[105]
Bd. 2: Teil 2: Die politischen
Folgen des Versailler Vertrages
II. Politische Aufgaben des Völkerbundes
(Teil 2)
B) / 1) Das Abrüstungsproblem (Teil 1)
K. von Oertzen
Oberst a. D.
Die Kriegsgegner Deutschlands erhärteten in ihrem
Propaganda-Feldzuge, daß Deutschland die Schuld an dem allgemeinen
Wettrüsten trage; in seinem Streben nach der Weltherrschaft und zu der
planmäßigen Herbeiführung des Unterwerfungskrieges habe es
immer stärker gerüstet und so auch alle anderen Völker zu
höheren Aufwendungen für Heer und Flotte gezwungen. Der Sieg der
Verbündeten sollte, so versprach man den Völkern, auch dazu dienen,
die drückenden Rüstungen zu verringern. Die "allgemeine
Abrüstung" gehörte zu den Kriegszielen der alliierten und assoziierten
Mächte.
Präsident Wilson hat die Kriegsziele am 8. Januar 1918 in seiner
Kongreßrede (in "14 Punkten") bekanntgegeben. In Punkt 4 wird gefordert:
"Austausch entsprechender Garantien dafür, daß die staatlichen
Rüstungen auf das kleinste Maß, das zur inneren Sicherheit
nötig ist, beschränkt werden."
Die 14 Punkte
bildeten die Grundlage für den Abschluß des
Waffenstillstandes. Deutschland, das schon durch die Bestimmungen des
Waffenstillstandes weitgehend entwaffnet wurde, konnte hiernach erwarten,
daß auch die siegreichen Mächte "entsprechende Garantien"
austauschen würden. Der Entwurf zum Versailler Vertrage, der den
deutschen Unterhändlern am 7. Mai 1919 übergeben wurde, enthielt
in den militärischen Klauseln die Entwaffnungsbestimmungen für
Deutschland, aber auch die Zusage der allgemeinen Abrüstung, allerdings
ohne jede nähere Bestimmung und ohne jede Fristsetzung. Die deutsche
Friedensdelegation sagte hierzu in ihren Bemerkungen:
"Getragen von dem Bewußtsein, daß der
Völkerbund die Idee des Rechtes zur Durchführung bringen will und
unter der Voraussetzung, daß Deutschland als gleichberechtigte Macht sofort
mit Friedensschluß in den Völkerbund eintritt, ist die Regierung der
deutschen Republik bereit, dem grundsätzlichen Gedanken der in Teil V der
vorgeschlagenen Bestimmungen über Landheer, Seemacht und
Luftstreitkräfte zuzustimmen. Sie ist insbesondere bereit, in die Abschaffung
der allgemeinen Dienstpflicht zu willigen unter der Voraussetzung, daß dies
»der Anfang einer allgemeinen Beschränkung der Rüstung aller
Nationen« ist und daß spätestens zwei Jahre nach Friedensschluß
auch die anderen Mächte entsprechend Artikel VIII
der gegnerischen Völkerbundakte
Be- [106] schränkungen ihrer Rüstungen
vornehmen und die allgemeine Wehrpflicht abschaffen. Die Regierung der
deutschen Republik liefert durch ihre Bereitwilligkeit, vor den anderen
Mächten abzurüsten, den besten Beweis dafür, daß sie
allen militaristischen und imperialistischen Tendenzen dauernd entsagt.
Dabei muß die deutsche Regierung indes verlangen,
daß auch ihr eine Übergangszeit gewährt wird. Hiernach wird
für Deutschland folgende Regelung vorgeschlagen: »Die deutschen
Landstreitkräfte dürfen eine Gesamtzahl von 100 000 Mann
einschließlich Offiziere und Depots nicht überschreiten.« Dieses Heer
ist zur Erhaltung der Ordnung innerhalb des Deutschen Reiches, zum Grenzschutz
und zu den aus der Aufnahme in den Völkerbund Deutschland
erwachsenden Aufgaben bestimmt. Während einer Übergangszeit
behält Deutschland die Befugnis zur Aufrechterhaltung derjenigen
Truppenstärke, die zum Schutze der gegenwärtig stark
erschütterten Ordnung erforderlich ist. Die Dauer der Übergangszeit
sowie die Truppenstärke wird besonders vereinbart und gegebenenfalls vom
Völkerbund festgesetzt. Die Organisation und Bewaffnung der Heeresmacht
ist - wie jedem Mitglied des
Völkerbundes - so auch Deutschland selbst zu
überlassen.
Unter der Voraussetzung des Eintritts in den
Völkerbund bei Friedensschluß und in der Erwartung späterer
Gegenseitigkeit ist Deutschland bereit, gemäß dem Friedensentwurf
seine Festungen im Westen zu schleifen und eine militärisch unbesetzte
Zone dort einzurichten. Über die Art und Weise, wie in dieser Zone die
innere Ordnung und Sicherheit geschützt werden soll, ist vorher eine
besondere Vereinbarung zu treffen. Deutschland ist bereit, vorbehaltlich der
finanziellen Regelung, nicht nur die im Artikel
185 geforderten
Überwasserschiffe, sondern sämtliche Linienschiffe zur
Verfügung zu stellen. Der Grundsatz, daß kein Staat einer besonderen
Kontrolle über die Abrüstung, außer der durch den
Völkerbund, unterstellt ist, gilt auch für Deutschland.
Die deutsche Regierung ist bereit, über alle weiteren
Einzelheiten auf paritätischer Grundlage zu verhandeln, wobei insbesondere
die notwendige Erweiterung der in Abschnitt V
festgesetzten, technisch
undurchführbaren Fristen sowie die Verwertung des freiwerdenden
Kriegsmaterials des Heeres und der Marine zu friedlichen, insbesondere
wirtschaftlichen Zwecken, gebührender Berücksichtigung
bedarf.
Auf dem Gebiete des Luftfahrtwesens ist Deutschland
bereit, sich jeder Beschränkung zu unterziehen, welcher alle Mitglieder des
Völkerbundes unterworfen werden, und jedem Mitglied des
Völkerbundes hinsichtlich des Überfliegens und der Landung die
Rechte zu gestatten, die Deutschland von allen anderen Mächten
gewährt werden... Es ist das höchste und wertvollste Ziel des
Friedens, Sicherungen dafür zu schaffen, daß dieser Krieg der letzte
gewesen ist und daß die Menschheit vor der Wiederkehr solcher furchtbaren
Katastrophen bewahrt wird. Deutschland ist bereit, alles, was an ihm liegt, zu tun,
um zur Erreichung dieses Zieles beizutragen. Nach den vorstehenden
Vorschlägen würde es nicht seine Schuld sein, wenn die Völker
in dieser Hoffnung enttäuscht und wenn Verhältnisse geschaffen
werden, die mit Naturnotwendigkeit zu neuen Kriegen führen
müssen."
Und in der Mantelnote, mit der die deutsche Delegation die Bemerkungen der
Friedenskonferenz der Gegner übersandte, faßte der deutsche
Außenminister, Graf
Brockdorff-Rantzau, das Angebot noch einmal zusammen:
"Deutschland bietet an, mit der eigenen Entwaffnung
allen anderen Völkern voranzugehen, um zu zeigen, daß es helfen
will, das neue Zeitalter des
Rechts- [107] friedens
herbeizuführen. Es gibt die allgemeine Wehrpflicht auf und verringert, von
Übergangsbestimmungen abgesehen, sein Heer auf 100 000 Mann. Es
verzichtet sogar auf die Schlachtschiffe, die ihm seine Feinde noch lassen wollen.
Aber es setzt voraus, daß es sofort als gleichberechtigter Staat in den
Völkerbund aufgenommen wird. Es setzt voraus, daß ein echter
Völkerbund entsteht, der alle Nationen einschließt, die guten Willens
sind, auch die Feinde von heute. Der Bund muß von einem
Verantwortungsgefühl gegenüber der Menschheit getragen werden
und über eine Zwangsgewalt verfügen, die stark und
zuverlässig genug ist, um die Grenzen seiner Mitglieder zu
schützen."1
Hierauf antworteten die gegen
Deutschland Verbündeten:
I. Die Alliierten und Assoziierten
Mächte legen Wert darauf, besonders hervorzuheben, daß ihre die Rüstungen
Deutschlands betreffenden Bedingungen nicht nur zum Zwecke hatten,
Deutschland die Wiederaufnahme seiner kriegerischen Angriffspolitik
unmöglich zu machen. Die Bedingungen stellen vielmehr gleichzeitig
den ersten Schritt zu der allgemeinen Beschränkung und Begrenzung der
Rüstungen dar, welche die bezeichneten Mächte als eines der besten
Mittel zur Verhinderung von Kriegen zu verwirklichen suchen und die
herbeizuführen zu den ersten Pflichten des Völkerbundes
gehören wird.
II. Sie müssen jedoch feststellen, daß das
ungeheure Anwachsen der Rüstungen in den letzten Jahrzehnten den Staaten
Europas durch Deutschland aufgezwungen worden ist. Weil Deutschland seine
Macht vermehrte, mußten seine Nachbarn das gleiche tun, wollten sie
nicht dem Zwange des deutschen Schwertes widerstandslos ausgeliefert sein. Es ist
daher ebenso gerecht wie notwendig, mit der zwangsweisen Begrenzung der
Rüstungen bei dem Staate zu beginnen, den die Verantwortung für ihr
Anwachsen trifft. Erst wenn der Angreifer den Weg gezeigt hat, können
auch die Angegriffenen in aller Sicherheit ihm folgen.
III. Deutschland hat bedingungslos einer Abrüstung
vor den Alliierten und Assoziierten Mächten zuzustimmen. Es hat die
sofortige Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht anzunehmen; eine genau
festgesetzte Organisation und der Rüstungsmaßstab werden ihm
vorgeschrieben werden. Es ist wesentlich, daß eine besondere Kontrolle mit
Beziehung auf alles ausgeübt wird, was die Einschränkung seiner
bewaffneten Macht und seiner Rüstungen, die Schleifung seiner
Befestigungen und die Einschränkung, Umwandlung oder Vernichtung
seiner militärischen Anlagen betrifft...
Die auf die Bestimmungen über die Seemacht
bezüglichen Bedingungen und Vorschläge der deutschen Delegierten
können nicht berücksichtigt werden. Alle diese Artikel sind
sorgfältig abgefaßt worden und müssen bedingungslos
angenommen werden. Sie gründen sich auf den Wunsch nach einer
allgemeinen Rüstungsbeschränkung aller Nationen und gleichzeitig
auf das Bestreben, Deutschland die für seinen Schutz und für
Seepolizeidienst notwendigen Seestreitkräfte zu belassen."
