazu zu erwirken, daß die Waffenschulen mit Fecht- und Exerzierwaffen aller Art ausgerüstet werden durften.

Auch wegen des zugelassenen Höchstbestandes an Munition mußte um jede Einzelheit gefeilscht werden, ganz besonders auch wegen der Platzpatronen für Gewehre, Karabiner und Maschinengewehre. Der mehrfach betonte Standpunkt der deutschen Regierung, daß diese Hilfsmittel für die Ausbildung kein Kriegsmaterial seien, wurde von der Gegenseite nicht anerkannt. Sie erklärte sich schließlich bereit, in die jährliche Herstellung und den Jahresverbrauch von 15 Millionen Platzpatronen zu willigen, wobei die deutschen Gesamtvorräte 25 Millionen niemals überschreiten durften.

Auch hinsichtlich des Gerätes beanspruchte die I. M. K. K. die Befugnis, Höchstmengen festzusetzen und Einzelnes ganz zu verbieten. So verbot Artikel 171 die Herstellung von Panzerwagen, Tanks oder irgendwelchen anderen ähnlichen Vorrichtungen, die Kriegszwecken dienen konnten, in Deutschland, ebenso deren Einfuhr nach Deutschland. Nach wiederholtem Notenwechsel wurden schließlich am 21. Januar 1921 jeder Infanterie-Division 15 unbewaffnete gepanzerte Kraftwagen für Mannschaftstransporte genehmigt, im ganzen also deren 105. Sie durften aber nicht geeignet sein, in Kampfpanzerwagen umgeändert zu werden. Alle Anträge der deutschen Regierung, ihr für jeden Wehrkreis ein bis zwei Panzerzüge und die Panzerung für drei weitere Züge zu bewilligen, sind abgelehnt worden.

Auch für die Anfertigung von Waffen, Munition und Kriegsgerät aller Art beanspruchten die Siegerstaaten laut Artikel 168 des Vertrages ein Besichtigungs- und Beschränkungsrecht. Nur solche Zeughäuser durften erhalten bleiben, die zur Lagerung des zugelassenen Munitionsvorrates dienten. Alle anderen Anlagen, die der Anfertigung, Herrichtung, Lagerung von Waffen, Munition und Kriegsgerät aller Art oder der Herstellung entsprechender Entwürfe dienten, mußten geschlossen werden. Nach Artikel 169 hatte sich Deutschland verpflichten müssen, innerhalb zweier Monate nach Inkrafttreten des Vertrages alle Waffen, Munitionsvorräte und das Kriegsgerät, einschließlich des Flugabwehrgerätes, den Regierungen der Siegerstaaten zur Zerstörung oder Unbrauchbarmachung auszuliefern, das in Deutschland über die zugelassenen Mengen hinaus noch vorhanden war. Dieselbe Verpflichtung galt für alle Werkzeuge und Maschinen, [138] die für die Anfertigung von Kriegsgerät bestimmt waren. Die Einfuhr von Waffen, Munition und Kriegsgerät jeder Art nach Deutschland war durch Artikel 170 ebenso ausdrücklich verboten, wie die deutsche Anfertigung und Ausfuhr von Waffen, Munition und Kriegsgerät nach fremden Ländern. Die Herstellung von Giftgasen in Deutschland und ihre Einfuhr nach Deutschland wurde durch Artikel 171 verboten, und in Artikel 172 der deutschen Regierung die Pflicht auferlegt, den Gegnerstaaten die Beschaffenheit und Herstellungsart aller Spreng- und Giftstoffe sowie der anderen chemischen Präparate mitzuteilen, die von ihr im Verlaufe des Weltkrieges angewendet oder vorbereitet worden waren.

Auch für solche Dinge, die im Vertrage von Versailles nicht ausdrücklich angeführt waren wie Fahrräder, Motorräder und Sondergerät, setzte die I. M. K. K. Höchstmengen fest, ebenso auch hinsichtlich des Nachrichtengerätes. Zur Verwendung bei Streiks, Unruhen und sonstigen Störungen erbat die deutsche Regierung dreizehn feste Funkstellen in Königsberg, Stettin, Spandau, Dresden, Cannstatt, Kassel, Hannover, Münster, München, Nürnberg, Potsdam, Breslau und Frankfurt a. O., die am 13. Februar 1922 genehmigt wurden. Eine vierzehnte Funkstelle in Weimar wurde am 31. Juli 1925 bewilligt.

