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Bd. 2: Teil 2: Die politischen Folgen des Versailler Vertrages

I. Der Gedanke des Völkerbundes
als einer zwischenstaatlichen Organisation
und seine Fassung durch Versailles

Prof. Dr. Otto Hoetzsch
Mitglied des Reichstags

I.

Zum Rückblick auf 10 Jahre Versailles gehört wahrhaftig auch und ganz besonders der Rückblick auf die Entwicklung des Völkerbundes und des Völkerbunds-Gedankens. An sich wäre das durchaus nicht notwendig! Die Idee einer zwischen- oder überstaatlichen Organisation, die nach einem so ungeheuren Zusammenstoße der Nationen den Frieden dauernd sichern solle, hat an sich gar nichts mit einem Friedensvertrag, der den Ausgang des Krieges territorial und nach den verschiedenen anderen Richtungen regelt, zu tun. Aber, wie man weiß, die Völkerbundssatzung ist jedem der in Paris abgeschlossenen Friedensverträge beigegeben, der Völkerbund hat als ein integrierender Teil des Vertrages von Versailles das Licht der Welt erblickt.

Dadurch ist von vornherein seine Idee verfälscht, auf die Dauer möglicherweise ganz unwirksam gemacht worden. Denn er ist damit an die Regelung der Machtverhältnisse gefesselt, wie sie der Kriegsausgang brachte. Er dient so von vornherein und in erster Linie dazu, den durch den Kriegsausgang gegebenen Status in Europa, die neue Machtverteilung zu sichern. Er wurde, genauer gesagt: er war von vornherein die Interessengemeinschaft der Sieger, die bekanntlich ursprünglich und bei der Gründung Deutschland, obwohl es zum Eintritt bereit war und diesen anbot, ausschloß. Er gab so die ideologische Umhüllung für eine Ordnung ab, die lediglich auf der Gewalt beruhte und nur mit einem Scheine des Rechts umgeben wurde.

Damit ist der Völkerbund von Anfang an auch in Parallele mit einer ähnlichen Vereinigung vor über 100 Jahren gebracht worden, der bekannten Heiligen Allianz. Diese Parallele ist keineswegs nur eine Spielerei. Sie legt die Frage erst recht nahe, ob nicht dieser neuen Heiligen Allianz das Schicksal ihrer Vorgängerin in einer absehbaren Zeit zuteil werden könne, nämlich: mit einer neuen Verschiebung der Machtverhältnisse, die durchaus nicht durch Gewalt [64] bewirkt zu werden braucht, auseinanderzufliegen. So ist dieser neue Bund der Völker in das Gegenteil dessen verkehrt worden, was dem amerikanischen Präsidenten bei der Begründung eines Völkerbundes vorschwebte.

Die Hauptfrage unseres Rückblickes ist, ob durch den Beitritt der Besiegten, in erster Linie Deutschlands im Jahre 1926, etwas Wesentliches am Charakter des Genfer Völkerbunds geändert worden ist. Oder anders gewendet: ob die Erwartungen, die auf den Eintritt Deutschlands damals gesetzt wurden, sich in unserem Sinne irgendwie erfüllt haben, ob in diesen Jahren der Rechtsgedanke als maßgebende Norm auch für die internationalen Beziehungen wirklich erkennbare positive Fortschritte gemacht habe.


II.

Die Idee einer solchen Vereinigung ist nicht neu. Und nahe genug lag und liegt ja Wunsch und Sehnen der Völker, nach einem so ungeheuren und so gigantische Opfer an Gut und Blut kostenden Ringen, wie es vor 100 Jahren die napoleonischen Kriege und in unserer Gegenwart der Weltkrieg waren, nach Ordnungen und Einrichtungen zu suchen, die ideell und auch durch Zwang stark genug wären, die Wiederholung solcher blutiger Zusammenstöße auszuschließen, und so, wie es geglückt ist, aus der Sphäre der einzelnen Menschen im Falle von Konflikten die Gewalt auszuschließen, so auch im Falle eines Konfliktes zwischen den Staaten den blutigen Zusammenstoß zu verhindern und den Austrag von Streitigkeiten friedlich herbeizuführen.

Das läßt sich seelisch ohne weiteres verstehen! Wer würde nicht nach einem solchen Ringen dafür sein, daß solche Ideen und Einrichtungen gefunden würden und daß sie stark genug wären, sich durchzusetzen? Es ist ganz gewiß ein Werk, des Schweißes der Edlen wert, auch wenn die Erfahrungen von mehreren Jahrtausenden lehren, daß das letzte Mittel der Staatenbeziehungen schließlich immer der Krieg gewesen ist. Und auch wenn man bei der Meinung bleibt, daß es im Wesen des souveränen Staates liegt, niemanden als Herrn über sich anzuerkennen und nur in einer Gesellschaft einander gleichberechtigter Staaten sich mit den anderen zu friedlichem Tun und zum Austrag von Streitigkeiten zusammenfinden zu können.

Aber schon das wäre, wenn es erreicht würde, etwas. Um einen Bund der Völker, wie wir nicht korrekt sagen oder, wie die englische und französische Bezeichnung ist, um eine Gesellschaft, eine Liga der Nationen, handelt es sich ja in Genf gar nicht. Was dort stattfindet, als Sitzung des Rats oder der Vollversammlung, ist nichts anderes als ein Staatenkongreß, der durch die feststehende Regelmäßigkeit der Zusammenkünfte und durch eine große und umfang- [65] reiche Verwaltungs-Organisation, das Generalsekretariat, den Charakter eines permanenten Staatenkongresses erhalten hat. Es sind Deputationen der verschiedenen Regierungen, die dort zusammenkommen, im Auftrag ihrer Regierungen dort handeln. Aber, wie gesagt: schon das wäre genug, wenn eine Gesellschaft wirklich gleichberechtigter Staaten, deren beauftragte Vertreter regelmäßig zusammenkommen, in der Lage und fähig wäre, einen dauernden Frieden in Europa und in der Welt zu begründen und zu erhalten und alle Streitigkeiten nach äußerster Möglichkeit auf friedliche Weise beizulegen, wozu ja die technisch immer feiner und besser ausgebildete Schiedsgerichtsbarkeit, der Gedanke des Schiedsgerichts die Mittel bietet. Aber das ist der Genfer Völkerbund noch eben nicht geworden! Das hat er nach seiner Anlage und Begründung auch gar nicht werden können!