Graf Brockdorff-Rantzau hat in seinem Gutachten über die
Rückäußerung der Verbündeten über seine
Mantelnote und die Bemerkungen zum Entwurf des Versailler Vertrages geschrieben:
[108] "Statt unser
rückhaltloses Eingehen auf den Gedanken der Abrüstung mit der
bindenden Zusage späterer Gegenseitigkeit in vertragsgemäßer
Frist zu erwidern, begnügen sich die Gegner mit der Ankündigung
eines vagen Programms, das sich nicht einmal auf die Abschaffung der
allgemeinen Wehrpflicht festlegt. Die Bindung unserer gesamten inneren
Heeresorganisation, aller Einzelheiten der Bewaffnung und Ausbildung bleibt
bestehen. Das Zugeständnis einer Übergangsperiode ist nahezu wertlos, weil
es die Periode zu kurz bemißt und die Heeresstärke ohne jede
Erforschung des wirklichen Bedürfnisses festsetzt."2
Damit war vorausahnend erkannt, daß die Vertragsgegner Deutschlands aus
dem Vorteil der Fristlosigkeit ihrer Zusage, auch ihrerseits abzurüsten,
rücksichtslos Nutzen ziehen würden; aber dessenungeachtet darf nicht
übersehen werden, daß darin die bestimmte Zusicherung enthalten ist,
daß die beteiligten Mächte die allgemeine Beschränkung der
Rüstungen verwirklichen wollen und feststellen, daß diese
herbeizuführen zu den ersten Pflichten des Völkerbundes
gehört. Damit wird wiederholt, was der Versailler Vertrag selbst
festsetzt.
Die Einführung zum Teil V des
Vertrages, der die militärischen
Klauseln enthält, sagt:
"Um die Einleitung einer allgemeinen
Rüstungsbeschränkung aller Nationen zu ermöglichen,
verpflichtet sich Deutschland, die im folgenden niedergelegten Bestimmungen
über das Landheer, die Seemacht und die Luftfahrt genau
innezuhalten."
Artikel VIII
des gleichzeitig mit dem Versailler Vertrage in Kraft getretenen
Völkerbundpaktes lautet:
"Die Bundesmitglieder bekennen sich zu dem
Grundsatz, daß die Aufrechterhaltung des Friedens eine Herabsetzung der
nationalen Rüstungen auf das Mindestmaß erfordert, das mit der
nationalen Sicherheit und mit der Erzwingung internationaler Verpflichtungen
durch gemeinschaftliches Vorgehen vereinbart ist.
Der Rat entwirft unter Berücksichtigung der
geographischen Lage und der besonderen Verhältnisse eines jeden Staates
die Abrüstungspläne und unterbreitet sie den verschiedenen
Regierungen zur Prüfung und Entscheidung.
Von zehn zu zehn Jahren sind diese Pläne einer
Nachprüfung und gegebenenfalls einer Berichtigung zu unterziehen.
Die auf diese Weise festgesetzte Grenze der
Rüstungen darf nach ihrer Annahme durch die verschiedenen Regierungen
nicht ohne Zustimmung des Rates überschritten werden.
Mit Rücksicht auf die schweren Bedenken gegen die
private Herstellung von Munition oder Kriegsgerät beauftragen die
Bundesmitglieder den Rat, auf Mittel gegen die daraus entspringenden schlimmen
Folgen Bedacht zu nehmen, und zwar unter Berücksichtigung der
Bedürfnisse der Bundesmitglieder, die nicht in der Lage sind, selbst die
für ihre Sicherheit erforderlichen Mengen an Munition und
Kriegsgerät herzustellen.
Die Bundesmitglieder übernehmen es, sich in der
offensten und erschöpfendsten Weise gegenseitig jede Auskunft über
den Stand ihrer Rüstung, über ihr
Heer-, Flotten- und Luftschiffahrtsprogramm und über die Lage ihrer auf
Kriegszwecke einstellbaren Industrie zukommen zu lassen."
[109] Und in Artikel 23 d
steht:
"...Sie betrauen den Bund mit der allgemeinen
Überwachung des
Waffen- und Munitionshandels mit den Ländern, bei denen die
Überwachung dieses Handels im allgemeinen Interesse unumgänglich
ist."
Bemerkenswert ist die Abschwächung der Fassung des
Völkerbundpaktes gegen das Wilsonsche Programm, das die
Rechtsgrundlage des Waffenstillstandes und Friedens bildet. Wilson verlangte
Herabsetzung der Rüstungen auf das niedrigste, mit der inneren
Sicherheit zu vereinbarende
Maß - der Völkerbundspakt nur auf das Mindestmaß, das
mit der nationalen Sicherheit und mit der Erzwingung internationaler
Verpflichtungen durch gemeinschaftliches Vorgehen vereinbar ist.
Dadurch, daß die Vertragsgegner Deutschlands den Versailler Vertrag
unterzeichneten und ratifizierten, haben sie sich zweifellos verpflichtet, ebenfalls
abzurüsten. Diese Verpflichtung ist auch amtlich nirgends bestritten; im
Gegenteil wiederholt von neuem bekräftigt. In dem Protokoll, das bei dem
Abschluß der Verträge von Locarno am 16. Oktober 1925 unterfertigt
wurde, steht:
"Die Vertreter der hier vertretenen Regierungen
erklären ihre feste Überzeugung, daß die Inkraftsetzung dieser
Verträge und Abkommen in hohem Grade dazu beitragen wird, eine
moralische Entspannung zwischen den Nationen herbeizuführen, daß
sie die Lösung vieler politischer und wirtschaftlicher Probleme
gemäß den Interessen und Empfindungen der Völker stark
erleichtern wird, und daß sie so, indem sie Frieden und Sicherheit in Europa
festigt, das geeignete Mittel sein wird, in wirksamer Weise die im Artikel 8 der
Völkerbundsatzung vorgesehene Entwaffnung zu beschleunigen.
Sie verpflichten sich, an den vom Völkerbund
bereits aufgenommenen Arbeiten hinsichtlich der Entwaffnung aufrichtig
mitzuwirken und die Verwirklichung der Entwaffnung in einer allgemeinen
Verständigung zu erstreben."3
Diese Zusage wurde bei Eintritt Deutschlands in den Völkerbund
wiederholt.
Auf der dritten Tagung der "Vorbereitenden Abrüstungskommission" hat der
Vertreter Frankreichs, Paul Boncour, ausdrücklich die moralische
und juristische Abrüstungsverpflichtung der Versailler Vertragspartner
anerkannt.
"Es ist richtig, daß die
Präambel des V. Teils des
Versailler Vertrages die Deutschland auferlegten
Rüstungsbeschränkungen so wie eine Bedingung und einen
Präzedenzfall für allgemeine Rüstungsbeschränkung im
Auge hat. Dies ist es ja gerade, was diese Beschränkung in klarer Weise von
ähnlich anderen unterscheidet, die nach Kriegsschluß im Laufe der
geschichtlichen Ereignisse auferlegt werden konnten, und die sich übrigens
im allgemeinen als ziemlich unwirksam erwiesen hatten. Was dieser
Stipulation ihren besonderen Wert verleiht, ist, daß sie diesmal nicht nur eine
Bedingung darstellt, die nur einem [110] der Unterzeichner des Vertrages auferlegt
wurde, sondern es ist vielmehr eine Pflicht, eine moralische und
rechtliche Verpflichtung, zu einer allgemeinen Abrüstung zu
kommen, die auch den anderen Unterzeichnern auferlegt
ist."4
Nun hat allerdings ein anderer Vertreter Frankreichs, der Graf Clauzel, diese
Erklärung abzuschwächen versucht, indem er zwar eine moralische
(übrigens von Frankreich angeblich bereits erfüllte) Verpflichtung zur
Rüstungsbeschränkung anerkannte, aber eine rechtliche Bindung
für den Völkerbund ablehnte, da sie nur den Unterzeichnern des
Versailler Vertrages und nicht allen in der vorbereitenden
Abrüstungskonferenz vertretenen Staaten auferlegt sei.5
Der deutsche Außenminister hat diese Auslegung in seiner Rede vom 28.
März 1928 zurückgewiesen:
"Es ist vergeblich, jetzt die
Rechtmäßigkeit des deutschen Anspruches auf allgemeine
Abrüstung zu bestreiten, die in den Verträgen klar zum Ausdruck
gekommen und von den verantwortlichen Staatsmännern der
gegenüberstehenden Mächte wiederholt anerkannt worden ist. Wenn
heute davon gesprochen wird, daß wir keinen juristischen, sondern nur einen
moralischen Anspruch hätten, so liegt darin eine Negierung des
Grundgedankens des Völkerbundes."6
Der deutsche Kanzler Hermann Müller hat in der Versammlung
des Völkerbundes vom 7. September 1928 der deutschen Forderung auf eine
allgemeine Abrüstung Ausdruck gegeben:
"Ich mache kein Hehl daraus, daß
mich der
Stand der Abrüstungsfrage mit ernster Sorge erfüllt. Wir stehen vor
der unleugbaren Tatsache, daß die langen Beratungen hier in Genf in dieser
Richtung bisher zu keinem positiven Ergebnis irgendwelcher Art geführt
haben. Seit nahezu drei Jahren tagt immer wieder die Vorbereitende
Abrüstungskommission. Es ist aber dabei nicht gelungen, die der
Kommission überwiesenen Arbeiten ernsthaft in Angriff zu nehmen,
geschweige denn zu erledigen. Ich gestehe, daß es mich doch tief betroffen
hat, von der einen Seite in ergreifenden, unmittelbar aus dem Leben genommenen
Worten die Anzeichen und Gefahren einer ungehemmten Rüstungspolitik
geschildert zu hören und von der anderen Seite, wenn ich recht verstanden
habe, den Standpunkt vertreten zu sehen, daß dem Abrüstungsproblem
vielfach eine übertriebene Bedeutung beigemessen werde, daß es also
sozusagen eine Frage zweiten Ranges sei, daß es verfrüht wäre,
unmittelbar praktische Resultate herbeiführen zu wollen, und daß man
mit solchen Resultaten erst rechnen dürfe, wenn die einzelnen Staaten das
ihnen noch fehlende Gefühl der Sicherheit gewonnen hätten. Die
Entwaffnung Deutschlands darf nicht länger dastehen als der einseitige Akt
der den Siegern des Weltkrieges in die Hände gegebenen Gewalt. Es
muß endlich zur Erfüllung des vertraglichen Versprechens kommen,
daß der Entwaffnung Deutschlands die allgemeine Abrüstung
nachfolgen solle. Deutschland hat niemals das Bestreben gehabt,
unerfüllbare Maximalforderungen aufzustellen. Es hat sich von vornherein
mit [111] dem Gedanken der graduellen und
etappenweisen Lösung einverstanden erklärt. Daß aber
für die Erreichung einer ersten Etappe die Voraussetzungen gegeben sind,
kommt in der vorjährigen Resolution und in der darin bestätigten
Resolution vom Jahre 1926 unzweideutig zum Ausdruck. Es kommt mithin darauf
an, die Beschlüsse des Vorjahres wirksam zur Durchführung zu
bringen. In der ersten Etappe kann und muß erreicht werden, daß eine
fühlbare Herabsetzung des gegenwärtigen Rüstungsstandes
eintritt, daß diese Herabsetzung sich auf alle Faktoren der Rüstung zu
Lande, zur See und in der Luft bezieht und daß die volle Publizität
aller Rüstungselemente gewährleistet
wird."7
Die durch die militärischen Klauseln bestimmte Abrüstung
Deutschlands war bis zum 1. Januar 1921 durchgeführt und vor Eintritt
Deutschlands in den Völkerbund wurde ausdrücklich festgestellt,
daß Deutschland seine Verpflichtungen aus dem Vertrage in vollem
Umfange erfüllt habe. Nach Erfüllung dieser im Vertrage
vorgesehenen Vorleistung Deutschlands wurde die Verpflichtung der
Vertragsgegner Deutschlands fällig, nun auch ihrerseits abzurüsten.
