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Mitteldeutschland - Hermann Goern
Hessenland und Rhön
Der Name Hessenland ist hier wörtlich genommen für das Land der
Hessen und meint also nicht das heute überholte politische Gebilde, dessen
Grenzen den ursprünglichen Siedelraum dieses Stammes weit
überschreiten. Als breites, vielfach durch Einzelkuppen und
Höhenzuge unterbrochenes Senkungsfeld liegt es zwischen dem
nördlichen Teil des Rheinischen Schiefergebirges (Westerwald und
Rothaargebirge) und dem Thüringer Wald mit Rhön und Eichsfeld.
Durch zahlreiche Flußtäler ist das zunächst so
unübersichtlich erscheinende Gebiet doch eindeutig von SW nach NO
ausgerichtet. Vom mächtigen Stock des Vogelsberges, der Brunnenkammer
vieler Flüsse, geht die Wasserscheide quer durch das Land hindurch,
hinüber nach den Gipfeln des Rothaargebirges, von denen Eder und Lahn
ihren Ausgang nehmen. Alles was nach Süden fließt, wird von Main
und Rhein aufgenommen, die dort eine klare Grenze bilden, und was nach Norden
hin seinen Weg antritt, kommt zur Weser.
Vom Süden her als natürliche Fortsetzung der Mittelrheinebene
bietet die fruchtbare Wetterau bequemen Zugang. Sie ist das Anfangsglied der seit
Vorzeiten so wichtigen Hessischen Senke, die zunächst über einen
schmalen Landrücken nach Gießen ins Lahntal führt, um dann
von Marburg aus zwischen Kellerwald und Knüll über Treysa nach
Kassel der Fulda zu folgen, den gleichen Weg, den die Hauptstrecke
Frankfurt–Bremen nimmt. Der Weg nach Osten geht das Kinzigtal
hinauf zwischen Spessart und Vogelsberg, durchbricht den Landrücken in
Deutschlands größter Untertunnelung, dem Diestelrasentunnel
zwischen Schlüchtern und Flieden, und erreicht so über Fulda,
Hersfeld den bedeutenden Knotenpunkt Bebra. Lahn, Eder, Fulda mit ihren
zahlreichen Zuflüssen bilden ein natürliches Straßennetz und
die Werra-Weserlinie bis Karlshafen die Grenze gegen NO. Von diesem
nördlichsten Punkte unseres Gebietes folgt die Grenze nach NW dem Tal
der Diemel.
Die Hessische Senke vor allem hat das darumliegende waldreiche Gebiet zum
Durchgangsland von Norden nach Süden gemacht. Vom Süden
kommend, haben es die Römer und später die Franken besetzt, und
nach dem Süden von der norddeutschen Tiefebene her drängten die
Germanen. So mußte es gerade hier zu entscheidenden
Auseinandersetzungen kommen, zu einem "wilden Ringen um den Raum". Funde
aus der älteren Steinzeit im Lahntal (Wildscheuer Felsenhöhle), aus
der Jungsteinzeit in der Wetterau und aus der Bronzezeit am Vogelsberg sind die
Zeugnisse vorgeschichtlicher Besiedlung, und seit der frühen Eisenzeit
lassen sich immer deutlicher Spuren germanischer Bevölkerung
nachweisen. Ihrem starken Südwärtsdrängen setzten die
Kelten (Gallier), die im Siegerland die begehrten Eisengruben ausbeuteten, einen
Kranz mächtiger Ringwälle entgegen. So im Quellgebiet der Lahn
und Dill und bei Gießen. Doch mußte dieser Festungsgürtel
schließlich fallen. Bereits um 400 ist das Lahntal im Besitz der Germanen,
und bis zum Anfang unserer Zeitrechnung [600] ist die Eroberung des
gesamten rechtsrheinischen Schiefergebirges und des Taunusgebietes durch die
nordische Rasse abgeschlossen. Im Hessenland treten die siegreichen Eroberer als
Katten zur Zeit des Tacitus ins Licht der Geschichte. Er schildert sie als "einen
abgehärteten Menschenschlag mit gedrungenem Gliederbau, trotzigem
Blick und großer Tatkraft, für Germanen reich an Besonnenheit und
Überlegenheit". Ihre Wohnsitze reichten von der Eder bis zur Rhön,
von der Werra bis zum Vogelsberg und hinüber bis zum Westerwald. An
der unteren Eder sind ihre Haupttorte zu suchen.
Die unter Kaiser Augustus beginnenden Vorstöße der Römer
ins innere Germanien vom Rhein her begegneten besonders dem zähen
Widerstand der Katten. Auf seinem Zuge nach Norden zerstört Germanikus
im Jahre 15 ihre Stammesfeste Mattium. Aber schon 69 dringen sie bis gegen den
Rhein vor und befestigen den Taunus und die Wetterau mit starken
Ringwällen. Da trifft um 83 der Kaiser Domitian selbst an der Front ein,
und unter dem Ansturm seiner Legionen sinken die Ringwälle in Schutt.