Im letzten der 14 Punkte Wilsons heißt es: "Es muß zum Zwecke wechselseitiger Garantie-Leistung für politische Unabhängigkeit und territoriale Unverletzlichkeit der großen wie der kleinen Staaten unter Abschluß spezifischer Vereinbarungen eine allgemeine Gesellschaft der Nationen gebildet werden." Das war eine sehr allgemeine Anregung im pazifistischen Geiste, in der für eine solche neue Welt-, besser Staatenordnung noch nichts über die zentrale Frage gesagt war, wie die friedliche Beilegung von Streitfällen durch die feste "Organisierung des Friedens" sichergestellt und durchgesetzt werden solle. Es war eine Anregung, die sich aus der eben geschilderten Seelenverfassung der Nationen, die den Weltkrieg durchgefochten hatten, von selbst ergab, von sittlichen und Rechtsgedanken getragen, die Idee einer allgemeinen und dauerhaften Verständigung, die leicht bis in die letzten traumhaften Schlußfolgerungen verfolgt werden konnte. Vielleicht am charakteristischsten dafür war, als Deutschland zusammenbrach, eine Äußerung von Erzberger, daß der Bund des Friedens und der Gerechtigkeit ein Tempelbau sein müsse, von fünf Säulen getragen: als Mittelpfeiler die internationale Schiedsgerichtsbarkeit, die vier anderen Pfeiler darum herum: Abrüstung, Freiheit der Meere, Gleichberechtigung der Völker im Handel, gerechte Regelung der Kolonialfragen.

Es stand im Zusammenhang mit den großen sozialen Umwälzungen, zu denen der Krieg bei allen daran beteiligten Völkern geführt hat, daß sich in diesen Gedankeninhalt eines zu begründenden Bundes der Völker gleich auch die internationale Regelung der sozialen Frage einfügte, der Nöte des 4. Standes, des 8-Stundentages und aller Momente, die aus der sozialen Frage heraus zu Konfliktsfällen und Gegensätzen unter den Völkern führen können.


[66]
III.

Es kommt hier nicht darauf an und ist auch nicht nötig, den Entstehungsgang dieser Wilsonschen Idee darzustellen, sowie die Reihe der darauf aufgebauten Entwürfe, bis der heutige Völkerbund am 10. Januar 1920 in Kraft trat. Es ist auch nicht nötig und würde die Klarheit eines Rückblicks nur verdunkeln, wenn die Nebenfragen hereingezogen würden, so wichtig diese an sich sind, also die Sozialpolitik, die Mandatsfrage und die vielerlei Nebenaufgaben humaner, kultureller und ähnlicher Art. Diese hat die Organisation des Völkerbundes und seine Verwaltung gerade deshalb so sehr aufgegriffen und ausgebildet, weil der Völkerbund in der Hauptsache, für die er geschaffen war, bis heute nicht entscheidend vorwärts gekommen ist und weil er die Lücken, die in seinem Wesen und in seiner Satzung von vornherein vorhanden waren, nicht oder nur unzureichend ausgefüllt hat.

Nur eine der Nebenfragen ist allerdings heranzuziehen, weil sie mit der Hauptfrage in unlösbarem und organischem Zusammenhange steht und weil Deutschland an ihr das allergrößte und leidenschaftlichste Interesse hat. Das ist die Frage der Minderheiten, das Problem, wie anderssprachige Teile in einem Staate leben und gleichwohl die Lebensrechte auf Erhaltung ihrer Sprache, ihrer Kultur, ihres Glaubens usw. nicht nur bewahrt, sondern rechtlich geschützt und gewährleistet sehen können.

Die Hauptfrage in einem Rückblick, ob er vom Standpunkt Deutschlands allein oder vom Standpunkt des Völkerbundes im ganzen genommen wird, bleibt doch dieselbe: ist diese zwischenstaatliche Organisation, die aus der geschilderten Bewegung nach dem Ausgang des Krieges auf die Anregung des amerikanischen Präsidenten hervorging, ist sie ein Mittel geworden, stark und geeignet genug, um, wie der Ausdruck in Genf fortwährend heißt: "einen dauernden Frieden in Europa zu konsolidieren"?

Die Antwort darauf ist selbstverständlich nicht damit gegeben, daß das letzte Jahrzehnt eine Wiederkehr des großen Zusammenstoßes nicht gebracht hat, daß Reibungen, Konflikte, Streitfragen nicht zu Kriegen geworden sind. Wir haben im letzten Jahrzehnt etwas gehabt, was man Frieden nennt. Ein wahrhafter Friede ist es nicht geworden! Denn welcher Europäer hat denn ein wirkliches Vertrauen in den Bestand der Ordnung, unter der er lebt? Die Besiegten nicht, denn sie fühlen, wie schwankend die Grundlagen sind, auf denen sie um des Lebens Notwendigkeiten kämpfen und ringen. Aber auch die Sieger nicht! Weshalb wäre denn sonst das Verlangen nach "Sicherheit" gerade von dem mächtigsten Staate Kontinental-Europas bis auf den heutigen Tag so ununterbrochen verfochten worden, [67] wenn die 1919 gelegte neue Grundlage der Machtverteilung in Europa Anspruch auf Festigkeit und Zutrauen erheben könnte? Da muß doch von vornherein etwas in dem ganzen neuen System nicht richtig aufgebaut worden sein. Und das ist auch der Fall!