Vor dem Kriege hatten Abrüstungsfreunde ausgesprochen,
"die Frage der Abrüstung werde
gelöst sein, wenn einmal eine Großmacht vorangehe".8
Heute ist das Unwahrscheinliche Wirklichkeit geworden, ohne daß die von
der Abrüstung einer Großmacht erwartenden Folgen eingetreten sind.
Verhandlungen über die allgemeine Abrüstung sind zwar eingeleitet
und in dem letzten Jahrzehnt ist in zahlreichen Versammlungen und
Ausschüssen von den Vertretern der beteiligten Mächte die
Abrüstungsfrage hin und her gewendet worden, ohne daß ein
greifbares Ergebnis erzielt oder ihm auch nur näher gekommen wäre.
Im Gegenteil: Man kann sich des Eindruckes nicht erwehren, als ob man mit Erfolg
versucht hat, die Abrüstungsfrage immer verwickelter zu machen und unter
einem Wust von Begriffsbestimmungen, Formeln und Protokollen zu
begraben.
Bei Aufbau der Bürokratie des Völkerbundes bildete man auch die
Organe, die nach seinen Satzungen vorgeschrieben oder nötig waren.
Errichtet wurden: der "Ständig beratende Rüstungsausschuß
(commission permanente consultative pour les questions militaires;
abgekürzt C.P.C.) aus militärischen Vertretern der Ratsmächte,
daneben für die nicht oder nicht unmittelbar militärischen Fragen, die
mit der Abrüstung zusammenhängen, die "Zeitweilige gemischte
Kommission" (commission temporaire mixte; abgekürzt C.T.M.). Ferner
wurde eine besondere Abrüstungsabteilung des Völkerbundes
begründet.
[112] 1921 wird auf Veranlassung der "Zeitweiligen
gemischten Kommission" eine "Enquête statistique" durchgeführt, die
eine vergleichende Übersicht der Rüstungen von 1913 und 1921
bietet. 1922 wird der erste Abrüstungsvorschlag, den Lord Esher
vorlegte, verworfen, nachdem die Abrüstungskommission seine technische
Undurchführbarkeit nachgewiesen hatte. 1923 legte Lord Robert Cecil einen
neuen Abrüstungsvorschlag9 vor, der mit einem allgemeinen
Garantievertrag verknüpft war. Man hatte inzwischen die Sicherheitsfrage
vor die Abrüstungsfrage geschoben. Abrüsten könnten die
Staaten nur, wenn ihre Sicherheit garantiert sei. Frankreich machte einen
Gegenvorschlag, den Oberst Réquin vorlegte. Dieser Plan erstrebte die
Legalisierung des französischen militärischen Bündnissystems
und wollte Einzelverträge an Stelle eines allgemeinen Garantiepaktes setzen.
Man versuchte beide Vorschläge zu verschmelzen, kam aber nicht zum
Ziel.
1924 wird von der Vollversammlung des Völkerbundes das sogenannte
Genfer Protokoll10 angenommen. Seine wichtigsten
Bestimmungen sind:
- Der Angriffskrieg wird als internationales Verbrechen erklärt;
- Angreifer ist, wer unter Verletzung der Völkerbundssatzung oder der
Sonderverpflichtungen des Protokolls zum Kriege schreitet oder das Statut einer
neutralen Zone verletzt;
- Festlegung der Verpflichtungen zu militärischen und wirtschaftlichen
Zwangsmaßnahmen gegen den "Angreifer";
- die Verpflichtung zur Teilnahme an einer im Juni 1925 einzuberufenden
Abrüstungskonferenz.
Die zu 2. genannten Sonderverpflichtungen, deren Verletzung der
Völkerbundsrat mit Zweidrittelmehrheit feststellen können soll, sind
im einzelnen so abgefaßt, daß es auf diese Weise der
Völkerbundsmehrheit jederzeit möglich gewesen wäre, jeden
beliebigen Staat als "Angreifer" zu erklären. Jedoch auch dieser Versuch
scheitert. England verweigert (nach dem Regierungswechsel) die Ratifikation.
1925 bringt dafür (zur Herstellung der Sicherheit) den Abschluß der
Locarno-Verträge. Diese Verträge stellen die Sicherheit der Ostgrenze
Frankreichs unter den Schutz Englands und Italiens. Deutschland verzichtet auf
jeden Anspruch auf die Forderung einer Grenzberechtigung im Westen, auf jeden
Versuch, die Grenzen im Osten gewaltsam zu ändern. Im Jahre 1928 wurde
die allgemeine Sicherheit noch erhöht durch die Annahme des Vertrages von
Paris (Kellogg-Pakt), in dem sich alle Staaten verpflichten, auf den Krieg als Mittel
der nationalen Politik zu verzichten.
[113] Im Dezember 1925 wurde die "Vorbereitende
Abrüstungskommission" vom Völkerbundsrat eingesetzt (commission
préparatoire de la Conférence du
désarmement; abgekürzt C.P.D.). Zur
Teilnahme wurden von Nichtmitgliedern des Bundes eingeladen: Deutschland,
Rußland und die Vereinigten Staaten von Nordamerika. Diese Kommission
trat am 18. Mai 1926 in Genf zu ihrer ersten Tagung zusammen und hat seitdem
sechs Sitzungsperioden hinter sich gebracht, auf denen die Schwierigkeiten, die
einer allgemeinen Abrüstung entgegenstehen, klar zutage getreten sind. Der
Sinn und Zweck der allgemeinen Abrüstung tritt bei den Beratungen ganz in
den Hintergrund und wird von Erwägungen und Bestrebungen politischer
Art verdeckt. Warum und wozu soll abgerüstet werden? Diese Frage darf
nicht aus dem Auge verloren werden. Nach Errichtung des Deutschen Reiches hat
in Europa während fast 50 Jahren ein großer Krieg nicht
stattgefunden. Europa war aber trotzdem nicht friedlich. Der Grundsatz si vis
pacem para bellum wurde überall befolgt. Man rüstete um die Wette
und suchte sich für die erwartete große Auseinandersetzung
Bundesgenossen. So zerfiel Europa in zwei sich bis an die Zähne bewaffnet
gegenüberstehende Heerlager.
Die
Ermordung des österreichischen Thronfolgers entfesselte den
Größen Krieg mit seinen heute noch unabsehbaren politischen und
wirtschaftlichen Folgen. Eine Wiederholung solch allgemeinen Kampfes sollte
durch Begründung des Völkerbundes vermieden werden; das
gegenseitige Mißtrauen sollte durch Offenlegung der Rüstungen,
durch Abschaffung der Militärbündnisse, durch eine allgemeine
Abrüstung beseitigt und dadurch die Wurzel der Kriegslust, noch mehr der
Kriegsangst, der Sorge vor einem Überfall der Nachbarn ausgerottet werden.
Deutschland und seine Kriegsverbündeten wurden gezwungen, mit der
Abrüstung zu beginnen. Die anderen Mächte sollten und wollten
nachfolgen. Im Laufe der Jahre hat sich ein Gesinnungsumschwung vollzogen.
Überall, auch in Genf, arbeitet man nicht für die Erhaltung des
Friedens, sondern kämpft darum, sich möglichst günstige
Vorbedingungen für den nächsten Krieg zu schaffen. Jedenfalls glaubt
man dem Frieden am besten zu dienen, wenn man den Krieg vorbereitet. Mit
solcher Gesinnung kann man nicht abrüsten. Wer nicht an die Dauer des
Friedens glaubt, darf auch gar nicht abrüsten; wer seinem Nachbarn
mißtraut, wird sich nicht in die Karten sehen lassen und ruft so wieder
stärkeres Mißtrauen bei seinem Nachbarn hervor, das sich wieder in
dem Wunsche und dem Willen nach stärkerer Rüstung
äußert. Der frühere Reichsgerichtspräsident Dr. Simons
hat die Schwierigkeiten, die einer allgemeinen Abrüstung entgegenstehen, so
umrissen:
"Die Regelung bleibt ein Experiment;
sie deshalb unterlassen zu wollen, wäre ein verhängnisvolles
Mißverständnis; denn Unterlassen ist nicht weniger [114] ein Experiment; aber andererseits erfordert
freilich die Lage alle Erwägungen, die zum Gelingen des Experimentes
beitragen können."11
Die "Vorbereitende Abrüstungskommission" hat ihren Arbeiten folgenden
Fragebogen zugrunde gelegt:
Frage I.
Was ist unter Rüstungen zu verstehen?
- Begriffbestimmung der verschiedenen militärischen,
wirtschaftlichen, geographischen usw. Faktoren, von denen die Stärke eines Landes in
Kriegszeiten abhängt.
- Bestimmung und Angabe der Besonderheiten der verschiedenen Faktoren, die
die Rüstung eines Landes in Friedenszeiten ausmachen; verschiedene
Rüstungsarten (Heer, Flotte, Luftstreitkräfte), Art der Aushebung, der
Ausbildung sowie Organisationen, die unmittelbar militärisch verwendet
werden können usw.
Frage II.
- Ist es möglich, die etwaige Rüstung eines Landes
einzuschränken, oder sollen sich die Abrüstungsmaßnahmen
nur auf die Friedensrüstungen beziehen?