Da Artikel 171, wie bereits erwähnt, die Herstellung, den Gebrauch und die Einfuhr von erstickenden, giftigen oder ähnlichen Gasen für Deutschland verbot, genehmigte die Botschafterkonferenz am 22. März 1921 auch keinerlei Gasschutzgerät für das deutsche Heer. Ein deutscher Einspruch wurde am 20. Mai 1921 zurückgewiesen. Die Entwaffnungsnote vom 5. Juni 1925 genehmigte schließlich einen gewissen von der I. M. K. K. festzusetzenden Vorrat an Gasmasken (1 Maske pro Mann und eine Reserve von 50%). Die Firma Auer wurde als alleinige Lieferantin des Gasschutzgerätes bestimmt. Die Gebäude des ehemaligen "Gasschutzlagers" in Hannover durften zur Verfügung des Heeres bleiben.


Heeresergänzung und militärische Ausbildung

Einschneidender als alle materiellen Einschränkungen der bisher erörterten Artikel des Versailler Vertrages mußte sich die im Artikel 173 geforderte Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht in Deutschland auswirken. Das deutsche Heer durfte hinfort nur im Wege freiwilliger - wirtschaftlich sehr kostspieliger - Verpflichtung aufgestellt und ergänzt werden. Die Unteroffiziere und Gemeinen sollten sich - Artikel 174 - auf eine ununterbrochene Dauer von 12 Jahren verpflichten, die in der Armee verbleibenden Offiziere bis zum Alter von 45 Jahren in der Armee dienen. Neuernannte Offiziere - Artikel 175 - mußten sich verpflichten, wenig- [139] stens 25 Jahre hintereinander wirklich Dienst zu tun. Die Teilnahme ehemaliger Offiziere an theoretischen oder praktischen militärischen Übungen war verboten, ebenso die Einstellung von Unteroffizieren und Mannschaften auf Probezeit.

Der Gedanke an die preußische Heeresreform von 1808 bis 1813 hat die Bestimmungen des Versailler Vertrages über die Heeresergänzung und militärische Ausbildung weitgehend beeinflußt. Damals war es gelungen, neben dem von Napoleon I. genehmigten und geforderten Heere von 42 000 Mann durch Anwendung des sogenannten Krümpersystems Reserven auszubilden und durch vorzeitige Entlassung von Mannschaften die Zahl der ausgebildeten Wehrfähigen allmählich beträchtlich zu erhöhen. Hiergegen wendete sich Artikel 178 mit seiner Bestimmung, daß in keinem Falle bei den Truppenteilen, Behörden oder Stäben Stämme für Ergänzungsformationen vorhanden sein dürften. Unterrichtsanstalten, Hochschulen, Kriegervereine, Schützengilden, Sport- oder Wandervereine, überhaupt Vereinigungen jeder Art und ohne Rücksicht auf das Alter ihrer Mitglieder dürfen sich nach Artikel 177 mit militärischen Dingen nicht befassen, ihre Mitglieder nicht im Waffenhandwerk oder im Gebrauch von Kriegswaffen ausbilden, üben, ausbilden oder üben lassen. Auch dürfen diese Vereine, Gesellschaften, Unterrichtsanstalten und Hochschulen in keinerlei Verbindung mit dem Reichswehrministerium oder irgendeiner anderen militärischen Behörde stehen. Die Entwaffnungsnote vom 4. Juni 1925 forderte ausdrücklich einen Erlaß der deutschen Regierung in diesem Sinne. Ein solcher ist durch Verordnung des Reichsministers des Inneren am 12. Februar 1926 erfolgt.

Die Scharnhorstsche Heeresreform hatte nur dadurch so gewaltige Ergebnisse gezeitigt, daß sie den Hauptnachdruck auf den Geist, auf die Durchdringung des kleinen preußischen Musterheeres mit echt soldatischem Empfinden und Wissen legte. Die militärischen Lehranstalten waren dazu bestimmt, eine einheitliche Durchbildung der ganzen Armee nach wahrhaft militärischen Grundsätzen und unter immer weiterer Entwicklung der taktischen Lehrvorschriften zu bewirken.

