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Bd. 2: Teil 2: Die politischen Folgen des Versailler Vertrages

II. Politische Aufgaben des Völkerbundes   (Teil 1)

A) Kriegsverhütung, Kriegsverhinderung und das Prinzip der Schiedsgerichtsbarkeit

Professor Dr. Hans Wehberg
Genf

a) Der Stand des Problems vor Schaffung des Völkerbundes

Als im August 1914 der Weltkrieg ausbrach, gab es keinen allgemeinen Satz des Völkerrechts, der die kriegerische Erledigung internationaler Streitigkeiten, wenn auch nur unter gewissen Bedingungen, untersagte. Das jus belli ac pacis galt nach wie vor als unumschränktes Recht der souveränen Staaten. Gewiß hatte sich in den politischen Kreisen mehr und mehr die Überzeugung durchgerungen, daß ein Krieg nur noch wegen der großen Lebensfragen der Staaten und Völker begonnen werden dürfe. Aber vom Standpunkt des Völkerrechts aus war kein Staat gehindert, einer anderen Macht aus irgendeinem beliebigen Grunde, sei es auch nur wegen irgendeines unbedeutenden Streites, den Krieg zu erklären, vorausgesetzt, daß nicht gerade eine bestimmte Abmachung mit diesem Staate, z. B. ein Schiedsabkommen, die friedliche Erledigung gewisser Streitigkeiten vorschrieb.

Dieser traurige Stand des Völkerrechts der Vorkriegszeit ist nicht verwunderlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Institution des Krieges als Streiterledigungsmittel zwischen den Völkern seit Jahrtausenden besteht und daß die Bewegung auf möglichste Einschränkung, ja Beseitigung des Krieges erst vor etwa 40 Jahren größeren Einfluß zu erringen vermocht hat. Die modernen Schiedsgerichts- und Friedensbestrebungen, deren Anfänge in die vergangenen Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende zurückreichen, erhielten in der neueren Zeit einen besonders starken Antrieb erst durch die 1889 erfolgte Gründung der Interparlamentarischen Union, einer Vereinigung von Mitgliedern fast aller Parlamente der Welt zur Förderung des Schiedsgerichtsgedankens. Seit dieser Zeit hat die Idee der friedlichen Erledigung internationaler Streitigkeiten eine immer stärkere Verbreitung gefunden.

Allerdings waren bereits vor 1889 internationale Streitigkeiten nach Ausbruch eines Konflikts von Fall zu Fall Schiedsgerichten überwiesen worden (sogenannte fakultative Schiedsgerichtsbarkeit). Es [80] sei nur an den Konflikt aus den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zwischen Großbritannien und Amerika wegen der Kreuzerfahrten des in einem englischen Hafen ausgerüsteten Schiffes Alabama erinnert. Die friedliche Erledigung dieses Streites bedeutete einen großen Triumph für die Schiedsgerichtsidee. Viel wichtiger aber als eine Einigung der Parteien auf ein Schiedsgericht nach Ausbruch eines Konflikts war die Unterwerfung bestimmter Streitigkeiten im voraus, d. h. vor ihrem Ausbruch, an ein internationales Tribunal (obligatorische Schiedsgerichtsbarkeit). Eine solche Regelung bot den Vorteil, daß bereits in dem Augenblicke, in dem die Parteien über einen bestimmten Streitfall erregt waren, die Verpflichtung zur schiedsgerichtlichen Erledigung eines Streites bestand und die Gefahr, daß der Streit auf andere, insbesondere kriegerische Weise, zum Austrag kam, gar nicht mehr auftauchen konnte, wenn sich die Parteien an die von ihnen übernommenen Abmachungen hielten. Eine solche Verpflichtung hatten die Staaten vor 1889 nur in ganz vereinzelten Verträgen übernommen; insbesondere hatte man einer Anzahl von Handelsverträgen eine Schiedsgerichtsklausel hinzugefügt, in der die Parteien übereinkamen, alle oder gewisse aus der Auslegung oder Anwendung des Handelsvertrages entstehenden Streitigkeiten einem Schiedsgerichte zu überweisen (sogenannte spezielle Kornpromißklausel). Während auf diese Weise nur die schiedsrichterliche Erledigung der aus der Auslegung eines bestimmten Vertrages sich ergebenden Streitigkeiten vorgesehen wurde, waren einige Verträge schon weiter gegangen, indem sie nicht nur diejenigen Streitigkeiten, die aus einem bestimmten Vertrage sich ergeben konnten, sondern darüber hinaus ganze Gruppen von Streitigkeiten, gleichviel welcher Ursache, einem Schiedsgerichte überwiesen. Eine Verpflichtung dieser Art wurde entweder als Zusatzbestimmung zu einem bestimmten Vertrage übernommen (in einer sogenannten allgemeinen Kompromißklausel), oder sie stellte den alleinigen Inhalt eines Vertrages dar (eines sogenannten ständigen Schiedsvertrages).

Die Aufgabe der modernen Schiedsgerichtsbewegung bestand nun einmal darin, auf den Abschluß möglichst zahlreicher solcher allgemeinen Schiedsabkommen hinzuarbeiten, gleichzeitig aber dafür einzutreten, daß diese Verträge nicht auf je zwei Vertragsstaaten beschränkt blieben, sondern zu einem alle Staaten umfassenden Abkommen (einem sogenannten Weltschiedsvertrage) erweitert wurden. Wichtig war gleichzeitig, dafür zu sorgen, daß der Kreis der der Schiedsgerichtsbarkeit überwiesenen Streitigkeiten immer größer wurde und sich nicht nur auf Konflikte zweiten Grades erstreckte, sondern auf Streitigkeiten jeglicher Art. Ein weiteres großes Ziel der Schiedsgerichtsbewegung bestand schließlich darin, einen ständigen Gerichtshof zu schaffen, damit die Staaten der Notwendigkeit [81] enthoben waren, sich in jedem einzelnen Falle auf ein besonderes Schiedsgericht zu einigen, und damit in ständiger Rechtsprechung Sätze des internationalen Rechts entwickelt werden konnten.

Neben der Schiedsgerichtsbarkeit, die in den Anfängen der modernen Friedensbewegung hauptsächlich für Rechtsfragen vorgesehen wurde, spielte schon damals die Vermittlung eine bedeutsame Rolle. Die Vermittlung ist besonders für die hochpolitischen Fragen ein sehr geeignetes Mittel der Streiterledigung. Sie unterscheidet sich von der Schiedsgerichtsbarkeit vor allem dadurch, daß sie regelmäßig nur als ein Versuch friedlicher Streiterledigung betrachtet werden kann, während die Überweisung eines Streites an ein Schiedsgericht diesen durch das Urteil des Schiedsgerichts endgültig aus der Welt schafft. Die Vermittlung war bereits in dem Pariser Vertrage von 1856 und der Berliner Kongoakte von 1885 den Mächten bei gewissen Streitfragen zur Pflicht gemacht worden. Aufgabe der kommenden Entwicklung mußte es zunächst sein, die Vermittlung für alle Streitigkeiten, die nicht auf andere Weise friedlich erledigt werden konnten, obligatorisch zu gestalten. Weiterhin mußte ein Organ geschaffen werden, das die Vermittlung übernehmen konnte. Als Vermittler waren meist ganz allgemein die unbeteiligten Mächte vorgesehen, so daß im Ernstfalle jede Regierung darauf wartete, daß eine andere die Vermittlung übernahm. Schließlich war zur Anrufung einer Vermittlung die Einigung der Streitteile erforderlich. Man mußte daher die Möglichkeit schaffen, daß ein Streitteil von sich heraus ohne Hinzutun der Gegenpartei den Vermittlungsapparat in Bewegung setzte.

Wie weit haben nun die Haager Friedenskonferenzen der Jahre 1899 und 1907 diese Entwicklung gefördert? Was zunächst die Schiedsgerichtsbarkeit betrifft, so ist der Versuch, einen allgemeinen Weltschiedsvertrag ins Leben zu rufen, auf beiden Friedenskonferenzen gescheitert. Nur für zwei beschränkte Arten von Streitfällen hat man 1907 in dem "Abkommen über die Errichtung eines internationalen Prisenhofes" (das übrigens niemals ratifiziert wurde) und in dem "Abkommen betreffend die Beschränkung der Anwendung von Gewalt bei der Eintreibung von Vertragsschulden" ein Obligatorium vorgesehen. Im übrigen mißglückte der Versuch, bestimmte Arten von Streitigkeiten ausfindig zu machen, die ein für alle Mal der Schiedsgerichtsbarkeit überwiesen werden konnten. Dagegen gelang der ersten Haager Friedenskonferenz die Schaffung des Haager Ständigen Schiedshofs. Dieser Schiedshof war zwar kein Tribunal mit ständig im Haag anwesenden Richtern. Er bestand lediglich aus einem internationalen Büro, welches einem Verwaltungsrat unterstellt war, sowie einer ständigen Richterliste, aus der die streitenden Parteien im Streitfalle die Richter ernennen sollten. Aber dieser [82] Keim eines wahrhaft ständigen Weltgerichtshofes hatte eine sehr große Bedeutung, indem er die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf die Idee der Schiedsgerichtsbarkeit lenkte. Jedesmal, wenn fortan ein Streit ausbrach, konnten die Parteien darauf aufmerksam gemacht werden, daß ihnen im Haag ein Schiedsgericht zur Verfügung stände. In der Zeit bis zum Weltkrieg hat der Haager Ständige Schiedshof eine ganze Reihe von Streitigkeiten beigelegt, man denke an den Casablanca-Fall zwischen Deutschland und Frankreich, den Streit zwischen Deutschland, England und Italien einerseits sowie Venezuela andererseits wegen Forderungen an die Staatskasse von Venezuela, den Carthage- und Manouba-Zwischenfall zwischen Italien und Frankreich sowie den Streit zwischen England und den Vereinigten Staaten von Amerika über die Fischerei in Neufundland. Die zweite Haager Friedenskonferenz hat 1907 versucht, neben dem Haager Ständigen Schiedshof von 1899 ein wirklich ständiges Tribunal ins Leben zu rufen. Diese Bemühungen mißlangen jedoch, weil man sich über die Frage, welche Staaten in diesem Gerichtshofe vertreten sein sollten, nicht einigen konnte.