Weil der Völkerbund von Anfang an bewußt und absichtlich von den Siegern mit einer Ordnung der Friedensverträge in Europa verbunden wurde, die in sich nun einmal eine dauernde Friedensordnung nicht ist und nicht verbürgt, saß von vornherein der Wurm in dem Baum, der vor 10 Jahren gepflanzt wurde, zu dessen Pflege und Weiterentwicklung auch Deutschland im Jahre 1926 herangezogen wurde.

Die Schwäche war zunächst die, daß die Staatengesellschaft, die die Weltfriedensordnung nach Wilsons Konzeption aufrichten sollte, nicht, wie der bekannte Ausdruck lautet, "universal" war. Der eigene Staat des amerikanischen Präsidenten lehnte mit dem Frieden auch den Völkerbund ab und gehört ihm bis heute noch nicht an. Das große russische Reich ist nicht dabei. Es fehlen andere Staaten, immerhin von Bedeutung, außerdem, wie Mexiko, Ägypten, die Türkei usw. Es fehlt die wohl überhaupt größte überstaatliche Organisation lebendigster Art, die die Welt kennt, der Vatikan, für die Vertretung der katholischen Kirche in ihr. Und da zunächst die Besiegten nicht aufgenommen wurden, war die Gesellschaft der Staaten erst recht unvollständig. Sie ist bis zum Jahre 1926 innerlich wie äußerlich, wenn auch Österreich, Ungarn und Bulgarien zu ihr traten und wenn auch eine ganze Reihe von im Kriege neutral gewesenen Staaten von Anfang an dabei waren, die Vereinigung der Siegerstaaten gewesen, die unter sich blieb und unter sich die Gemeinschaft des Krieges fortsetzen konnte, unter sich die Satzung des neuen Bundes und seine Organisation nach eigenem Gutdünken ausgestalten konnte, so daß diese fertig war, als Deutschland 1926 ihm beitrat. Keines Wortes bedarf es, wie ungeheuer schon das, die vollendete Tatsache eines fertigen Systems, einer fertigen Organisation und Praxis Deutschlands Arbeit erschwerte, das zudem von ganz anderen Voraussetzungen aus an diese, mit den Rechtsgedanken und großen sittlichen Ideen nur eben verhüllte, egoistischen Machtinteressen dienende Gemeinschaft der Sieger herantrat.

Weiter: die Lücken in der Satzung dieser zwischenstaatlichen Gemeinschaft selbst, wie sie in dem Mangel einer zwingenden Definition des Angreifers und einer garantierten Sanktionspflicht der Bundesglieder (die bekannten Fragen aus den Artikeln 15 und 16 der Satzung) gegeben sind. Man trat in einer losen Organisation zusammen, die sich durch die erforderte Einstimmigkeit der Beschlüsse bewußt selbst beschränkte und lähmte. Man schuf nicht einen sogenannten Überstaat; vor allem England hat das mit aller [68] Energie und immer abgelehnt Es sollten Gleiche unter Gleichen sein und die Fragen der Friedensordnung behandeln. Nicht alle sind einander gleich in Genf; es gibt Ungleiche nach unten in der Rangfolge der Staaten und ihrem Einfluß. Aber es gibt kein übergeordnetes Organ über alle. Es gibt keine Zwangsgewalt in der zwischenstaatlichen Organisation, die in der Lage wäre, den von dem Bunde ausgesprochenen Willen auch gegen Widerwillige und Übles tuende Bundesmitglieder, gegen Verletzer des Friedens wirklich durchzusetzen.

Um diese Frage hat man sich jahrelang ohne Deutschland auseinandergesetzt bis zu dem bekannten, gescheiterten, Genfer Protokoll vom 2. Oktober 1924. Was dabei immer hindernd im Wege steht, ist der natürliche Widerspruch des Groß-Staates, der das Wesen des Staates darin sieht, keine höhere Gewalt über sich zu dulden. Es war und ist der Widerspruch des englischen Weltreichs oder vielmehr seiner Kolonien, die nicht wünschen, von einer in Genf befindlichen überstaatlichen Organisation in Angelegenheiten hereingezwungen zu werden, an denen sie kein Interesse haben und denen sie fern zu bleiben wünschen. Es ist für uns die Tatsache, daß, wie das Genfer Protokoll ausdrücklich vorsah, die Friedensverträge als eine unerschütterliche und unwandelbare Grundlage der staatlichen Beziehungen in Europa und im Völkerbunde selbst gelten sollten und gelten. Wie kann aber einem Staate zugemutet werden, auch um des höchsten Zwecks der Kriegsverhütung und Friedenssicherung willen, sich seiner Souveränität zugunsten einer überstaatlichen Zwangsgewalt zu begeben, der beim Eintritt in den Völkerbund zugleich eine Grundlage der materiellen staatlichen Beziehungen anerkennen muß, die Diktat ist? Darum sind die Lücken, die in Satzung, Organisation und Wesen des Völkerbundes von vornherein vorhanden waren, mit dem Eintritt Deutschlands noch mehr aufgeklafft, und mit ihm zu jenen Grundfragen das Problem der Revisibilität der Friedensverträge (von Art. 19 aus) getreten.


IV.

