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Mitteldeutschland - Hermann Goern

Hessenland und Rhön

Der Name Hessenland ist hier wörtlich genommen für das Land der Hessen und meint also nicht das heute überholte politische Gebilde, dessen Grenzen den ursprünglichen Siedelraum dieses Stammes weit überschreiten. Als breites, vielfach durch Einzelkuppen und Höhenzuge unterbrochenes Senkungsfeld liegt es zwischen dem nördlichen Teil des Rheinischen Schiefergebirges (Westerwald und Rothaargebirge) und dem Thüringer Wald mit Rhön und Eichsfeld. Durch zahlreiche Flußtäler ist das zunächst so unübersichtlich erscheinende Gebiet doch eindeutig von SW nach NO ausgerichtet. Vom mächtigen Stock des Vogelsberges, der Brunnenkammer vieler Flüsse, geht die Wasserscheide quer durch das Land hindurch, hinüber nach den Gipfeln des Rothaargebirges, von denen Eder und Lahn ihren Ausgang nehmen. Alles was nach Süden fließt, wird von Main und Rhein aufgenommen, die dort eine klare Grenze bilden, und was nach Norden hin seinen Weg antritt, kommt zur Weser.

Vom Süden her als natürliche Fortsetzung der Mittelrheinebene bietet die fruchtbare Wetterau bequemen Zugang. Sie ist das Anfangsglied der seit Vorzeiten so wichtigen Hessischen Senke, die zunächst über einen schmalen Landrücken nach Gießen ins Lahntal führt, um dann von Marburg aus zwischen Kellerwald und Knüll über Treysa nach Kassel der Fulda zu folgen, den gleichen Weg, den die Hauptstrecke Frankfurt–Bremen nimmt. Der Weg nach Osten geht das Kinzigtal hinauf zwischen Spessart und Vogelsberg, durchbricht den Landrücken in Deutschlands größter Untertunnelung, dem Diestelrasentunnel zwischen Schlüchtern und Flieden, und erreicht so über Fulda, Hersfeld den bedeutenden Knotenpunkt Bebra. Lahn, Eder, Fulda mit ihren zahlreichen Zuflüssen bilden ein natürliches Straßennetz und die Werra-Weserlinie bis Karlshafen die Grenze gegen NO. Von diesem nördlichsten Punkte unseres Gebietes folgt die Grenze nach NW dem Tal der Diemel.

Die Hessische Senke vor allem hat das darumliegende waldreiche Gebiet zum Durchgangsland von Norden nach Süden gemacht. Vom Süden kommend, haben es die Römer und später die Franken besetzt, und nach dem Süden von der norddeutschen Tiefebene her drängten die Germanen. So mußte es gerade hier zu entscheidenden Auseinandersetzungen kommen, zu einem "wilden Ringen um den Raum". Funde aus der älteren Steinzeit im Lahntal (Wildscheuer Felsenhöhle), aus der Jungsteinzeit in der Wetterau und aus der Bronzezeit am Vogelsberg sind die Zeugnisse vorgeschichtlicher Besiedlung, und seit der frühen Eisenzeit lassen sich immer deutlicher Spuren germanischer Bevölkerung nachweisen. Ihrem starken Südwärtsdrängen setzten die Kelten (Gallier), die im Siegerland die begehrten Eisengruben ausbeuteten, einen Kranz mächtiger Ringwälle entgegen. So im Quellgebiet der Lahn und Dill und bei Gießen. Doch mußte dieser Festungsgürtel schließlich fallen. Bereits um 400 ist das Lahntal im Besitz der Germanen, und bis zum Anfang unserer Zeitrechnung [600] ist die Eroberung des gesamten rechtsrheinischen Schiefergebirges und des Taunusgebietes durch die nordische Rasse abgeschlossen. Im Hessenland treten die siegreichen Eroberer als Katten zur Zeit des Tacitus ins Licht der Geschichte. Er schildert sie als "einen abgehärteten Menschenschlag mit gedrungenem Gliederbau, trotzigem Blick und großer Tatkraft, für Germanen reich an Besonnenheit und Überlegenheit". Ihre Wohnsitze reichten von der Eder bis zur Rhön, von der Werra bis zum Vogelsberg und hinüber bis zum Westerwald. An der unteren Eder sind ihre Haupttorte zu suchen.

Die unter Kaiser Augustus beginnenden Vorstöße der Römer ins innere Germanien vom Rhein her begegneten besonders dem zähen Widerstand der Katten. Auf seinem Zuge nach Norden zerstört Germanikus im Jahre 15 ihre Stammesfeste Mattium. Aber schon 69 dringen sie bis gegen den Rhein vor und befestigen den Taunus und die Wetterau mit starken Ringwällen. Da trifft um 83 der Kaiser Domitian selbst an der Front ein, und unter dem Ansturm seiner Legionen sinken die Ringwälle in Schutt. Um für immer gegen den gefürchteten Stamm gesichert zu sein, legt er den Limes an, jenen ausgedehnten Grenzwall, der als "gewaltigste aller von den Römern errichteten Sperren auf rund 200 Jahre hinaus zum Schicksal für Raum und Rasse der Germanen geworden ist". In unserem Gebiet verläuft der heute noch an vielen Stellen sichtbare "Pfahlgraben" vom Rhein her über den südlichen Westerwald nach Ems, durch den Taunus (nördlich von Schwalbach), Saalburg, Butzbach bis in die Nähe von Gießen und, die Wetterau umschließend, nach Süden zum Main. Aber nach 250 kann auch diese nördlichste Grenze des römischen Weltreiches das Raumbegehren der Germanen nicht mehr aufhalten, dem bis zum Beginn der Völkerwanderung der Rhein eine vorläufige Schranke setzt. Nach dieser Zeit der Kämpfe mit den Römern gibt die Geschichte keine Kunde mehr vom Schicksal der Katten. Gewiß ist nur, daß auch während der Völkerwanderung wenigstens der Hauptstamm auf seinen alten Wohnsitzen blieb. Als 720 der verwandelte Name Hassi für die Niederhessen erstmalig auftaucht, gehören seine Träger schon zum Frankenreich. Das Land besiedelt sich rasch und reich, nicht nur an den fruchtbaren Ebenen der Hauptflüsse, sondern auch die Nebentäler bis zu den Bergen hinauf. Aber auch im Reiche Karls des Großen steht das nun in fünf Gaue eingeteilte nördliche Grenzland wieder im Zeichen des Kampfes als Aufmarschgebiet für seine Sachsenkriege.

Mitten in diese kriegerische Zeit hinein kommt die erste Botschaft des Christentumes, verkündet durch den Iren Winfried. Zugleich mit dem Auftrag, Hessen und Thüringen für die Heilslehre zu gewinnen, verleiht Gregor II. dem Apostel der Deutschen den Namen Bonifatius. Das war 719, und nun beginnt die für unser Volk so schicksalsvolle Auseinandersetzung zwischen dem überlieferten germanischen Götterglauben und der neuen, siegesgewissen Lehre, der die Zukunft gehören sollte. 722 sah das Edertal die erste Massentaufe, und ein Jahr später stürzt sinnbildhaft überzeugend die riesige Donareiche unter den wuchtigen Axthieben des kühnen Bekenners. Friedenstätte heißt die danach gegründete Mönchssiedlung - das heutige Fritzlar. Kloster Amöneburg [601] in Oberhessen, Stift und Bistum Büraburg entstehen und bereits 744 das Benediktinerkloster Fulda im tiefen Waldlande Buchonien. Sein Gründer Sturm, der Schüler des heiligen Bonifatius, berichtet darüber an den Papst: "Mitten zwischen den Völkern, denen wir predigen, liegt ein waldiger Ort in weiter, verlassener Einöde. Dort haben wir ein Kloster gegründet. Diesen Ort habe ich vom Frankenfürsten Karlmann erworben; hier möchte ich zuweilen mit Erlaubnis Eurer Heiligkeit meinen durch das Alter erschöpften Körper ausruhen und nach dem Tod beerdigt sein."

Die hartnäckigsten Gegner der Bekehrung waren die Sachsen. Immer wieder fielen sie plündernd ins Hessenland ein und zerstörten 774 sogar Fritzlar. In dreißigjährigem Ringen sind sie aber schließlich doch dem Frankenkaiser unterlegen, der dann Tausende von ihnen in fränkischen Gebieten ansiedelte. Namen wie Reichensachsen, Harmuthsachsen usw. weisen auf diese Zwangsmaßnahme zurück, die noch heute im Rassenbild der dortigen Bewohner erkennbar ist.

Erst nach dem Untergang der Hohenstaufen gelingt es den Landgrafen unter schweren Kämpfen gegen den Erzbischof von Mainz und nach Niederringung des aufsässigen Adels Hessen selbständig zu machen. Die vielen Burgen auf den Höhen, die ja alle irgendeine Straße sichern oder einen Zugang abriegeln sollen, sind so letzten Endes gegeneinander gewandt und geben ein anschauliches Bild der Unentwirrbarkeit der damaligen politischen Verhältnisse.

Zu einer bis in die Gegenwart hineinragenden Bedeutung hat es erst Philipp der Großmütige (1509-1567) gebracht. Nachdem er im eigenen Lande die aufständischen Bauern niedergeschlagen hatte, ist besonders seinem entschlossenen Eingreifen der Sieg über das Bauernheer bei Frankenhausen zu verdanken. Als Augenzeuge von Luthers kühnem Auftreten auf dem Reichstag zu Worms hat er bald die Sache der Evangelischen zu seiner eigenen gemacht und die Reformation in Hessen eingeführt. "Ich will lieber Leib und Leben, Land und Leute lassen, als von Gottes Wort weichen." So wurde er der katholischen Kaisermacht zum Trotz, die auf dem Reichstag zu Worms 1529 die Ausbreitung der neuen Lehre verbot, der Führer der evangelischen Fürsten. Ihre Niederlage im Schmalkaldischen Krieg hat er durch seine Unterwerfung unter Kaiser Karl V. hart genug bezahlen müssen. Sein Land wurde völlig entwaffnet und er selbst von der Heimat durch langjährige Gefangenschaft getrennt. Als er starb, betrauerte sein Volk einen wahren Landesvater und der Protestantismus seinen entschlossensten Vorkämpfer.

Nach den Bekenntniskriegen kam unter Wilhelm dem Weisen und Moritz dem Gelehrten für das Land eine Zeit wirtschaftlichen Aufschwungs, der nicht zuletzt mit der Erschließung der Braunkohlengruben im Habichtswald und auf dem Meißner zusammenhing. Aber diese friedliche Entwicklung wurde jäh abgerissen durch den größten Religionskrieg aller Zeiten, dessen Stürme nun dreißig lange Jahre die deutschen Lande durchtoben sollten. Am schrecklichsten wird Hessen von ihm 1637 betroffen, als Isolani und Gallas mit ihren gefürchteten Kroatenhorden das Land brandschatzten. Der Landgraf muß fliehen, und nur die beiden Festungen Kassel und Ziegenhain können standhalten. Die [602] Verheerung ist fast unvorstellbar. 18 Städte, gegen 300 Dörfer und viele Edelsitze sind damals in Flammen aufgegangen. Da der Bauer das Land nicht mehr bestellen konnte, kam der Hunger und mit ihm die Seuche. Die erlittene Marter des verängstigten Volkes ist namenlos. Die Gequälten flüchteten in die Wälder und ließen doch nicht von ihrem Glauben. Es ging Treue um Treue. Die Pfarrer suchten sie in ihren Verstecken auf, hielten dort Betstunden ab und tauften die in solches Elend hinein Neugeborenen.

Das Zeitalter uneingeschränkter Fürstenmacht findet für Hessen seine stolzeste Darstellung im Landgrafen Karl (1670-1730). Er war ein reger Förderer der Gewerbetätigkeit seines Landes und sah nichts Beschämendes darin, das aus Bauernsöhnen zusammengestellte Söldnerheer im Dienst fremder Staaten auszunutzen. Hessische Truppen kämpfen für Holland, England und Venedig. Sie stehen sogar vor Athen und bringen ihrem Fürsten viel Geld ein, das zur Aufführung der vielbewunderten Prachtbauten besonders in der Residenz Kassel verwendet wird. Am Habichtswald entstehen die Kaskaden und das Oktogon mit dem Herkules. Die Karlsaue wird angelegt, und überall müssen die Soldaten neben der zu Spanndiensten verpflichteten Bevölkerung tüchtig mit anpacken. Ein glänzendes Hofleben macht Kassel weithin berühmt. Aber auch für die Armen hat der Fürst ein Herz und hilft wo er kann. Die verzweifelten Hugenotten ruft er aus Frankreich her und gründet ihnen in Kassel die Oberneustadt. Sie bringen eine Woll- und Seidenindustrie mit, von der das Land viel Nutzen hat. Unter Wilhelm VIII., der treu zu dem großen Friedrich hielt, brachte der Siebenjährige Krieg wieder viel Leid übers Land. Viermal waren die Franzosen in Kassel und haben wüst gehaust. Aber zur gleichen Zeit entsteht im stillen Waldgrunde das heitere Rokokoschlößchen Wilhelmstal, und durch Erwerb der berühmten "Niederländer" wird der Grundstock zur großen Kasseler Gemäldegalerie gelegt. Als er starb, sagte Friedrich der Große von ihm: "Deutschland hat seinen würdigsten Fürsten, Hessen einen Vater und ich meinen treuesten Freund verloren."

Mit klugen Mitteln sorglichster Wirtschaftsführung auf allen Gebieten gelang es Friedrich II. die schweren Kriegsschäden wieder auszugleichen und daneben nach französischem Muster eine glänzende Hofhaltung zu gestalten. Rokoko in Hessen! Nach einem Vertrag mit England traten 18 000 hessische Soldaten dort in Sold, um während der nordamerikanischen Freiheitskriege die Ruhe in den englischen Kolonialstaaten wiederherzustellen. Unter Wilhelm IX. (1785-1821), dem Erbauer des Schlosses Wilhelmshöhe, lag die französische Fremdherrschaft schwer auf dem Lande. Kassel als Hauptstadt des Königreichs Westfalen von Napoleons Gnaden sah das Schauspiel von Jérômes Faschingskönigtum vor seinen Augen sich abspielen, erlebte den mißglückten Dörnbergschen Aufstand dagegen und mußte es geschehen lassen, daß die ersten Vorkämpfer deutscher Freiheit auf dem Forst von westfälischen Soldaten erschossen wurden. Als dann in den Befreiungskriegen die Hessen unter Blücher kämpften, wurde auch ihr Opfertod gesühnt. 1849 stürmten die Hessen noch unter den ruhmreichen kurhessischen Fahnen die Düppeler Schanzen, [603] und 1866 wurde der nach Österreich hinneigende Kurstaat Preußen angegliedert. Wie die Dinge nun einmal lagen, mußte der letzte Kurfürst das Schloß Wilhelmshöhe als Kriegsgefangener verlassen.