Was die Vermittlung betrifft, so beruht das einzige Verdienst der Haager Friedenskonferenzen darin, die Aufmerksamkeit auf dieses moderne Institut gelenkt zu haben. Es ist im Haag nicht gelungen, das Vermittlungsverfahren in irgendeiner Hinsicht wesentlich fortzubilden.

Trotzdem die Haager Friedenskonferenzen das Friedensrecht im wesentlichen nur durch die Errichtung des Ständigen Schiedshofes (sowie durch die Schaffung einer Schiedsprozeßordnung) gefördert haben, kommt dem "Haager Abkommen zur friedlichen Erledigung internationaler Streitigkeiten" grundsätzlich eine hohe Bedeutung zu. Man hat in diesem Abkommen zum ersten Male planmäßig versucht, das Problem der Kriegsverhütung in umfassender Weise zu regeln. Um das Haager Abkommen zentralisierten sich alle Bemühungen der Völkerverständigung. Es war fortan ein Mittelpunkt vorhanden, an den jeder weitere Fortschritt anknüpfen konnte. Als dann die zweite Haager Friedenskonferenz den periodischen Zusammentritt der Friedenskonferenzen vorsah, schien die Zukunft des Haager Werkes gesichert.

Die große psychologische Bedeutung des Haager Werkes zeigte sich vor allem darin, daß unter dem Einfluß der Verhandlungen der ersten Haager Friedenskonferenz, insbesondere des berühmten Art. 19 des Friedensabkommens, worin sich die Mächte den Abschluß neuer allgemeiner oder besonderer Schiedsabkommen vorbehielten, eine Schiedsgerichtsbewegung entstand, die eine Fülle von Staaten durch ein Netz von Einzelverträgen verband. Der Anfang dieser Bewegung wurde 1903 durch den Abschluß eines englisch-französischen Schiedsver- [83] trages gemacht. Zwar wurden durch solche Verträge im allgemeinen nur Rechtsfragen der obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeit unterworfen, und selbst diese nur, soweit nicht die Ehre, die Lebensinteressen der Parteien usw. berührt wurden. Aber diese Schiedsverträge bildeten immerhin einen aussichtsreichen Anfang für die weitere Entwicklung. Das zeigte sich besonders darin, daß in den Jahren vor dem Weltkriege einige Staaten bereits dazu übergegangen waren, Schiedsverträge abzuschließen, die alle Streitigkeiten ohne Ausnahme der Schiedsgerichtsbarkeit überwiesen. Verträge dieser Art wurden unterzeichnet und ratifiziert z. B. zwischen Italien und Dänemark, Italien und den Niederlanden, Dänemark und den Niederlanden sowie Dänemark und Portugal. Bemerkenswert war ferner die Errichtung eines zentralamerikanischen Gerichtshofes durch Abkommen vom 20. Dezember 1907 zwischen Salvador, Costa Rica, Guatemala, Honduras und Nicaragua. Diesem Gerichtshof konnten u. a. alle Streitigkeiten zwischen den Vertragsmächten überwiesen werden.

Solange diese vorbehaltslosen Schiedsverträge aber noch eine seltene Ausnahme darstellten und solange es unwahrscheinlich war, daß sich die Großmächte in ihren Beziehungen zueinander für alle Streitigkeiten der obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeit unterwarfen, solange mußte ein anderer Weg als derjenige der Schiedsgerichtsbarkeit beschritten werden, um den Ausbruch eines Krieges in jedem Falle mindestens zu erschweren. Das große Verdienst, in dieser Richtung einen neuen Weg gewiesen zu haben, gebührt dem amerikanischen Staatssekretär Bryan, der im Jahre 1913 den Gesandten der in Washington vertretenen Staaten ein Memorandum überreichte, worin vorgeschlagen war, die Mächte sollten sich verpflichten, alle Streitigkeiten irgendwelcher Art, die nicht auf diplomatischem Wege geschlichtet worden seien, zum Zwecke der Prüfung und Berichterstattung einer Vermittlungskommission zu unterbreiten. Während der Dauer der Untersuchung und Berichterstattung sollte kein Krieg erklärt und keine Feindseligkeit begonnen werden dürfen. Die Untersuchungskommission sollte den Tatbestand feststellen und den Parteien gewisse Möglichkeiten der Lösung nahelegen. Die Regierungen sollten nicht verpflichtet sein, die Vorschläge der Kommission anzunehmen. Bryan rechnete damit, daß sich die streitenden Parteien bis zur Erstattung des Berichts beruhigen und die anderen Staaten dadurch Gelegenheit erhalten würden, vermittelnd einzugreifen. Bis Ende des Jahres 1915 wurden nicht weniger als 30 solcher Verträge, auch von Seiten der Großmächte, unterzeichnet, 16 sogar ratifiziert.

Die Bryan-Verträge waren zunächst nur als Verträge zwischen zwei Staaten gedacht. Ein Weltvertrag, der möglichst alle Mächte sämtlichen anderen Staaten gegenüber verpflichtete, bei jedem Streitfall in der oben erwähnten Weise wenigstens den Versuch friedlicher Streit- [84] erledigung zu machen, war nicht ins Auge gefaßt. Aber trotzdem haben die Bryan-Verträge eine große historische Bedeutung. Sie haben zum ersten Male eine Art bedingter Ächtung des Krieges durchzuführen versucht. Freilich, wie vorsichtig man damals noch in der Bekämpfung des Krieges war, ergibt sich aus der Tatsache, daß in den Präambeln der Bryan-Verträge lediglich von der Förderung der Sache des allgemeinen Friedens, nicht aber von der Beseitigung oder auch nur Erschwerung des Krieges die Rede war.

Während des Weltkrieges sind eine große Anzahl privater und offizieller Völkerbundentwürfe dafür eingetreten, den Gedanken der Bryan-Verträge zu verallgemeinern und einen Bund zu schaffen, innerhalb dessen ein Krieg verboten sein sollte, wenn nicht vorher wenigstens der Versuch friedlicher Streiterledigung gemacht worden sei. Auf diesen Standpunkt stellte sich vor allem der auf Anregung der britischen Regierung entstandene Bericht der Phillimore-Kommission, der auf die endgültige Fassung der Völkerbundsatzung einen großen Einfluß ausgeübt hat. Die privaten englischen Entwürfe von Lord Bryce, Dickinson und der Fabier sowie das Projekt der amerikanischen "League to enforce Peace" waren in dieser Frage der gleichen Auffassung. Schon daraus ergibt sich, daß diese Entwürfe ihre Hauptaufmerksamkeit auf die Förderung der Vermittlung, nicht aber der Schiedsgerichtsbarkeit legten. Der schiedsrichterliche Weg wurde nur für Streitigkeiten rechtlicher Natur vorgesehen. Erst gegen Schluß des Krieges entstanden bedeutsamere Entwürfe, die jeden einzelstaatlichen Krieg untersagten. So sahen das Projekt des Obersten House und der erste Wilson-Entwurf sowie der Entwurf der französischen Regierungskommission die allgemeine unbeschränkte obligatorische Schiedsgerichtsbarkeit vor, enthielten also indirekt ein Verbot jedes Krieges. Ebenso haben die offiziellen Entwürfe Italiens, der Schweiz und der Niederlande, schließlich auch des Deutschen Reichs sich für ein Verbot jeder einzelstaatlichen kriegerischen Selbsthilfe in den gegenseitigen Beziehungen der Mitglieder des Völkerbundes ausgesprochen. Die Entwürfe der schweizerischen und der deutschen Regierung waren besonders bemerkenswert. Sie sahen allerdings für die politischen Streitigkeiten ein Vergleichsverfahren vor. Doch sollte dieses stets mit einem Berichte enden, der für die Parteien bindend war, also schiedsgerichtlichen Charakter trug.

Neben der Schiedsgerichtsbarkeit und Vermittlung sowie dem direkten bzw. indirekten Kriegsverbote enthielten die Völkerbundentwürfe eine Anzahl weiterer Vorschriften zur Verhinderung des Krieges. Nach vielen Entwürfen sollte ein Vermittlungsrat von sich aus bei drohender Kriegsgefahr eingreifen können.

Diejenigen Entwürfe, die den größten Einfluß auf die endgültige [85] Fassung des Völkerbundentwurfs gehabt haben, hatten jedoch darauf verzichtet, den Krieg endgültig zu verbieten. So war insbesondere in den späteren Wilson-Entwürfen und dem Projekte der britischen Regierung ein völliges Verbot des Krieges ebensowenig enthalten wie in dem englisch-amerikanischen Projekte von Hurst-Miller, das schließlich den Verhandlungen der Pariser Völkerbundkommission zugrundegelegt wurde.

Die skeptische Haltung dieses letzteren Entwurfs war bei den Verhandlungen der Völkerbundkommission der Pariser Friedenskonferenz maßgebend. Von den Siegern des Weltkrieges wurde die Frage, ob der Krieg den Mitgliedern des Völkerbundes in jedem Falle untersagt werden sollte, überhaupt nicht erörtert. Man hielt die Zeit für eine solch weitgehende Neuerung noch nicht für gekommen. Selbst unter den Anregungen, die Wilson nach seiner Anwesenheit in Amerika im Februar/März 1919 zwecks Verbesserung der ersten Fassung des Pariser Völkerbundentwurfs mit nach Europa brachte, befand sich kein Vorschlag, der auf die endgültige Beseitigung des Krieges hinzielte. Daß man infolgedessen nicht daran dachte, die Schiedsgerichtsbarkeit für alle Streitfragen obligatorisch zu gestalten, ist begreiflich. Aber nicht einmal für die Streitfragen rechtlicher Natur hielt die Völkerbundkommission den Grundsatz der obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeit für durchführbar, wie insbesondere aus der Antwort Clemenceaus an die deutsche Delegation vom 22. Mai 1919 hervorgeht. Vergebens stellten Holland, die Schweiz und Dänemark auf der Pariser Konferenz mit den Neutralen vom 20./21. März 1919 den Antrag, die obligatorische Schiedsgerichtsbarkeit für Rechtsfragen anzuerkennen. Diese Vorschläge wurden ebensowenig berücksichtigt wie die in Versailles überreichten Anregungen der deutschen Regierung in ihrem amtlichen Völkerbundentwurf, der für alle Rechtsfragen die Schiedsgerichtsbarkeit vorsah. Auch die in gleicher Richtung gehenden Vorschläge der österreichischen und ungarischen Friedensdelegation wurden später unbeachtet gelassen.