Die im Krieg neutral gebliebenen Staaten arbeiteten von Anfang an mit. Österreich, Ungarn, Bulgarien traten hinzu. Manches Nützliche wurde damit erreicht. Wertvoll war es namentlich, daß von Ungarn in seinem ausgezeichneten Völkerbunds-Delegierten Grafen Apponyi, der, in drei Sprachen Meister der Beredsamkeit, leidenschaftlich und mutig die Sache der Besiegten verfocht, die zentrale Frage aufgeworfen wurde: wie gewährleistet der Völkerbund einen dauernden Frieden, wenn er auf der Grundlage bleibt, die Friedensverträge von Paris, die in sich geradezu naturnotwendig Konflikte tragen, als [69] ein "Rührmichnichtan" zu betrachten und sie nicht, wie alles in der Welt, auch der Möglichkeit einer Revision zu unterziehen?

Nach Annahme der Locarno-Verträge trat Deutschland in den Völkerbund ein. Damals hat der Temps (15. März 1925) geschrieben: "auf dem Weg des Völkerbundes hoffen die Lenker Deutschlands einmal zur Revision des Vertrages von Versailles zu kommen". Damit war ganz richtig angedeutet, wie eine deutsche Völkerbundspolitik das Zentralproblem des Bundes ansehen mußte. Sollte im Ernst und mit Aussicht auf dauernden Erfolg an das Problem gegangen werden, wie man auf friedliche Weise Streitigkeiten der Staaten beilegen und den Ausbruch von Kriegen verhindern könne, so wäre eine Voraussetzung, daß die offenbaren Gewaltsamkeiten und Ungerechtigkeiten der Friedensdiktate, die in sich, wie wir wiederholen, geradezu naturnotwendig zu Konflikten führen, Kriege möglich machen müssen, der Möglichkeit friedlicher Revision zugeführt werden können.

Denn es ist nicht anders: ein Völkerbund kann einen Sinn nur haben unter gleichberechtigten Staaten, die unter sich gleichberechtigt sind, wie die Mitglieder, die irgendeinen Verein gründen, sich Satzungen und Grundlage der Tätigkeit schaffen. Er bleibt im letzten ein Widerspruch in sich selbst, wenn es von vornherein Mitglieder erster und zweiter Güte gibt. Das ist aber der Fall, solange die Grundlage der Tätigkeit, hier also die Friedensverträge, im Wege des einseitigen Diktats aufgezwungen sind und solange außerdem die Besatzungstruppen von Völkerbundsgenossen auf dem Boden eines Völkerbundsgenossen stehen. Wenn Deutschland im Völkerbund begrüßt wurde als ein Staat, der dort in Genf "mit absoluter Gleichberechtigung" behandelt werde und mithandeln solle, so ist dieses Wort - es ist nicht anders! - bis heute eine Halbwahrheit, im letzten eine Phrase geblieben.

Damit ist eigentlich das Wesentliche und Entscheidende - in aller Ruhe, aber mit aller Bestimmtheit - für unseren Rückblick auf die 10 Jahre des Völkerbundes als einer zwischenstaatlichen Organisation für Deutschland gesagt, eines Völkerbundes, der, nicht universal, im wesentlichen an Europa gebunden und von den europäischen Siegern beherrscht, auch heute noch nicht gleichberechtigte Mitglieder in sich schließt und sich bis heute vergeblich bemüht hat, die Frage wirklich und mit sichergestelltem Erfolg zu lösen, um deretwillen er überhaupt in das Leben gerufen worden ist. So ist er noch nicht eine Rechtsgemeinschaft der Staaten mit einer neuen internationalen Ethik geworden.


[70]
V.

Das Problem, die Bestimmungen und Normen für die Durchsetzung der eigentlichen Aufgabe des Völkerbundes im Anschluß an seine Satzung zu finden, wurde im Jahre 1924 formelhaft in die bekannte "Dreiheit" gekleidet, die Herriot und MacDonald verkündeten, daß Abrüstung und Sicherheit und Schiedsgericht sich gegenseitig ergänzend und unlösbar zueinandergehörend, ihre Durchführung finden müßten. Unzählige Male sind diese 3 Forderungen, die sich Anfang 1925 auch Deutschland durch den Mund des damaligen Reichskanzlers Luther zu eigen machte, wiederholt worden.

Die Verbindung von ihnen mit der schwierigen Frage, wie entschieden werde, wer Angreifer in einem Konfliktsfalle sei, schien höchst einfach aus dem Munde Herriots mit der Formel gefunden, daß Angreifer eben sein würde der, der das Schiedsverfahren zurückweise oder verweigere. Es war sodann in Sonderheit Paul Boncour, der in unzähligen Variationen die These wiederholte, daß Abrüstung und Schiedsgedanke nur möglich seien, wenn die Sicherheit festgestellt wäre, der damit Unterstützung bei der kleinen Entente, bei Polen, und anderen Staaten fand und der damit selber am deutlichsten herausstellte, wie unvollkommen und wie unwirksam die Völkerbundsorganisation für ihre Hauptaufgabe noch war und ist, damit auch aller Welt deutlich machte, worauf es Frankreich ankam, nämlich, die Völkerbundsidee seinen besonderen Ansprüchen einer immer weiter und höher gesteigerten Sicherheitspolitik gegen Deutschland dienstbar zu machen.

In bezug auf den Schiedsgedanken sind Fortschritte, vor allem durch die deutsche Arbeit auf diesem Gebiete gemacht worden, die von dem Schiedsvertrag zwischen Deutschland und der Schweiz (1921) ihren Ausgang nahm. Diese sog. Gausschen Verträge (nach dem bekannten Juristen der deutschen Außenpolitik) sind zweifellos Fortschritte des Völkerrechts, die auch bedeutsam bleiben, wenn die Völkerbundsarbeit im ganzen nicht zu ihrem eigentlichen Ergebnis führt. Aber das Problem bleibt dabei noch: unterwerfen sich die Staaten dem Schiedsgerichtsgedanken als einer obligatorischen Norm? Indes ist nicht einmal die sog. Fakultativ-Klausel im Statut des Haager Gerichtshofs von allen Mitgliedern des Völkerbunds vollzogen worden. Deutschland hat diese Klausel, mit der es die Gerichtsbarkeit des Haager Gerichtshofs für Rechtsstreitigkeiten als obligatorisch anerkannte, 1927 angenommen.