Schloß Wilhelmshöhe bei Kassel.
[541]      Schloß Wilhelmshöhe bei Kassel.

Die wechselvollen Ereignisse der Geschichte haben das Hessenland wohl härter betroffen als andere abgeschlossenere Gaue unseres Vaterlandes, und man sollte glauben, daß die Bewohner dieses Durchgangsgebietes sich zu leicht zugänglichen, weltläufigen Menschen entwickelt hätten, was für den ähnlichen Schicksalen ausgesetzten Thüringer und Obersachsen doch zweifellos zutrifft. Aber wer das Land durchwandert, wird anders belehrt. Er findet mit Ausnahme der Wetterau und der wenigen größeren Städte eher einen langsamen und bedächtigen Menschenschlag, und für seine zäh am Herkommen hängende Art sprechen die hier dichter als anderswo gesäten Trachtengebiete. Bis zur ernsten Verschlossenheit kann sich sein Wesen verdichten. Besonders nach Norden zu im Edergebiet, wo auch schon durch die Dialektfärbung die starke Einmischung niedersächsischen Blutes spürbar wird. Viel nordisches, mehr noch fälisches Blut bestimmt Wesen und Gestalt und äußert sich einmal in Schlankheit, Beweglichkeit, Vielseitigkeit und das andere Mal im breiteren, schwereren Bau mit der entsprechenden Standhaftigkeit. Hessen gehört zu den Gebieten mit dem größten Prozentsatz der Blauäugig-Blonden. Wie ernst sie es mit ihrem Glauben nehmen und dafür einzustehen wissen, hat die Geschichte gezeigt, die ja zum großen Teil eine Geschichte der Glaubenskämpfe ist. Daß sie, wie nur noch die Friesen, der einzige deutsche Stamm sind, der seine ursprünglichen Wohnplätze auch heute noch innehat, ist ihr Schicksal geworden.

Ein hessisches Dorf mit Blick auf den Heiligenberg.
[564]      Ein hessisches Dorf mit Blick auf den Heiligenberg.

Hessische Dorfstraße.
[565]      Hessische Dorfstraße.

Hessischer Bauernhof.
[565]      Hessischer Bauernhof.
Hessen ist vorzugsweise Bauernland geblieben. Wie weit vorhandene Bodenschätze diese natürlichste Daseinsform einschränken und abwandeln, wird bei der geologischen Betrachtung des Gebietes beobachtet werden. Als Rodungsinseln den umgebenden Wäldern abgerungen liegen die Siedlungen als stille Haufendörfer mit ihren Felderbreiten oder steigen Straßendörfer die engen Täler hinauf. Bei 40 Prozent Waldbestand ist das Land nicht fruchtbar zu nennen. Die rauhen Berggegenden und der arme Buntsandsteinboden geben meist nur Roggen, Hafer und Kartoffeln her, aber das viele Wiesenland hat zu guter Viehzucht geführt. Nur in den fruchtbaren Niederungen wogt schwer der Weizen. Der mittelbäuerliche Betrieb ist vorherrschend. Die Hofanlage ist - wie im gesamten mitteldeutschen Gebiet - mit wenigen Ausnahmen fränkisch. Also im Gegensatz zur niedersächsischen Gewohnheit, die alles unter einem riesigen Dach zusammenfaßt, zeigt sie die Trennung von Wohnhaus und Wirtschaftsgebäuden. Im Laufe langer Entwicklung hat sich allmählich eine sinnvolle Anordnung der Wirtschaftsgebäude um einen rechteckigen Innenhof herausgebildet. Zugang gewährt eine meist von einem kleinen Schutzdach bekrönte Toranlage, die besonders in Oberhessen oft zu einer Art Torhaus geworden ist. Neben dem zweiflügeligen Tor ist eine kleine Pforte für Fußgänger. Am Balkenwerk finden sich Kerbschnittmuster und Inschriften. Die Gesamtanlage

Hessisches Fachwerkhaus.
[566]      Hessisches Fachwerkhaus.
macht so, besonders bei Steinverwendung, einen durchaus wehrhaften Eindruck, der von Wohlhabenheit spricht, die dort zu Hause ist. Das [604] Wohnhaus selbst grenzt meist mit der Giebelseite an die Straße und prägt sich mit seinem für die Waldgebiete eigentümlichen Fachwerk wohl am stärksten der Erinnerung ein. Der Reiz dieser freundlichen, sauberen Häuser, die immer, auch wenn sie noch so groß sein mögen, irgendwie aus einer Spielzeugschachtel zu stammen scheinen, liegt weniger in den oft bunt bemalten Schnitzverzierungen der einzelnen Hölzer, sondern in dem planvoll lustigen Linienspiel des ganzen Fachwerkgerippes, das wie ein engmaschiges Netz über die Wände gelegt erscheint, die zuweilen als besonderen Schmuck einen Erker tragen. Friesartig umziehen die Brüstungsgefache mit gern verwendeten gebogenen Hölzern als Streben die Geschosse. Aber auch die weiß verputzten Lehmwände zwischen dem Fachwerk geben noch Raum für die Schmuckfreudigkeit hierzulande: in volkstümlicher Unbefangenheit sind Blumen, Bäume, Menschen, Symbole und vielformige Ornamente in den Putz gekratzt. Wo in der Gegend Schiefer gebrochen wird, ist das Fachwerk damit verkleidet. Nach der Straße hinaus blicken nur die Fenster der behaglichen Wohnstube mit dem breiten Kachelofen und der unentbehrlichen Ofenbank. Im bergigen Land, wo der Platz knapp ist, wird die mehrgeschossige Bauweise bevorzugt. Blumen stehen in den Fenstern, und trotz der Enge der Gassen läßt sich doch immer noch Raum finden für ein hübsches, von der Hausfrau sorglich gepflegtes Ziergärtchen.

Hessische Bauernstube.
[568]      Hessische Bauernstube.

Der Vorzug der fränkischen Hofanlage an behaglicher Wohnlichkeit hat das niedersächsische Einhaus immer weiter nach dem Norden unseres Gebietes gedrängt, wo es auch nicht häufig mehr zu finden ist. Leider beginnt seit dem 19. Jahrhundert mehr und mehr der Einfluß der Stadt sich bemerkbar zu machen, deren Bauweise nachgeahmt wird, und die unschönen Gebilde wirken dann genau so merkwürdig verloren wie der Sonntagsanzug des Städters auf einem Trachtenfest. Aber noch gibt es genug ungetrübte Urbilder des echten Hessendorfes, die sich an vielen Orten mit bedeutenden Resten alter Befestigungen in bäurischem Trotz gegen die Neuzeit zu wehren scheinen. Dort geht in stetem Wechsel zwischen notwendiger Arbeit und Erholung das Leben seinen gleichen Gang noch wie in Vorvätertagen mit natürlich erhaltener Tracht, Sitte und Brauchtum. Der oft künstlerisch gestaltete alte Brunnen oder die Centlinde an der ehemaligen Gerichtsstätte bildet auch heute noch den Mittelpunkt für die Jugend, die sich dort an den Sonnnerabenden sammelt zu Spiel und Tanz.

Wer sich das Hessenland erwandern will und die Karte näher betrachtet, wird über die verwirrende Vielgestaltigkeit dieser Landschaft erstaunt sein und eine Erklärung dafür nur finden können, wenn er die geologische Geschichte befragt, die nicht minder wechselvoll und vielleicht aufregender ist als die von Menschen selbst gestaltete. Steine fangen dann an zu reden, und der Blick weitet sich in unvorstellbare Zeiträume mit astronomischen Zahlen. Sehr alte Schichten des langsam erkaltenden Erdballs stehen noch sichtbar an in den Hängen des Rheinischen Schiefergebirges und des Thüringer Waldes. Für das dazwischenliegende Gebiet bilden sie das unsichtbare Fundament, das einst bei Faltungsvorgängen der Steinkohlenzeit abgesunken ist. Ein Meer ist darübergeflutet und wieder verdunstet. Zurück blieben die Schichten des [605] Zechsteins und darin eingeschlossen in riesigen Lagern der Salzgehalt des Meeres. Die in Hessen so zahlreich hervorsprudelnden Mineralquellen haben in jenen Tiefen ihren Ursprung. Das größte Vorkommen aber bildet der Buntsandstein, der in ganz Mitteldeutschland sichtbar anzutreffen ist. Er sagt uns, daß alles von ihm bedeckte Land wahrscheinlich einmal Wüste war mit unterm Winde wandernden Sanddünen. Wo das vielverwendete Gestein abgebrochen wird, da leuchten die Wände weithin rot. Der Boden darauf gibt nicht viel her, und wo es in den Tälern fruchtbar ist, wie in der Schwalm und der Wetterau, da ist später Schwemmland der Flüsse darübergekommen. Aber auch diese Wüste sank wieder ein und wurde von einem Meer überflutet, dessen absterbende Lebewesen sich in Kalksteinschichten absetzten, die besonders im Werratal zutage treten, wo sie der Fluß durchschnitten hat. Wieder hebt sich das Land, das Meer strömt ab, und eine jüngere Sandsteinschicht bildet sich, Keuper genannt. Viele Millionen Jahre hat jede Epoche gebraucht, um diese mächtigen Gesteinsschichten abzulagern, und dann kam, mit ungeheurer Wucht vom innersten Kern her nach oben durchstoßend, das revolutionäre Ereignis der Erdgeschichte: die riesigen Vulkanausbrüche des Tertiärs, jener Zeit, die noch weit vor dem frühest vermuteten Auftreten des Urmenschen liegt. Feuerflüssige Lavamassen quollen empor und erhärteten zu Basalt. Die hochgewirbelten Aschenmengen gingen als Regen nieder, und aus ihren Ablagerungen wurde der Tuff, der oft genug von neuen Lavaströmen überschwemmt wurde. Dieses Kochen und Brodeln, das Zerbersten und Sichwiederschließen der Erdrinde hat dem Hessenland sein zerklüftetes Gesicht gegeben. Der Vogelsberg, Hohe Meißner, Knüll und die Bergkegel der Rhön sind so entstanden, und wo in der Landschaft jäh und schroff ein Kegel sich aufreckt, da steht ein Zeuge dieser gewalttätigen Veränderung, von der her die vielen Kohlensäurequellen dem Lande heute Segen spenden. Wo aber die sumpfigen Wälder in den Senken unter Luftabschluß vermoderten, da baut man heute die vielbegehrte Braunkohle ab. Wenn ihre Gewinnung bei Kassel, Melsungen, Homberg, am Vogelsberg, in der Rhön, Wetterau und Westerwald auch nur den geringsten Prozentsatz in der deutschen Gesamtförderung bildet, so gehören die Eisenerz- und Manganvorkommen an Lahn und Dill neben denen im benachbarten Siegerland zu den wichtigsten Fundstätten des für unsere Industrie so wichtigen Rohstoffes in Deutschland. Der Vogelsberg liefert außerdem noch Bauxit, den Ausgangsstoff für die Aluminiumgewinnung, und mit hessischem Basalt könnten sämtliche Straßen Deutschlands gepflastert werden.

Nicht in der Mitte des Landes, sondern in seinem nördlichsten Zipfel, dort, wo im weiten, fruchtbaren Talbecken der Fulda zwei uralte Handels- und Heerstraßen sich kreuzen - die eine von Thüringen nach Westfalenland und dem Rhein, die andere von der Weser zum Main - auch die Hauptautobahnen treffen sich heute hier -, an die Hänge des Habichtswaldes geschmiegt hat sich Kassel zur Hauptstadt des Landes entwickelt. Durch sechs Jahrhunderte war es die Residenz der Landgrafen, und aus dem fränkischen Königshof [606] Chassalla ist eine moderne Großstadt mit 176 000 Einwohnern geworden. Großzügiges Planen kunstsinniger Fürsten hat im Verein mit einer durch Handwerkstüchtigkeit wohlhabenden Bürgerschaft die Gunst der landschaftlichen Lage ausgenutzt und es verstanden, aus Berg und Wald, aus Bauwerken und Parks, aus Steilufer, Auen und Fluß ein Stadtbild zu schaffen, das durch seine festliche Heiterkeit den Besucher zu langem Verweilen überredet. Wer an einem Sommertag am kleinen Tempelchen der "Schönen Aussicht" steht, über die mächtigen Baumgruppen der tiefgelegenen Karlsaue den Blick ins lachende Land wandern läßt und neben den blauenden Kuppen des Kaufunger Waldes den Hohen Meißner verdämmern sieht, der weiß dann, warum es den Hessen aus allen Fernen der Erde immer wieder in seine Heimat zurückzieht, die doch wahrlich nicht mit Schätzen gesegnet ist. Wie das ganze Land, so ist auch diese Stadt ein einziges Bilderbuch. Jede Seite zeigt ein neues, liebenswertes Gesicht, und am Ende weiß man nicht, welches eigentlich das schönste oder wesentlichste ist. Eben noch im drängenden Verkehr des Königsplatzes, findet man sich wenige Schritte davon in der stillen Abseitigkeit der Altstadt, die sich ohne störende Neubauten eine Geschlossenheit bewahrt hat, deren sich nur ganz wenige deutsche Städte rühmen können. Lächelnd liest man Namen wie Fliegengasse, Entengasse, Pomeranzengasse und Seidenes Strümpfchen. Und wäre es überhaupt anders zu denken, als daß gerade hier, in der Wildemannsgasse, die Brüder Grimm unsere deutschen Märchen aufgeschrieben haben? Das war zur Zeit der Franzosenherrschaft. Fachwerkhäuser, drei und vier Jahrhunderte alt, säumen den leichten Schwung der Straßen, Giebelseite neben Giebelseite und eine immer prächtiger als die andere den Ruhm der heimischen Zimmermannskunst verkündend. Ein selbstbewußtes Bürgertum hat hier seinen Reichtum zur Schau gestellt, und an den hohen Häusern mit oft sechs breitgelagerten Geschossen unterm steilen Giebel mögen drei bis vier Generationen gebaut haben. Über oft kunstvoll ausgestatteten steinernen Portalen kragen auf wuchtigen Quergebälken die oberen Geschosse vor, und die reiche Schnitzerei der Pfosten und Füllbretter leuchtet in bunten Farben. Im Zwehrener Turm richtete sich Wilhelm der Weise die erste moderne Sternwarte ein und empfing den Besuch des berühmten Astronomen Tycho de Brahe. Zu jener Zeit sind die stolzen Renaissancehäuser entstanden und riesige Staatsbauten, wie Zeughaus, Renthof und Marstall. Sein Sohn, Moritz der Gelehrte, schuf im Ottoneum (heute Naturkundemuseum) 1606 das erste feste deutsche Theater und machte die Fulda bis Hersfeld hinauf schiffbar. Damals war die heute so friedlich ausschauende Stadt eine uneinnehmbare trutzige Festung, die selbst Tillys Grimm viermal erfolgreich standhielt.