Nicht wenig charakteristisch für die Haltung der Alliierten und Assoziierten zu dem Problem der Kriegsverhinderung ist die Tatsache, daß sie den Zentralmächten zwar die stärksten Beschränkungen der Souveränität hinsichtlich des Standes der Rüstungen auferlegten, daß sie aber nicht daran dachten, ihnen auch das Recht der Kriegführung zu nehmen. Bei Gründung des Völkerbundes bestand infolgedessen der eigentümliche Zustand, daß die Sieger sich selbst Schranken des Rechts zur Kriegführung auferlegt hatten, nicht aber auch ihren Gegnern aus dem Weltkriege, die ja noch nicht sofort Mitglieder des Völkerbundes werden sollten.


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b) Der Stand des Problems nach Schaffung des Völkerbundes

1) Die Frage des Angriffs- und Verteidigungskrieges

Die Stellungnahme der Völkerbundsatzung zum Kriegsproblem ergibt sich daraus, daß die Präambel der Satzung lediglich vorschreibt, bestimmte Verpflichtungen zu übernehmen, nicht zum Kriege zu schreiten. Damit ist bereits gesagt, daß der einzelstaatliche Krieg zwischen den Mitgliedern des Völkerbundes nur insoweit untersagt ist, als die Satzung ein entsprechendes Verbot enthält. Untersagt ist insbesondere der Krieg, der unternommen wird, ohne daß vorher ein Versuch friedlicher Streiterledigung gemacht worden ist. Art. 12 Abs. 1 der Satzung schreibt vor, daß die Bundesmitglieder eine etwa zwischen ihnen entstehende Streitfrage, die zu einem Bruche führen könnte, entweder der Schiedsgerichtsbarkeit oder einem gerichtlichen Verfahren oder der Prüfung durch den Rat unterbreiten müssen. Es ist ferner in Art. 12 Abs. 2 der Satzung angeordnet, daß die Mitglieder des Völkerbundes in keinem Falle vor Ablauf von drei Monaten nach der schiedsgerichtlichen oder gerichtlichen Entscheidung oder dem Berichte des Rates zum Kriege schreiten dürfen. Der Krieg, der unter Verletzung dieser Vorschriften unternommen wird, ist ein verbotener Krieg und unterliegt den in Art. 16 der Satzung vorgesehenen wirtschaftlichen und militärischen Sanktionen. Die Satzung enthält noch zwei weitere Fälle, in denen der Krieg verboten ist, falls er nämlich gegen einen Staat unternommen wird, der sich einem Schiedsspruch fügt (Art. 13 Abs. 4 der Satzung), oder gegen einen Staat, der sich einem einstimmig beschlossenen Bericht des Rates bzw. einem mit qualifizierter Mehrheit beschlossenen Berichte der Bundesversammlung fügt (Art. 15 Abs. 6 und 10 der Satzung). Zur Erläuterung der letzteren Vorschrift sei betont, daß im Falle einer Vermittlungsaktion der Bericht des Rats bzw. der Bundesversammlung nicht bindend ist, daß aber im Falle der Einstimmigkeit dieses Berichts ein Krieg gegen den Staat, der sich den Bericht zu eigen macht, untersagt ist. In einem fünften Falle ist es schließlich strittig, ob ein Krieg zulässig ist, wenn er nämlich gegen einen Staat unternommen wird, hinsichtlich dessen der Rat bzw. die Bundesversammlung anerkannt haben, daß der Streit nach internationalem Rechte ausschließlich in die Zuständigkeit dieses Staate fällt (Art. 15 Abs. 8 und 10 der Satzung). Die herrschende Meinung läßt in einem solchen Falle den Krieg zu, während vereinzelt (Schücking-Wehberg) behauptet wird, unter solcher Voraussetzung sei ein Bericht des Rats bzw. der Bundesversammlung nicht zulässig, so daß kein, den Vorschriften des Art. 12 entsprechender Versuch zur friedlichen Beilegung des Streits gemacht werden [87] könne; der trotzdem unternommene Krieg widerspreche daher dem Art. 12.

Bedeutsam ist für die Prüfung der Frage der Zulässigkeit eines Krieges, daß Kriegsverbote auch außerhalb der Völkerbundsatzung bestehen, insbesondere in den zahlreichen Schiedsverträgen, die vor und nach Gründung des Völkerbundes geschlossen worden sind. Auch die Zahl derjenigen Schiedsverträge, die vorbehaltslos jeden Streitfall der Schiedsgerichtsbarkeit überweisen, hat seit 1920 zugenommen. So haben die politische Vereinbarung zwischen Österreich und der Tschechoslowakei vom 16. Dezember 1921, die politische Vereinbarung zwischen Estland, Finnland, Lettland und Polen vom 17. März 1922, der Schiedsvertrag zwischen Österreich und Ungarn vom 10. April 1923, der Defensivvertrag zwischen Estland und Lettland vom 1. November 1923 usw. alle Streitigkeiten ohne Ausnahme der Schiedsgerichtsbarkeit überwiesen und somit jeden Krieg untersagt. Von dem Locarno-Pakte, der den Krieg im Verhältnis zwischen Belgien und Frankreich einerseits und Deutschland andererseits untersagt hat, wird später noch ausführlicher die Rede sein. Die vom Deutschen Reich geschlossenen Schiedsgerichts- und Vergleichsverträge haben keineswegs jeden Krieg verboten. Durch die Schiedsgerichts- und Vergleichsverträge sind auch im Verhältnis zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern rechtliche Schranken für den Beginn eines Krieges aufgestellt worden. Das ist um so bedeutsamer, als ja die Nichtmitglieder weder im Verhältnis zueinander noch im Verhältnis zu den Mitgliedern des Völkerbundes durch die Bestimmungen der Völkerbundsatzung gebunden sind.

In der ersten Zeit nach Gründung des Völkerbundes wurden keine Versuche unternommen, das in der Satzung enthaltene Verbot bestimmter Kriege weiter auszudehnen. Eine 1921 vom Völkerbundrat eingesetzte Kommission, die sich ausschließlich mit der Frage der Satzungsänderung befaßte, gab keine Anregung, die auf ein solches Ziel hinauslief. Erst als sich der Völkerbund seit 1922 bemühte, das Sicherheitsproblem seiner Lösung näher zu bringen, kam man auf den Gedanken, daß eine der wichtigsten Voraussetzungen der Sicherheit ein Verbot jedes Angriffskrieges darstelle. Der berühmte Plan Lord Robert Cecils betr. gegenseitigen Beistand bezweckte, daß sich alle interessierten Mächte sofortige und wirksame Hilfe im Falle eines Angriffskrieges zusagten, ohne zunächst eine Ausdehnung der Verpflichtungen aus Art. 12ff. der Völkerbundsatzung zu erstreben. Als jedoch der Plan im Rahmen der Gemischten Abrüstungskommission des Völkerbundes diskutiert wurde, regte man an, in den Vertrag eine Bestimmung aufzunehmen, worin die Mächte auf jeden Angriffskrieg gegeneinander verzichteten. Darüber, ob diese Vorschrift in die Präambel oder, um ihr einen noch größeren Nachdruck [88] zu verschaffen, in einem bestimmten Artikel eingereiht werden sollte, war man nicht einig. Schließlich aber wurde das Verbot in Art. 1 des Projekts Lord Robert Cecils in folgender Fassung aufgenommen: "Die Hohen Vertragschließenden Teile erklären, daß der Angriffskrieg ein internationales Verbrechen darstellt, und übernehmen die feierliche Verpflichtung, sich dieses Verbrechens gegenüber keiner Nation schuldig zu machen." Aus den Debatten innerhalb der vierten Bundesversammlung (1923) ergibt sich, daß man durch diese Bestimmung grundsätzlich jede Art des Angriffskrieges verbieten wollte. Trotzdem wurde von der vierten Bundesversammlung eine Einschränkung dahingehend vorgenommen, daß ein Angriffskrieg nicht als vorliegend erachtet werden sollte, wenn der Krieg von demjenigen Staate, der in einem Streite die einstimmige Empfehlung des Rates oder das Urteil eines Schiedsgerichts angenommen hätte, gegen einen anderen Staat unternommen würde, der eine solche Entscheidung nicht angenommen habe, vorausgesetzt, daß der Angreifer die politische Unabhängigkeit oder die territoriale Integrität des Gegners nicht verletze. Dieser Kompromiß war darauf zurückzuführen, daß man fürchtete, durch das Verbot des Angriffskrieges ohne gleichzeitige Fortbildung des friedlichen Verfahrens denen einen Freibrief zu geben, welche z. B. trotz eines einstimmig angenommenen Berichts des Rates die Erfüllung eines Anspruches verweigerten.

Bekanntlich fand der Garantieplan Lord Robert Cecils nicht die Zustimmung des Völkerbundes. Aber die Grundidee des Projekts, soweit sie sich auf den Angriffskrieg erstreckte, wurde bald darauf in dem Genfer Protokoll von neuem zu verwirklichen gesucht.