- Was ist unter Herabsetzung oder Beschränkung der Rüstung zu
verstehen?
Verschiedene Formen dieser Herabsetzung oder Beschränkung
für die
Land-, See- und Luftstreitkräfte; Vorteile oder Nachteile jeder der
verschiedenen Formen oder Methoden, z. B. Verminderung der
großen Friedenseinheiten oder ihrer Truppenstärken und des
Materials, mit dem sie ausgerüstet sind, sowie irgendwelcher
Mannschaftsbestände, die sofort mobilisiert werden können;
Herabsetzung der Dauer des aktiven Dienstes, Verminderung des Kriegsmaterials,
Herabsetzung der Kosten der Landesverteidigung usw.
Frage III.
Nach welchen Regeln kann man die Rüstung eines Landes mit der
eines anderen vergleichen, z. B. Truppenstärke, Dienstzeit, Material,
Kosten usw.?
Frage IV.
Gibt es "offensive" und "defensive" Rüstungen?
Gibt es eine Methode, nach der man feststellen kann, ob eine bestimmte
Truppenmacht in rein defensivem Geiste organisiert ist (ohne Rücksicht auf
die Art ihrer Verwendbarkeit in Kriegszeiten) oder ob sie in aggressivem Geist
aufgestellt ist?
Frage V.
- Nach welchen Grundsätzen ließe sich zwischen den
Rüstungen, die jedem Lande zugebilligt werden könnten, ein
Verhältnis herstellen? Dabei wäre besonders zu
berücksichtigen:
geographische Lage,
Ausdehnung und Art der Seeverbindungen,
Dichte und Beschaffenheit des Eisenbahnnetzes,
Verletzbarkeit der Grenzen und Vorhandensein großer
lebenswichtiger Zentren in ihrer Nähe,
[115] erforderliche, bei den einzelnen Staaten
veränderliche Fristen für Umstellung der
Friedens- und Kriegsrüstungen,
Grad der Sicherheit, die der Staat im Falle eines Angriffs auf Grund der
Bestimmungen
der Völkerbundssatzung oder besonderer,
ihm gegenüber eingegangenen
Verpflichtungen zu erwarten hat.
- Kann die Festsetzung der Rüstungen dadurch gefördert werden,
daß man die Möglichkeit der Ermittlung eines Verfahrens prüft,
das geeignet ist, im Augenblick eines etwaigen Angriffs das schnelle Einsetzen der
in Artikel 16
der Völkerbundsatzung vorgesehenen gegenseitigen
wirtschaftlichen und militärischen Unterstützung zu erleichtern?
Frage VI.
- Kann man zwischen Zivil- und Militärflugzeugen unterscheiden?
Wie läßt sich, wenn eine solche Unterscheidung unmöglich ist, bei
der Bewertung der Luftmacht eines Landes der militärische Wert von
Zivilflugzeugen einschätzen?
- Ist es möglich oder wünschenswert, die Schlußfolgerungen
unter a) auf Ersatzteile für Flugzeuge und Maschinen auszudehnen?
- Kann man bei der Bewertung der Seemacht eines Landes den
militärischen Wert der Handelsflotten einschätzen?
Frage VII.
Angenommen, daß die Abrüstung von der Sicherheit
abhängt,
inwieweit läßt sich dann die örtliche Abrüstung als Folge
der örtlichen Sicherheit durchführen? Oder muß jeder
Abrüstungsplan als undurchführbar angesehen werden, wenn er nicht
allgemeine Gültigkeit hat? Läßt sich, wenn die örtliche
Abrüstung durchführbar ist, auf diesem Wege die allgemeine
Abrüstung erreichen?
Diese Fragen zeigen, welche Schwierigkeiten es bietet, eine allgemein
gültige Abrüstungsformel zu finden, zeigt aber gleichzeitig, wie
geschickt man verstanden hat, die Frage zu verwickeln und ihre Lösung
durch politische und technische Hemmungen zu verzögern. Als man 1919
über die Abrüstung Deutschlands und seiner Bundesgenossen zu Rate
saß, hat man es sich nicht so schwer gemacht; allerdings dachte man nicht an
die Interessen und die Sicherheit des abzurüstenden unterlegenen Gegners,
sondern an den politischen Siegespreis für die Kriegsgewinner. Inzwischen
ist aus verschiedentlichen Veröffentlichungen bekanntgeworden, daß
das Abrüstungsdiktat einem zufällig gefundenen Kompromiß
seine Entstehung verdankt; daß man auch die sachverständigen
Gutachten des Marschalls Foch als Vorsitzenden des interalliierten Kriegsrates
einfach beiseite schob. Man ließ Deutschland nicht die von Foch für
notwendig gehaltene Mindeststärke von 200 000 Mann, sondern untersagte
ihm auch die Beibehaltung der allgemeinen Wehrpflicht. Nimmt man hinzu,
daß man gleichzeitig ablehnte, die Garantie für die deutschen Grenzen
zu übernehmen, obwohl niemand 1919 in Paris bezweifelte, daß
Deutschland sie nach seiner Abrüstung nicht mehr selbst schützen
konnte, ist so klar, daß Deutschlands Sicherheit aufgehoben ist; daß
ihm die erste Bedingung für die Souveränität fehlt, sich selbst
be- [116] haupten zu können. Bei den
Abrüstungsverhandlungen spielt die Frage nach der
Sicherheit: sécurité eine
große Rolle; die Herstellung der "Sicherheit" gilt als Vorbedingung zur
Abrüstung. Uns scheint das nicht mehr als ein Vorwand zu sein, die
Abrüstung zu verhindern. Man kann immer behaupten, man fühle sich
noch nicht sicher genug; verlange noch weitere vertragliche Sicherungen, noch
andere politische Sicherheiten. Solange man nicht an den Frieden glaubt, immer
den Krieg fürchtet, ist das Sicherheitsbedürfnis nicht zu befriedigen.
Die beste Sicherung ist die allgemeine Abrüstung. Nicht die Sicherheit
macht erst die Abrüstung möglich, sondern der Abrüstung folgt
von selbst die Sicherheit; jedenfalls eine größere Sicherheit, als sie
alle Sicherheitsverträge bieten können.
Um den Sicherheitswünschen entgegenzukommen, hat ein
Unterausschuß der Vorbereitenden Abrüstungskommission 1927 unter
Leitung des tschechoslowakischen Außenministers Benesch Muster
für Sicherheitsabkommen ausgearbeitet. Unter diesen befindet sich auch ein
Vertragsentwurf, der die gegenseitige Hilfeleistung festlegt (also eine Wiederkehr
des Genfer Protokolls bedeutet) und von dem die Kritik gesagt hat, "er organisiere
den Krieg gegen den Krieg". Um die ungelöste Streitfrage, was eigentlich
zur Rüstung eines Landes gehört und was von dieser Rüstung
bei der Abrüstung erfaßt werden soll, aus dem Gebiete der Theorie in
das der Praxis zurückzuführen, hat Deutschland der
Abrüstungskommission im März 1928 einen ausführlichen
Vorschlag unterbreitet, der eine wirksame Klarstellung des augenblicklichen
tatsächlichen Rüstungsstandes der Welt zum Ziele hat. Deutschland
folgt dabei dem Artikel VIII
der Völkerbundsakte, der die Bundesmitglieder
verpflichtet, in der offensten und erschöpfendsten Weise alle
Auskünfte über den Stand ihrer Rüstungen, über ihr
Heeres-, Flotten- und Luftschiffprogramm sowie über die Lage ihrer zu
Kriegszwecken verwendbaren Industrie auszutauschen. Der Völkerbund hat
bisher diese Bestimmung durch die Art, wie er sie ausgeführt hat, ihres
Sinnes entkleidet und ihrer Wirkung beraubt. Die Offenlegung der
Rüstungen sollte das gegenseitige Mißtrauen, die Wurzel des
Wettrüstens und damit eine dauernde Bedrohung des Friedens, eine
tägliche Kriegsgefahr beseitigen. Dazu war allerdings eine wirkliche
Offenlegung der Rüstungsmaßnahmen, ein großzügiger
Einblick in den bis zum Großen Kriege so ängstlich gehüteten
Mobilmachungsmechanismus nötig. Diese letzte Forderung ist leider
deutscherseits nicht gestellt, um Entgegenkommen gegen die Bedenken der
anderen zu zeigen. Wer an den Frieden denkt und den Krieg fernhalten will, wird
sich gegen eine solche Mitteilung seines Mobilmachungsprogrammes nicht
sträuben; wer an dem Kriege als Mittel der nationalen Politik festhält,
muß seine Rüstungspläne geheimhalten. Die Anhänger
der Geheimhaltung und die Erzeuger und [117] Nutznießer des gegenseitigen
Mißtrauens haben bisher im Völkerbund gesiegt. Das vom
Völkerbundssekretariat zusammengestellte "Annuaire militaire" des
Völkerbundes
enthält - dem Wortlaut und dem Sinn der Völkerbundsakte
widersprechend - nur solche Angaben, die die Staaten sowieso schon
amtlich veröffentlicht haben, also nichts anderes, als was die
Haushaltsgesetze, statistischen Jahrbücher und die jedermann
zugänglichen militärischen Handbücher bringen. Damit ist
nichts gewonnen. Alles, was jeder Staat an personellen und materiellen
Rüstungsfaktoren im Frieden für den Krieg bereitstellt, also auch die
Zahl seiner ausgebildeten Reserven und die Menge seines Kriegsmaterials, will
man wissen und muß man wissen, wenn man ruhig schlafen soll.
Der deutsche Veröffentlichungsvorschlag sieht demgemäß die
Beantwortung folgender Fragen vor:
I. Grad der Rüstungsstärke:
- Mannschaften
- unter den Fahnen: Offiziere, Unteroffiziere, Mannschaften,
Gesamtstärke.
Jährliche Einberufungsdauer des aktiven Dienstes und der Übungen;
- zur unmittelbaren Kriegsverfügung (kommt da in Frage, wo, wie zum
Beispiel in Frankreich und in der Schweiz, mehrere Jahrgänge ohne
Mobilmachungsbefehl unter die Fahne berufen werden können): Offiziere,
Unteroffiziere, Mannschaften;
- Reserven im Mobilmachungsfalle: Offiziere, Unteroffiziere,
Mannschaften.
Nach diesem Schema sollen getrennt geführt werden:
Streitkräfte in
der Heimat; Überseestreitkräfte, die in der Heimat garnisoniert sind;
Gesamtstreitkräfte (in der Heimat und Übersee). Diese Angaben werden
gefordert für das Heer zu Lande, die Flotte und die Luftmacht.