Kassel. Durchbruch durch die Altstadt.
[539]      Kassel. Durchbruch durch die Altstadt.

Wenn an der Altstadt und der sich ihr anschließenden Freiheit Jahrhunderte gebaut haben, so ist die Oberneustadt - hoch über der am jenseitigen Fuldaufer sich ausbreitenden Unterneustadt - eine Schöpfung des Landgrafen Karl, der hier in den klaren Straßenzügen um die kuppelgekrönte Karlskirche herum den unglücklichen Hugenotten eine neue Heimat schuf. Die streng-vornehme Einfachheit dieser ganzen Anlage geht auf die mit ihnen eingewanderte Bau- [607] meisterfamilie du Ry zurück, deren Mitglieder das Stadtbild besonders an der "Schönen Aussicht" um eine Reihe edler Bauten bereichert haben. Sie sind es auch, denen die verschwenderische Weiträumigkeit des Friedrichsplatzes mit den fensterreichen Schauseiten der Staatsgebäude zu verdanken ist. Eine einzige, riesige Front wahrhaft fürstlicher Repräsentation! Elisabethkirche, Museum Fridericianum - heute Landesbibliothek, wo 15 Jahre lang die Brüder Grimm als Bibliothekare wirkten - und das Residenzschloß mit dem Roten und Weißen Palais. Die Inneneinrichtung dieser beiden Schlösser, 1815 - 1830 zum größten Teil von heimischen Handwerkern ausgeführt, weist in der kühlen Pracht des Empiregeschmacks Räume auf, die zu dem Erlesensten gehören, das dieser napoleonische Stil auf deutschem Boden hervorgebracht hat.

Kassel. Vornehme Palaisstraße.
[540]      Kassel. "Schöne Aussicht". (Vornehme Palaisstraße.)

Was wäre aber Kassel ohne die andere Schöpfung des Landgrafen, die mit seinem Namen verbundene Karlsaue, die sich unten im Tal bis zur Fulda hin in einer Weite ausbreitet, die damals dem Umfang der ganzen Stadt gleichkam. Zwischen langen Alleen und gepflegten Rasenflächen dehnen sich die stillen Spiegel großer Teiche. Die ganze Anlage ist ausgerichtet nach dem breiten Riegel des Orangerieschlosses, hinter dem sich die neue Hessenkampfbahn ausbreitet. Von der "Schönen Aussicht" führt ein Gartenhang hinab, dessen mächtige, barocke Treppenanlage den klug gewählten Rahmen für eine Kriegerehrung bildet, wie sie in solcher Monumentalität keine andere deutsche Stadt aufzuweisen hat. Schlichte Tafeln heben für kommende Geschlechter alle Namen der kurhessischen Regimenter auf, die im Weltkriege deutschen Raum verteidigten. Die durch die lange Reihe hoher Fenster schöngegliederte und reichverzierte Fassade des Schlosses bildete den Hintergrund für das festliche Gepränge der höfischen Gesellschaft, auf die von den hohen Balustraden der Reigen in lässige Schönheit versunkener antikischer Figuren herablächelte. Wenn inmitten des glücklichen Auegartens diese graziöse Szenerie wie die anmutige Strophe eines Schäferliedes aufklingt, dann bedeutet das danebengelegene Marmorbad ein erlesenes Stück Kammermusik. Trotz aller Mittel, die eine Benutzung vortäuschen sollen, ist es nie als Bad gebraucht worden, sondern, bei aller Pracht der edlen Baustoffe, nur ein intimeres Gehäuse für tändelnde Festeslust. Mormot hat es 1728 vollendet, und der prunkliebende Fürst, der wie alle Dynasten dieser Zeit das Ziel seiner Wünsche in einem Versailles auf deutschem Boden sah, gab ihm hier reichlich Gelegenheit, seine glatte Kunstfertigkeit an cararischem Marmor auszuwirken. Aber nicht nur den Fürsten war es vorbehalten, ihre Schönheitsfreude in prächtigen Bauwerken zu verewigen, auch die Untertanenschaft, die sich gern im Glanze ihrer Herrscher sonnte - und auch schließlich an dem Aufwand wohlhabend wurde -, verstand mit sicherem Geschmack, um den man jene Zeit vor allem beneiden kann, gut zu bauen. Diese Häuser - und es sind nicht wenige - brauchen nicht benannt zu werden, da sie sich von selbst dem Blick des Schauenden darbieten. Besonders am Königsplatz die beiden Rokokohäuser des Bildhauers I. A. Nahl und des Hofstukkateurs Brühl. Viel Frohsinn geht von solchen [608] Schauseiten aus, und gerade an ihnen wird klar, was Schmuck bedeutet, wenn er geschmackvoll verwandt wird. Kassel hat viel Kultur! Auch seine Sammlungen beweisen es. Natürlich vor allem die große Gemäldegalerie. Ihr einmaliger Ruhm sind mit Rembrandt an der Spitze die "Niederländer", die Landgraf Wilhelm VIII. aus holländischen Diensten in seine Heimat mitbrachte.

Die günstige Verkehrslage der Stadt hat aber auch Wirtschaft und Verkehr aufblühen lassen. Sein Flugzeugbau und seine Großwebereien sind überall bekannt. Kurhessisches Leinen ging früher in alle Welt, bis nach Amerika hin, und in den Walddörfern konnte man fast in jedem Hause den Webstuhl klappern hören. 1810 gründete Henschel draußen am Möncheberg seine Maschinenfabrik, die sich besonders nach dem siebziger Kriege zur größten Lokomotiven- und Waggonfabrik mit einer Belegschaft von rund 10 000 entwickelte und 1933 ihre 22 000. Maschine ablieferte. Auch eine bedeutende optische Industrie ist hier zu Hause und schließlich befindet sich der Sitz der Kaliindustrie (Wintershall) ebenfalls in der Stadt. Aber von diesem ganzen, rastlos hämmernden Arbeitstag merkt der Besucher eigentlich fast nichts. Das spielt sich draußen am Stadtrande ab, und so hat die Fürstenstadt des 18. Jahrhunderts wie die moderne Fabrikstadt ihren eigenen, unbestrittenen Lebensraum.

Kassel. Herkules und Wasserfall im Park von Wilhelmshöhe.
[542]      Kassel. Herkules und Wasserfall im Park von Wilhelmshöhe.

Der Reisende, der sich mit der Bahn der Stadt nähert, erblickt auf der Kammlinie des Habichtswaldes eine nadelartige Spitze: die Pyramide mit dem Herkules von Wilhelmshöhe, das Wahrzeichen Kassels und damit des Hessenlandes. Was des Landgrafen Karl allmächtiger Wille, in Erinnerung an die Gärten von Rom und Frascati, dort entstehen ließ, findet in Deutschland nirgendwo seinesgleichen. Wenn uns auch heute die wundervolle Einheit von Park und Wald, von Schloß und Wasserkünsten fast als naturgewollt erscheint, so mußte doch einmal ein Mensch in den unberührten Bergwald das alles hineinsehen können - "einen schönen großen Gedanken in Gottes Schöpfung hineinwerfen", wie Klopstock davon sagte. 1701 wurde mit den Arbeiten begonnen, und bereits 1714 springen die Wasser zum erstenmal über die breiten Kaskaden in einer Länge von 250 Metern herab. Ganz oben am Oktogon muß man beginnen, von dessen oberster Plattform sich die ganze zu Füßen ausgebreitete Herrlichkeit mit einem Blick umfassen läßt. Das Riesenhafte der in ihrer Maßlosigkeit echt barocken Planung, die ja die Stadt selbst miteinbezieht, wird hier am deutlichsten. Riesenhaft ist alles hier oben. Die 9 Meter hohe kupferne Figur des Herkules, und gar das Oktogon selbst, eine gebirghaft aufgetürmte Urweltburg, die irgendwie an die römische Porta nigra in Trier erinnert.

Menschenmassen fluten auf und ab, warten, daß die Wasser endlich springen, und dann stürzt es schäumend und spritzend die basaltenen Stufen hinab. Die Erde verschluckt es, und weiter talwärts bricht es in einem künstlich aufgeführten Gebirge als Wasserfall wieder hervor, braust unter der Teufelsbrücke hindurch, verschwindet nur, um sich erneut im Aquädukt zu finden, von dem es in einem einzigen Schwall aus der Wipfelhöhe uralter Tannen hinabstürzt. Über neue Kaskaden eilt es dem Teiche zu, aus dem es sich dann im gesammelten Strahl [609-624=Fotos] [625] der Fontäne turmhoch hinaufschleudert. Langsam verlodert unter den Blicken von Tausenden die ungeheure, funkelnde und dampfende Fackel aus Wasser. Der römische Baumeister Guernieri und der deutsche "Wassergott" Steinhöfer teilen sich in den Ruhm für diese gewaltige Anlage, in der noch nicht einmal alles zu Ausführung gelangte, was der Landgraf plante. Seine Nachfolger haben manches abgeändert und hinzugefügt. Erst 1826 wird der "Neue Wasserfall" fertig gestellt.

Wilhelms IX. Schloß, das dem Hochwaldpark den Namen gibt, hat einfachere Bauten als Vorgänger gehabt. Salomon Louis du Ry aus der berühmten hugenottischen Architektenfamilie hat es 1786-1827 gebaut und Deutschland damit neben dem Koblenzer Schloß die bedeutendste bauliche Schöpfung des Klassizismus gegeben. Die weitgespannten Flügel der hufeisenförmigen Anlage scheinen den vor ihr ausgebreiteten Park umfangen und einer Sperrmauer gleich den Schwall der ihr von der Höhe aus entgegenstürzenden Wasser dämmen zu wollen. So schön die Ausstattung der vielen Säle und Gemächer in kostbarem Spätempire auch ist, der Blick sucht doch immer wieder durch die hohen Fenster hinauf zu den Kaskaden oder hinunter über den Teich hinweg zur Stadt. Größte Machtentfaltung und jäher Niedergang des französischen Kaisertums haben sich hier abgespielt. Zur Zeit der Fremdherrschaft durchwogte der leichtsinnige Hofstaat des Königs Jérôme die spiegelnden Säle, 1870 bewohnte es der letzte Napoleon als Gefangener, und von hier aus leitete Hindenburg 1918 die Demobilmachung des deutschen Heeres.

Die Lieblingsschöpfung Wilhelms IX. aber ist die etwas höher am Hange gelegene Löwenburg (1793-1800), das Meisterstück der damals herrschenden romantischen Modeströmung. Denn wie alles in diesem Wunderreiche hier oben - allerdings grandiose - Bühnendekoration ist, so handelt es sich auch bei dieser Burg nicht um ein allmählich zur Ruine gewordenes Bauwerk, sondern von vornherein als Ruine geplant, ist sie mit allen dazugehörigen Requisiten neu aufgeführt und als Dauerwohnsitz recht behaglich eingerichtet worden. Hier konnte sich dann der Landgraf in die Zeiten längst entschwundener Ritterherrlichkeit zurückträumen und nur mit Mühe davon abgehalten werden, auch das Hauptschloß unten mit der gleichen Schrullenhaftigkeit auszustatten. Ja, es lag sogar ein Plan vor, es in chinesischem Stil aufzuführen. Aber ein chinesisches Dörfchen ließ er doch unter den deutschen Eichen aufbauen für die parfümierten Schäferspiele des Rokoko. Der Name "Mulang" und ein entzückendes Pagodentempelchen erinnern noch heute an die so ernst genommenen Spielereien jener sinkenden Zeit.

Durch schöne Mischwälder und Felderfluren, die weite Blicke über Kassel und das Fuldatal bieten, führt der Weg nach Wilhelmstal, wo Ferdinand von Braunschweig 1762 den Sieg über 80 000 Franzosen erkämpfte, und sich Wilhelm VIII., der Rembrandtsammler, um die Mitte des 18. Jahrhunderts sein Sommerschloß nach den Plänen des Münchener Baumeisters Cuvillié erbauen ließ. Die riesenhaften Ausmaße des Wilhelmshöher Schlosses muß man hier vergessen, findet dafür aber in einem stillen, vom Lärm der Welt [626] abgeschiedenen Park ein Bauwerk erlesensten Rokokogeschmacks. Nahl und Brühl teilen sich in die Innenausstattung. Ihre Zierkunst der leicht hingestreuten Ornamente in Stuck und Holz an Wänden und Gecken ist an Güte unübertroffen.

Am linken Ufer der jungen Weser zwischen Hannoversch-Münden und Carlshafen breiten sich die großen, an Rotwild reichen Wälder des Reinhardswaldes aus. Früher waren dort - wie auch im Kaufunger Wald - bedeutende Glashütten, aus denen die Museen noch manches schöne, bemalte Stück bewahren. Bei dem weinumrankten Jagdschloß Sababurg (ehemals landgräflicher Tiergarten und Gestüt) ist ein urwaldähnliches Gelände mit seinen Baumriesen - darunter Eichen von 6 - 800 Jahren - unter Naturschutz gestellt worden und gibt mit seiner Wildheit eine Vorstellung davon, wie es im Waldland Hessen noch vor wenig Jahrhunderten ausgesehen haben mag.

Carlshafen verdankt seine Gründung dem klugen Landgrafen, der damit das ihm unbequeme Stapelrecht der Stadt Münden umgehen wollte und von dem neuen Weserhafen aus eine Kanalverbindung mit Kassel plante. In Münden werden Werra und Fulda, die Stadt umfangend, zur Weser. Wer oben vom Berge die drei Täler und die Stadt der schönen Fachwerkhäuser sieht mit Brücken und Wehren und mächtigem Schloß, der muß dem weitgereisten Humboldt schon recht geben, wenn er sie mit zu den schönsten Städten der Welt rechnet. Besonders das schöne Renaissance-Rathaus spricht von ihrem einstigen Wohlstand, der sich auf das Recht gründete, daß nur ihre Kaufleute die Waren flußabwärts weiterführen durften. Und wer kennt nicht den "weltberühmten und hocherfahrenen" Dr. Eisenbart? In der Ägidienkirche ist seine Grabschrift zu lesen.