Bevor die fünfte Bundesversammlung das Genfer Protokoll ausarbeitete, wurde dem Völkerbunde von einem amerikanischen Komitee, dem u. a. Prof. Shotwell, General Bliss und der Völkerrechtsgelehrte David Hunter Miller angehörten, ein privater Entwurf zur Ächtung des Krieges übergeben. Darin war jede Angriffshandlung und die Vorbereitung dazu, insbesondere auch eine Mobilisierung, verboten. Als Angreifer sollte betrachtet werden, wer die Schiedsgerichtsbarkeit ablehnte. Dieser letztere Gedanke trug in hohem Grade dazu bei, eine Einigung der fünften Bundesversammlung (1924) über einen neuen allgemeinen Garantiepakt zu erleichtern. Als die fünfte Bundesversammlung unter der Führung von Herriot und Macdonald die Verhandlungen über einen Nichtangriffspakt begann, stand es von vornherein so gut wie fest, daß man das Verbot jedes Angriffskrieges zur Grundlage des Vertrages machen würde. In dem berühmten Genfer Protokoll kamen die Signatarstaaten überein, daß sie in keinem Falle zum Kriege schreiten dürften, weder unter sich noch gegen einen Staat, der gegebenen- [89] falls alle Verpflichtungen des Protokolls übernehmen würde. Von diesem Prinzip wurden nur zwei Ausnahmen gemacht. Erstens wurde der Verteidigungskrieg für zulässig erklärt, zweitens alle diejenigen militärischen Maßnahmen, die in Übereinstimmung mit den Vorschriften der Völkerbundsatzung oder des Protokolls vorgenommen würden, um einem angegriffenen Staate helfen zu können, einen Schiedsspruch durchzusetzen usw. Das Genfer Protokoll enthielt gegenüber dem Garantieplan Lord Robert Cecils vor allem den bedeutsamen Fortschritt, daß es sich nicht auf das Verbot des Angriffskrieges beschränkte, sondern gleichzeitig ein Verfahren für die friedliche Erledigung fast aller internationalen Streitigkeiten enthielt. Gegen diejenige Regierung, die einen verbotenen Krieg begann, waren Sanktionen vorgesehen, und zwar weit über die Vorschriften des Art. 16 der Satzung hinaus. Insbesondere war jedem Staate das Recht, selbst zu beurteilen, wann ein Bruch des Genfer Protokolls vorliege, entzogen. Die Sanktionen sollten gewissermaßen automatisch einsetzen, und, von besonderen Fällen abgesehen, sollte eine Verhandlung vor dem Völkerbundrat nicht stattfinden, vielmehr der Angreifer auf Grund von Vermutungen festgestellt werden.

Das Genfer Protokoll teilte das Schicksal des Garantiepakts. Es wurde zwar von der Bundesversammlung angenommen; seine Ratifikation scheiterte aber an dem Widerstande Großbritanniens und seiner Dominien, die weder das Sanktions- noch das Schiedsgerichtssystem des Protokolls zu genehmigen bereit waren. Immerhin war das Problem der Ächtung jedes Angriffskrieges durch die Verhandlungen der fünften Bundesversammlung so stark wie noch nie zuvor in den Mittelpunkt der Diskussion gerückt. Wie erheblich auch die Schwächen des Genfer Protokolls waren (deren Erörterung weniger in eine Darstellung des Kriegsverhütungsrechts, als vielmehr des Sicherheitsproblems im allgemeinen gehört), es wird für immer ein Ruhmestitel der fünften Bundesversammlung bleiben, daß sie die Ächtung jedes Angriffskrieges mit aller Deutlichkeit verkündet hat.

Zu einem bedeutsamen Erfolge führten die Bestrebungen betreffend Ausdehnung des in der Völkerbundsatzung vorhandenen Kriegsverbots in dem Pakte von Locarno. Die Vorgeschichte dieses Paktes geht zum mindesten zurück bis auf den 18. Dezember 1922, als der deutsche Reichskanzler Cuno durch Vermittlung des amerikanischen Staatssekretärs Hughes Frankreich den Vorschlag machte, Deutschland, Frankreich sowie die anderen am Rhein interessierten Großmächte sollten sich gegenseitig zu treuen Händen einer am Rhein nicht interessierten Großmacht für ein Menschenalter feierlich verpflichten, ohne besondere Ermächtigung durch Volksabstimmung keinen Krieg gegeneinander zu führen. Nachdem Frankreich diese und ähnliche Anregungen abgelehnt hatte, führte schließlich das be- [90] rühmte Memorandum Stresemanns vom 9. Februar 1925 erst zu schriftlichen, dann zu mündlichen Verhandlungen, die mit der Unterzeichnung des Paktes von Locarno am 16. Oktober 1925 zum Abschluß gebracht wurden. Dieser Pakt, der als ein auf eine bestimmte Anzahl von Staaten beschränktes Genfer Protokoll bezeichnet werden kann, wurde bald darauf von allen Signatarstaaten ratifiziert und trat, wie vorgesehen, in Kraft, nachdem alle Ratifikationsurkunden hinterlegt waren und Deutschland Mitglied des Völkerbundes geworden war.

Deutschland und Belgien sowie Deutschland und Frankreich verpflichteten sich in Art. 2 des Westpaktes von Locarno, in keinem Falle zu einem Angriff oder zu einem Einfall oder zum Kriege gegeneinander zu schreiten. Durch diese Formulierung wurde, wie noch an anderer Stelle zu betonen sein wird, nicht nur der Angriffskrieg, sondern auch die Anwendung militärischer Gewalt ohne förmliche Kriegserklärung (Ruhreinmarsch!) für unzulässig erklärt, während ein solches Verbot im Genfer Protokoll nicht enthalten gewesen war. Das Verbot des Krieges zwischen den genannten Ländern sollte jedoch keine Anwendung finden 1. im Falle der Selbstverteidigung, 2. bei einer Aktion auf Grund des Art. 16 der Völkerbundsatzung, 3. bei einer Maßnahme, die auf Grund einer Entscheidung der Versammlung oder des Rates des Völkerbundes oder auf Grund des Art. 15 Abs. 7 der Völkerbundsatzung erfolgt, vorausgesetzt, daß sich die Handlung in diesem letzteren Falle gegen einen Staat richtet, der zuerst zum Angriff geschritten ist. Was die Frage der Selbstverteidigung anlangt, so ist an dieser Stelle besonders darauf hinzuweisen, daß Selbstverteidigung nicht nur gegenüber einem Angriffskriege oder einem militärischen Einmarsche zulässig sein sollte, sondern auch bei einem flagranten Verstoße gegen die auf die Entmilitarisierung der Rheinlande bezüglichen Bestimmungen, sofern ein solcher Verstoß eine nichtprovozierte Angriffshandlung darstellt und wegen der Zusammenziehung von Streitkräften in der demilitarisierten Zone ein sofortiges Handeln notwendig ist. Für diesen Fall war also gewissermaßen ein Verteidigungskrieg für statthaft erklärt, selbst wenn kein wirklicher Angriff vorlag, eine politisch und rechtlich sehr bedenkliche Maßnahme! Die auf Art. 15 Abs. 7 der Satzung bezügliche Ausnahme war im Genfer Protokoll nicht enthalten gewesen. Sie hätte auch dem Locarno-Pakte nicht eingefügt zu werden brauchen, wenn dieser den Angriffskrieg zwischen Deutschland und Polen usw. in gleicher Weise wie zwischen Deutschland und Frankreich usw. untersagt hätte. Frankreich wollte mit Rücksicht auf seine Bündnisverpflichtungen gegenüber Polen für den Fall, daß Deutschland zuerst zum Angriff gegen Polen schreiten würde, nicht auf eine Unterstützung Polens verzichten. Sobald nach Ratifikation des Kel- [91] logg-Paktes auch im Verhältnis zwischen Deutschland und Polen jeder Krieg untersagt ist, wird diese Ausnahme des Locarno-Paktes keine praktische Bedeutung mehr haben. Die Frage, wann ein durch den Westpakt verbotener Krieg vorliegt, soll letzten Endes nicht von den Kontrahenten, sondern von dem Völkerbundrat entschieden werden. Es soll also in jedem Falle zur Entscheidung der Frage, ob es sich um einen verbotenen Krieg handelt, eine Diskussion vor dem Völkerbundrat stattfinden, was einen sehr wesentlichen Fortschritt gegenüber dem Standpunkt des Genfer Protokolls bedeutet.

Der Völkerbund hat in der Zeit nach dem mißglückten Versuche des Genfer Protokolls keinen weiteren Beschluß gefaßt, der jeden Angriffskrieg für die Mitglieder des Völkerbundes in juristisch bindender Form untersagte. Immerhin sind zwei programmatische Erklärungen der sechsten und achten Bundesversammlung zu nennen, die eine moralische Ächtung des Angriffskrieges erstrebt haben. Die sechste Bundesversammlung (1925) erklärte auf spanischen Antrag im Rahmen einer die Sicherheit und Abrüstung betreffenden Resolution, daß der Angriffskrieg ein internationales Verbrechen darstelle. Es handelte sich hierbei nicht um eine selbständige Resolution, sondern um die Einführungsworte einer die Einberufung der Vorbereitenden Abrüstungskommission bezweckenden Resolution. Die Resolution wollte kein neues Recht schaffen, d. h. die aus der Völkerbundsatzung und den besonderen Verträgen sich ergebenden Verpflichtungen nicht ausdehnen, sondern lediglich einen Wunsch zum Ausdruck bringen. Zwei Jahre später legte die polnische Delegation der achten Bundesversammlung (1927) eine Erklärung zur Ächtung des Angriffskrieges vor. Ursprünglich war polnischerseits beabsichtigt, einen Nichtangriffspakt zur Beratung vorzulegen; aber angesichts der Bedenken anderer Mächte begnügte sich Polen mit der Einbringung des erwähnten Antrages. Bei der Debatte dieses Antrages wurde von mehreren Seiten hervorgehoben, daß dadurch die Vorschriften der Satzung nicht erweitert werden sollten. Durch das moralische Verbot des Angriffskrieges sollten die nach der Völkerbundsatzung (z. B. nach Art. 15 Abs. 7) erlaubten Einzelkriege nicht für unzulässig erklärt werden. Der einzige Zweck der von der Völkerbundversammlung beschlossenen feierlichen Erklärung sollte darin bestehen, auf die öffentliche Meinung der Welt einen günstigen Einfluß auszuüben. Die Erklärung lautete: 1. Jeder Angriffskrieg ist und bleibt verboten; 2. Alle friedlichen Mittel müssen zur Regelung von Streitigkeiten, welcher Art auch immer, die sich zwischen den Staaten ergeben, angewandt werden. In der Resolution der achten Bundesversammlung kann angesichts der Tatsache, daß sie nur die bereits durch die Völkerbundsatzung verbotenen Kriege treffen wollte, kein wesentlicher Fortschritt erblickt werden.