Gegen diesen militärischen Geist des deutschen Heeres richtete der Versailler Vertrag seinen Hauptangriff im Artikel 176. Danach mußten binnen zweier Monate nach Inkrafttreten des Vertrages alle Kriegsakademien oder ähnlichen deutschen Einrichtungen, ebenso die verschiedenen Militärschulen für Offiziere, Offiziersaspiranten, Kadetten, Unteroffiziere oder Unteroffiziersschüler bis auf eine Schule für jede Waffengattung aufgehoben werden. Eine Note der I. M. K. K. vom 24. Februar 1920 erläuterte diese Vorschrift dahin, daß nur eine Infanterieschule, eine Kavallerieschule und je eine Schule für die Artillerie und die Pioniere vorhanden sein dürften. Der zweite Kursus [140] der Infanterieschule und die Kavallerieschule in Soltau mußten deshalb auf Grund einer Note vom 13. Juni 1921 aufgehoben werden. Die Schüler und die Stämme der Waffenschulen mußten in das 100 000-Mann-Heer mit eingerechnet werden.

Die Besorgnis der Siegerstaaten vor der deutschen militärischen Tüchtigkeit ging so weit, daß man sich auch noch dagegen zu sichern suchen mußte, falls es Deutschland etwa einfiel, Missionen des Landheeres, der Seemacht oder der Luftstreitkräfte in fremde Länder zu entsenden oder auch nur dorthin abreisen zu lassen. Deutschland mußte sich im Artikel 179 verpflichten, durch geeignete Maßnahmen zu verhindern, daß Reichsdeutsche sein Gebiet verließen, um in das Heer, die Flotte oder den Luftdienst irgendeiner fremden Macht einzutreten. Auch durfte kein Deutscher in einem fremden Lande beim Unterricht in Heer, Marine oder Luftwesen mitwirken. Die Alliierten und Assoziierten Mächte vereinbarten untereinander, "keinen Reichsdeutschen in ihr Heer, ihre Flotte oder ihre Luftstreitkräfte einzureihen oder zur Förderung der militärischen Ausbildung in ein Zugehörigkeitsverhältnis zu ihnen treten zu lassen, überhaupt keinen Reichsdeutschen als Lehrer im Heer-, Marine- oder Luftfahrwesen anzustellen".

Nur Frankreich beanspruchte für sich das Vorrecht, die Mannschaften seiner Fremdenlegion auch weiterhin gemäß den französischen militärischen Gesetzen und Vorschriften zu ergänzen. Hierfür wollte es also auch auf die Beteiligung deutscher Wehrfähiger nicht verzichten.


Befestigungen

Das Sicherheitsbedürfnis Frankreichs war so groß, daß man im Artikel 180 die Abrüstung und Schleifung aller befestigten Anlagen, Festungen und festen Plätze zu Lande westlich einer Linie 50 km östlich des Rheins forderte. Jede Anlage einer neuen Befestigung in dieser Zone wurde verboten. Für die Süd- und Ostgrenze Deutschlands durften die bisherigen Festungen beibehalten werden, und zwar in dem Zustande, in dem sie sich am 10. Januar 1920, dem Tage des Inkrafttretens des Versailler Vertrages, befanden.

Nach Artikel 167 des Vertrages mußte Deutschland Anzahl und Kaliber der in seinen Festungsanlagen im Lande und an der Küste noch vorhandenen Geschütze mitteilen. Danach kamen für die vierzehn noch in Frage kommenden Landbefestigungen Königsberg, Pillau, Boyen, Marienburg, Königstein, Neiße, Glatz, Breslau, Glogau, Küstrin, Swinemünde, Ulm, Ingolstadt und Spandau 4363 Geschütze, davon 2124 schwere, in Betracht. Die I. M. K. K. entschied aber am 20. März 1920, daß nur diejenigen Geschütze zugestanden werden könnten, für die am 10. Januar 1920 feste Stände oder Bettungen [141] schon vorhanden gewesen seien. Für Königsberg wurden schließlich 22 Geschütze zugestanden und weiterhin noch 16 Flugabwehrkanonen. Hinsichtlich der übrigen Festungen erklärte die I. M. K. K. jede Ausrüstung mit Kampfgerät für unzulässig und unnötig, da ja die für die Verteidigung der Festungen allein in Frage kommende Feldtruppe mit allem Kampfbedarf ausgestattet sei. Trotz aller Einsprüche hielt die I. M. K. K. an ihrer Weigerung fest.