Das Werratal aufwärts, wo der Fluß sich durch die Muschelkalklagen durchnagen mußte und uferlang die kahlen Felswände schroff anstehen, ist Witzenhausen durch sein mittelalterliches Stadtbild mit Mauern, Türmen und Kirchen rühmenswert. Die deutsche Kolonialschule hat seinen Namen weit in der Welt herumgebracht. Zur Kirschblüte muß man dort sein und Zeit haben zum Wandern durch diese Landschaft vielfältiger Abwechslung. Über der Enge des Tales bei Werleshausen steht rechtsseitig der Hanstein, errichtet als Sicherung für den wichtigen Zugang vom Leinetal her und heute noch das Muster einer mittelalterlichen Burganlage. Auf der anderen Seite steht der Ludwigstein, als hessische Grenzwacht gegen ihn und das damals kurmainzische Eichsfeld in einem einzigen Jahre aufgeführt. Heute dient er friedlicheren Zwecken und ist, von den Opfergroschen der deutschen Jungwanderer zur Jugendburg wohnlich ausgebaut, als Ehrenmal den im Weltkrieg gefallenen Wandervögeln geweiht. Wieviel Jugend hat von dieser schönen Mitte aus singend und spielend deutsches Land erwandert und lieben gelernt!

Werratal mit Ludwigstein und Hanstein.
[543]      Werratal mit Ludwigstein und Hanstein.

Sooden-Allendorf vereinigt zu beiden Seiten des Flusses zwei alte Salzstädte, die schon im frühen Mittelalter ihre Salinen hatten und eine Pfännerschaft zur Ausbeutung der Sole. Hier wird der Ort vermutet, wo sich zwischen den Chatten und Thüringern die Kämpfe um die Salzquellen abspielten. Vorm [627] Salzamt in Sooden steht noch der steinerne Tisch, an dem ehemals der kostbare Stoff ausgewogen wurde. Von weither kommen besonders Rheumatiker und Asthmatiker, um durch die brom- und jodhaltige Sole Heilung und in der waldreichen Umgebung Erholung zu finden. Eschwege, das im Dreißigjährigen Kriege in Trümmer gelegt wurde, ist heute ein betriebsamer Ort für Gerberei, Tuchweberei und Tabakverarbeitung. Vom Turm des Landgrafenschlosses kündet heute wie einst der "Dietemann", eine berühmte Kunstuhr, die Stunde.

Waldkappel, Hessen. Blick zum Meißner.
[544]      Waldkappel (Hessen). Blick zum Meißner.

Den Hohen Meißner, der als höchster Berg des Hessenlandes (753 Meter) die Gegend weithin beherrscht, muß man vom Werratal aus durch das wilde Höllental besteigen. Die gewaltige Basaltkuppe birgt reiche Braunkohlenlager, mit deren Erschließung schon 1578 begonnen wurde. Hoch überm Tal steht der Bilstein, dessen letzter Burgherr sich der Gefangenschaft durch die Belagernden dadurch entzogen haben soll, daß er mit Weib und Kind im Wagen über die Mauer hinweg in die Tiefe raste und den Tod der Knechtschaft vorzog. Aber noch weiter zurück, in die Zeiten vorchristlichen Germanentuns, weisen bezeichnende Namen, denen wir oben begegnen und die den "Wißner", wie ihn die Einheimischen noch nennen, zum Götterberge machen. Der Frauhollenteich verbarg den Eingang zum Schloß der Hulda, und in der Kitzkammer, einer aus liegenden Basaltsäulen gefügten Felsenhöhle, hausten die Katzen, die den Wagen der Fruchtbarkeit spendenden Göttin durchs Land zogen. Die Erinnerung an die Tage Wodans ist noch nicht tot. Drunten in Germerode wird am ersten Mai, seinem Hochzeitstage, die Kirmes gefeiert, für die doch sonst im übrigen Hessen erst der Herbst die Zeit ist. In der Gestalt des buntgeputzten Burschen, der mit flatternden Bändern dem Zug vorausspringt, ist der alte Sturm- und Wettergott noch zu erkennen, und in den umliegenden Dörfern ziehen noch immer am Ostertag die Mädchen und Burschen zum Hollestein, um dort im verborgenen Quell der Kalkhöhle ihre Blumensträuße als Opfer niederzulegen. Heilkräftiges Wasser spendet die Göttin dafür, das in Krügen nach Hause getragen wird. Die Basaltmassen des Meißners bilden seltsame Grotten, Tische und Klippen, von denen das Trümmerfeld der Teufelslöcher und Seesteine die phantastischsten sind. Aus den riesigen Buchenwäldern ist außer den eingestreuten Wiesen und Hüten fürs Vieh sonst nicht viel zu holen. Aber seltene Blumen und Arzneikräuter findet der Botaniker dort oben, und das Schönste, was der Berg zu bieten hat, sind seine Fernblicke über das Wesertal, über Städte und Dörfer in gesegneten Fluren. Vogelsberg und Rhön locken, und an klaren Tagen grüßen sogar Brocken und Inselsberg herüber. Hier auf freier, windumbrauster Höhe fanden sich damals im Oktober 1913 - abseits vom Hurrapatriotismus der den Zukunftswillen der Jugend nicht verstehenden Vätergeneration - zum großen Erinnerungsfeste an die Freiheitskriege die vielen Bünde der deutschen und österreichischen Wandervogelbewegung zum ersten Male einig als "freideutsche Jugend" zusammen. Ihr Versprechen "für höchste Menschheitsaufgaben ein adliges Dasein zu leben und jederzeit bereit zu sein, ihr Blut dem Vaterlande zu weihen", sollte kaum ein Jahr später eingelöst werden, als [628] die Hunderttausende von Kriegsfreiwilligen zu den Fahnen strömten und ihre Regimenter auf flandrischen Feldern singend in den Tod stürmten.

Im südlich von Eschwege sich ausbreitenden Kalkgebirge des Ringgaues mit seinen weißleuchtenden mauerartigen Randbergen beherrschen die stattlichen Reste der Boyneburg (512 Meter) mit dem trutzigen Bergfried weithin diese vom vielgewundenen Lauf der Werra umschlossene Landschaft. Von seiner Pfalz Gelnhausen aus ist Friedrich Barbarossa zur Jagd in den wildreichen Wäldern oft hier eingekehrt und trat von seiner Lieblingsburg auch seine letzte Fahrt an ins Heilige Land.

Fritzlar, Hessen.
[561]      Fritzlar (Hessen).
Von Kassel aus ist es nicht weit nach Fritzlar im Edertal, dem seit Bonifatius' Tagen hart umkämpften Hauptort des alten Hessengaues. Die kleine Landstadt hat sich ihr mittelalterliches Gesicht, nur wenig von Neubauten gestört, fast so erhalten, wie es Merians Stich von 1646 zeigt. Von der Eder aus steigt die Stadt den Hügel hinan, noch heute von den Tortürmen der alten Befestigung bewacht und gekrönt von dem stolzen Türmepaar des Petersdomes. Vom Bau, den Bonifatius 732 selbst weihte, sind nur noch die Grundmauern erhalten, und die mächtige Basilika, die sich heute darüber wölbt, ist ein Werk des frühen 13. Jahrhunderts in den edlen Formen der Wormser Dombauhütte mit vielen Zutaten aus späterer Zeit. Der Domschatz birgt kostbares Kunstgut, besonders aus der romanischen Zeit. Zusammen mit Kreuzgang und Stiftskirche bildet die Kirche eine ungemein malerische Anlage. Das Rathaus hat noch manche schöne romanische Kunstformen und erweist sich damit vielleicht als der älteste deutsche Rathausbau überhaupt.

Am anderen Ufer des Flusses, im Westen, ragt der Buntsandsteinkegel des Büraberges auf, wo Bonifatius seinen ersten Bischofssitz gründete, von dem die Bekehrung der heidnischen Katten ausging. Dort oben steht unter mächtigen Linden ein bis in jene fernen Zeiten zurückreichendes Wallfahrtskirchlein, und dicht daneben ist auch der uralte Taufbrunnen aufgefunden worden. Die Gründung eines kirchlichen Mittelpunktes hier oben war aber in den unruhigen Zeiten dauernder Sachseneinfälle nur möglich im Schutze bewaffneter Macht. Urkunden berichten denn auch von einer befestigten Stadt Büraburg. Als Fritzlar 774 von den Sachsen zerstört wurde, hielten die Mauern des Büraberges ihrem Angriff stand. Wenn auch die Stadt im Mittelalter wieder verfallen ist, so geben doch die neuerdings dort ausgegrabenen bedeutenden Reste von Mauern, Gräben und Schanzen ein deutliches Bild dieser riesigen fränkischen Ringwallfestung, deren Anfänge bis ins 6. Jahrhundert zurückreichen. Rund 1100 Meter Mauerwerk sind gemessen worden! Bei den Grabungen innerhalb der Kapelle fanden sich zahlreiche Tierknochen und Scherben der Hallstattzeit, die dafür sprechen, daß hier schon seit vorgeschichtlicher Zeit eine Kultstätte bestanden hat, an die sich dann die christliche Missionstätigkeit anschloß, wie es auch in Fulda und Hersfeld zu beobachten ist. Überhaupt ist die Gegend hier reich an solchen Funden und Erinnerungen an den germanischen Götterkult. Gegenüber bei Geismar fällte Bonifatius die Donareiche, und nordöstlich von Fritzlar bei Gudensberg ragt der sagenhafte Odenberg [629] steil aus der Landschaft auf, in dem Wodan als Karl Quintes oder Karl der Große verzaubert unter seiner einstigen Hauptverehrungsstätte schlafen soll. Etwas weiter nördlich hinauf liegt bei Niedenstein die Altenburg. Hier befand sich die Volksburg der Katten, Mattium von den Römern genannt. Das nahe Dorf Metze hat den alten Namen bewahrt. Die von Natur aus sonst stark gesicherte Höhe der Altenburg weist an der sanfteren östlichen Absenkung Mauerstärken von 4-5 Meter auf, und eine äußere weitere Befestigungslinie gab reichlich Raum für flüchtendes Volk in Notzeiten. Viel Gerät aus der Zeit um Christi Geburt ist hier gefunden worden. Beim Dorfe Maden steht noch der "Mahlstein" (von altdeutsch "mahal", Gerichtsstätte) und kennzeichnet diesen Ort als die Hauptversammlungsstätte der Katten. Die Überlieferung ist lange wachgeblieben, denn bis 1654 wurden auf der Mader Heide die großen Volksversammlungen abgehalten.

Von Fritzlar die Eder aufwärts an einem ihrer rechten Zuflüsse liegt inmitten ausgedehnter Laubwälder, die von mächtigen Bergen bis tief in die engen Täler hinabsteigen, das schon im Mittelalter berühmte Bad Wildungen. Aus einem abseitig verträumten Dorf ist es durch seine Eisen- und Kohlensäurequellen zum Weltkurort für Nierenleidende geworden, wo beim Morgentrunk im Park die Sprachen aller Herren Länder durcheinander schwirren.

Nicht minder besucht wegen ihrer landschaftlichen Schönheit und bekannt als technisches Wunderwerk ist die Edertalsperre, die bei Hemfurt das vielgewundene Tal abriegelt, in dem der Fluß das Gebirge durchnagte. Fast 50 Meter hoch steigt die gewaltige Sperrmauer, die bei einer unteren Stärke von 33 Metern rund 300 000 Kubikmeter Mauerwerk umfaßt. Hinter ihr dehnt sich auf 27 Kilometer Länge einer der größten Stauseen Europas. Mit seinen Wassermassen (über 200 Millionen Kubikmeter) wird die Weserschiffahrt reguliert und ein Kraftwerk gespeist.

Edertalsperre mit Schloß Waldeck.
[563]      Edertalsperre mit Schloß Waldeck.

Von Schloß Waldeck, das sich auf seine alten Tage nun noch im See spiegeln kann, öffnet sich ein weiter Blick über die durch Menschenhand so völlig verwandelte Landschaft. Arolsen, die Residenz des ehemaligen Fürstentums Waldeck, träumt in Stille und Vornehmheit entschwundenem Glanz barocken Hoflebens nach. 1719 wurde mit dem Bau der Stadt begonnen, deren Planung einzig nach dem Schloß ausgerichtet ist. Eine wahrhaft fürstliche Allee von sechs Reihen mächtiger Eichen führt zu ihm hin. Der Bildhauer Rauch und der Maler Wilhelm von Kaulbach sind Söhne dieser Stadt.

Trachten aus der Schwalm.
[567]      Trachten aus der Schwalm.