[92] Einen solchen Fortschritt stellte jedoch der am 27. August 1928 in Paris unterzeichnete Kriegsächtungspakt dar, der seine Entstehung einem Notenwechsel zwischen dem amerikanischen Staatssekretär Kellogg und dem französischen Außenminister Briand verdankt. Geschlossen ist der Kriegsächtungsvertrag von Amerika, Belgien, Frankreich, dem Deutschen Reich, Großbritannien sowie den Dominien, Italien, Japan, Polen und der Tschechoslowakei. Alle anderen Mächte der Welt können ihm beitreten. In Art. 1 des Vertrages erklären die Vertragschließenden Mächte feierlich im Namen ihrer Völker, daß sie den Krieg als Mittel für die Lösung internationaler Streitfälle verurteilen und auf ihn als Werkzeug nationaler Politik in ihren gegenseitigen Beziehungen verzichten. Damit ist der Angriffskrieg über die Vorschriften der Völkerbundsatzung und über den Kreis der Mitglieder des Völkerbundes hinaus geächtet. Zu beachten ist jedoch, daß nur der Krieg, nicht auch die militärische Besetzung fremden Staatsgebiets untersagt wird und daß sich ferner das Verbot nur auf den Krieg als "Mittel nationaler Politik", nicht auch als "Mittel internationaler Politik" erstreckt. Das letztere ist besonders deshalb bemerkenswert, weil die Vereinigten Staaten von Amerika Streitfragen betreffend die Monroe-Doktrin nicht als solche rein nationaler Politik ansehen.

Der Kelloggpakt spricht ganz allgemein von dem Verbote des "Krieges", meint aber damit lediglich den "Angriffskrieg". Das geht insbesondere aus der amerikanischen Note vom 23. Juni 1928 hervor, deren Wortlaut für die Auslegung des Paktes maßgebend ist, da sie bei den anderen Mächten keinen Widerspruch gefunden hat. Zulässig ist daher nach wie vor das Recht der Selbstverteidigung gegenüber einem Angriffe oder Einfall auf das Territorium einschließlich der Kolonien. Großbritannien hat in seiner Note vom 19. Mai 1928 an Amerika das Recht der Selbstverteidigung sehr weit ausgedehnt, indem es betonte, es gebe gewisse Gebiete auf der Welt, deren Wohlfahrt und Unversehrtheit ein besonderes und lebenswichtiges Interesse für den Frieden und die Sicherheit Großbritanniens darstellten. Dieser Vorbehalt ist so unklar gefaßt und im Gegensatz zur Monroedoktrin so wenig territorial beschränkt, daß er eine sehr weitgehende Auslegung zuläßt. Das ist um so gefährlicher, als jeder Staat selbst zu bestimmen hat, ob die Voraussetzungen des Rechts der Selbstverteidigung vorliegen. Ebenso wenig wie den Verteidigungskrieg will der Kriegsächtungspakt solche militärischen Maßnahmen treffen, die als Sanktionen usw. in der Völkerbundsatzung vorgesehen sind. Das ist nicht nur in der amerikanischen Note vom 23. Juni 1928, sondern auch in der Präambel zum Kriegsächtungspakt ausdrücklich betont. In der letzteren heißt es, daß ein Staat, der seine nationalen Interessen dadurch fördere, daß er zum Kriege schreite, dadurch der [93] Vorteile des Vertrages für verlustig erklärt werden solle. Dadurch ist es den Mitgliedern des Völkerbundes freigestellt, militärische Maßnahmen gegen einen Angreiferstaat zur Anwendung zu bringen. Weitere Ausnahmen beziehen sich einmal auf die Garantie solcher Verpflichtungen, die zur Unterstützung oder zwecks Erweiterung des Art. 16 der Völkerbundsatzung eingegangen sind, insbesondere aller Garantieverträge, z. B. des Locarnopaktes, sowie auf die Erfüllung von Defensivverträgen. Die zuletzt genannten Ausnahmen würden ohne Bedeutung sein, wenn wirklich alle Vertragsparteien aus solchen Bündnisverträgen dem Kelloggpakte beitreten. Denn der Bündnisfall kann in diesem Falle niemals eintreten, ohne daß gleichzeitig auch der Kriegsächtungspakt verletzt ist und die Mitglieder des Völkerbundes freie Hand bekommen. Das sind aber die einzigen Ausnahmen zum Kriegsverbot des Kelloggpakts. Wenn z. B. eine Regierung die Ausführung eines Schiedsspruches verweigert, ohne gleichzeitig zum Kriege zu schreiten, ist der Krieg gegen diese rechtsbrüchige Regierung zwecks Exekution des Schiedsspruches im Gegensatz zu dem bisherigen Rechte untersagt.

Der Kelloggpakt bildet den Höhepunkt einer Entwicklung, die den Angriffskrieg als ein Verbrechen brandmarkt. Er verdankt seine Entstehung nicht nur der weitgehenden Wirkung der Bestrebungen des Völkerbundes, sondern auch der Propaganda der sogenannten amerikanischen Kriegsächtungsbewegung, die von dem Rechtsanwalt Levinson in Chicago begründet wurde. Ob die Tatsache, daß diese Bewegung wie auch der Kriegsächtungspakt sich auf das Verbot des Angriffskrieges beschränken und keine Sicherungen gegenüber einem Bruche des Vertrages vorsehen, als eine Schwäche betrachtet werden kann, läßt sich heute noch nicht mit Bestimmtheit sagen. Denn vielleicht ist gegenüber der zu starken Betonung des Sicherheitsgedankens im Rahmen des Völkerbundes eine Bewegung, die sich auf das Verbot des Krieges beschränkt, nicht ganz ohne Nutzen. Immerhin wäre es vorteilhafter gewesen, wenn der Kriegsächtungspakt wenigstens Normen für das Verfahren zwecks friedlicher Erledigung internationaler Streitigkeiten vorgesehen hätte.

Man muß sich jedoch fragen, ob ein Verbot des Angriffskrieges genügt, wenn dadurch ausdrücklich oder stillschweigend der Verteidigungskrieg zugelassen wird. Das Problem des Verteidigungskrieges ist vom Völkerbunde bisher noch nicht mit der nötigen Entschiedenheit in Angriff genommen worden. Die ideale Lösung würde darin bestehen, daß ein unparteiisches Organ festzusetzen hat, ob die Voraussetzungen des Verteidigungskrieges vorliegen. Solange das nicht der Fall ist, wird stets die Gefahr vorhanden sein, daß ein Staat unter dem Vorwande der Selbstverteidigung einen Angriffskrieg beginnt. Aber augenblicklich sind vor allem die Großmächte noch nicht be- [94] reit, einem internationalen Organ die Entscheidung anzuvertrauen, ob ein Verteidigungskrieg zulässig ist.

Immerhin ist das Problem des Verteidigungskrieges seit Schaffung des Völkerbundes keineswegs unbeachtet gelassen worden. Zum ersten Male spielte diese Frage im Rahmen des Völkerbundes eine gewisse Rolle, als es im Oktober 1925 zwischen bulgarischen und griechischen Wachtposten zu einem Zusammenstoß gekommen war und der griechische Kommandant in bulgarisches Gebiet eingerückt war. Damals führte Briand im Völkerbundrate aus: "Unter dem Vorwande rechtmäßiger Selbstverteidigung kann man sich in Konflikte einlassen, die, selbst wenn sie begrenzter Natur sind, durch die Verheerungen, die sie im Gefolge haben, außerordentlich peinlich sind und im übrigen, nachdem sie einmal begonnen haben, einen Umfang annehmen können, dessen das Land, welches sie im Gefühl rechtmäßiger Verteidigung hervorgerufen hat, nicht mehr Herr ist". Der französische Delegierte betonte weiter, zur Vermeidung solch schmerzlicher Ereignisse sei der Völkerbund da, an den sich die Regierungen in Krisenzeiten wenden müßten; der Rat habe den Nachweis erbracht, daß ein Volk, welches sich in seiner Existenz bedroht fühle, sich mit Aussicht auf sichere Hilfe an den Völkerbund wenden könne. Wenn es sich damals auch nur um zwei kleinere Mächte handelte, auf die solche Prinzipien praktisch angewandt wurden, so waren doch die Worte Briands, die von den anderen Mitgliedern des Völkerbundrates geteilt wurden, als eine programmatische Erklärung für das Verhalten aller Mitglieder des Völkerbundes in Krisenzeiten gedacht. In ähnlicher Weise hat der Rat drei Jahre später bei Gelegenheit des Grenzzwischenfalles zwischen Bolivien und Paraguay die Streitteile ermahnt, sich auf solche militärischen Verteidigungsmaßnahmen zu beschränken, die nicht die Gefahr in sich schlössen, die bewaffneten Streitkräfte miteinander in Verbindung zu bringen. Durch die Stellungnahme in dem griechisch-bulgarischen und bolivianisch-paraguayschen Konflikte hat der Rat den Standpunkt der vorbehaltslosen Billigung eines Rechts und einer Pflicht zum Verteidigungskrieg, wie ihn noch der Bericht von Politis-Benesch zum Genfer Protokoll vertreten hatte, preisgegeben.

Eine weitere Beschränkung des Rechts zur Selbstverteidigung enthält der Locarnopakt. Nach Art. 2 dieses Paktes in Verbindung mit Art. 4 Nr. 1 muß grundsätzlich jeder Fall eines verbotenen Krieges zunächst vor den Völkerbundrat gebracht werden. Dieser hat zu entscheiden, ob ein verbotener Angriff vorliegt und demnach ein Verteidigungskrieg, wie er an sich nach Art. 2 Abs. 2 Nr. 1 zulässig ist, begonnen werden darf. Eine Ausnahme gilt nur für den Fall einer sogenannten flagranten (offenkundigen) Verletzung. In diesem Falle darf ein Verteidigungskrieg sofort unternommen werden. Doch [95] muß sich auch in diesem Falle der Völkerbundrat, wenn auch nachträglich, mit der Frage befassen, ob die Voraussetzungen des Verteidigungskrieges gegeben waren. Kommt er zu dem Ergebnis, daß ein Angriffskrieg nicht vorlag, dann müssen die Verteidigungsmaßnahmen sofort eingestellt werden (vgl. zu dieser Frage die Polemik in Nr. 15 des Jahrgangs 1927 der Zeitschrift Der Weg zur Freiheit zwischen Graf Montgelas und dem Verfasser dieses Aufsatzes sowie die Ausführungen von Rauchberg in Friedenswarte 1928 S. 70ff.).