Außerdem sollen die nicht der aktiven Wehrmacht angehörenden
militärisch organisierten Formationen angegeben werden.
- Kriegsmateriel im Gebrauch und auf Lager, in der Heimat und Übersee,
nach Zahl der Waffen und Munition, und zwar zu Lande: Gewehre und Karabiner,
Maschinengewehre, lange und kurze Kanonen, über und unter 15
Zentimeter, Mörser jeder Art, Tanks und Panzerautomobile; für die
Flotte: Gewehre und Karabiner, Maschinengewehre, lange und kurze Kanonen,
über und unter 15,2 Zentimeter, Mörser aller Art,
Torpedolancierrohre, Minen für Unterseeboote und Granaten; in der Luft:
Jagdflugzeuge, Beobachtungsflugzeuge, Bombenflugzeuge, Schulflugzeuge,
sowohl für das Landheer als auch für die Flotte, Luftschiffe
über und unter 30 000 Kubikmeter Inhalt.
II. Militärprogramme:
Hier müßten Angaben veröffentlicht werden:
- über die Heeresorganisation und ihre Umänderungen, soweit
sie durch Gesetz oder besondere Anordnungen in Wirksamkeit getreten sind;
- über deren Auswirkungen im nächsten Jahr.
[118] III. Rüstungs-Industrien:
- Industrien, die im Frieden Kriegsmaterial herstellen:
- staatliche Fabriken,
- Privatunternehmen, auch solche, die nur zum Teil Kriegsmaterial liefern. Diese
Unternehmungen wären namentlich anzuführen; ebenso die
Gesamterzeugung im vorigen Jahr (nicht die Erzeugung nach Unternehmen), nach
Materialarten geordnet und für Landheer, Flotte und Luftstreitkräfte
getrennt.
- Industrien, die gegebenenfalls zur Herstellung von Kriegsmaterial nutzbar
gemacht werden können:
- staatliche Unternehmungen,
- Privatunternehmungen, die schon im Frieden Kriegsmaterial herstellen,
- andere Unternehmen, die nach ausgearbeiteten Plänen im Kriege zur
Herstellung von Kriegsmaterial herangezogen werden.
Die Angaben in diesem Kapitel sollen ein Bild von der Erzeugung geben,
mit
welcher der betreffende Staat im ersten Kriegsjahr in den einzelnen Materialarten
rechnen kann.
Leider hat man sich in Genf zu dieser Maßregel bisher nicht
entschließen können. Erst durch eine solche Offenheit würde
ein Fortschritt erzielt. Ein Aufatmen würde durch die Welt gehen, wenn mit
der verhängnisvollen Geheimniskrämerei gebrochen würde.
Diese Methode der Verheimlichung ist verhängnisvoller als das, was
verheimlicht wird. Erst sie schafft das gegenseitige Mißtrauen; sie ruft die
gegenseitige Spionage hervor und erzeugt den Landesverrat. Verzichtete man auf
den für den Kriegserfolg reichlich problematischen, dagegen den Frieden
dauernd gefährdenden Versuch, den Nachbarn über den Umfang
seiner Rüstungen zu täuschen und so von vornherein in Nachteil zu
versetzen, so käme man der Befriedung der Welt ein großes
Stück näher. So erfährt die Welt auch heute nichts von den
Kriegsvorbereitungen der freien Staaten. Aber die Verheimlichung des wahren
Rüstungsstandes hat auch die Arbeit der Abrüstungskonferenz
außerordentlich erschwert und sie auf einen unmöglichen Weg
geführt. Da man nicht weiß und auch nicht erfahren soll, wie
umfangreich die Rüstungen der einzelnen Staaten sind, kann man den
archimedischen Punkt nicht finden, von dem aus man das Wettrüsten
beenden, das Wirtschaftsleben der Völker entlasten, das Mißtrauen
zerstören, den Frieden sicherstellen kann. Wer seine wirklichen
Kriegsvorbereitungen und eigentlichen Rüstungen geheimhalten will,
muß verhindern, daß sie von der Abrüstung erfaßt werden.
Die Vertreter Frankreichs haben auf der Vorbereitenden
Abrüstungskonferenz die These verfochten, daß bei der
Abrüstung nur die unter der Fahne befindlichen Mannschaften und das im
Dienst befindliche Kriegsmaterial in Rechnung zu stellen seien. Zu welchem
Widersinn eine solche "Abrüstungsmethode" führen muß,
zeigen die geradezu phantastischen Berechnungen über das
militärische Stärkeverhältnis [119] Frankreichs zu Deutschland, wie sie in der
französischen Volksvertretung unter Mitwirkung des französischen
Kriegsministers letzthin vorgetragen wurden.
Der Vorsitzende des Heeresausschusses der französischen Kammer
entwickelte folgende Zahlen:12
"Deutschland |
|
Heeresstärke (100 000 Mann, davon abgezogen
8 000 Mann als unausgebildet) |
= 92 000 Mann |
|
Schutzpolizei, Forst- und Zollbeamte |
= 150 000 " |
|
|
|
|
etwa |
= 242 000 Mann |
Frankreich |
|
Gesamtstärke |
654 000 Mann |
|
davon ab Kolonial- pp. Truppen, mit deren rechtzeitigem
Eintreffen im
Mutterlande nicht zu rechnen ist |
250 000 " |
|
|
|
|
rund |
400 000 Mann |
|
davon ab Gendarmerie, die Deutschland
in gleicher
Zahl - und besser bewaffnet - hat |
33 000 " |
|
|
|
|
rund |
= 370 000 Mann |
|
Unter diesen 370 000 sind 266 000 "militaires de contingent
appelés français,
engagés indigènes afrikains ou coloniaux".
Von diesen kann aber nur die
Hälfte bewertet werden, nämlich die,
die im 6.-12. Monat der Ausbildung steht. Die im 1.-6.
Monat der Ausbildung Befindlichen müssen
abgezogen werden. |
130 000 " |
|
|
|
|
Verwendbare Stärke |
240 000 Mann |
Die deutsche Schutzpolizei ist den
Versailler Vertragsbestimmungen entsprechend
organisiert; sie ist nicht militärisch ausgebildet und ausgerüstet und ist
im Kriegsfalle auch für den Kriegsdienst nicht verfügbar. Die von
Herrn Fabry erwähnte Gendarmerie ist in den 150 000 Schutzpolizisten
bereits enthalten. Herr Fabry hat in seiner Rede ferner ausgeführt: "Die
130 000 »militaires de contingent« pp. sind außerdem mit
ihrer 6-12monatigen Ausbildungszeit den 12 Jahre dienenden deutschen Soldaten
qualitativ weit unterlegen. Eigentlich müßte man also diese 130 000
Mann von der verwendbaren Stärke auch noch absetzen, so daß noch
110 000 Mann übrigblieben, die sich aus Offizieren und »militaires de
carrière« zusammensetzen. Die Bezeichnung »militaires de
carrière« könnte
nach der Definition der Commission Préparatoire in Genf von 1927 aber nur dem
Teil dieser Leute zugesprochen werden, die länger als 3 Jahre dienen, alle
übrigen seien nur hommes instruits. Die Soldaten der Reichswehr hingegen
seien »non pas seulement des soldats, mais des chefs de section capables même
de remplir un rôle supérieur à celui de chef de section«.
Die verfügbaren 240 000 Mann des
französischen Heeres seien zudem in 20 Divisionen weit über das
ganze Land zerstreut, zum Teil sehr weit von der »zone de couverture ou elles
devront venir au moment de la mobilisation« [120] entfernt. Nicht nur der Transport der Truppen
aus Algier, sondern auch der Divisionen aus Bayonne und Rennes an die Grenze
könne sich schwierig gestalten. Zur Zeit fänden diese Truppen an der
Grenze keine Vorbereitungen, »ni fils de fer, ni
organisation préparée, ni
organisation existante, ni dépôts de munitions
suffisants, ni dépôts d'outils«. Solche
Vorbereitungen seien aber eine Notwendigkeit, zumal die Rüstungen
Frankreichs rein defensiv seien, »qu'elle a
fondé toute son organisation sur le fait
qu'elle recevra le premier coup«.
Beim Studium der Standortverteilung der 110 000 Mann
starken deutschen Schutzpolizei erkenne man mühelos, welchen
Deckungsdivisionen sie im Kriegsfall angehören werden. Ihre Mannschaften
seien ebenso wie die der Reichswehr zu 12jährigem Dienst verpflichtet; sie
verfüge also nach 12 Jahren durch Entlassung über 110 000 weitere
ausgebildete Mannschaften, ebenso wie die Reichswehr nach 12 Jahren über
weitere 100 000 Mann. Mit den wiedereingestellten
210 000 Entlassenen stehen also
der Reichswehr und der Schutzpolizei am
1. Mobilmachungstage 420 000 Mann zur
Verfügung, Frankreich dagegen nur 240 000!"
Zu solchen Taschenspielereien verführt die Berechnungsart, die Frankreichs
Wortführer in Genf befürworten. In Wirklichkeit stehen im Frieden
den 100 000 deutschen Soldaten 655 700 Mann gegenüber, die Frankreich
dauernd unter den Fahnen hat.
Aber entscheidend ist, daß dieser Friedensbestand sich in der Mobilmachung
in wenigen Tagen auf mindestens 3½ Millionen erhöht, während
Deutschland, weil ihm jede Reserven fehlen, immer nur 100 000 Mann an seine
Grenzen bringen könnte. Um die Einwände der Verhandlungsgegner
zu entkräften, man könne die Berufssoldaten, die Rekruten, die
jungen und die älteren Jahrgänge des Beurlaubtenstandes nicht gleich
hoch bewerten, hat der deutsche Wortführer bei den Genfer Verhandlungen
ein Bewertungsschema vorgeschlagen, in dem die einzelnen Gattungen einen
ihrem militärischen Wert entsprechenden Koeffizienten erhalten, z. B.
der Offizier viel höher bewertet wird als der Rekrut.
Will man die Kolonialtruppen außerhalb des Mutterlandes nicht mitrechnen,
so müssen die Staaten die Verpflichtung auf sich nehmen, diese Truppen im
Kriegsfalle nicht auf den europäischen Kontinent zu überführen
und im Kriege zu verwenden.