Trachten aus der Schwalm. Brautzug.
[567]      Trachten aus der Schwalm. Brautzug.
Die Landschaft an der Schwalm, das Herz der hessischen Senke, hat man die "hessische Schmalzgrube" genannt. Auf ihrer fruchtbaren Scholle hat sich eine stolze Bauernkultur entwickelt, wie sie leider nicht oft mehr anzutreffen ist. Ihren bildhaftesten Ausdruck hat sie in den Trachten gefunden, die nicht wie anderswo in Museen vor Motten geschützt werden, sondern noch untrennbar zum Fest und Alltag gehören. Um den Hauptort Ziegenhain herum, besonders in Loshausen, Leimbach, Willingshausen und bis nach Neukirchen hinüber wird sie fast ausnahmslos von der gesamten Bevölkerung getragen. Also auch von den Männern, die sie in den anderen Trachtengebieten Hessens schon längst abgelegt haben. Die Tracht ist selbst beim Mann ungemein farben- [630] freudig, am meisten natürlich die an Festtagen angelegte: eine ziegelrote Weste, darüber eine zweite blaue mit blanken Knöpfen! Dazu weiße Lederhosen in weißen Strümpfen und Schnallenschuhe mit roter Lasche, auf dem Kopf eine pelzverbrämte, goldbetreßte, blaue Samtkappe und über den Westen noch ein langer weißer Drillichrock mit dem großen, buntflatternden Taschentuch. Das ist der Vorreiter des Kammerwagens der Braut beim Hochzeitszug. Sonst steht zu den langen Überröcken und kurzen Kniehosen gut der altertümliche Dreimaster. Am bekanntesten sind aber wohl die vielen Beiderwandröcke der Schwälmerin, die sie, den längsten zuunterst und bis ans Knie reichend, übereinander trägt. Als besonderes Zeichen der Wohlhabenheit oft bis zu zwanzig! Alle Röcke sind mit Borten verziert und dazu wieder lange weiße Strümpfe in Schnallenschuhen. Aus der drollig aufgeplusterten Fülle der Röcke wächst etwas puppenhaft steif der Oberkörper heraus, drall eingeschnürt durch ein Mieder mit herrlich-buntem Bruststecker, dessen oft kostbare Stickereien wahre Kunstwerke sind. Am lustigsten aber ist das "Betzel", ein kreisrundes seidenes Käppchen - die Farben wechseln je nach dem Alter der Trägerin -, das auf dem Scheitel die im "Schnatz" zusammengefaßte Frisur bedeckt. Wollen sie sich ganz "stolz" machen, dann werden noch die reichgestickten "Kappenbändel" angesteckt, bunte Bänder um die Hüften geschlungen, die gold- und silberbestickten Strumpfbänder nicht vergessen und lange weiße Handschuhe übergestreift. Sogar die Farbensymbolik des Mittelalters ist wachgeblieben, die sich darin äußert, daß jedem Alter eine bestimmte Farbe zu tragen vorgeschrieben ist: rot für die Jugend, grün für die Jungverheirateten, violett für die Mütter und schwarz für die Alten. Daß auch zu verschiedenen Anlässen (Kirchgang, Hochzeit, Begräbnis) die Tracht verschieden zusammengestellt wird, ergibt sich danach von selbst. Die Trachten sind im Schwinden, im Maße wie die Stadt mit ihren modischen Segnungen aufs Land kommt. Denn freilich sind die für einen Sommer berechneten Fähnchen billiger als die gediegenen und zuweilen recht kostbaren Stücke, die dann aber fürs ganze Leben reichen.

Auch körperlich zeichnet sich der Schwälmer Bauer vor den übrigen Hessen durch hohen und schlanken Wuchs mit braunem Auge und Haar aus. So stolzen und herrischen wie aus Holz geschnittenen Gesichtern wie hierzulande begegnet man sonst nur selten noch. Die Dorfgemeinschaften sind eng zusammengeschlossen, und gemeinnützige Arbeiten bedingen gegenseitige Hilfe. Dort gibt es noch Gemeindebackstuben, wo die Reihenfolge der Benutzung durch das Los bestimmt wird.

Angezogen vom starken Eigenleben der Bauernschaft und der Unberührtheit ihrer bunten Fachwerkdörfer hat sich im felderumwogten Willingshausen - ähnlich wie in Worpswede - eine Malerkolonie gebildet, wo Knaus und Bantzer ihre vielbegehrten Bilder ländlichen Lebens malten. Der "Schwälmertanz" ist hier wirklich noch Volkstanz nach frischen und neckischen Weisen. Einer davon soll sogar dem Yankee Doodle, der amerikanischen Nationalhymne, seine Melodie geliehen haben, ausgewandert mit hessischen Soldaten, die im 18. Jahrhundert für England drüben kämpften.

[631] Nach Westen zu begrenzt die Bergkette des Knüllgebirges mit sanften Linien den Horizont des Trachtengebietes. Lichte Buchenwälder steigen die Buntsandsteinhänge hinan, die den basaltenen Kernstock des Knüll umlagern. Die kahle Kochfläche mit Wiesen und dürftigen Feldern gewährt nur einen mühseligen Lebensunterhalt. Im südlichen Ausläufer des Gebirges, einem wirren Durcheinander von Kuppen und Kegeln mit engen Tälchen, heißt ein heideähnliches Gebiet mit Tannen- und Birkenwäldern auf sandigem Boden bezeichnenderweise die "Heidelbeerenprovinz", im Gegensatz zu den fetten Gründen der Schwalm.

Der gewaltigste Zeuge vulkanischer Tätigkeit in der vorletzten Erdzeit ist der Vogelsberg, der Oberhessen zum größten Teile einnimmt. Bis zu einem Umkreis von 25 Kilometer haben sich die Lavaströme über die Buntsandsteinfläche dieses Gebietes ergossen und bilden damit die größte zusammenhängende Basaltmasse Deutschlands. Von dem riesigen Vulkan, dessen Höhe ursprünglich 3-4000 Meter betragen haben muß, ist nur noch eine Ruine übriggeblieben, die im Taufstein mit 770 Metern ihre höchste Erhebung erreicht. Von allen Seiten her steigt das Gelände mit den Wipfelmassen seiner ausgedehnten Eichen- und Buchenwälder langsam zu einer windumsausten und niederschlagsreichen Hochfläche an, deren Wiesenhänge und einsame Hochmoore von wildzerklüfteten Basaltkuppen und den eigentlichen Gipfeln überragt werden. Mit dem längsten und schneereichsten Winter ist es das rauheste Gebirge des Hessenlandes, von dem der Volkswitz sagt, daß man dort das letzte Feuer einen Tag vor Johanni anmacht und das erste einen Tag nach Johanni. Inmitten solcher Unwirtlichkeit ist das Leben der Bevölkerung hart und arm. Wo die Viehzucht auf den Hochwiesen nicht ausreicht, muß die Hausindustrie nachhelfen mit Weberei, Töpferei und Strohflechten. Aber wer ohne die Sorgen dieses Daseinskampfes hier heraufkommt, der findet eins der schönsten, urwüchsigsten Wandergebiete und im Winter die Lust des Skilaufes auf den weiten, tiefverschneiten Hängen. Außer dem vielverwendeten Basalt gibt das Gebirge noch Eisenerze her, die talwärts, in Hirzenhain in den bekannten Buderuswerken verarbeitet werden, und am Osthang werden bei Altenschlirf die Kieselgurlager des Basaltes ausgebeutet. Was die schwammigen Moore auf den Höhen an Niederschlägen aufsaugen, das tritt dann in unzähligen Quellen wieder zutage. Nach allen Richtungen der Windrose haben Bäche und Flüßchen den Gebirgsstock zernagt und legen von ihm aus ihr engmaschiges Netz über das umgebende Gebiet.

Felsberg, Hessen. Dorf und Burg.
[585]      Felsberg (Hessen). Dorf und Burg.
Der unermeßliche Holzreichtum der riesigen Wälder hat hier einen besonders reichen Fachwerkbau begünstigt, der die Ortschaften so bunt und liebenswert macht. Oft sind sogar die Kirchen in dieser Bauweise aufgeführt. Das Schwalmtal nach Norden hinab ist Alsfeld wohl das bunteste Städtchen. Hier begegnet man den Schwälmer Trachten auf Schritt und Tritt. Sein freistehendes Rathaus von 1512 mit den spitzbogigen steinernen Laubengängen im Erdgeschoß gehört zu den bedeutendsten Fachwerkbauten Westdeutschlands. Daneben hat sich die Stadt, deren einstige Wohlhabenheit damit zum Ausdruck kommt, [632] noch ein besonderes Weinhaus und ein Hochzeitshaus geleistet. Sie haben zu leben gewußt, unsere Altvorderen, und jeder Balken noch an den behaglichen Bürgerhäusern bekam durch Schnitzwerk etwas von ihrer Daseinsfreude zu spüren. So gleichen die Dörfer und Städtchen einander mit ihren freundlichen und verrunzelten Gesichtern, Lauterbach, Schotten und das stark bewehrte Büdingen, das mit allem Recht das hessische Rotenburg genannt wird, und Nidda, nun schon am Rande der Wetterau gelegen. Am südlichsten Ausläufer des Vogelsberges aber, am Büdinger Wald, hütet Gelnhausen im lieblichen Tal der Kinzig Erinnerungen an die Zeit der Staufenkaiser.

Gelnhausen. Alte Kaiserpfalz.
[586]      Gelnhausen. Alte Kaiserpfalz.

Hoch überragt von der Marienkirche - einer türmereichen Basilika des 13. Jahrhunderts mit meisterhafter romanischer Steinmetzkunst an Säulen und Portalen - hat die einstige freie Reichsstadt des ersten deutschen Reiches Herrlichkeit in ihren Mauern gesehen. Denn unten, auf einer Insel des langsam vorüberziehenden Flusses, verkünden die bedeutenden Reste seiner Lieblingspfalz noch heute den Namen Friedrich Barbarossas. Von allen erhaltenen staufischen Palastbauten ist die Gelnhausener die edelste. Beim Betrachten der mächtigen Torhalle mit der darübergelegenen, ihrer Gewölbe beraubten Kapelle, des Pallas und des Bergfrieds kann man sich ein gutes Bild von den glänzenden Reichsversammlungen machen, die sich hier abgespielt haben. 1180 wurde hier die Reichsacht über den stolzen Welfenherzog Heinrich den Löwen ausgesprochen, der damit Macht und Gut verlor. Heute rankt der Efeu um die köstlichen Zierformen der Bauglieder, und Tannen halten ihre Zweige über die geborstenen Mauern. Im Dreißigjährigen Krieg haben die Schweden das Schloß verwüstet, und mit der Erinnerung an diese grauenvolle Zeit steigt der Name des Mannes auf, der sie, aus eigenen abenteuerlichen Erlebnissen schöpfend, am wahrhaftigsten in seinem Roman Simplicissimus beschrieb. Christoffel von Grimmelshausen ist in dieser Stadt geboren. Aber auch noch ein anderer, ohne dessen technische Leistung wir uns das heutige Leben kaum noch vorstellen können, Philipp Reis, der Erfinder des Telephons.

Die unwirtliche und in ihrer Sprödigkeit doch so anziehende Gebirgswoge des Vogelsberges verebbt nach Westen hin in den unerschöpflich fruchtbaren, wasserreichen Gefilden der Wetterau. Dieses breiteinladende Anfangsglied der Hessischen Senke, von dessen Bedeutung als Durchgangsstraße nach Norden schon die Rede war, ist deshalb seit jeher dicht besiedelt gewesen. Das bei Eberstadt ausgegrabene bandkeramische Dorf aus der Jungsteinzeit hat wertvolle Aufschlüsse über den damaligen Wohnbau gegeben. Ein selbstbewußtes, weltoffen-heiteres Bauerntum ist hier zu Hause, dem Blond und Blau gut zu Gesicht steht. Umgeben von wogenden Feldern und früchteschweren Obstgärten schließen sich Dörfer und Städte zu einem einzigen lachenden Garten zusammen. Lich an der jungen Wetter war die Hauptstadt des alten Solmser Ländchens und zeigt in der Stiftskirche eine stattliche Reihe mittelalterlicher Grabmäler edler Geschlechter, darunter das anmutigste des Kuno von Falkenstein und seiner Gemahlin Anna von Nassau, aus der Mitte des 14. Jahrhunderts. Unweit davon birgt die Waldeinsamkeit die stolze Ruine des 1174 gegründeten Zister- [633] zienserklosters Arnsburg. Großartig wirken inmitten des Verfalls die überdauernden Zeugen der Werkkunst einer berühmten mittelalterlichen Bauhütte, die als Gewölbe den Himmel selbst tragen, der hoch hereinschaut. Die reichen Herren von Münzenberg haben das Kloster gestiftet, aber auch ihre eigene Burg Münzenberg weiter talwärts liegt lange schon in Trümmern. Das "Wetterauer Tintenfaß", wie sie ihrer beiden klobigen Türme wegen genannt wird, ist neben der Wartburg der bedeutendste Burgbau des hohen Mittelalters und wird mit der Pfalz in Gelnhausen zugleich entstanden sein. Die zierlich gekuppelten Fensterreihen der Pallaswände schauen von dem Basalthügel über das in seinem Schutz zusammengedrängte altersgraue Städtchen in die Ferne der walddurchsetzten Auen hinaus, wo auf der anderen Seite des Flusses das malerische Butzbach mit Resten des Limes von der Römerzeit erzählt.

Auch Friedberg, der Hauptplatz der Wetterau, die spätere freie Reichsstadt, geht auf ein starkes römisches Kastell zurück, das 260 von Katten und Alemannen zerstört wurde. Die mächtige Liebfrauenkirche stellt den für Hessen so bezeichnenden weiträumigen Hallenbau in seiner reinsten Form dar. Die "Burg", ein durch einen tiefen Graben von der übrigen Stadt gesonderter Teil, wird von dem riesigen Adolfsturm beherrscht, der mit doppeltem Zinnenkranz und vorgekragten Erkern das Wahrzeichen der Stadt bildet. Eine kulturgeschichtliche Merkwürdigkeit ist das Judenbad aus dem 13. Jahrhundert. Für die rituellen Frauenbäder angelegt führt ein düsterer Schacht mit steilen Treppen 25 Meter in die Tiefe.

Bad Nauheim.
[587]      Bad Nauheim.
Von den Thermal- und Solbädern der Wetterau ist Nauheim das eleganteste und berühmteste. Die ganze herrlich gelegene Stadt mit 12 000 Einwohnern lebt nur von und für die Herzkranken und Rheumatiker, die aus aller Welt hergereist kommen und Heilung finden. In dem zur Gießener medizinischen Fakultät gehörenden Kerkhoffschen Institut - einzig in seiner Art - wirkt sich deutscher Forschungsgeist auf unerreichter Höhe zum Wohle für die Menschheit aus.