Wichtig ist schließlich die Frage, ob Art. 12 der Völkerbundsatzung die militärische Besetzung fremden Gebiets gestattet. Das Problem hat eine große Rolle anläßlich der Erörterung des griechisch-italienischen Streitfalles wegen der Besetzung der griechischen Insel Korfu durch italienische Truppen (1923) gespielt Die Mehrheit des Rates war damals der Meinung, daß ein solches Vorgehen nicht gerechtfertigt sei. Dieser Auffassung ist zuzustimmen. Denn Art. 12 sagt, daß alle Streitfragen zwischen Bundesmitgliedern, die zu einem Bruche führen können, einem friedlichen Verfahren unterbreitet werden müssen. Nach dem Sinne des Art. 12 soll daher alles vermieden werden, was geeignet ist, einen Bruch zwischen den Parteien herbeizuführen. Nun muß aber von den militärischen Maßnahmen gesagt werden, daß sie diesen Bruch bereits enthalten. Sie dürfen daher von einem Mitgliede des Völkerbundes gegenüber einem anderen Mitgliede nicht unternommen werden, es sei denn, daß ein friedliches Streiterledigungsverfahren ergebnislos verlaufen ist und drei Monate seit dem Abschluß des Prozesses verstrichen sind. Die traurigen Erfahrungen, die Deutschland mit sogenannten militärischen Vergeltungsmaßnahmen (besonders Ruhreinmarsch) gemacht hat, haben die deutschen Staatsmänner veranlaßt, in Locarno darauf zu bestehen, daß sich die Parteien in Art. 2 des Westpaktes verpflichtet haben, sich nicht nur jedes Krieges und jedes Angriffs, sondern auch jedes Einfalles zu enthalten. Daß jedoch das Verbot militärischer Besetzung noch nicht ohne weiteres in das allgemeine Völkerrecht übergegangen ist, zeigt die Tatsache, daß der Kriegsächtungspakt lediglich den Krieg verbietet. Es ist dringend notwendig, daß sich alle Mächte, die Mitglieder sowohl wie die Nichtmitglieder des Völkerbundes, darauf einigen, in Zukunft von allen militärischen Repressalien abzusehen, da sonst die Möglichkeit gegeben ist, unter Vermeidung einer formellen Kriegserklärung einen anderen Staat mit Waffengewalt zu überfallen, ohne daß die Unrechtmäßigkeit dieses Verhaltens stets klar zutage tritt.


[96]
2) Das Kriegsvorbeugungs- und Sanktionsrecht
Die gegenseitige Garantie des Territoriums

Die Völkerbundssatzung begnügt sich nicht damit, den Mitgliedern des Völkerbundes bestimmte Kriege zu verbieten. Sie hat darüber hinaus besondere Maßnahmen des Bundes vorgesehen, einmal für den Fall, daß infolge eines Streitfalles eine Kriegsgefahr entstanden ist oder auch nur die guten Beziehungen zwischen den streitenden Teilen getrübt sind (Art. 11), und zweitens für den Fall, daß ein Krieg bereits ausgebrochen und der angegriffene Staat auf die Hilfe der anderen Mitglieder des Bundes angewiesen ist (Art. 16).

In der ersten Zeit nach der Gründung des Völkerbundes war man geneigt, die in Art. 16 der Satzung vorgesehenen wirtschaftlichen und militärischen Sanktionen des Bundes allzu hoch einzuschätzen und die Bedeutung der präventiven Maßnahmen des Art. 11 zu übersehen. Es ist das hohe Verdienst eines im Jahre 1926 von dem belgischen Delegierten de Brouckère einem Ratsausschusse erstatteten Gutachtens, dargelegt zu haben, daß die Hauptaufgabe des Rates im Dienste des Friedens nicht darin besteht, Sanktionen gegen einen rechtsbrüchigen Staat anzuordnen, sondern vielmehr darin, die erforderlichen Maßnahmen zur Verhütung eines kriegerischen Zusammenstoßes zu ergreifen. Auf Grund des Berichts von de Brouckère hat der Ratsausschuß Richtlinien zwecks Anwendung des Art. 11 aufgestellt, die von der achten Bundesversammlung (1927) und dem Rate (Dezember 1927) genehmigt worden sind.

Art. 11 Abs. 1 Satz 1 der Satzung sagt: "Ausdrücklich wird hiermit festgestellt, daß jeder Krieg und jede Bedrohung mit Krieg, mag davon unmittelbar ein Bundesmitglied betroffen werden oder nicht, eine Angelegenheit des ganzen Bundes ist und daß dieser die zum wirksamen Schutze des Völkerfriedens geeigneten Maßnahmen zu ergreifen hat. Tritt ein solcher Fall ein, so kann jedes Bundesmitglied unverzügliche Einberufung des Rates verlangen." Der Völkerbund hat sich in der jüngsten Zeit sehr stark mit der Frage befaßt, wie der Zusammentritt des Rates beschleunigt werden kann. Zu diesem Zweck hat man die Verbesserung der Verbindungen zwischen Genf und den Hauptstädten der Welt auf dem Wege des Eisenbahn- und Luftverkehrs, die Schaffung eines eigenen Flughafens und einer eigenen Funkstation des Völkerbundes ins Auge gefaßt.

Dem Rate stehen sehr weitgehende Befugnisse zu, um einen Druck auf die Parteien zwecks Aufrechterhaltung des Friedens auszuüben. Er kann sogar die Einstellung von Truppenbewegungen und Mobilisationen empfehlen, ja er kann gewisse Sanktionen (die freilich, wenn die Voraussetzungen des Art. 16 nicht vorliegen, niemals den Charakter eines Krieges annehmen dürfen) gegen den Friedensstörer zur [97] Anwendung bringen. Äußerstenfalls können zu diesem Zwecke Flotten- und Luftdemonstrationen in Betracht kommen. Die Frage, ob der Rat in Ausführung des Art. 11 der Satzung nur Empfehlungen aussprechen oder auch Befehle anordnen darf, ist bestritten. Die herrschende Meinung vertritt den Standpunkt, daß auf Grund des in Art. 5 der Satzung enthaltenen Einstimmigkeitsprinzips gültige Beschlüsse nur mit Zustimmung der Parteien gefaßt werden dürfen, und daß daher, wenn man der Notwendigkeit dieser Zustimmung enthoben sein will, nichts anderes übrig bleibt, als sich mit Empfehlungen zu begnügen, welche die nicht am Streite beteiligten Ratsmitglieder an die Parteien richten. Die erste Fortbildung in dem Sinne, daß dem Rate das zweifelsfreie Recht zur Erteilung einstweiliger Verfügungen ohne Zustimmung der Parteien gegeben wurde, hat der Artikel durch den Westpakt von Locarno (Art. 4) erhalten. Später hat ein deutscher Antrag im Sicherheitsausschusse des Völkerbundes die Befugnisse des Rates vor allem in doppelter Hinsicht zu erweitern versucht: Dem Rate sollte einmal das Recht zugesprochen werden, verbindliche Anordnungen zu treffen, und zweitens sollten solche Anordnungen selbst nach Ausbruch der Feindseligkeiten getroffen werden können. Der Rat sollte also nichts weniger als einen Waffenstillstand zwischen kriegführenden Staaten vorschreiben können. Die Parteien sollten sich ferner für den Fall, daß ein zwischen ihnen entstandener Streit dem Rate unterbreitet worden sei, zur Annahme und Ausführung derjenigen vorläufigen Empfehlungen des Rates, die eine nachteilige Rückwirkung auf die Ausführung der von dem Rate vorzuschlagenden Regelung haben könnten, verpflichten. Diese und andere, von der deutschen Delegation im Sicherheitsausschuß gemachten Vorschläge wurden größtenteils in den von der neunten Völkerbundsversammlung (1928) den Staaten zur Annahme empfohlenen "Modellvertrag zwecks Verstärkung der Mittel zur Kriegsverhinderung" aufgenommen. Es ist aber zur Zeit ungewiß, ob auf Grund des Modellvertrages wirklich Verträge zustande kommen, die dem Rate eine so weitgehende Befugnis übertragen.

Gelingt es dem Völkerbunde nicht, noch im letzten Augenblick einen Krieg, der durch die Völkerbundsatzung verboten ist, zu verhindern oder zum Stillstand zu bringen, dann müssen alle Mitglieder des Völkerbundes gemäß Art. 16 der Völkerbundsatzung die diplomatischen Beziehungen mit dem Angreiferstaate abbrechen und dem angegriffenen Staat durch wirtschaftliche bzw. militärische Maßnahmen Beistand leisten. Die Pflicht zur Hilfeleistung besteht aber nur dann, wenn der Krieg nach der Satzung untersagt ist, nicht auch, wenn sich seine Unzulässigkeit allein aus dem Kriegsächtungspakt oder aus dem Inhalt eines Schiedsvertrages ergibt. Darüber, ob ein durch die Satzung verbotener Angriffskrieg vorliegt, entscheidet [98] jeder Staat selbständig. (Besonderheiten gelten nach dem Locarno-Pakt.) Der Rat erstattet über diese Frage lediglich ein Gutachten. Die Mitglieder des Völkerbundes haben freie Hand, ob sie dieses Gutachten anerkennen wollen. Die Feststellung des Angreifers kann Schwierigkeiten bereiten. Allgemeine Richtlinien zur Beantwortung dieser Frage gibt es nicht. Man muß den Umständen des einzelnen Falles Rechnung tragen.