Für die Leitung der Entfestigungsarbeiten mußten die Entfestigungsämter Köln, Koblenz und Mainz geschaffen werden. Für die Abrüstung und Schleifung kamen Wesel, Köln, Koblenz, Mainz, Germersheim, Kiel und die Befestigungen am Oberrhein, sowie die Reste der ehemaligen seit 1890 aufgelassenen Festung Rastatt in Betracht. Nach langen Verhandlungen konnten die von der I. M. K. K. geforderten Schleifungsarbeiten soweit herabgesetzt werden, daß sie einen Kostenaufwand von nur noch 277 Millionen statt ursprünglich 619,8 Millionen Reichsmark erforderten. Auch hinsichtlich der deutschen Rayongesetze mußte ein jahrelanger Schriftwechsel mit der I. M. K. K. geführt werden, bis man sich schließlich dahin einigte, nur noch die Rayonbeschränkungen bei Mainz und beim Brückenkopf Kehl bestehen zu lassen, alle anderen aber aufzuheben.


Die Interalliierten Überwachungsausschüsse

Wiederholt ist in den vorhergehenden Ausführungen von der I. M. K. K. - deutsche Abkürzung für Interalliierte Militärkontrollkommission (commission militaire interalliée de contrôle) - die Rede gewesen. Solche Ausschüsse sind für Landheer, Seemacht und Luftfahrt gemäß Artikel 203 des Versailler Vertrages gebildet worden. Als ihre Aufgabe bezeichnete Artikel 204 die Überwachung der regelrechten Ausführung der Auslieferungen, der Zerstörungen, des Abbruchs und der Unbrauchbarmachung zu Lasten der deutschen Regierung. Sie hatten den deutschen Behörden die "Entscheidungen" der Siegerstaaten zur Kenntnis zu bringen und durften zu diesem Zweck ihre Dienststellen am Sitze der deutschen Reichsregierung einrichten, sich an jeden beliebigen Ort des deutschen Reichsgebietes begeben, Unterausschüsse oder einige ihrer Mitglieder dorthin entsenden (Artikel 205). Die deutsche Regierung mußte für jeden interalliierten Überwachungsausschuß einen zur Vermittlung dienenden Beauftragten bezeichnen, der alle für die deutsche Regierung bestimmten Mitteilungen entgegenzunehmen und die von der Gegenseite verlangten Auskünfte oder Schriftstücke zu liefern oder zu beschaffen hatte. Sämtliche Kosten gingen zu Lasten Deutschlands. Die I. M. K. K. galt als Vertreterin der Regierungen der gegnerischen Hauptmächte für die Durchführung der militärischen Bestimmungen. Ihr mußten alle Angaben von militärischer Bedeutung gemacht wer- [142] den; an sie erfolgte die Auslieferung von Waffen, Munition und Kriegsgerät, durch sie die Überwachung der durch den Versailler Vertrag vorgesehenen Zerstörungen, Abbrüche und Unbrauchbarmachungen.

Deutschlands Knebelung schien aber immer noch nicht hinreichend sichergestellt. Deshalb verfügte Artikel 211 des Vertrages, daß die deutsche Gesetzgebung nach Ablauf einer Frist von drei Monaten nach Inkrafttreten des Vertrages so abgeändert werden müsse, daß sie mit dem Vertrage übereinstimme. Auch mußte sich Deutschland im Artikel 213 verpflichten, innerhalb der Geltungsdauer des Versailler Vertrages jede Untersuchung zu dulden, die der Rat des Völkerbundes mit Mehrheitsbeschluß für notwendig erachte.