Die Sicherheitserörterungen hatten sich tot gelaufen, als es sich herausstellte, daß das Genfer Protokoll von 1924 in dieser Weise nicht zu realisieren sei. Deutschland hat auch mit Recht niemals einen Zweifel daran gelassen, daß es für uns nicht annehmbar wäre, [71] vor allem, weil es die Pariser Verträge noch einmal stabilisiere und zu einer völlig unverrückbaren Grundlage des ganzen verwickelten Apparats mache, mit dem, in Ausfüllung jener Lücken, der Charakter des Völkerbundes als eines Überstaats stabilisiert worden wäre, und zwar eines Überstaates, der bei der gegebenen Lage nichts anderes gewesen wäre als ein Organ in der Hand der französischen Hegemonie-Politik und ihrer Vasallen.

Anstelle dieser generellen Versuche, die Sicherheit gegen Angriffe des Nachbarn sicherzustellen, traten Bestrebungen, das regional zu machen, also Sicherheit vor Angriffen durch besondere internationale Vereinbarung unter Nachbarn, für bestimmte Gebiete zu gewährleisten. Es war an dieser Stelle ferner, wo die Verhandlung, die später nach Locarno führte, in die allgemeinen Sicherheitsdiskussionen des Völkerbundes einmündete. Denn indem Deutschland mit Frankreich, England, Belgien und Italien seine Westgrenze nochmals als unverletzbar stabilisierte, in freiwilliger Anerkennung des durch den Versailler Vertrag geschaffenen Zustandes und unter Verzichtleistung auf den Krieg, und indem es im Osten Polen und der Tschechoslowakei gegenüber gleichfalls auf das Mittel des Krieges zum Zwecke der Veränderung der Grenze verzichtete, leistete der Locarno-Pakt das denkbar Größte im Sinne auch der weitestgehenden französischen Sicherheitsforderungen. Das kam auch in Genf zum Ausdruck, indem man die Fortführung der ganzen Sicherheitsdebatte "nach dem Vorbild von Locarno" als notwendig erklärte.

Diese Leistung Deutschlands, die Voraussetzung seines Eintritts in den Völkerbund war und mit der es seine Aufnahme als gleichberechtigter Staat erkaufen sollte, ist ungelohnt geblieben. Die berühmten "Rückwirkungen" von Locarno sind nicht eingetreten. 10 Jahre nach Versailles und 3 Jahre nach dem Beitritt Deutschlands zum Völkerbund ist das Rheinland immer noch von den früheren Gegnern besetzt, obwohl die Leistungen Deutschlands aus dem Friedensvertrag von ihm nach jeder Richtung hin erfüllt sind. Es blieb und bleibt, unaufhörlich und mit bewundernswerter Geschicklichkeit in der Erfindung neuer Formeln und Mittel verfolgt, das Bestreben Frankreichs, für seine Sicherheitspolitik, die "contrôle" über die Rheinlande festzuhalten, sei es durch die Besatzung, sei es durch sogenannte "ständige Organe" usw. Es hat auch in dieser Frage immer danach gestrebt, die Völkerbundidee und -Organisation seinen Macht-Interessen dienstbar zu machen und so im Völkerbunde die mit dessen Wesen im Widerspruch stehende Gliederung in Sieger und Besiegte aufrechtzuerhalten.

Da, wie erwähnt, der Widerspruch Englands und seiner Kolonien gegen eine Ausdehnung der Sicherheitspolitik, wie sie Frankreich im Sinne einer obligatorischen überstaatlichen Zwangseinwirkung des [72] Völkerbundes wünscht, bestehen bleibt, ist man in dieser Diskussion dazu gekommen, den Krieg dadurch unmöglich machen zu wollen, daß man sich feierlich und allgemein gegen ihn erklärt, ihn als ein Verbrechen bezeichnet. Das geschah abschließend in der Resolution der Völkerbundsversammlung von 1927. Niemand wird behaupten können, daß diese Entschließung, die den Krieg für "gesetzlos", für ein Verbrechen erklärt, das Problem den geringsten Schritt weiterführen konnte, um das immer wieder herauszustellende Problem zu lösen, nämlich den Völkerbund wahrhaft wirksam zu machen zur Verhütung von kriegerischen Zusammenstößen und für eine dauernde Konsolidierung des europäischen Friedens. Und auch mit dieser Entschließung wurde gleich wieder die Sicherheitsfrage verkoppelt, für die ein besonderes Komitee eingesetzt wurde. Deutschland tat auch hier das Seine, um die Arbeit zu fördern mit praktischen Vorschlägen. Zu realen Ergebnissen hat das nicht geführt.

Damit wurde aber zugleich der schließlich wichtigste Teil der ganzen Sisyphus-Arbeit aufgehalten. Es ist kein Zweifel, daß, wenn ein Völkerbund den Krieg dauernd ausschließen will, die militärische Rüstung überflüssig ist und herabgesetzt werden muß. Das ist auch ausdrücklich sowohl im Versailler Vertrag wie in der Völkerbundssatzung in Aussicht genommen. Im Versailler Vertrag ist gesagt, daß die Abrüstung Deutschlands nur die Voraussetzung für eine allgemeine Abrüstung sein solle, und Artikel 8 der Völkerbundssatzung bekennt sich gleichfalls zur Abrüstung.