Nauheim liegt schon im Bereich des Taunus, der am weitesten nach Osten vorgeschobenen Schranke des Rheinischen Schiefergebirges. Schiefer ist das Hauptgestein der von SW nach NO ziehenden Bergkette, und die silbergrauen Städtchen unten im Rheingau holen von hier ihre Beschieferungen. Das Wort Taunus (Höhe) ist keltischen Ursprungs und erinnert an die vorgermanischen Bewohner dieser Gegend. Die "Höhe" heißt denn auch im Gegensatz zum westlichen Rheingaugebirge der höchste östliche Teil, ein nach Süden, gen Frankfurt hin steil abfallender Quarzitrücken. Das Vorkommen dieses aus Quarzsand gebildeten Gesteins auf dem Kamm zeugt davon, wie hoch einst im Erdaltertum das devonische Meer gestanden hat. Nach Norden, dem Lahntal zu, senkt sich das Gebirge langsam herab und bildet mit seinen schönen Beständen an Buchen- und Eichenwäldern eine von vielen Flußtälchen zerteilte Landschaft, deren besonderer Reiz ihre abwechslungsreiche Lebendigkeit ist. Ihre liebliche Verträumtheit hat uns am besten Hans Thoma in seinen Bildern beschrieben. Von der Höhe des Feldberges (800 Meter) eröffnet sich ein Rundblick, wie er in [634] solcher Weite selten anzutreffen ist: Rhön, Thüringer Wald, Meißner, Rothaargebirge, Siebengebirge, Eifel, Hunsrück, Haardt, Spessart und Odenwald grenzen in der Ferne den Horizont. Zu den landschaftlichen Schönheiten kommen die Segnungen der heißen und kalten Mineralquellen, die hier Bäder mit Namen höchsten Ranges entstehen ließen: Nauheim und Homburg, Schlangenbad, Niederselters und Soden, Langenschwalbach und Wiesbaden, nicht zu vergessen die Luftkurorte Falkenstein, Königstein und Kronberg am Fuße des Altkönigs, dessen Gipfel mit drei Ringen steinerner Wälle eine keltische Höhenfeste trägt. Wo Schönheiten und Heilkräfte der Natur in so reichem Maße beisammen sind, ist es kein Wunder, wenn der Taunus zu den am reichsten besuchten Gebirgen zählt. Die Nähe der großen Städte und die für den Autoverkehr bequemen Bergstraßen haben es dahin gebracht, daß der Einsamkeit liebende Wanderer nur noch wenige vergessene Winkel für sich findet.

Im Schutze des Feldberges breitet Bad Homburg v. d. H. seine vornehmen Kuranlagen aus, die den sprudelnden Segen von acht Quellen mit reichem Kohlensäure- und Eisengehalt auswerten. Die Stadt selbst ist zum größten Teil eine Gründung des Landgrafen Friedrich II. von Hessen-Homburg, des "Prinzen von Homburg", für die in sein Land gerufenen Hugenotten, die sich auch drüben in Friedrichsdorf ein anmutiges Städtchen erbauten.

Von den vielen berühmten Gästen Homburgs war Hölderlin der erlauchteste. Sein "Hyperion", "Empedokles" und viele unsterbliche Gedichte sind hier entstanden, wo der glücklich-unglücklich Liebende in verzehrender Sehnsucht nach

Die Saalburg.
[588]      Die Saalburg.

Wiesbaden. Partie im Kurpark.
[588]      Wiesbaden. Partie im Kurpark.
Susette von Gontard, seiner Diotima, den Tag nicht erwarten konnte, der ihm in Frankfurt ein heimliches Wiedersehen mit der Geliebten brachte. Wo von den Eichenhügeln dieser milden Landschaft aus einer der besten Deutschen das Land der Griechen mit zarter Seele suchte, da dröhnte einst im tiefsten Wald auf der noch heute unversehrten Römerstraße der Schritt schwerbewaffneter Kohorten, die hinüber marschierten zur "Saalburg", dem wiederaufgebauten Kastell zum Schutz des Limes, das uns das genaue Bild einer römischen Grenzfeste gibt. Das Museum mit 30 000 Fundstücken spricht eindringlich von dem regen Leben im damaligen Kolonialgebiet. Auch die Römer wußten schon den Wert der hier überall aus dem Boden dampfenden Quellen zu schätzen, und um ihren Besitz zu sichern, wurde der Limes an dieser Stelle so weit nach Norden vorgeschoben. In Wiesbaden erbauten sie eine Bäderstadt, deren prächtige Anlagen beim Bau der modernen Hotels wieder in Resten zutage traten. Nach dem Sturz ihrer Herrschaft verfiel dies alles, und erst das 14. Jahrhundert wieder berichtet vom regen Besuch der Bäder. 27 heiße Kochsalzquellen fördern hier täglich an 20 000 Hektoliter des Gicht und Rheuma heilenden Getränkes, davon der berühmte "Kochbrunnen" - mit einer Temperatur von 66°C - allein ein Viertel dieser Menge. Dem Luxus der Einrichtungen des Kurhauses und des Kaiser-Friedrich-Bades kann sich kaum ein anderes Bad der Erde zur Seite stellen.

Von den vielen Burgen, mit denen die Taunushügel gekrönt sind, ist der Königstein über dem gleichnamigen Luftkurort die großartigste. Seit dem [635] 12. Jahrhundert war sie der Sitz ruhmreicher Geschlechter, die sie oft umgestalteten, bis sie 1746 von den Franzosen gesprengt wurde. Unweit davon zeichnet sich die Dorfkirche von Kronberg durch ihre schöne alte Ausstattung mit vielen mittelalterlichen Grabsteinen aus. Darunter besonders der Reiffenbacher des großen Mainzer Bildhauers Backofen von 1517. Burg und Schloß sind als Besitzung der Kaiserin Friedrich wiederhergestellt worden.

Von allen Tälern des Hessenlandes verdient das vielgewundene, zwischen Taunus und Westerwald eingebettete Lahntal am meisten gerühmt zu werden. Nicht nur wegen der vielfältigen Anmut seiner landschaftlichen Schönheiten oder der bunten Fülle geschichtlicher Ereignisse, die von der steinernen Chronik seiner wie an einer Schnur aufgereihten Städte und Burgen erlauchter Namen abzulesen sind, sondern auch wegen seiner Bodenschätze, die von der Natur hier besonders in Gestalt von Eisenerzen und anderen Mineralien zusammengetragen wurden. Einsame, schluchtartige Strecken, die oft genug durch hart an den Fluß sich drängende Sandsteinfelsen und Schieferklippen ausweglos erscheinen, werden im breiter sich dehnenden Tal abgelöst durch Industrielandschaften, auf die, verwundert genug, vom Berge herab eine Burg schaut. So ist die Lahn (mit 142 Kilometer schiffbarer Strecke) wirklich zur Lebensader des Landes geworden, auf der die Flöße den Holzreichtum der Bergwälder zu Tal führen.

Vom Jagdberg, aus den einsamen Waldgründen des Rothaargebirges sich sammelnd, durchquert sie zunächst das abseitige, ernste "Hinterland", wo der Kleinbauer an den Hängen der engen Täler seinem mühevollen Feldbau nachgeht. Der arme Boden reicht nicht zu und treibt die Männer im Frühjahr hinaus in die westfälischen und rheinischen Industriegebiete, die Feldbestellung den dadurch früh alternden Frauen allein überlassend. Im Winter hat sich das Hausiergewerbe als heimischer Beruf entwickelt. Zähe Menschen, zur Verschlossenheit neigend, hat solcher Boden hervorgebracht und die "schwarze" Tracht dazu, deren düstere Einfarbigkeit in stärkstem Gegensatz zur heiteren Buntheit der "Hessentracht" des benachbarten Marburger Gebietes steht. In Biedenkopf, dem Hauptort des Hinterlandes, hat sich als alter Volksbrauch das alle sieben Jahre gefeierte Grenzgangfest erhalten, in dessen Zeichen dann das ganze Jahr steht. Mit viel Aufwand und drolligen Gedächtnisstützen für die Neulinge wird die Begehung der Grenze hügelauf und ‑ab nach den alten unvergessenen Vorschriften vorgenommen. In den Dörfern hier herum, besonders im Breidenbacher Grund, sind auch die eigentümlichen, in den Kalkputz eingeritzten Kratzmuster zu Hause, und schließlich stammt von hier Friedrich Diel, der Begründer der wissenschaftlichen Obstkunde, dem zu Ehren die beliebte Butterbirne ihren Namen erhielt.

Als schönste Stadt des Lahntals gilt unbestritten Marburg. Auf hohem Sandsteinfelsen thront das mächtige Landgrafenschloß, zu dem die Straßen und Gäßchen, oft als Treppen angelegt, hinaufklimmen. Talwärts breitet sich die Stadt mit vielen baulichen Erinnerungen an die große mittelalterliche Zeit zu beiden Seiten des Flusses aus, und der Blick von einer der Höhen auf das [636] friedliche Dächergewirr wird von keinem Fabrikschlot gestört.

Marburg, Lahn. Universität und Schloß.
[591]      Marburg (Lahn). Universität und Schloß.

Marburg ist seit der Gründung der Universität 1527 die Stadt der Studenten geblieben, die neben den bunten Trachten aus der Umgebung das Straßenbild bestimmen. Wenn droben die gebäudereiche Burg mit ihrem stolzen Saalbau aus dem 13. Jahrhundert unzerstört von einstiger landesherrlicher Macht kündet, so preist unten im Tal die Elisabethkirche die Liebestätigkeit der fürstlichen Dulderin und Stammesmutter der Landgrafen, die, von der Wartburg kommend, zur Heiligen des Hessenlandes geworden ist. Als sie beigesetzt wurde, half sogar Kaiser Friedrich II. den Sarg mit tragen. Der vergoldete Schrein, der einst ihre wundertätigen Gebeine barg - Landgraf Philipp hat sie während der Reformation aus leicht ersichtlichen Gründen daraus entfernt und außer Landes bringen lassen -, ist ein Prunkstück deutscher Goldschmiedekunst des 13. Jahrhunderts, leider während der französischen Fremdherrschaft seiner kostbarsten Edelsteine beraubt. Die Kirche selbst mit ihrer steil aufstrebenden doppeltürmigen Fassade ist - 1235 von den Deutschordensherren gegründet - eine der frühesten Bauten des rein gotischen Stiles auf deutschem Boden. Im Äußeren fast schmucklos, aber reichgegliedert durch klare Strebepfeiler und doppelte Fensterreihen, steht sie wie ein schöngewachsener Kristall als edelster Schmuck der Stadt. Im Landgrafenchor ruhen unter hohen Sarkophagen mit ihren lebensgroßen steinernen Bildnissen 22 Hessenfürsten, darunter Hermann von Salza, Hochmeister und Begründer des Deutschordensstaates im Preußenlande. Wie wenig sich seit den Landgrafentagen der Volksschlag hier verändert hat, zeigen die Figuren auf den Grabmälern. Ihren scharfgemeißelten, kühnen Gesichtern begegnet man noch heute auf dem Lande. Und heute wie schon im Mittelalter blüht in den Töpfereien ein bodenständiges Handwerk, dessen Marburger Dipperchen, Volkskunst im besten Sinne, als Krüge, Vasen, Schüsseln und Teller weithin verschickt werden. Der Werkstoff dazu kommt aus den Tonfeldern des Ebsdorfer Grundes.

Auch Gießen, die andere Universitätsstadt Hessens, am nördlichen Zugang der Wetterau gelegen, hat sich mit zwei Schlössern und vielen schönen Fachwerkbauten, von denen besonders das Rathaus hervorzuheben ist, ihr altes Gesicht bewahrt. Der große Chemiker Justus von Liebig arbeitete und lehrte hier. Bis nach Wetzlar hinab und nach Butzbach hinüber breitet sich die Trachtenlandschaft des "Hüttenberges" aus, deren Frauen an Festtagen mit bunten, breiten Schürzenbändern, Brustschleifen und einer Vielfältigkeit von Hauben prunken, die über der eigenartigen Haartracht des "Schnatz" getragen werden.

Wetzlar selbst, am Steilufer des Flusses sich aufbauend, zeigt den merkwürdigsten Gegensatz zwischen Mittelalter und Neuzeit. Zwar überragt der mächtige Dom noch immer das malerische Häusergedränge der Altstadt, aber in der Gegend des Bahnhofes steht die Front schlanker Schornsteine, und ihre schwarzen Rauchfahnen wehen über die Förderschächte und Hütten der Röchling- und Buderuswerke, die auf den Erzvorkommen hier ein Zentrum der Montan- und Schwerindustrie geschaffen haben. Von den Leitz-Werken geht das optische Wunder der kleinen "Leica" in alle Welt. Ja, und dann steht man [637] plötzlich vor dem sorgsam bewahrten Lottehaus und denkt daran, daß es noch gar nicht allzulange her ist, daß der junge Goethe hier einer Liebe Lust und Leid erlebte, der wir die "Leiden des jungen Werther" verdanken. Damals 1772 war er noch Jurist und arbeitete an dem aus Kaiser Maximilians Tagen herübergeretteten Reichskammergericht, wo von den 5000 Einwohnern der Stadt allein 900 tätig waren.

Auf dem Wege nach Weilburg winkt inmitten der Wälder von hohem Basaltkegel Braunfels, das stolze, türmereiche solmsische Schloß, mit einer bedeutenden Kunstsammlung. Aber die prächtigste Anlage ist doch das alt-nassauische Residenzschloß Weilburg, das den sich aufdrängenden Vergleich mit Heidelberg - auch wegen der umgebenden Landschaft - durchaus verträgt. Im schönsten Teil des Lahntals inselhaft eingebettet lehnt sich die Altstadt an die ausgedehnte Gebäudegruppe des 1000jährigen Schlosses und blickt über den brückenüberspannten Fluß zur Neustadt hinunter. Ein weitgereister Feldmarschall hat im Anfang des 18. Jahrhunderts das vierflügelige Schloß seiner Väter neu ausgebaut, mit stukkierten Prunkräumen ausgestattet und vor allem die Bergfläche durch Terrassen, großzügige Treppenanlagen und Orangeriegebäude zu einem barocken Lustgarten umgestaltet. Geländer, Gitter und Öfen sind schöne Zeugnisse hessischen Kunstfleißes, die aus der alten Eisengießerei Audenschmiede im Weiltal stammen.

Die Gegend zwischen Weilburg und Dietz ist das Gebiet des mannigfach verwendeten Lahn-Marmors. Villmar, Schupbach, Wirbelau, Gaudenbach und Limburg sind die Hauptorte für den Abbau dieses edlen Steines, der hier eine Farbenprächtigkeit aufweist, wie sie das Ausland nicht vielfältiger und schöner zu bieten vermag. Feurigrot steht er in den Brüchen, weiß- und gelbgeflammt oder silbergrau mit schwarzem und weißem Geäder.

Aus dem nackten Fels herausgewachsen droht mit unnahbarer Düsterkeit Burg Runkel wie ein Gewitter über den verschüchterten Häusern am schmalen Ufer. Turm neben Turm, kantig und schroff, fast fensterlos, als ob der Berg selbst hier riesige Kristalle der Finsternis hervorgetrieben hätte. Der Inbegriff einer Burg! Mit mächtigen Bögen steigt eine uralte Brücke über den Fluß. Aber auf der anderen Seite tragen Weinberge den "Runkeler Roten", der in den großen Kellern des Schlosses lagert.