Über die gegenüber dem rechtsbrüchigen Staate zu ergreifenden Maßnahmen hat die zweite Völkerbundsversammlung (1921) Richtlinien aufgestellt, die noch heute gelten, soweit sie nicht durch die seitherige Entwicklung überholt sind. Nach einer in Locarno von den dort vertretenen Mitgliedern des Völkerbundes abgegebenen Erklärung muß jedes Mitglied loyal und wirksam mitarbeiten, um der Satzung Achtung zu verschaffen und um jeder Angriffshandlung entgegenzutreten, in einem Maße, das mit seiner militärischen Lage verträglich ist und das seiner geographischen Lage Rechnung trägt. Die Erklärung wurde damals in erster Linie mit Rücksicht auf das militärische Einmarschrecht, von dem in Art. 16 Abs. 3 Satz 3 der Satzung die Rede ist, abgegeben. Deutschland fürchtete, im Falle eines Völkerbundkrieges gegen Rußland Durchmarschgebiet zu werden und dadurch, besonders im Hinblick auf seine Entwaffnung, in eine schwierige Situation zu kommen.

Abgesehen von diesen und ähnlichen Sonderfällen sowie von der besonderen Rechtslage der Schweiz ist Neutralität von Mitgliedern des Völkerbundes nicht statthaft, wenn ein durch die Satzung verbotener Angriffskrieg gegen ein Mitglied des Völkerbundes vorliegt. Wohl aber kann Neutralität nach wie vor in Frage kommen, wenn es sich um einen durch die Satzung nicht verbotenen Angriffskrieg handelt. Auch gegenüber einem Nichtmitgliede des Völkerbundes, das angegriffen wird, hat ein Staat die Befugnis, neutral zu bleiben. Deshalb stand der deutsch-russische Berliner Vertrag vom 24. April 1926, den Deutschland kurz vor seinem Eintritt in den Völkerbund abschloß, mit der Völkerbundsatzung nicht in Widerspruch. Art. 2 dieses Vertrages lautete: "Sollte einer der vertragschließenden Teile trotz friedlichen Verhaltens von einer dritten Macht oder von mehreren dritten Mächten angegriffen werden, so wird der andere vertragschließende Teil während der ganzen Dauer des Konflikts Neutralität beobachten."

In Art. 17 der Völkerbundsatzung sind auch Sanktionen gegen Nichtmitglieder vorgesehen, die sich den für die Beilegung von Streitfragen den Bundesmitgliedern obliegenden Verpflichtungen nicht unterwerfen wollen und einen Krieg, sei es gegen ein Mitglied, sei es gegen ein Nichtmitglied, unternehmen.

Im Zusammenhang damit ist auch auf die berühmte Bestimmung [99] in Art. 10 der Völkerbundsatzung hinzuweisen, die von dem Schutz der Unversehrtheit des Gebiets und der bestehenden politischen Unabhängigkeit der Bundesmitglieder gegenüber einem äußeren Angriffe handelt. Die gegenseitige Garantie der territorialen Integrität war ein Lieblingsgedanke Wilsons, und es liegt eine nicht geringe Tragik darin, daß gerade dieser Art. 10 der Völkerbundsatzung in Amerika den stärksten Widerspruch erregte und einer der entscheidenden Gründe für den Nichteintritt Amerikas in den Völkerbund darstellte. Amerika lehnte es ab, gewissermaßen alle Grenzen Europas zu garantieren und nötigenfalls mit seinen eigenen Truppen diese Grenzen zu schützen. Eine der Grundideen der Monroe-Doktrin beherrschte nach wie vor die amerikanische öffentliche Meinung. Freilich wurde in Amerika zu wenig beachtet, daß die Grenzen der Mitglieder des Völkerbundes nicht unbedingt, sondern nur vor äußeren Angriffen gewahrt werden sollen. Immerhin sieht die Völkerbundsatzung außer dem zur Zeit noch stark theoretischen Art. 19 keine Besitzverschiebungen auf friedlichem Wege in einem geregelten völkerrechtlichen Verfahren vor, so daß ein Volk, das sich nach Freiheit von fremdem Joche sehnt oder dessen Grenzen ungerecht sind, keine rechte Möglichkeit hat, seinen Anspruch auf friedlichem Wege zu realisieren. Die vierte Bundesversammlung (1923) hat über die praktische Anwendung des Art. 10 Richtlinien aufgestellt, die aber nicht so klar gefaßt sind, als daß man nun sagen könnte, es sei im Falle einer gewaltsamen Verletzung der territorialen Integrität mit Sicherheit auf die Hilfe der anderen Mitglieder des Völkerbundes zu rechnen. Dazu kommt, daß letzten Endes jeder Staat selbst zu entscheiden hat, ob eine Verletzung der Gebietsgarantie vorliegt. Im Gegensatz hierzu hat der Pakt von Locarno (Art. 4 Nr. 2) die deutsch-französische und deutsch-belgische Grenze in der Weise unter die Garantie der Signatarstaaten gestellt, daß nicht die Garantiestaaten selbst, sondern der Völkerbundrat zu entscheiden hat, ob eine Verletzung der Garantieverpflichtung vorliegt.


3) Schiedsgerichtsbarkeit und Vermittlung

Der große entscheidende Fortschritt, den die Völkerbundsatzung gegenüber der bisherigen Regelung des friedlichen Streitverfahrens gebracht hat, ist darin zu erblicken, daß fortan jeder Streitfall gemäß Art. 12 entweder der Schiedsgerichtsbarkeit oder einem gerichtlichen Verfahren oder der Prüfung durch den Rat unterbreitet werden muß. Darin ist eine Verallgemeinerung des in den Bryan-Verträgen enthaltenen Grundgedankens zu erblicken. Zwar ist weder die Schiedsgerichtsbarkeit an sich noch die Vermittlung an sich obligatorisch gemacht. Aber das eine oder das andere Verfahren muß in Anspruch genommen werden, wenn es sich um einen Streit handelt, der zu [100] einem Bruche führen könnte. Es läßt sich also sagen, daß jedes der beiden Verfahren bedingt obligatorisch ist, nämlich für den Fall, daß sich eine Regierung nicht für das andere Verfahren entscheide.

Es hätte nun nahe gelegen, wenigstens die Streitigkeiten rechtlicher Natur unbedingt der Schiedsgerichtsbarkeit zu unterbreiten. Davon hat man aber in Art. 13 der Völkerbundsatzung abgesehen. Zwar hat dieser Artikel bestimmte Streitfragen als rechtliche bezeichnet. Doch geht aus der Fassung des Art. 13 deutlich hervor, daß eine Pflicht zur Unterwerfung solcher Streitigkeiten an ein Schiedsgericht nicht festgesetzt werden sollte. Ein Antrag der skandinavischen Staaten auf der ersten Bundesversammlung, den Art. 13 der Satzung dahin zu ändern, daß den Staaten die Erledigung von Rechtsfragen auf dem Wege eines Schiedsgerichts zur Pflicht gemacht würde, hatte keinen Erfolg.

Hat also die Völkerbundsatzung das Problem der obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeit nicht gefördert, so hat sie doch die friedliche Erledigung rechtlicher Streitfragen wesentlich erleichtert, indem sie in Art. 14 die Errichtung eines ständigen internationalen Gerichtshofs vorgesehen hat. Das Statut dieses Gerichtshofs ist im Jahre 1920 von der ersten Bundesversammlung beschlossen und von 41 Staaten, darunter auch dem Deutschen Reich, ratifiziert worden. Der ständige internationale Gerichtshof hat seit 1922 eine bedeutsame Tätigkeit entfaltet. Die Anrufung des Gerichtshofs ist grundsätzlich eine freiwillige. Die Bestrebungen, den Gerichtshof für Rechtsfragen obligatorisch zu machen, scheiterten an dem Widerstande wichtiger, im Völkerbundrat vertretener Mächte. Immerhin wurde gleichzeitig mit dem Statut des Weltgerichtshofs ein Spezialprotokoll zur Unterzeichnung bzw. Ratifikation aufgelegt, worin die Staaten, die dazu bereit waren, die Zuständigkeit des Gerichtshofs für alle oder einzelne Rechtsfragen anerkennen konnten. An das Spezialprotokoll sind zur Zeit 16 Staaten, darunter von Großmächten nur das Deutsche Reich, gebunden. Diese 16 Mächte haben sich verpflichtet, gegenüber allen Staaten, die gleichfalls das Spezialprotokoll genehmigt haben, die Schiedsgerichtsbarkeit des Weltgerichtshofes in allen oder bestimmten Rechtsfragen als bindend anzuerkennen. Abgesehen davon haben sich die Mächte, in noch stärkerem Maße wie vor dem Weltkriege, durch eine große Anzahl von Schiedsgerichts- und Vergleichsverträgen gegenüber bestimmten Staaten verpflichtet, gewisse Streitigkeiten schiedsrichterlich zu erledigen. Z. B. hat das Deutsche Reich mit nicht weniger als 15 Staaten einen solchen Schiedsgerichts- und Vergleichsvertrag abgeschlossen. Während das Deutsche Reich grundsätzlich nur rechtliche Fragen der Schiedsgerichtsbarkeit, politische Streitfragen aber einem Vermittlungsverfahren unterbreitet (das ist auch das System der in Locarno geschlossenen Schieds- [101] verträge), sind einzelne Regierungen dazu übergegangen, auch politische Streitigkeiten einem Schiedsgerichtsverfahren zu überweisen. Die Frage, auf welche Weise politische Streitigkeiten am besten aus der Welt geschafft werden, ob auf dem Wege der Schiedsgerichtsbarkeit oder Vermittlung, ist nach wie vor strittig und soll hier nicht entschieden werden.