Die richtigste Methode, diesen Streit um die Einrechnung der Reserven zu
beseitigen, wäre die allgemeine Abschaffung der Zwangsdienstpflicht. Erst
sie ermöglicht die Ansammlung der Millionenreserven; nur mit ihrer Hilfe
können die Massenheere gebildet werden, deren Vorhandensein eine
dauernde Bedrohung des Friedens ist; die den Staatsmann und Feldherrn mit dem
Gefühl militärischer Überlegenheit erfüllt, die ihm den
Entschluß zum Angriff auf den Nachbarn leicht macht. Die allgemeine
Wehrpflicht macht die Kriege so blutig. Weil sie überall durchgeführt
war, bis zur letzten Folgerung durchgeführt war, sind die Schäden des
Großen Krieges so schwer zu [121] überwinden. Die Aufhebung der
Zwangsdienstpflicht würde eine ungeheure Erleichterung für die
Menschheit bedeuten. Man sollte sich von diesem überlebten Grundsatz
lossagen. Bleibt sie bestehen, so wird die Bewegung rücklaufig und man
wird allgemein zu ihr zurückkehren müssen. Die Nachteile der
allgemeinen Wehrpflicht, besonders auch die in sozialer Beziehung, hat man im
Großen Kriege überall empfunden. Frankreich hat aus diesen
Erfahrungen nicht den Schluß gezogen, die allgemeine Wehrpflicht
abzubauen, sondern will sie (durch das Gesetz Paul Boncour) im Kriegsfalle auf
alle erwachsenen Franzosen ausdehnen; ein außerordentlich
verhängnisvoller Schritt, der die größtmöglichste
Aufrüstung bedeutet und der zusammen mit den anderen
Heeresorganisationsgesetzen an der Loyalität der französischen
Abrüstungsverhandlungen erhebliche Zweifel aufkommen
läßt.
England und die Vereinigten Staaten standen in bezug auf die Anrechnung der
Reserven auf dem deutschen Standpunkt. Aus politischen (anscheinend
marinepolitischen Gründen) haben sie sich im April d. J. veranlaßt
gesehen, ihren Widerspruch gegen Frankreich aufzugeben, obwohl die
französische These den Staaten mit Zwangsdienstpflicht zugute kommt, und
die Staaten schädigt, die Freiwilligenheere unterhalten, wie die
angelsächsischen Länder. Sie haben bei ihrer Abstimmung noch
einmal ausdrücklich betont, daß sie sachlich noch heute Deutschland
beipflichten. Die Angelsachsen sind weniger gefährdet als die
Kontinentalstaaten. Die Vereinigten Staaten können fernab von Europa ihr
Freiwilligensystem beibehalten;13 auch England wird es versuchen. Da
die Rüstungspolitik überall immer dem am stärksten
gerüsteten Staate folgt, so würde der Beibehalt der allgemeinen
Wehrpflicht voraussichtlich auch dort zur Wiedereinführung zwingen, wo
sie heute abgeschafft ist. Das wäre kein Fortschritt, sondern ein
Rückschritt. Für Deutschland kommt noch etwas anderes hinzu. Nach
Abschluß der Abrüstungskonvention durch den Völkerbund
treten die militärischen Klauseln des Versailler Vertrages außer Kraft;
das Maß seiner Rüstung wird ebenso wie das aller anderen
Völkerbundsmitglieder durch die Bestimmungen der allgemeinen
Konvention festgesetzt. Dieser Selbstverständlichkeit widersprechen
manche Militärpolitiker, die einer Gesinnung abgeneigt sind, wie sie die
gemeinsame Arbeit in einem Völkerbund erfordert. Diesen
völkerbundsfeindlichen Kreisen (besonders in Frankreich, wo schon einmal
ausgesprochen ist, daß die Abrüstungskonvention auf die 1919
zwangsweise entwaffneten Staaten nicht angewendet werden dürfe) [122] würde sehr viel schwerer werden, ihren
Irrtum einzugestehen, wenn die Abrüstungskonvention den ihr
unterfallenden Staaten im Vergleich zu den Versailler militärischen
Klauseln wesentliche Vorteile (vom Standpunkt der Aufrüstung und
Kriegsvorbereitung gesehen) zubilligt.
Die französische Delegation auf der Vorbereitenden
Abrüstungskonferenz hat durchgesetzt, daß von der Abrüstung
nur die Soldaten erfaßt werden sollen, die am Stichtage zufällig in der
Kaserne Dienst tun und gerade ihre Ausbildung vollendet haben, und nur das
Material, das gerade in Händen der Truppe ist und nicht in den Arsenalen
für den Kriegsfall sofort greifbar bereit liegt.
Dieser Forderung gerade entgegengesetzt ist das Verlangen, bei Festsetzung des
Abrüstungskoeffizienten das sogenannte potentiel de guerre zu
berücksichtigen. Man versteht darunter all die natürlichen und
wirtschaftlichen Kraftquellen, aus denen der Staat im Kriege seine
Widerstandskraft nähren kann; Deutschland will von der Abrüstung
erfaßt sehen alles, was im Frieden für den Krieg vorbereitet ist; die
Gegenseite auch all das, was im Laufe des Krieges unter dem Schutze der
eigentlichen (also im Frieden vorbereiteten, bei Kriegsausbruch vorhandenen)
Rüstung unter Umständen sich entwickeln läßt. Mit
einem so verschwommenen Begriff wie dem "potentiel de guerre" läßt
sich nichts - oder auch alles anfangen.
"Für ein
potentiel de guerre als einer
Größe, die auch unmeßbare Faktoren enthält, ist in einem
Abrüstungsvertrage kein Raum. Ist es nötig zu sagen, daß wenn
irgendein Abkommen, so ein Abrüstungsvertrag, präzis sein
muß, bis zum Äußersten präzis? Da muß sich alles
packen lassen, alles klar sein, fest umrissen, zum Greifen gewiß. Mit einem
solchen Begriff des potentiel de guerre ist aber schon in den Verhandlungen
über ein Abrüstungsabkommen eine kontrollierbare Diskussion nur
stellenweise zu führen; es wird Behauptung gegen Behauptung gestellt und
nur die Zahl derjenigen Prophezeiungen vermehrt, die im Ernstfall dem
Rückschauenden leicht so seltsam erscheinen. Ganz richtig ist
überdies hervorgehoben worden, daß das potentiel de guerre für
jeden Staat je nach Name und Zahl der Kriegsgegner eine verschiedene
Größe bedeutet; man möchte hinzusetzen: je nach Jahreszeit,
Witterung usw. Ja selbst wenn es gelänge, für den Zeitpunkt des
Vertragsschlusses für alle im Augenblick denkbaren Kriegskombinationen
für jeden beteiligten Staat festzustellen: was soll am nächsten Tag, im
nächsten Monat, im nächsten Jahre gelten? Das potentiel de guerre
ändert sich ja stündlich, im Frieden und erst recht im Kriege, und es
ändert sich eben unberechenbar, da es für einen großen Teil
seiner Faktoren der Beeinflussung durch bewußtes menschliches Handeln
entzogen ist. Die Staatsmänner, die über das Zustandekommen eines
Abrüstungsvertrages entscheiden, stellen natürlich Erwägungen
an, bei denen sie
auch - intuitiv - ein auf seine Richtigkeit vor dem Ernstfall nie
nachprüfbares Bild von den unwägbaren Faktoren der kriegerischen
Kraft der einzelnen Staaten vor Augen haben. Das ist nichts Besonderes; das ist
beim Abrüsten nicht anders als beim Rüsten! Gegenstand des
Rüstens kann immer nur sein, was man zweckbewußt als
erfaßbare Größe in die Vorbereitung für [123] den Kriegsfall einstellen kann; und mit eben
diesen Größen und nur mit ihnen hat es die Abrüstung zu
tun!"14
Oft, schon vor dem Kriege, ist der Vorschlag gemacht worden, durch das Verbot
der Vermehrung der jährlichen Ausgaben für die Wehrmacht, und ihr
folgend durch ihre allmähliche Kürzung dem Wettrüsten
Einhalt zu tun und nach und nach Heere und Flotten zu verringern. Diese Methode
gibt bei der grundlegenden Verschiedenheit der Wehrsysteme keinen Gradmesser
für den Vergleich der Rüstungen und ist außerdem bei der
Verschiedenheit der Etatsgebarung in den einzelnen Ländern kaum
anwendbar; denn allgemeine Abrüstung setzt immer ein gemeinsames
Schema voraus, in das die Rüstungskoeffizienten für den einzelnen
Staat eingesetzt werden können. Diese Methode verewigt
schließlich - und das ist das
Entscheidende - die Rüstungsüberlegenheit des gerade bei
Abschluß des Abkommens besonders gut ausgestatteten Staates und
schließt den allein den Frieden sichernden Rüstungsausgleich aus.
Die Abrüstung der Seestreitkräfte ist nicht so mit technischen
Schwierigkeiten bepackt, wie die der Landstreitkräfte. Die Vorbereitende
Abrüstungskonferenz, der Völkerbund überhaupt, hat zwar
auch auf diesem Gebiete nichts Positives zustande gebracht. Aber außerhalb
des Völkerbundes haben die großen
Seemächte - die Vereinigten Staaten, England, Japan, Frankreich,
Italien - durch das Abkommen von Washington das Wettrüsten zur
See zunächst für die Dauer des Abkommens eingeschränkt
(1936). In diesem Abkommen wurde bestimmt:
1. Die Beschränkung erstreckt sich nur auf Großkampfschiffe und
Flugzeugmutterschiffe über 10 000 t.
An Großkampfschiffen, für die ein Höchsttonnagegehalt von
35 000 t und eine
Geschützkaliber-Höchstgrenze von 16 Zoll (40,6 cm) festgelegt wird,
dürfen besitzen:
die Vereinigten Staaten und Großbritannien je 525 000
t,
Japan 315 000 t,
Frankreich und Italien je 175 000 t.
An Flugzeugmutterschiffen, deren Höchsttonnagegehalt auf 27 000 t (bis auf
2 Schiffe zu je 33 000 t pro Seemacht), Geschützhöchstzahl
und -kaliber auf 10 Stück zu je 8 Zoll (20,3 cm) festgesetzt ist,
dürfen besitzen:
die Vereinigten Staaten und Großbritannien je 135 000 t,
Japan 81 000 t,
Frankreich und Italien je 60 000 t.
[124] 2. Das Höchsttonnagegehalt aller anderen
Kriegsschiffe wird auf 100 000 t, ihr Geschützhöchstkaliber auf 8 Zoll
(20,3 cm) festgesetzt.
3. Als Vorbereitung einer Umwandlung der
Handels- in Kriegsschiffe wird nur eine Deckverstärkung für die
Aufstellung von Geschützen von höchstens 6 Zoll (15,2 cm) Kaliber
gestattet.