Nicht minder burghaft als Runkel spiegelt sich, auf steilem Felsen über Dietkirchen gegründet, eine romanische Kirche im Fluß. St. Lubentius, der Apostel des Lahngaues, ist hier begraben, von dem die Sage geht, daß das Boot mit seinem Leichnam führerlos die Mosel hinabtrieb und dann von unsichtbarer Kraft lahnaufwärts geführt wurde. "Wir haben St. Lubentiwind" heißt es noch heute, wenn es dem Fluß entgegenweht.

Limburg, Lahn. Blick auf den Dom von der Lahnbrücke aus.
[592]      Limburg (Lahn). Blick auf den Dom (1235)
von der Lahnbrücke aus.
Das Limburger Becken ist Nassaus fruchtbarste Gegend und seine Volkstumsmitte. Die Stadt selbst aber ist der Georgsdom, bei dessen Anblick alles andere drumherum klein und unbedeutend wird. Senkrecht zum Fluß hinab stürzt der Fels, auf dem das steinerne Wunderwerk seine sieben Türme gen Himmel reckt, die Gralsburg auf deutschem Boden und eine Landeskrone. [638] Der streng zusammengefaßten Vielteiligkeit des Äußeren entspricht der Reichtum an Pfeilern, Säulen, Bögen und Galerien des hochgewölbten Innenraumes. Alles in der edlen Formensprache des frühen 13. Jahrhunderts, als sich der romanische Stil in den gotischen verwandelte. Hinter dem Dom steht die Burg der Landgrafen, und unten über den Fluß führt eine schöne Steinbrücke aus dem 14. Jahrhundert. Im Angesicht des Domes ist die berühmte Chronik des Stadtschreibers Tilemann Elhen von Wolfhagen entstanden. In der seinen Mitbürgern verständlichen Muttersprache, der mittelfränkischen Mundart, schildert er die bewegten Zeitläufte fast des ganzen 14. Jahrhunderts. "Und der großen pestilencien han ich vier gesehen und erlebet." Kein Ereignis vom Erdbeben bis zur Mode, von der Philosophie bis zur Kunst ist seinem scharf beobachtenden Blick entgangen. Dazu war er ein Dichter, der neben eigenem das Liedgut seiner Zeit uns überliefert hat. In diesen Limburger Liedern spiegelt sich mit Lust und Leid die ganze Breite des Volkslebens so frisch und ungebrochen, daß man mitten darin zu stehen meint.

Drüben aus Niederselters, im "goldenen Grund" des Emstales, und aus dem lahnabwärts gelegenen Fachingen kommen die beliebten, perlenden Sauerbrunnen. Diez, die Stadt der schönen Fachwerkhäuser am Einfluß der Aar, zieht seine altertümlich-malerischen Straßen und Gassen um einen mächtigen Felsklotz mit der Oranienburg. Von hier aus verengt sich das Lahntal zu seiner landschaftlich schönsten Strecke. Am Mischwaldberge windet sich der Fluß, und wo die Kalk- und Porphyrfelsen Raum bieten, da erzählen Ruinen und Schlösser von durchkämpften Zeiten. Wie weit die Macht des Trierer Erzbischofs reichte, zeigt die Ruine der Doppelburg Balduinstein. Ebenfalls für Trier erbaut nimmt Langenau als Talburg des 14. Jahrhunderts mit weiter Ringmauer und massigem Wohnturm eine besondere Stellung ein. Auf dem Waldberg darüber hat das 12. Jahrhundert die prächtige Kirchenburg Arnstein mit vier stolzen Türmen als kreuzförmige Basilika errichtet. Eine fünfteilige Choranlage schließt die machtvolle romanische Baugruppe nach Osten ab, zu deren Füßen die Anmut des Tales ausgebreitet liegt. Unter der Stammburg der Nassauer Grafen, im freundlichen Städtchen Nassau ist der Freiherr von und zum Stein geboren und weiter talwärts, auf waldiger Höhe über dem alten Bergbauort Friedrichssegen steht das Mausoleum, wo der unbeugsame Reformator Preußens von seinen nie vergessenen Taten für Deutschland ausruht. Auch das Weltbad Ems, dessen zahlreiche heiße alkalische Sauerquellen schon seit der Römerzeit den Kranken Heilung spenden, hat in der deutschen Geschichte ein gewichtiges Wort mitzureden. Auf der Kurpromenade steht ein einfacher Stein mit der Inschrift "13. Juli 1870". An dieser Stelle wies der greise König Wilhelm den französischen Botschafter Benedetti zurück, und die darauf nach Berlin gesandte "Emser Depesche" löste den siegreichen Krieg mit Frankreich aus, der das Deutsche Reich einte und ihm wieder einen Kaiser gab.

Bad Ems.
[609]      Bad Ems.

Vom Rhein aus steigt der von Lahn und Sieg umschlossene Westerwald als Teil des Schiefergebirges zu einer mittleren waldigen Hochfläche langsam [639] an, die von vielen gewundenen Tälern zernagt ist und von überragenden Vulkanbergen aus weit überblickt werden kann. Die durch wintermildes und feuchtes Klima auf fruchtbarem Boden begünstigte Besiedlung im vorderen Westerwald tritt in den rauhen und schneereichen Bezirken des Hohen Westerwaldes stark zurück. Hier, in den Einsamkeiten der Hochheiden mit ihren Basalttrümmerfeldern und Mooren, ist nur noch das Reich der Schaf- und Rinderhirten. Die kleinen Dörfchen mit den harten Menschen drücken sich ängstlich in flache Mulden, um Schutz zu finden vor den Stürmen, die hier zu Hause sind, und vor den Schneemassen, die der "Woost" im langen Winter über die Höhen jagt. Dort tragen die niedrigen Fachwerkhäuser noch schwarzbemooste Strohdächer, die an der Wetterseite bis auf den Boden herabgezogen sind, und Mensch und Vieh drängen sich unter ihnen zusammen. Mit Schutzhecken von langen, düsteren Tannenschonungen sind die armen Äcker umhegt als Ersatz für die verlorenen Wälder. Denn einst war auch der Hohe Westerwald ein rechtes Waldgebirge, bis die Dillenburger Eisenhütten sein Holz zur Heizung brauchten und die Niederländer ihre Schiffe aus seinen Stämmen bauten. Da kam denn auch eine landesherrliche Verordnung, die "zu Vermeidung übermäßigen Bauholzes" neue Fachwerkbauten auf dem Lande verbot. Die kahlgeholzte Hochfläche versumpfte, und viele Dörfer wurden zu Wüstungen. Mauerreste und verlassene, überwucherte Friedhöfe erinnern an einstiges bäuerliches Leben und vervollständigen das Bild schwermütiger Trostlosigkeit des "Landes der armen Leute", wie Riehl es benannt und beschrieben hat.

Die Eisenerz- und Braunkohlenvorkommen des Hohen Westerwaldes haben besonders in Dillenburg im engen oberen Dilltale eine beachtliche Hüttenindustrie hervorgerufen, die ihre Vorgänger in den saynischen und oranischen Eisenhämmern schon im 16. Jahrhundert hatte, aus denen die Güsse schöner figürlicher Grabplatten und Reliefofenplatten mit biblischen Szenen hervorgingen (z. B. im Kloster Marienstatt und im Rathaus von Hadamar). Über dem kleinen Städtchen liegen die Ruinen der Stammburg der Oranier, der Ahnherren des niederländischen Königshauses. Hier ist der größte Sohn des Westerwaldes, Prinz Wilhelm von Oranien, geboren, der die Niederlande von der spanischen Fremdherrschaft befreien sollte. Die Linde steht noch, unter der der "Schweiger" 1568 die Gesandten der verzweifelten Provinzen empfing. Talab bietet Herborn, ehemals Sitz einer berühmten Hohen Schule, mit vielen düster beschieferten Fachwerkhäusern und mittelalterlichem Gepräge guten Zugang zur eigenartigen Basaltwelt des Gebirges. Dicht bei Schönberg am Steinkringsberg ist die basaltische Lava der Vulkane zu fünfkantigen, regelmäßigen Säulen erstarrt, die eine Höhe von 50 Metern erreichen! Der Steinbruch bei Marienberg unterm Salzburger Kopf und die Dornburg bei Hadamar zeigen ähnliche gewaltige Naturwunder. In den Brüchen herrscht ein lärmendes Leben von Sprengungen, Brechern und riesigen Steinmühlen, die den blauschwarzen Basalt, den grauen Trachyt und Phonolith für den Straßenbau verarbeiten. Die längsten Säulen dienen als Uferbefestigungen und gehen bis weit nach Holland hinunter. Die unter der Basaltdecke bewahrten [640] Braunkohlenflöze haben besonders bei Höhn-Urdorf und Bach ein Bergbaurevier entstehen lassen, das sein Fördergut in die Siegener Eisenhütten liefert.

Für die vielen romanischen Kirchen und Kapellen des Westerwaldes, deren Formensprache auf die Meisterbauten von Trier und Köln zurückgeht und in denen noch schöne Reste mittelalterlicher Wandmalerei zu finden sind, soll als einziges Beispiel die Benediktiner-Abtei Marienstatt im Tal der nach der Sieg zu eilenden Nister stehen. Fernab vom Verkehr, inmitten einsamer Wälder führen die schwarzgewandeten Mönche dort seit 1888 wieder ihr stilles und tätiges Leben. Die Kirche, an die sich die ausgedehnten Klostergebäude anlehnen, ist eine jener spröden und stolzen Zisterzienserbauten, deren Einfachheit gerade ihren Adel ausmacht und mit dem Gegitter ihrer Strebebögen den fortschrittlichen, nach neuen konstruktiven Lösungen drängenden frühgotischen Stil des 13. Jahrhunderts zeigt.

Im vorderen Westerwald, dessen schmale Täler sich dem Rhein zuneigen, haben die großen Lager besten, geschmeidigen Tones aus der Tertiärzeit seit altersher eine weitberühmte Steinzeugindustrie hervorgerufen, die dem Gebiet um Höhr, Grenzau, Grenzhausen und Hillscheid den Namen "Kannenbäckerland" eingetragen hat. Sein Mittelpunkt ist das auf eine keltische Siedlung zurückgehende Höhr mit einer keramischen Fachschule. Der hochgebrannten und klingend harten Ware mit grauer Salzglasur und blauem Rankenmuster begegnet man in Gestalt von Schüsseln, Kannen und geschmackvollen Vasen überall. Die bekanntesten Erzeugnisse sind aber die bayrischen Maßkrüge und die roten Steinhäger- und Mineralwasserflaschen. Vor der Erfindung des Porzellans, besonders im 16. und 17. Jahrhundert war das kunstvoll verzierte Steinzeug auch im Ausland sehr begehrt, und hochbeladene Planwagen führten es bis nach Rußland und in die Türkei.



Die Rhön

Zwischen den Oberläufen von Werra und Fulda breitet sich, nach Süden bis zur fränkischen Saale vorstoßend, das Rhöngebirge aus. Vulkanischen Ursprunges, wie das jenseits der Fulda aufgetürmte Vogelsgebirge, besteht es aus zahlreichen, teils zusammenhängenden, teils selbständigen Kuppen, Decken und Schloten von Basalt, die die älteren Schichten von Buntsandstein, Muschelkalk und Keuper durchschossen oder überlagert haben. Aus der nördlichen, in vielen Kuppen verstreuten, unübersichtlich zerteilten Vorderrhön sammelt sich das Gebirge zum nordsüdlich verlaufenden schmalen und steilen Zuge der Hohen Rhön, die im westlich vorgeschobenen Bollwerk der Wasserkuppe mit 950 Metern die größte Höhe erreicht. Von diesem Zuge durch den tiefen Einschnitt bei Bischofsheim abgetrennt bildet der Kreuzberg mit den Schwarzen Bergen den südlichen Stock des Gebirges. Ehemals war es ein echtes Waldland, aber der Raubbau früherer Zeiten hat es dahin gebracht, daß sich nur an den Steilrändern noch dichte Laub- und Fichtenwälder erhalten haben, wo über lichtgrüne, blumenreiche Matten die Bäche in oft wildzerklüfteten Tälern eilig ihren Weg suchen in die Buntsandsteinebene mit den [641-648=Fotos] [649] rötlichen Felderbreiten. Der spärliche Ackerbau in den Tälern gäbe kein Auskommen für die Bewohner der kleinen Dörfer und vielen einsamen Einzelhöfe, wenn nicht auf den weiten Wiesen an den Hängen und auf der Hochfläche Schaf- und Rinderherden ihr gutes Futter fänden. So ist auch das wichtigste Ereignis im Jahre des Rhönbauern die am St. Kilianstage (8. Juli) beginnende Heuernte. Dann herrscht auf den freien, sonnendurchglühten Höhen für vier Wochen ein frohes Zeltlagerleben, und am Ende wird auf hochgetürmten Wagen die beschwerlichen Wege hinab die duftende Ernte zu Tal gefahren. Flachsanbau hat besonders bei Weyhers und Hilders die Leinenweberei begünstigt, von der die Fuldaer Textilindustrie beliefert wird. Leinwandbleichen an den Hängen gehören dort mit zum sommerlichen Bild. Am Kreuzberg und Dammersfeld wurde früher Bergbau auf Eisenerz betrieben, aber die Schächte sind lange verlassen, und nur die Becken der alten Stadtbrunnen auf dem Markt in Bischofsheim erinnern noch daran. Auch den Abbau der Braunkohlenlager dort am Bauersberg, der bis ins 16. Jahrhundert zurückreichte, hat man wieder eingestellt. Neue Anregungen zur Ausnutzung des Holzreichtums gibt die Holzschnitzschule in Bischofsheim, und in Dermbach hat sich eine Korkindustrie entwickelt. Alles in allem ein armes Land, für das die Siedlungsdichte mit 57 auf den Quadratkilometer der ziffernmäßige Ausdruck ist. Ortsnamen wie Sparbrod, Wüstensachsen, Kaltennordheim, Wildflecken, Schmalenau, Dürrhof, Dürrfeld, Todtemann, Rabenstein, Rabennest usw. reden auch für den Fremden eine deutliche Sprache. Doch die Ruinen einst stolzer Burgen auf den Höhen, stattliche Kirchen und schöne alte Häuser in mauerbewehrten Ortschaften und die in Museen gehüteten kostbaren Trachten erzählen auch hier noch von früheren besseren Zeiten. Da war der mächtige Rücken des Dammersfeldes bei Gersfeld noch wegen seines landwirtschaftlichen Reichtums berühmt und so begehrt, daß sich um seinen Besitz zwischen den Kirchenfürsten von Fulda und Würzburg ein regelrechter Eroberungskrieg entspann. Wer heute den Namen Rhön hört, denkt vor allem an die Segelfliegerei, die von der schroffen Höhe der Wasserkuppe ihren Weg zur Ertüchtigung deutscher Jugend über das ganze Reich nahm. Im Fliegerlager dort oben herrscht das ganze Jahr über ein reger Betrieb, besonders während des Rhön-Segelflugwettbewerbes, der jährlich im Hochsommer ausgetragen wird. Und dann ist die rauhe Bergwelt ihrer herben landschaftlichen Schönheit wegen schon längst begehrtes Reiseziel geworden und als Skigebiet berühmt.