Die Abrüstung Deutschlands ist beendet. Das ist von der Botschafterkonferenz ausdrücklich bestätigt worden. Der Standpunkt Deutschlands war danach gegeben, nun die allgemeine Abrüstung zu fordern und den Fortgang der Arbeiten, die dafür nötig seien. Der Rückblick auf diese Arbeit der "vorbereitenden Abrüstungs-Kommission", einer Kommission nämlich, die eine große, endgültige Abrüstungs-Konferenz vorbereiten sollte, ist noch trüber als der Rückblick sonst.

Im Herbst 1925 setzte der Völkerbund diese vorbereitende Kommission ein. Man zog zu ihr auch Staaten, die nicht zum Völkerbund gehören, heran; sowohl Amerika wie Rußland haben an diesen Verhandlungen teilgenommen. Das Ergebnis war 10 Jahre nach Versailles ein vollständiges Fiasko, dem der deutsche Außenminister Dr. Stresemann im Frühjahr 1929 auch sehr nachdrücklich Ausdruck gab. Man hat allerlei Entwürfe und Fragen dabei behandelt, die im einzelnen gewiß interessant sind. Die Verhandlungen haben sich weiter mit der großen Abrüstungsverhandlung zur See verschlungen, die sich im wesentlichen auf das Verhältnis England-Nordamerika zuspitzt. Im einzelnen das zu schildern ist nicht nötig. Die Thesen standen und stehen unversöhnbar einander gegenüber: Deutschland [73] erklärte, daß es abgerüstet habe, und daß die anderen auf diesem Wege zu folgen hätten gemäß dem gegebenen Versprechen, wobei es ja nicht darauf ankommt, daß alle Staaten auf den Zustand der deutschen Abrüstung gebracht werden, sondern das Entscheidende ist, daß alle Staaten auf gleichem Fuße der Rüstung zu Land, zu Wasser und in der Luft sein müßten. Der Standpunkt war logisch und wurde unausgesetzt von der deutschen Vertretung ausgesprochen, doch ohne Erfolg. Denn die französische These stand dem gegenüber, indem Frankreich erklärte, daß es zwar bereit zur Abrüstung sei, vorher aber seine Sicherheits-Forderung erfüllt sein müsse, und zwar im Sinne einer "zusätzlichen Sicherheit", eines Begriffs, den man beliebig ausdehnen kann. Immer deutlicher wurde klar, daß auf der anderen Seite kein Wille vorhanden ist, die Abrüstung wirklich durchzuführen, besonders seit England und Frankreich in dieser Frage Sonder-Verabredungen trafen (März bis Juni 1928) und eine Front der Mächtigsten im Völkerbund gegen die Abrüstung undurchbrechbar vorhanden war.

Immer mehr ist so die Abrüstungsfrage zur eigentlichen Existenzprobe für den Völkerbund geworden. Der Rückblick zeigt völlige Ergebnislosigkeit der Verhandlungen, die auf einen toten Punkt angekommen sind, und zeigt vor allem, daß ein von den Gegnern im Versailler Vertrag gegebenes und im Völkerbund wiederholtes feierliches Versprechen von ihnen nicht gehalten worden ist. Das bedeutet für den Völkerbund, daß er in der zentralen Frage auch von dieser Seite aus nicht Fähigkeit und Kraft bewiesen hat, zu einem Ergebnis zu kommen. Denn ohne die Rüstungsgleichheit und die Erfüllung des Abrüstungsversprechens in diesem Sinne bleiben die Schiedsverträge lediglich schätzbare Bestimmungen für bedeutungslosere Fälle und sind die Sicherheitsvereinbarungen in den Händen der militärisch gerüsteten Mächte kaum etwas anderes als Bündnisse des alten Stiles, die wegen der in ihnen ruhenden Kriegsgefahr ja gerade der Völkerbund beseitigen und ausschließen wollte.


VI.

Im Verfolg dieser ganzen Erörterungen ist auch, wenigstens theoretisch, an die weitere schon mehrfach bezeichnete Grundfrage gerührt worden, inwieweit nämlich die Grundlage der Völkerbundssatzung, die Pariser Verträge, unerschütterlich bleiben sollten und dürften. Es ist auch nur logisch, daß eine Organisation, die den Krieg beseitigen will, auch die Ursachen aus der Welt schaffen muß, die zum Kriege führen können oder müssen. Zu den Ursachen, die zum Kriege führen können und müssen, gehören zahlreiche Bestimmungen der Friedensverträge. Daher hat die deutsche Note (Bemerkungen der deutschen Regierung zu dem Arbeitsprogramm des [74] Sicherheitskomitees, abgesendet 26. Januar 1928), die deshalb so bedeutungsvoll war, darauf hingewiesen, daß der Krieg nicht dadurch zu verhüten sei, daß man den Krieg gegen den Krieg vorbereite, sondern nur, indem man seine Ursachen beseitige, indem man für alle Konflikte, die bisher die Ursache von Kriegen gewesen sind, die Möglichkeit einer aussichtsreichen friedlichen Behandlung finde.

Dieser Gedankengang verknüpft sich ohne weiteres mit dem Artikel 19 der Völkerbundssatzung, nach dem die Bundesversammlung zu einer Nachprüfung der unanwendbar gewordenen Verträge und solcher internationalen Verhältnisse, deren Aufrechterhaltung den Weltfrieden gefährden könnte, auffordern kann. Bisher ist dieser Artikel ohne Bedeutung geblieben. Wäre der gute Wille vorhanden, den Rechtsgedanken in den Staatenbeziehungen wirklich zur Durchsetzung zu bringen, so böte dieser Artikel die Handhabe dazu, ein geordnetes Revisionsverfahren für die Pariser Friedensverträge ins Leben zu rufen, von dem aus Sicherheit im wahren Sinne des Wortes erreicht werden würde, Sicherheit nämlich dahin, daß über Bestimmungen der Friedensverträge nicht Konflikte ausbrechen, die sonst jedem Versuche, sie schiedsgerichtlich beizulegen, spotten müssen. Beispiele solcher Möglichkeiten brauchen nicht genannt zu werden!