Das Washingtoner Abkommen bedeutet demnach keine eigentliche
Abrüstung; die an ihm beteiligten Staaten legen sich aber für die
Herstellung und Unterhaltung der stärksten und teuersten Schiffe eine
Beschränkung auf. Die Vereinigten Staaten, denen das Kriegsende eine
politische und besonders wirtschaftliche Überlegenheit gebracht hatte, haben
ihren Vorteil ausgenutzt, um Englands Überlegenheit zur See zu brechen.
Schon während der Friedensverhandlungen hatten die amerikanischen
Seeoffiziere den Präsident Wilson bestürmt, eine Verteilung der von
Deutschland (und
Österreich-Ungarn) abgelieferten Kriegsschiffe unbedingt zu verhindern.
Man würde sie den Siegerstaaten ihrem Verlust an Kriegsschiffen
entsprechend zuteilen müssen und damit England die maritime
Überlegenheit über die Vereinigten Staaten wieder einräumen.
"Die Vereinigten Staaten müssen in einem gleichen Zeitraum 26
Großkampfschiffe mehr als Großbritannien bauen, um mit
Großbritannien ein maritimes Gleichgewicht herzustellen".15 Die
Versenkung der deutschen Flotte nahm den amerikanischen Seestrategen diese
Sorge. England war gezwungen, die Gleichberechtigung der Vereinigten Staaten
zur See anzuerkennen; allerdings nur in bezug auf die Schlachtschiffe. Englische
und amerikanische Schlachtschiffsflotten werden beim heutigen Stande der
Technik und der großen Entfernung der beiden Länder kaum zu einer
entscheidenden Seeschlacht kommen; durch eine solche läßt sich eine
Änderung der Machtverhältnisse nicht herbeiführen. Um so
größere Bedeutung gewannen damit für eine kriegerische
Auseinandersetzung die leichten Seestreitkräfte, die den
Seehandels-(Kaper-)Krieg zu führen haben. Auf diesem Gebiete besaß
und besitzt England eine unbestreitbare Überlegenheit durch eine allen
anderen Mächten weit überlegene Zahl von Kreuzern und durch eine
große Zahl von Hilfskreuzern,
Passagier- und Handelsschiffen, die im Kriege in die Kriegsflotte
übernommen und mit Geschützen ausgerüstet werden (nach
dem Abkommen von Washington Geschütze mit einem Kaliber von
höchstens 15 cm).
Englands historische Weltmachtstellung beruht auf der gesicherten Verbindung
seiner über den ganzen Erdball verstreuten politischen Machtzentren, auf
der Beherrschung der Seewege. Das Mittel hierzu sind heute die Kreuzer und
Hilfskreuzer (in Zukunft daneben vielleicht [125] die Luftschiffe). Die Freiheit der Meere besteht
für England in dem Recht, daß die eigenen Schiffe überall hin
sicher gelangen können; daß es dagegen die Handelsschiffahrt der
anderen zu unterbinden die Macht behält. Die Vereinigten Staaten nehmen
ihrerseits das Recht in Anspruch, mit allen Staaten, gleichgültig ob neutral
oder nicht, auch im Kriegsfall ungestört Handel zu treiben. Die
Engländer sind bisher nicht geneigt, auf ihre Überlegenheit zu
verzichten und so sind alle Verhandlungen über einen im Interesse des
Friedens liegenden Ausbau des Abkommens von Washington bisher gescheitert.
Dieser englisch-amerikanische Gegensatz hat auf den Gang der
Abrüstungsverhandlungen einen großen und verhängniswollen
Einfluß ausgeübt. Die angelsächsischen Staaten hatten bei den
ersten fünf Konferenzen den sinnlosen Abrüstungsmethoden
Frankreichs den schärfsten Widerstand entgegengesetzt. Jetzt haben die
Regierungen Englands und Amerikas ihren Widerstand fallen lassen, um
Frankreichs Unterstützung für ihre Seeabrüstungspläne
zu gewinnen. Auch hier wieder entscheidet über die Haltung der
Regierungen nicht der Wille zur Abrüstung, zum Frieden, sondern der
Gedanke an den kommenden Krieg, an die Erhaltung oder Erringung der
Macht.
Die Konferenz von Washington brachte keine Abrüstung im Wilsonschen,
im Völkerbundssinne; sie war der Ausdruck für die machtpolitische
Lage zur See 1920, die zu verändern alle Teile damals keine
Möglichkeit sahen. Einen wirklichen Fortschritt brachte die Versenkung der
deutschen Flotte in Scapa Flow. Die Verteilung ihrer Einheiten hätte den
Rüstungsstand verändert und das Wettrüsten gefördert.
Eine wirkliche Abrüstung zur See wird erst in den Bereich der
Möglichkeit treten, wenn der Gedanke der Freiheit der Meere sich siegreich
durchgesetzt und das aus der Anschauung englischer Seekriegsmethoden entkeimte
Dichterwort, daß "Handel, Schiffahrt, Piraterei dreieinig, nicht zu trennen
sind", seine Geltung verloren hat.
In den militärischen Klauseln des Versailler Vertrages ist der deutschen
Wehrmacht die Führung der wirksamsten Waffen untersagt, gerade der
Waffen, die im Großen Kriege eine große Rolle spielten und
während des Krieges besonders entwickelt wurden: schwere und schwerste
Geschütze, schwere Minenwerfer, Flugzeuge, Luftschiffe und Ballone,
Gaskampfmittel und Unterseebote. Diese Waffen hat man Deutschland untersagt.
Man hat behauptet, Deutschland habe sie mißbraucht; es habe von ihnen
einen völkerrechtswidrigen Gebrauch gemacht. Das ist nicht wahr. Die
deutschen Streitkräfte haben sie nicht anders verwandt als ihre Gegner.
Daß die Abrüstungskonferenz diese Waffen allgemein verbieten wird,
steht nicht zu erwarten, obwohl die Vertreter Deutschlands und anderer
Mächte es wiederholt beantragten. Auch hierbei scheint man Deutschland
[126] in der Rolle eines nicht zivilisierten Volkes
lassen zu wollen, dem besondere Auflagen zum Schutze der Kulturwelt
gemacht werden müssen. Die verbotenen Waffen haben abgesehen davon,
daß sie ihrem Wesen nach Angriffswaffen sind, eine Eigenschaft
gemeinsam, die ihr allgemeines Verbot rechtfertigen. Sie können mit
Leichtigkeit gegen die nichtkämpfende Bevölkerung verwandt
werden. Der Fortschritt, den man im letzten Jahrhundert in der Vermenschlichung
des Krieges gemacht hat, bestand hauptsächlich darin, daß man die
Waffen, die Gewalt nur gegen den kämpfenden Teil des feindlichen Volkes
richtete, die friedlich, dem Kampfe fernbleibenden Bewohner, insonderheit die
Frauen und Kinder, die Greise und kampfunfähigen Männer
unbehelligt ließ. Für den Streiter selbst ist belanglos, ob ihn ein
Säbel tödlich verletzt, ihn eine Handgranate oder ein
Spitzgeschoß tötet, ein Granatsplitter zerreißt oder ihm Giftgas
das Leben raubt. Wir können auch nicht einsehen, daß es ritterlicher
ist, wenn einem im Nahkampf der Gegner den Schädel zertrümmert
oder mit einer Pistolenkugel das Herz zerreißt als daß man von dem
Granatsplitter eines Geschosses getötet wird, das der Gegner aus der Ferne
oder aus der Luft wirft. Man mag über das Maß der Ritterlichkeit der
einzelnen Waffen auf dem Kampffelde selbst immerhin streiten; niemand kann den
Angriff auf Gesundheit und Leben der Greise, Weiber und Kinder für
unentbehrlich halten, um den Kampf- und Kriegszweck zu erreichen. [Scriptorium merkt an: man bedenke, diese Worte wurden 1929/30 geschrieben;
bereits 1932 war
England der entgegengesetzten Ansicht!] Waffen, die
sich wie von selbst gegen die nichtkämpfende Bevölkerung richten,
kann man allgemein verbieten. Zu solchen Waffen gehören alle die, deren
Wirkung über das eigentliche Kampfgebiet hinausreicht: alle weittragenden
Geschütze, chemischen Waffen und besonders die zum Bombenwurf und
zur Verbreitung von Giftgasen bestimmten und eingerichteten Flugzeuge. Nur zur
Unterdrückung der chemischen und bakteriologischen Kampfmittel haben
die großen Militärmächte einige zögernde Schritte getan,
wenngleich wirkliche Taten noch nicht zu verzeichnen sind. Auf der
Seeabrüstungskonferenz zu Washington 1922 schlossen die
beteiligten Mächte ein Abkommen, das den
U-Boot-Handelskrieg und den Gebrauch von betäubenden giftigen und
anderen Gasen und von ähnlichen Flüssigkeiten und Material im
Kriege verbietet. Dabei wurde ausdrücklich zur Begründung
angeführt, daß die Kriegsmittel schon Deutschland und seinen
Verbündeten untersagt seien, weil die öffentliche Meinung der Welt
sie verurteilt habe. Dies Abkommen ist nicht allgemein ratifiziert worden und auch
nicht in Kraft getreten. Dagegen ist 1925 in Genf ein Abkommen geschlossen, in
dem sich die Vertragsgegner zusagen, giftige Gase in Kriegen gegeneinander nicht
anzuwenden. Dies Abkommen ist von einer Reihe von Staaten ratifiziert, so
z. B. auch von Deutschland und Frankreich, so daß in einem etwaigen
deutsch-französischen Waffengange die Verwendung von [127] chemischen Kampfmitteln schon jetzt
ausgeschlossen ist. Vom deutschen Standpunkt ist das Verbot der Verwendung
giftiger usw. Gase im Kriege besonders zu begrüßen; es trifft aber
nicht den Kern der Sache; nützt höchstens den Streitern selbst, indem
es sie vor der Gaswaffe schützt. Die unbeteiligte Zivilbevölkerung
wäre erst wirklich geschützt, wenn man die Verwendung von
Flugzeugen als Bombenträger verböte. Denn mit Hilfe der Flugzeuge
kann der Gegner die friedliche Bevölkerung auch fernab vom
Kriegsschauplatz erreichen. Verbietet man nicht die Verwendung der Flugzeuge im
Kriegsfalle als Bombardierungswaffe, so ersticken die Frauen und Kinder zwar
nicht an giftigen Gasen, aber sie werden von den Splittern der Brisanzbomben, die
die Flieger abwerfen, zerrissen oder verbrennen in den Häusern, die sich an
den aus den Flugzeugen herabgeschleuderten Brandbomben entzündet
haben. Diese Art der Vernichtung der Nichtkombattanten dürfte nicht
humaner sein als der Gastod. Anträge Deutschlands, den Bombenabwurf aus
Flugzeugen als völker[rechts]widrig zu erklären, sind bisher abgelehnt. Das
Verbot der giftigen Gase ist also nicht viel mehr als eine Geste; besonders wenn
man hinzunimmt, daß in allen freien Staaten unvermindert an der
Vervollkommnung des Gaskampfes und der Gaswaffen gearbeitet und im
militärischen und politischen Schrifttum mit dem Überfall auf die
wirtschaftlichen und politischen Zentren des gegnerischen Landes ohne jede
Rücksicht auf die Bevölkerung als selbstverständliche
Kriegsmaßnahme gerechnet wird.