Am meisten lockt wohl die Hohe Rhön mit der Unwegsamkeit des Schwarzen und Roten Moores, die sich bis zu 1000 Hektar ausdehnt und ihre Entstehung den starken Niederschlägen auf der undurchlässigen Basalthochfläche verdankt. Über die Hochmoore zu wandern ist ein köstlicher Genuß. Besonders an klaren Herbsttagen, wenn die weite Fernsicht nach dem Thüringer Wald, ins liebliche Franken hinein und hinüber zum Vogelsberg offen liegt. Rein ist die Luft wie an der See und gesättigt vom würzigen Duft der Wiesen, den der immerwährende Wind herüberträgt. Aber die Schaurigkeit einer Moorwanderung im Sinne Drostescher Gedichte offenbart sich erst, wenn der Nebel [650] braut und die nahen Stämme einsamer zerzauster Birken oder ein abenteuerlich geformter Felsblock spukhaft aus den wehenden Schleiern auftauchen. Dann weiß man, warum der schmale, oft unter den Füßen schwankende Pfad durch hohe Stangen markiert ist. Denn ein Abirren vom so bezeichneten Wege bedeutet in der lautlosen Abgeschiedenheit ein rettungsloses Versinken im zähen Schlamm. Moos und Sumpfpflanzen, darunter der seltene fleischfressende Sonnentau, Heidekraut, auch niedrige Birken und Weiden bedecken die Oberfläche des Moores, die nach der Mitte hin bis zu 10 Meter uhrglasförmig über den äußeren Rand ansteigt, weil die größere Feuchtigkeit dort ein rascheres Wachstum fördert - ein echtes "Hoch"-Moor! Der Torf wächst bis zu 7 Meter hohen Schichten an, wird in mühevollem Tagewerk ausgestochen und dann auf pyramidenförmigen Holzgestellen getrocknet. Im Roten Moor wird ein vorzüglicher Schlammtorf gewonnen, der zur Bereitung von Moorbädern verwendet wird. An 30 000 Zentner jährlich kommen in die Bäder Kissingen, Brückenau, Neuhaus, Salzschlirf, Homburg, Orb und Salzungen zum Versand.

Vom Roten Moor ist es nicht weit zur Schwedenschanze auf dem Reesberg. Der stundenlange Laufgraben bis zur beherrschenden Höhe des Eierhaucks bezeichnet die Ausdehnung eines riesigen, befestigten Lagers, von dem aus die Schweden 1632-1634 Franken und Hessen beherrschten. Weiter zurück läßt der heilige Berg der Rhön, der Kreuzberg (930 Meter), denken. Dort, schon im fränkischen Stammesgebiet, soll der Frankenapostel Kilian 638 an Stelle eines Hollabildes das Kreuz aufgerichtet und das Evangelium gepredigt haben. Von Würzburg aus wurde inmitten der Basaltwildnis ein Franziskanerkloster gegründet, das noch heute das Ziel großer Wallfahrten aus allen Gegenden bildet. Dann ist der Gipfel der Lagerplatz einer unübersehbaren Menge, die in den Trachten der umliegenden Gaue ein buntes Bild von frohen Gläubigen bietet, überragt von einem 27 Meter hohen eichenen Kreuz. Ungemein stimmungsvoll und an die Eindringlichkeit der Gemälde Kaspar David Friedrichs erinnernd ist der Blick auf die riesige Kreuzigungsgruppe des Stationsweges mit den dahinter sich zusammendrängenden Bergzügen. Im Winter sind die Gebäude oft bis zum oberen Stockwerk eingeschneit, und ein altes Sprichwort meint, daß es hier oben "dreiviertel Jahr Winter und einviertel Jahr kalt sei".

Dem Zuge der Hohen Rhön westlich vorgelagert ist die weithin sichtbare, sargdeckelähnliche Basaltkuppe der Milseburg zum Wahrzeichen des Gebirges geworden. Ihr Gipfel trägt die stattlichen Mauerreste einer ausgedehnten keltischen Ringwallburg mit vielen Feuerstellen und reichen Funden aus der späten Eisenzeit. Überhaupt sind die natürlichen Schutz gegen Angriffe bietenden Kuppen des Gebirges an vielen Stellen ähnlich befestigt worden. So u. a. auf dem Wachtküppel, Hessenkopf bei Dermbach und auf dem Öchsen bei der altertümlichen Kalistadt Vacha. Die Milseburg wird von einer Kapelle gekrönt, wo zu Pfingsten viel Volk zusammenströmt und die Mühe des Anstieges nicht scheut, um auf freier Bergeshöhe der Predigt zu lauschen. In Salzungen, dem schönen Solbad am nördlichen Werrarand des Gebirges, ist durch Einbruch darunter ausgelaugter Salzlager ein großer kreisrunder See [651] entstanden. Diese geologische Eigentümlichkeit findet sich mitten in den nahen, ausgedehnten Wäldern noch am Schönsee und der "Grünen Kutte". Vom weit ausladenden Gezweig der Buchen überwölbte glatte Spiegel beträchtlich tiefer, fischreicher Seen, deren kristallklares Wasser nach langer Wanderung den hier selten bescherten Genuß des Schwimmens bietet. Das Märchen hat ihre Unergründlichkeit mit Wasserjungfern bevölkert, die in die Dörfer zum Tanzen gehen, um durch ihre Schönheit die Burschen zu verführen.

Bad Kissingen.
[643]      Bad Kissingen.
An der fränkischen Saale, deren vielfache Windungen die genaue Südgrenze des Gebirges bezeichnen, ist zunächst Neustadt mit gut erhaltener Mauerumgürtung aus dem 13. Jahrhundert und dem stattlichen Hohetor zu nennen. Gegenüber liegt das Solbad Neuhaus, dessen gräfliches Schloß mit schönen Stuckdecken aus dem 18. Jahrhundert jetzt als Kurhaus dient. Auf steilem Kalkfelsen darüber erhebt sich mit zinnengekrönten Mauern die Salzburg, eine der größten Burganlagen Deutschlands aus romanischer Zeit. Bocklet, das kleine Stahlbad mit geschmackvoller Kuranlage aus dem 18. Jahrhundert inmitten eines englischen Parkes, hat seinen einstigen Ruhm längst an das bevorzugte Kissingen abtreten müssen, wo Bismarck gern zur Kur weilte. Mit der über der Stadt gelegenen Bodenlaube - der im Bauernkrieg zerstörten Stammburg der Henneberger Grafen - ist der Name des Minnesängers Otto von Bodenlauben verbunden. In der Kirche von Frauenroth bei Bockleth ist er neben seiner Gemahlin Beatrix bestattet. Die große Grabplatte mit der Darstellung des Paares, umrauscht vom Schwung der faltenreichen Gewänder, gehört zu dem Edelsten, was deutsche Bildhauerkunst im Stile höfischer Vornehmheit des 13. Jahrhunderts hervorgebracht hat. Münnerstadt an der Würzburger Hauptstrecke ist bedeutend wegen seines Reichtums an Kunstwerken der verschiedensten Zeiten, darunter sind am kostbarsten die Arbeiten des großen Würzburger Bildhauers Riemenschneider und die betörende Pracht der Rokokoausstattung in der Augustinerkirche, der sich das Treppenhaus der benachbarten ehemaligen Abtei Bildhausen mit der sprudelnden Formenfülle seiner Geländer und Stuckdecken würdig anschließt. Hinter Aura, einem ehemaligen Benediktinerkloster mit schöner romanischer Kirche, beginnt im Schutze des Gebirges das Weingebiet des Saaletales. Die besten Sorten des Frankenweines dieser Gegend wachsen an den kahlen Kalkbergen um das alte Städtchen Hammelburg herum, besonders bei den trutzigen, das Tal weithin beherrschenden Burgen Trimberg und Saaleck. Im schönen Sinntal inmitten von Wiesengründen und Wäldern verdankt das Stahlbad Brückenau den Fürstäbten von Fulda seine Entstehung. Auf sie geht auch die Gründung des Franziskanerklosters Volkersberg zurück. Von dem steilen Basaltkegel eröffnet sich über den Wäldern ein weiter Blick nach dem Dammersfeld, den Schwarzen Bergen und der Steckelsburg bei Vollmerz, wo 1488 Ulrich von Hutten, der Humanist und leidenschaftliche Parteigänger Luthers, geboren wurde. Der von Fulda aus in der Barockzeit lebhaft betriebene Kirchenbau hat als schönste Leistung die Kirche in Zella bei Dermbach im Feldatale mit der prächtigen geschweiften Sandsteinfassade entstehen lassen.

Fulda. Der Dom.
[589]      Fulda. Der Dom.
[652] Droben an der Wasserkuppe entspringt die Fulda, die einer der ältesten und berühmtesten Städte Deutschlands den Namen gegeben hat. Das Grab des Bonifatius hat die Stadt für alle Zeiten zum berühmten Wallfahrtsort gemacht. Ihm zu Ehren hat einer der größten Baumeister der Barockzeit, Johann Dientzenhofer aus Bamberg, 1704-1712 an Stelle der karolingischen Grabeskirche den Dom in Anlehnung an das Vorbild der Peterskirche zu Rom errichtet. Auch die mittelalterliche Abtsburg hat damals einem ausgedehnten Schloßneubau weichen müssen, dessen Prunkstück der Kaisersaal bildet. Ein weiter Park mit Orangeriegebäude vervollständigt die Anlage dieses geistlichen Fürstensitzes, dessen Weltfreudigkeit ihren deutlichsten Ausdruck in der berühmten Floravase mit der Blumengöttin findet. Der strenge Geist karolingischer Baukunst dagegen bestimmt den fast ursprünglich erhaltenen, von acht Säulen getragenen Kuppelraum der Michaeliskirche, einem Rundbau, der altchristlichen Grabkirchen nachgebildet wurde. Von der berühmten Klosterschule, besonders unter dem Abt Hrabanus Maurus (gest. 856) - dem seine Zeit den Ehrennamen "Lehrer Deutschlands" gab - ist viel Kultur christlich-deutscher Frühzeit ausgegangen, der wir u. a. auch die Aufzeichnung des Hildebrandsliedes verdanken.

Der Geist klösterlicher Strenge und Reinheit, der einst mitten im wilden Waldland hier eine Stätte weithin zeugender Kultur schuf, ist in der Siedlung Loheland bei Dirlos an den Vorbergen der Rhön in besonderer Form neu erstanden. Frauen haben dort auf der Grundlage von Körpererziehung und Tanz eine Stätte weiblichen Gemeinschaftslebens geschaffen, dessen kultisch-ernste Tanzgestaltungen dem Tanz überhaupt eine neue Bedeutung gegeben haben. Aber die von dort ausgehende Tanzkultur, die in vielen Städten Schulen gründete, ist nur eine Ausdrucksform des auf vielen Gebieten tätigen "Ordens". Den einfachen notwendigen ländlichen Arbeiten hat sich die Pflege bodenständigen Handwerkes angeschlossen, und wer die Webarbeiten der Loheländerinnen, ihre Keramik und

Schloß Friedewald bei Hersfeld, Fulda.
[562]      Schloß Friedewald bei Hersfeld (Fulda).
Holzgeräte als Kunstwerke bewundert, erfährt bald, daß die "Kunst" daran nur die von der Natur des Werkstoffes geforderte einfachste Verarbeitung ist und spürt in der Aufrichtigkeit dieser Dinge noch die herbe Bergluft als den Lebensodem einer nur aufs Wesentliche gerichteten Gemeinschaft.

Der Lauf der Fulda wird von vielen malerischen Städtchen begleitet, von denen nur Schlitz am gleichnamigen Zufluß wegen seiner schönen Fachwerkhäuser und der gräflich Görzschen Burgen besonders hervorgehoben sei. Der Ehrwürdigkeit Fuldas steht auch Hersfeld nicht nach. Lullus, der Nachfolger des Bonifatius auf dem Bischofssitz in Mainz, hatte hier 769 ein Benediktinerkloster gegründet.

Hersfeld. Das Rathaus.
[590]      Hersfeld. Das Rathaus.
Der spätere Bau der Stiftskirche aus dem 12. Jahrhundert ist leider der sinnlosen Zerstörungswut der Franzosen im Siebenjährigen Kriege zum Opfer gefallen. Nach dem Bericht des Stiftsamtmannes vom 25. Februar 1761 an den Landgrafen Friedrich II. von Hessen hat der Marschall de Broglie "die große Domkirche in einem Moment auf einmal abends 6 Uhr durch brennend angelegte Materie anzünden lassen, dabei Commandos Wache stehen müssen, [653] bis alles in völligen Flammen gestanden und nicht geholfen werden können, sondern man hat es müssen fortbrennen lassen". Aber die Mauern stehen noch wie für die Ewigkeit gegründet, und wer den von ihnen umhegten heiligen Bezirk durchschreitet und staunend die Höhe der über sich gespannten Bögen des breitgelagerten Querhauses empfindet, wer Sinn für die fugenlose Technik edelster Steinmetzkunst hat, dem redet noch jeder Quader und Säulenstumpf von dem mächtigen Herrscherwillen einer Zeit, die hier in den Wäldern Gott zu Ehren ein Bauwerk auftürmte, für dessen riesige Ausmaße zum Vergleich nur die Kaiserdome von Worms und Speyer herangezogen werden können. Die Erinnerung an den Stifter hat das Städtchen, das übrigens eine lebhafte Tuch- und Maschinenindustrie betreibt, in einem dreitägigen Volksfest zu Ehren des heiligen Lullus wachgehalten, und die Lullusglocke droben im Turm wird als die älteste Deutschlands gerühmt.

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Deutsches Land: Das Buch von Volk und Heimat, das Kapitel "Hessen".

Das Buch der deutschen Heimat
Hermann Goern, Georg Hoeltje, Eberhard Lutze und Max Wocke