Dieser Gedankengang, der auf anderem Wege wiederum zu dem Zentral-Problem des Völkerbunds hinlenkt, ist umso bedeutungsvoller, als er einmündet in die große amerikanische Bewegung von 1928, die zum Kellog-Pakt geführt hat, zu der feierlichen Erklärung, den Krieg als Mittel für die Lösung internationaler Streitfälle zu verurteilen und auf ihn als Werkzeug nationaler Politik zu verzichten, sowie die Regelung und Entscheidung aller Streitigkeiten und Konflikte, "welcher Art oder welchen Ursprungs sie auch sein mögen", nur friedlich, also durch die Schiedsgerichtsbarkeit anzustreben.

Aber auch in dieser Frage der friedlichen Revisibilität der Verträge, deren ungeheure Bedeutung gerade im Sinne der Rechtsidee für die internationalen Beziehungen auf der Hand liegt, ist bisher nichts erreicht. Auch die leisesten und schüchternsten Versuche von deutscher Seite, auf diese Notwendigkeit hinzuweisen, sind von der anderen Seite stets zurückgewiesen worden. Die Friedensverträge von Paris sollen ein Fels von Erz sein und bleiben!


VII.

Wie erwähnt, hängt von den weiteren Angelegenheiten des Völkerbundes nur die Minderheitenfrage enger mit dem Zentralproblem zusammen.

Der Krieg hat die Grenzen in Europa an vielen Stellen ganz neu gezogen. Er hat Millionen von Menschen einer Staatsgewalt anderer Nationalität unterworfen. Daran ist Deutschland, wie bekannt, weit- [75] aus am stärksten interessiert. Hat doch kein Land so viele Millionen seiner Volksgenossen unter fremder Staatsgewalt wie das Unsere!

An sich enthält die Völkerbundssatzung vom Schutze der Minderheiten nichts. Aber der Friedensvertrag verpflichtete Polen und die Tschechoslowakei zu Minderheiten-Schutzverträgen. Dergleichen existieren für eine Reihe von anderen Staaten, auch haben Staaten bei ihrem Eintritt in den Völkerbund Verpflichtungserklärungen dafür abgegeben. Vor allem aber ist der Völkerbund selbst mit Minderheiten-Angelegenheiten beschäftigt, in der oberschlesischen Frage namentlich und an anderen Stellen. Er hat 1922 eine Entschließung gefaßt, die der Hoffnung Ausdruck gab, daß Staaten ohne Verträge mindestens das gleiche Maß an Gerechtigkeit und Duldsamkeit beobachten würden, das durch die Verträge und die ständige Übung des Völkerbundsrats gefordert werde. Unter den Gründen, die für den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund geltend gemacht wurden, war einer der wichtigsten, daß die Zugehörigkeit Deutschlands zu dieser Vereinigung ihm die Möglichkeit gäbe, für seine Volksgenossen, überhaupt für die nationalen Minderheiten im Sinne des Rechts und der Gleichberechtigung und des gewährleisteten und effektiven Schutzes einzutreten.

Es hat längere Zeit gedauert, ehe Deutschland die Frage wirklich entschieden im Völkerbund zur Diskussion stellte. Das geschah zuerst im Dezember 1928 auf der Völkerbunds-Ratstagung in Lugano. Das Problem wurde wohl ins Rollen gebracht. Aber wie bescheiden sind darin bis heute die Ergebnisse und Erfolge, in einer Frage, für die unsere Gegner unter dem Schlagwort des Selbstbestimmungsrechts der Nationalitäten den Krieg führen und den Frieden machen wollten! Wie erfolgreich kann Polen oder Italien den Minderheitenschutz ablehnen, die Gewährung von Rechten ihrer Minderheiten auf Sprache, Schule, Kirche und dergleichen! Wie wenig ist das ganze Problem, das von zahlreichen Vereinigungen und Kongressen ununterbrochen behandelt wird, im Völkerbunde selbst auch nur theoretisch gefördert worden! Wie völlig unzureichend ist auch heute noch das Verfahren bei Beschwerden von Minderheiten und Streitfällen!

Dabei gehört, wenn wir einmal von dem Gesichtspunkt des Selbstbestimmungsrechts der Nationalitäten absehen, der Minderheitenschutz auch vom Völkerbundsstandpunkte aus zu seinen zentralen Fragen. Denn es liegt auf der Hand, daß ungelöste Minderheitenfragen auf die Dauer zu Ursachen von Konflikten, zu Ursachen von Kriegen werden können und müssen, womit also wiederum der Zusammenhang mit dem Gesamtproblem von Kriegsverhütung und Friedensordnung gegeben ist.


[76]
VIII.

Man könnte in einem Rückblick ohne Schwierigkeit sehr viel ausführlicher den Rede- und Notenkampf um den Völkerbundsgedanken als zwischenstaatliche Organisation behandeln (die einzelnen Fragen und Probleme werden in den beiden folgenden Teilen dieses Kapitels ja dargestellt). Aber die Fülle der Reden und Veranstaltungen im Völkerbunde macht es nicht. Das gedruckte Material ist riesengroß, aber das Ergebnis gering. Und vor allem: Alles Drum und Dran, alles Nebensächliche und Beiwerk ist gewiß wichtig, notwendig und nützlich. Die Hauptsache aber, der Beweis, ob dieser Völkerbund existenzberechtigt ist, hängt davon ab, ob er wirklich ein Organ, wirksam und fähig genug ist oder wird, um Kriege zu verhüten und einen dauernden Frieden herzustellen und zu gewährleisten.