Auch die weittragenden Geschütze will man, so verkündet man ohne
jede Bemäntelung, gegen die Bevölkerung des gegnerischen Landes
einsetzen. Man rühmt sich in Frankreich, daß man Geschütze
habe, mit denen man von der Küste des Festlandes aus London
beschießen könne. Man sollte daher bei der
Abrüstungskonferenz nicht an der Möglichkeit vorbeigehen, solche
Waffen zu verbieten, die zum Angriff auf Leib, Leben und Gut der
Nichtkämpfer geradezu einladen.
In jedem Falle darf Deutschland nicht einem Sonderrecht unterworfen bleiben; es
darf am Völkerbundstisch nicht Völker minderen Rechtes, nicht
Staaten erster und zweiter Klasse geben.
Man gewinnt aus dem Verlauf der Genfer Verhandlungen immer mehr den
Eindruck, daß die allgemeine Abrüstung höchstens in einem
Verbot weiterer Aufrüstung bestehen soll; daß eine Verringerung des
augenblicklichen Rüstungsstandes von der Abrüstungskommission
nicht gefordert werden soll. Zur Begründung wird geltend gemacht, nach
dem Kriege sei überhaupt schon erheblich abgerüstet worden. Wie
steht es damit?
[128] A.
Mannschaftsstärken.
|
|
Bei den Fahnen |
Ausgebildete
Reserven: |
|
|
1914 |
192816 |
Deutschland |
|
800 000 |
100 000 |
|
Österreich |
|
450 000 |
21 000 |
|
Ungarn |
35 000 |
|
Bulgarien |
|
61 000 |
32 000 |
|
Frankreich |
|
870 000 |
755 700 |
5 010 00017 |
Italien |
|
270 000 |
595 000 |
2 995 000 |
England |
|
800 000 |
614 000 |
— |
Tschechoslowakei |
|
— |
212 000 |
1 489 000 |
Jugoslavien |
|
— |
240 000 |
1 200 000 |
Polen |
|
— |
263 000 |
3 000 000 |
Rußland |
|
1 350 000 |
600 000 |
5 425 000 |
B. Material.
Maschinengewehre:
|
|
1913 |
1928 |
Deutschland |
|
1 134 |
1 926 |
Österreich |
|
2 160 |
420 |
Ungarn |
1 192 |
Bulgarien |
|
232 |
696 |
Frankreich |
|
2 156 |
37 000 |
Italien |
|
266 |
4 300 |
England |
|
722 |
13 000 |
Tschechoslowakei |
|
— |
8 500 |
Jugoslavien |
|
— |
— |
Polen |
|
— |
9 700 |
Rußland |
|
3 192 |
22 100 |
Schwere Geschütze
(ohne
Festungsgeschütze):
|
|
1913 |
1928 |
Deutschland |
|
540 |
0 |
Österreich |
|
112 |
0 |
Ungarn |
0 |
Bulgarien |
|
36 |
0 |
Frankreich |
|
84 |
1 174 |
Italien |
|
64 |
650 |
England |
|
24 |
400 |
Tschechoslowakei |
|
— |
412 |
Jugoslavien |
|
— |
178 |
Polen |
|
— |
426 |
Rußland |
|
60 |
576 |
[129]
Feldgeschütze:
|
|
1913 |
1928 |
Deutschland |
|
3 330 |
288 |
Österreich |
|
1 582 |
90 |
Ungarn |
104 |
Bulgarien |
|
342 |
153 |
Frankreich |
|
2 728 |
1 328 |
Italien |
|
800 |
1 200 |
England |
|
606 |
1 700 |
Tschechoslowakei |
|
— |
864 |
Jugoslavien |
|
— |
784 |
Polen |
|
— |
724 |
Rußland |
|
3 572 |
2 382 |
|
|
Flugzeuge |
Tanks |
Deutschland |
|
0 |
0 |
Österreich |
|
0 |
0 |
Ungarn |
|
0 |
0 |
Bulgarien |
|
0 |
0 |
Frankreich |
|
1 800 |
2 500 |
Italien |
|
1 000 |
180 |
England |
|
1 334 |
250 |
Tschechoslowakei |
|
375 |
60 |
Jugoslavien |
|
— |
|
Polen |
|
375 |
220 |
Rußland |
|
1 000 |
200 |
Geldaufwand:
|
|
1913/14
in
Millionen |
1927/28
in
Millionen |
1928/29
in Millionen |
Deutschland |
|
2 159 |
690 |
708 RM |
Österreich |
|
773 |
84 |
93 Schilling |
Ungarn |
115 |
132 Pengö |
Bulgarien |
|
3618 |
1 287 |
1 208 Lengwa |
Frankreich |
|
2 022 |
11 794 |
13 111 Francs |
Italien |
|
1 053 |
5 027 |
5 024 Lire |
England |
|
195 |
117 |
114 Pfund |
Tschechoslowakei |
|
— |
— |
1 715 Kronen |
Jugoslavien |
|
— |
2 346 |
2 428 Dinar |
Polen |
|
— |
663 |
960 Zloti |
Rußland |
|
— |
742 |
850 Rubel |
Besonders aus Pariser Quellen hört man oft, Frankreich habe seine
Abrüstungsverpflichtungen bereits durch seine Heeresorganisation
erfüllt. Diese Behauptung stützt sich
[130]
- auf die Verringerung seiner Friedenspräsenz
("effectifs").
Diese Verringerung ist an sich die
normale Folge der Verkürzung der
aktiven Dienstzeit (s. zu b), indem von jetzt ab statt 3 bzw. 2 nur
noch 1 Jahrgang unter den Fahnen gehalten wird.
Die Verringerung ist jedoch
- an sich unbedeutend:
1912 = 700 000 Mann (31 000 Offiziere),
1930 = 654 000 Mann (32 000 Offiziere);
- ohne jeden Einfluß auf die Kriegsstärke, da der gesamte
wehrfähige Rekrutenjahrgang eingezogen wird;
- ausgeglichen durch die "disponibilité", d. h. die Anordnung,
daß die 3 jüngsten Reservejahrgänge zur Verfügung des
Kriegsministers (ohne Mobilmachung) bleiben;
- auf die Verkürzung der Dienstzeit:
- diese Verkürzung betrifft nur den weißen
Rekrutenjahrgang, d. h. nur etwa 40% des französischen Heeres; 60% sind
länger dienende Soldaten, daher die geringe zahlenmäßige
Auswirkung;
- die qualitative Verschlechterung (kürzere
Ausbildungsmöglichkeit) wird für die genannten 40%
ausgeglichen:
- durch militärische Jugendausbildung (z. Z. nur
teilweise obligatorisch; neues umfassendes Gesetz liegt der französischen
Volksvertretung vor);
- durch erhebliche Vermehrung der "militaires de carrières"
(als Ausbilder und Spezialisten);
- durch Vermehrung der Reserveübungen.
Die wesentlichsten Faktoren der französischen
Wehrmacht, die ausgebildeten Reserven (réserves instruites), die
den Schwerpunkt des
französischen Kriegsheeres - wie jedes Wehrpflichtheeres
überhaupt - bilden, und das Kriegsmaterial, dessen ausschlaggebende
Bedeutung der Weltkrieg bewiesen hat, und über das Frankreich im Heer
und den Reservevorräten (matériel stocké) in
überreichem Maße verfügt (Aufkauf der amerikanischen
Rüstungsbestände), werden von Frankreich nicht erwähnt, ihre
Einbeziehung in die Abrüstung - als angeblich nicht
erfaßbar - mit allen Mitteln bekämpft.
Die Abrüstungsbehauptung Frankreichs
stützt sich bisher auch
- auf eine angebliche Verringerung seines Heeresbudgets.
Der Heereshaushalt verringert sich nicht, sondern steigt im Jahre 1929 allein um
1,3 Milliarden Francs gegen 1928.19
[131] Die von den Siegerstaaten ihren Völkern
und auch den Besiegten gegebene Zusage auf eine durchgreifende allgemeine
Abrüstung, die die Steuerzahler wirklich entlastet, die das Wettrüsten
beendet und die Kriegsgefahr verringert, ist bisher nicht durchgeführt und
steht auch nicht in Aussicht. Die Abrüstungskonvention wird, wenn sie so
ausfällt, wie die Beschlüsse der vorbereitenden Kommission erwarten
lassen, nur eine formale Bedeutung haben und in den großen
Militärstaaten wird alles beim alten bleiben. Den Staaten, die schon jetzt
abgerüstet haben oder die zur Ermöglichung der
Abrüstungskonvention zwangsweise abgerüstet sind, gibt eine solche
Abrüstungskonvention die Möglichkeit, wieder aufzurüsten.
Man vergleiche nur die obenangeführten Zahlen. Ob die neu gewonnene
Bewegungsfreiheit ausgenutzt wird, steht im Ermessen der nationalen Instanzen;
die internationalen Bindungen sind nur in der Abrüstungskonvention
gegeben. Eine solche Entwicklung kann man nur bedauern. Die
europäischen Kulturstaaten können selbstverständlich nicht,
wie der erste radikale russische Abrüstungsvorschlag verlangte, die Waffen
vollends ablegen. Sie werden soweit gerüstet bleiben müssen, als es
notwendig ist, die europäische Kulturwelt zu schützen. Aber die
Waffen, die sie gegeneinander nötig zu haben glauben, sollten sie
zerschlagen.
Der Abschluß der Abrüstungskonvention beendet die Wirksamkeit der
militärischen Klauseln des Versailler Vertrages; sie ersetzt sie. Es wurde
schon oben erwähnt, daß man mancherorts anderer Ansicht zu sein
scheint und die Abrüstungskonvention nur für die jetzt freien Staaten
beschränken will. Das widerspricht dem Geist des Völkerbundes und
zerstört seine Grundlagen, die sich auf die Gleichberechtigung aller ihm
angehörenden Staaten aufbaut. Wer Mitgliedstaaten des Völkerbundes
unter das Sonderrecht stellt, sie nicht als Inhaber der gleichen Rechte und Pflichten
betrachtet, stößt sie aus dem Völkerbund aus.
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