So war denn die militärische Knebelung Deutschlands nach jeder Richtung hin feinstens ausgeklügelt und gesichert. Inmitten Europas gelegen, konnte Deutschland mit seinen nach jeder Seite offenen Grenzen bei einer Bevölkerung von 63,1 Millionen nur ein Heer von 100 000 Mann Friedens- und Kriegsstärke halten, also nur 0,15 vom Hundert der Bewohnerzahl zum Schutze seiner Landesgrenzen und seiner staatlichen Selbständigkeit aufbieten. Eingekeilt zwischen Frankreich, das bei nur 40,7 Millionen Einwohnern ein Heer von 671 000 Mann (1,6% der Bevölkerung) unterhält, Polen mit einem Friedensheere von 330 000 Mann (1,1%), der Tschecho-Slowakei mit 100 - 140 000 Mann Friedensstärke (1%), Belgien mit 70 900 Mann Friedensstärke (0,89%), um nur einige unserer Nachbarstaaten zu nennen,1 ist Deutschland nach Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht, ohne Großen Generalstab, ohne Schwere Artillerie, ohne militärische Luftfahrt, ohne Tanks, in einem Maße entwaffnet, ja geradezu wehrlos gemacht, daß selbst das ängstlichste Sicherungsbedürfnis unserer westlichen Weltkriegsgegner zufriedengestellt sein müßte.

Für den Fall eines europäischen Krieges ist Deutschland nicht mehr in der Lage, militärisch mitzusprechen, denn bei der Art des modernen Krieges läßt sich das Fehlen der wichtigsten Spezialwaffen nicht ausgleichen. Dem deutschen Heere fehlt das Auge der militärischen Luftstreitkräfte und der Nachdruck der Schweren Artillerie. Für den Fall einer Mobilmachung ist nichts vorbereitet und kann nichts vorbereitet werden. Dadurch hat Deutschland bei seiner geopolitisch bedingten schweren strategischen Notlage inmitten Europas seinen einzigen Vorteil, nämlich die gründliche Mobilmachungsvorarbeit der Vorkriegszeit und die Möglichkeit schneller Anfangserfolge, verloren. Schutzlos liegt es dem Zugriff seiner stärker be- [143] waffneten und meist auf dem Grundsatz der allgemeinen Wehrpflicht fußenden Nachbarstaaten offen.

Zur Wehrlosmachung haben die Siegerstaaten die Kränkung hinzugefügt. Die ursprünglichen Bestimmungen des Versailler Vertrages sind in zahllosen Fällen durch die Auslegungen der Interalliierten Militärkontrollkommission und der Botschafterkonferenz verfälscht, verschoben und völlig unberechtigt nur auf Grund der tatsächlichen Machtverhältnisse zu Ungunsten Deutschlands erweitert worden. Die I. M. K. K. hat ihre Kontrolle auch auf solche Punkte ausgedehnt, die nicht im Sinne des Artikels 203 befristet waren, und auch zu diesen unbefristeten Punkten Auskunft gefordert. Ferner hat sie die Bestimmungen des Vertrages vielfach eigenmächtig erweitert und Lücken, die sich erst bei seiner Durchführung herausstellten, zum Nachteil Deutschlands geschlossen.

Die Alliierten und Assoziierten Mächte sind zweifellos nicht glücklich beraten gewesen, als sie dem im Waffenkampfe unterlegenen Deutschen Reiche die militärischen Bestimmungen des Versailler Vertrages aufzwangen. Sie haben vergessen, daß es auch für den Sieger Grenzen gibt, über die hinauszugehen nicht rätlich ist. Kein Volk von Ehre kann die Erinnerung an einen so schmählichen Unterwerfungsvertrag jemals vergessen. Mit ihm ist weder der Sache des Weltfriedens noch des Völkerbundes gedient.

Vom deutschen Standpunkte aus kann es angesichts der militärischen Knebelungen durch den Versailler Vertrag nur eine Frage geben: ist es Deutschland gewesen, das den Krieg gewollt und entfesselt hat? Ist es also Deutschland, gegen das sich die anderen Staaten Europas sichern müssen? Von der Beantwortung dieser Frage hängt die weitere Entwicklung Europas ab.

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Zehn Jahre Versailles
in 3 Bänden herausgegeben von
Dr. Dr. h. c. Heinrich Schnee und Dr. h. c. Hans Draeger