Auch der leidenschaftlichste Völkerbundsfreund wird nicht behaupten, daß das in diesem Jahrzehnt Geleistete für das Hauptproblem wesentlich geworden sei. Man greift deshalb zu Vergleichen wie dem Chamberlains, daß der Völkerbund erst einer Eichel gleiche, aus der der Eichbaum einmal erwachsen werde, oder spricht von dem Evangelium, das sich auch nur langsam unter den Völkern durchgesetzt habe.

1927 hielt Chamberlain eine Rede, die dem Geschichtskundigen Anlaß zu tiefem Nachdenken gab. Der englische Außenminister sagte mit größter Bestimmtheit, daß England über die Verpflichtungen des Völkerbundes, wie sie vorlägen, nicht herausgehen würde und daß, wenn man von England mehr verlange, das gerade so viel bedeute, als wenn man die Zerstörung des englischen Weltreiches verlangen würde. Dem Geschichtskundigen wurde damit die Erinnerung an die Zeit vor 100 Jahren wachgerufen, als auch von der englischen Politik aus der damalige Völkerbund, die Heilige Allianz, zur Auflösung getrieben wurde. Es sei nicht behauptet, daß das heute die Absicht der englischen Politik sei, aber sie steht mit ihren Interessen vielfach im Widerspruch zu dem Völkerbunde und seinen Ideen. Es sei auch hier gar nicht weiter behandelt, wie sich etwa künftig das Verhältnis der Vereinigten Staaten von Amerika zum Völkerbund und Europa entwickeln möge. Kein Zweifel ist aber daran, daß 10 Jahre nach ihrer Begründung diese Organisation in ihren Haupt- und Existenzfragen sich auf einem toten Punkte der Entwicklungsfähigkeit, in der Krise befindet und daß das ein Zustand ist, der doch nicht eine unabsehbare Zeit lang dauern kann.

Deutschland ist in den Bund eingetreten durchaus nicht unter einstimmiger Zustimmung seiner Parteien und öffentlichen Meinung. Beigeisterung für den Völkerbund kann man von ihm wahrhaftig nicht [77] verlangen. Deutschland hat in diesen Jahren seiner Mitgliedschaft loyal und eifrig mitgearbeitet und wird dies auch weiterhin tun, loyal und eifrig und - skeptisch. Ein detailliertes Programm aufzustellen war ihm im Anfang nicht möglich. Es trat auf ein neues Terrain, auf dem die anderen alle Erfahrungen für sich hatten und Deutschland erst anfing.

Aber drei allgemeine Grundforderungen waren von vornherein gegeben, die vom Verfasser dieses Abschnitts schon sehr früh ausgesprochen worden sind (Neue Züricher Zeitung vom 27. Juni, Europäische Gespräche, Juli, Europäische Revue, Dezember 1926). Es sind

1. die Gleichberechtigung Deutschlands, die, trotz aller schönen Worte uns gegenüber, noch nicht erreicht ist und für die Deutschland im Völkerbund einfach aus den Notwendigkeiten der eigenen Würde und Existenz heraus kämpfen muß. In dieser Forderung ist in erster Linie der Abrüstungskampf bezeichnet, aber er enthält nicht alles.

2. Der geordnete Gang und die Garantie friedlicher Revision von Friedensvertragsbestimmungen, die unmöglich sind und Konflikte in sich schließen. Damit wurde immer eine heikle Frage angerührt, und ängstliche Leute haben am liebsten davon überhaupt nicht gesprochen. Aber es ist und bleibt Sisyphus-Arbeit, sowohl in bezug auf den großen Gedanken der Schiedsgerichtsbarkeit wie der Abrüstung, wenn man die Augen davor verschließt, daß eben die Grundlage der Staatenordnung in Europa von heute Konfliktsmöglichkeiten in sich schließt, die mit mathematischer Sicherheit ausbrechen müssen, wenn man sich nicht um Form und Norm friedlicher Revision müht.

Die 3. und letzte Forderung ist: Garantie und garantierter Schutz für die nationalen Minderheiten. —

Man hat auch in Deutschland Verständnis für die ideale Seite des Zusammenschlusses und Zusammenhangs im Völkerbund gehabt und hat es auch heute. Aber schon im August 1926 hat MacDonald, gewiß ein begeisterter Anhänger der Völkerverständigung, zugegeben, daß der Völkerbund 1925 ein gutes Stück Ansehen verloren habe, das er nicht leicht zurückgewinnen werde. Er hat dabei auch gesagt, daß der einzige Zweck des Völkerbundes sei, Kriegsursachen wegzuräumen und die Sicherheit der Völker mehr auf gerechtes Urteil als auf militärische Stärke zu gründen. Versage er hierin, so versage er vollkommen; setze er sich aber durch, so ändere er die Welt. Wir brauchen von unserer Seite und im Rückblick auf die deutschen Erfahrungen im Völkerbunde über diesen Gedanken einer zwischenstaatlichen Organisation und die Fassung, die sie durch den Versailler Vertrag erfahren hat, nichts mehr hinzuzufügen. Weil Deutschland die [78] Notwendigkeiten europäischer Friedenspolitik erkennt und als seine Aufgabe im Völkerbund die Verfechtung des Rechtsgedankens in den Staatenbeziehungen ansieht, arbeitet es in dem Völkerbunde mit. Aber man soll ihm nicht zumuten, daß es das tue gegen die Notwendigkeiten, Interessen und Gebote seines eigenen Lebens. Und nicht seine Schuld ist, wenn dieser Gedanke zwischenstaatlicher Organisation seine Fassung in der Bindung an den Vertrag von Versailles erhalten hat!

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Zehn Jahre Versailles
in 3 Bänden herausgegeben von
Dr. Dr. h. c. Heinrich Schnee und Dr. h. c. Hans Draeger