In stärkerem Maße als die Schiedsgerichtsbarkeit hat die Völkerbundsatzung das Vermittlungsverfahren fortzubilden versucht. Art. 15 der Satzung sieht vor, daß eine der Parteien den Fall durch einseitigen Antrag vor den Rat bringen kann. Dieser soll sich um einen Vergleich zwischen den Parteien bemühen. Gelingt ihm dieser Versuch nicht, so soll er einen Bericht erstatten und gleichzeitig solche Vorschläge machen, die er als die gerechtesten betrachtet. Der Bericht des Rates ist niemals für die Parteien bindend. Wenn aber der Bericht von denjenigen Mitgliedern des Rates, die nicht Vertreter der Parteien sind, einstimmig angenommen wird, so sind die Bundesmitglieder verpflichtet, gegen keine Partei, die sich dem Vorschlage fügt, zum Kriege zu schreiten. Eine bedenkliche Lücke enthält Art. 15 durch die Bestimmung, daß der Rat dann keine Lösung der Frage vorschlagen darf, wenn sich der Streit auf eine Frage bezieht, die nach internationalem Rechte zur ausschließlichen Zuständigkeit einer Partei gehört. Auf Beschluß des Rates oder auf Antrag einer der Parteien kann die Streitfrage in allen in Art. 15 vorgesehenen Fällen auch vor die Bundesversammlung gebracht werden.

Sicherlich bedeutet es einen großen Fortschritt, daß die Vermittlung für den Fall, daß kein Schiedsgericht vorgesehen wird, bei einem Streitfall zwischen den Mitgliedern des Völkerbundes obligatorisch ist, daß weiterhin ein bestimmtes Organ zur Vermittlung vorgesehen ist und daß schließlich die Vermittlung schon auf einseitigen Antrag einer Partei in Bewegung gesetzt werden kann. Aber andererseits ist es eine große Schwäche der Satzung, daß man den Rat als regelmäßigen Vermittler bestimmt hat. Der Rat ist eine politische Körperschaft, während eine gerechte Vermittlung eine von politischen Einflüssen freie Institution voraussetzt.

In Erkenntnis der großen Bedenken gegen eine Vermittlung durch den Völkerbundrat haben Norwegen und Schweden bereits im Jahre 1920 eine Abänderung des Art. 15 der Satzung beantragt, und zwar in dem Sinne, daß durch Einsetzung ständiger Vermittlungskommissionen die Idee der Bryan-Verträge auf alle Mitglieder des Völkerbundes unverfälscht erstreckt werden sollte. Der Rat sollte als Vermittlungsinstanz grundsätzlich ausgeschaltet werden. Der Völkerbund hat jedoch die skandinavischen Anträge abgelehnt und das System der Satzung verteidigt. Immerhin hat er den Wert unpolitischer Körperschaften für die Vermittlung internationaler Streitfälle anerkannt und [102] auf der dritten Bundesversammlung (1922) den Abschluß ständiger Vergleichsverträge empfohlen sowie ein Reglement über die Organisation, die Zuständigkeit und das Verfahren fakultativer Vergleichskommissionen zwischen den Mitgliedern des Völkerbundes ausgearbeitet.

Angesichts der Tatsache, daß weit über 1000 Einzelverträge geschlossen werden müssen, bis alle Mitglieder des Völkerbundes untereinander durch Schiedsgerichts- und Vergleichsverträge verbunden sind, ist der Gedanke aufgetaucht, einen alle Staaten miteinander verpflichtenden Weltschiedsvertrag zustande zu bringen. In der Zeit bis 1924 hat sich der Völkerbund mit dieser Frage nicht befaßt. Der Garantieplan Lord Robert Cecils sah zwar das Verbot des Angriffskrieges, nicht aber die schiedsrichterliche Austragung bestimmter Streitigkeiten vor. Dagegen war in das Genfer Protokoll (1924) ein großzügiges Schiedsgerichtssystem hinein gearbeitet. Alle Rechtsfragen sollten darnach durch den Weltgerichtshof entschieden werden, die politischen Streitigkeiten dagegen durch ein eigenartiges, mit einem Endurteil schließendes Schiedsverfahren, in dem zahlreiche Elemente der Vermittlung enthalten waren. Das Schiedsverfahren des Genfer Protokolls war letzten Endes eine Erweiterung der Bestimmungen des Art. 15 der Satzung. Bedeutsam war, daß nach dem Berichte zum Genfer Protokoll diejenigen Streitigkeiten von der schiedsrichterlichen Erledigung ausgenommen werden sollten, welche die Revision von Verträgen oder die Veränderung der territorialen Integrität betreffen. Diese Ausnahmen waren deswegen vorgesehen, weil es weder für die Revision von Verträgen noch für die Veränderung des territorialen Besitzstandes Rechtsregeln gibt und daher zahlreiche Mitglieder des Völkerbundes die Befürchtung hegten, es würde auf dem Wege des im Genfer Protokoll vorgesehenen Schiedsverfahrens eine Revision der Friedensverträge sowie eine Veränderung des in den Friedensverträgen vorgesehenen territorialen Besitzstandes versucht werden. Außerdem schloß das Genfer Protokoll diejenigen Fragen von der schiedsrichterlichen Erledigung aus, welche nach internationalem Rechte zur ausschließlichen Zuständigkeit einer Partei gehören.

Ein zweiter großer Versuch eines Weltschiedsvertrages ist in der sogenannten Generalakte, die von der neunten Bundesversammlung (1928) den Mächten zum Beitritt empfohlen worden ist, zu erblicken. Darin wird für alle Streitigkeiten ein Vergleichsverfahren vorgesehen. Auf das Verlangen einer Partei sollen ständige Vergleichskommissionen zwischen je zwei Staaten gebildet werden. Das Vergleichsverfahren ist bei Rechtsfragen grundsätzlich fakultativ, bei politischen Streitigkeiten obligatorisch. Rechtsfragen sollen von dem Weltgerichtshof entschieden werden. Politische Streitigkeiten sollen nach dem [103] Scheitern des Vergleichsverfahrens, mangels besonderer Einigung der Parteien, einem aus fünf Personen bestehenden Schiedsgerichte überwiesen werden. Der Beitritt zur Generalakte braucht sich nicht auf die Gesamtheit der in ihr enthaltenen Verpflichtungen zu erstrecken. Er kann sich auch auf die Bestimmungen betreffend das Vergleichsverfahren, oder auf diejenigen betreffend das Vergleichsverfahren sowie die richterliche Erledigung rechtlicher Streitigkeiten beschränken. Die Staaten haben ferner die Möglichkeit, im Augenblicke des Beitritts oder auch später Vorbehalte zu machen. Es können auf diese Weise drei Kategorien von Streitigkeiten ausgeschlossen werden: 1. Streitfälle, die aus Tatsachen entstanden sind, die zeitlich vor dem Beitritt entweder der Parteien liegen, welche den Vorbehalt aussprechen, oder einer anderen Partei, mit der erstere einen Streitfall haben könnten. 2. Streitfälle über Fragen, die das Völkerrecht der ausschließlichen Zuständigkeit der Staaten überläßt. 3. Streitfälle, die bestimmte Angelegenheiten oder besondere, genau bezeichnete Materien betreffen, wie z. B. den Gebietsbestand, oder die zu ganz bestimmten Kategorien gehören. Wenn eine der streitenden Parteien einen Vorbehalt ausgesprochen hat, können die anderen Parteien ihr gegenüber den gleichen Vorbehalt für sich in Anspruch nehmen. Jedoch sollen sich die Vorbehalte, welche Parteien ausgesprochen haben, die hinsichtlich des gerichtlichen und des schiedsgerichtlichen Verfahrens den Bestimmungen dieser Akte beigetreten sind, mangels einer entgegengesetzten Erklärung nicht auf das Vergleichsverfahren erstrecken.

Vergleicht man den heutigen Stand der Schiedsgerichtsbarkeit und der Vermittlung mit dem Rechte der Vorkriegszeit, so ist gewiß nicht zu leugnen, daß seit dem Ende des Weltkrieges nicht unerhebliche Fortschritte in der Richtung einer Vervollkommnung des völkerrechtlichen Streitverfahrens gemacht worden sind. Aber die Ausgestaltung des rein prozeßrechtlichen Verfahrens allein kann den Frieden der Welt nicht sichern. Noch so erhebliche Fortschritte der Technik des Streiterledigungsverfahrens genügen nicht, solange die psychologischen Grundlagen des Völkerlebens die gleichen bleiben und solange nicht alle Staaten im Interesse eines auf Gerechtigkeit beruhenden Friedens bereit sind, Opfer zu bringen. Eine Hauptaufgabe bleibt es daher, materielle Regeln aufzustellen, welche die Beseitigung schwerer Ungerechtigkeiten nach bestimmten Grundsätzen ermöglichen, damit die Schiedsgerichtsbarkeit nicht unter Umständen dazu dient, begangenes Unrecht zu bestätigen und die im Besitz befindlichen Mächte zu schützen. Die Möglichkeit der Neuregelung territorialer Fragen und der Revision von unbilligen Verträgen muß, weit über den Inhalt des Art. 19 der Satzung hinaus, auf die eine oder andere Weise durch die Aufstellung völkerrechtlicher Nor- [104] men geschaffen werden. Es mag noch einige Zeit dauern, bis dieses Ziel erreicht ist. Man wird inzwischen dafür Sorge tragen müssen, daß man sein Recht nicht verschweigt, sondern rechtzeitig anmeldet.

Die Ausschaltung des Krieges aus dem Staatenleben ist wichtig, weil dadurch die Möglichkeit geboten wird, die großen Kräfte der einzelnen Völker im friedlichen Wettbewerbe zu entwickeln. Aber man muß gleichzeitig Sorge tragen, die Ungerechtigkeiten der Vergangenheit zu beseitigen und den Frieden wirklich dauerhaft zu gestalten. Der Völkerbund hat dieses Ziel nicht klar erkannt. Mit allen Kräften muß daher versucht werden, die Entwicklung in dieser Richtung vorwärts zu treiben.


Bibliographie:

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Schücking-Wehberg, Die Satzung des Völkerbundes, 2. Aufl., Berlin 1924;

Shotwell, The Pact of Paris, Neuyork 1928;

Wehberg, "Der Pakt von Locarno", in Strupps Wörterbuch des Völkerrechts III S. 977ff.;

Wehberg, Das Genfer Protokoll, Berlin 1927 (in diesen beiden letzteren Schriften sind weitere Literaturangaben enthalten);

Société des Nations, Documents de la Commission Préparatoire de la Conférence du Désarmement, Série I-VII, Genf 1926/1928.

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Zehn Jahre Versailles
in 3 Bänden herausgegeben von
Dr. Dr. h. c. Heinrich Schnee und Dr. h. c. Hans Draeger