Um für immer gegen den gefürchteten Stamm gesichert zu sein, legt
er den Limes an, jenen ausgedehnten Grenzwall, der als "gewaltigste aller von den
Römern errichteten Sperren auf rund 200 Jahre hinaus zum Schicksal
für Raum und Rasse der Germanen geworden ist". In unserem Gebiet
verläuft der heute noch an vielen Stellen sichtbare "Pfahlgraben" vom
Rhein her über den südlichen Westerwald nach Ems, durch den
Taunus (nördlich von Schwalbach), Saalburg, Butzbach bis in die
Nähe von Gießen und, die Wetterau umschließend, nach
Süden zum Main. Aber nach 250 kann auch diese nördlichste Grenze
des römischen Weltreiches das Raumbegehren der Germanen nicht mehr
aufhalten, dem bis zum Beginn der Völkerwanderung der Rhein eine
vorläufige Schranke setzt. Nach dieser Zeit der Kämpfe mit den
Römern gibt die Geschichte keine Kunde mehr vom Schicksal der Katten.
Gewiß ist nur, daß auch während der Völkerwanderung
wenigstens der Hauptstamm auf seinen alten Wohnsitzen blieb. Als 720 der
verwandelte Name Hassi für die Niederhessen erstmalig auftaucht,
gehören seine Träger schon zum Frankenreich. Das Land besiedelt
sich rasch und reich, nicht nur an den fruchtbaren Ebenen der Hauptflüsse,
sondern auch die Nebentäler bis zu den Bergen hinauf. Aber auch im
Reiche Karls des Großen
steht das nun in fünf Gaue eingeteilte
nördliche Grenzland wieder im Zeichen des Kampfes als Aufmarschgebiet
für seine Sachsenkriege.
Mitten in diese kriegerische Zeit hinein kommt die erste Botschaft des
Christentumes, verkündet durch den Iren Winfried. Zugleich mit dem
Auftrag, Hessen und Thüringen für die Heilslehre zu gewinnen,
verleiht Gregor II. dem Apostel der Deutschen den Namen Bonifatius. Das
war 719, und nun beginnt die für unser Volk so schicksalsvolle
Auseinandersetzung zwischen dem überlieferten germanischen
Götterglauben und der neuen, siegesgewissen Lehre, der die Zukunft
gehören sollte. 722 sah das Edertal die erste Massentaufe, und ein Jahr
später stürzt sinnbildhaft überzeugend die riesige Donareiche
unter den wuchtigen Axthieben des kühnen Bekenners. Friedenstätte
heißt die danach gegründete
Mönchssiedlung - das heutige Fritzlar. Kloster Amöneburg
[601] in Oberhessen, Stift
und Bistum Büraburg entstehen und bereits 744 das Benediktinerkloster
Fulda im tiefen Waldlande Buchonien. Sein Gründer Sturm, der
Schüler des heiligen Bonifatius, berichtet darüber an den Papst:
"Mitten zwischen den Völkern, denen wir predigen, liegt ein waldiger Ort
in weiter, verlassener Einöde. Dort haben wir ein Kloster gegründet.
Diesen Ort habe ich vom Frankenfürsten Karlmann erworben; hier
möchte ich zuweilen mit Erlaubnis Eurer Heiligkeit meinen durch das Alter
erschöpften Körper ausruhen und nach dem Tod beerdigt sein."
Die hartnäckigsten Gegner der Bekehrung waren die Sachsen. Immer
wieder fielen sie plündernd ins Hessenland ein und zerstörten 774
sogar Fritzlar. In dreißigjährigem Ringen sind sie aber
schließlich doch dem Frankenkaiser unterlegen, der dann Tausende von
ihnen in fränkischen Gebieten ansiedelte. Namen wie Reichensachsen,
Harmuthsachsen usw. weisen auf diese Zwangsmaßnahme
zurück, die noch heute im Rassenbild der dortigen Bewohner erkennbar
ist.
Erst nach dem Untergang der Hohenstaufen gelingt es den Landgrafen unter
schweren Kämpfen gegen den Erzbischof von Mainz und nach
Niederringung des aufsässigen Adels Hessen selbständig zu machen.
Die vielen Burgen auf den Höhen, die ja alle irgendeine Straße
sichern oder einen Zugang abriegeln sollen, sind so letzten Endes gegeneinander
gewandt und geben ein anschauliches Bild der Unentwirrbarkeit der damaligen
politischen Verhältnisse.
Zu einer bis in die Gegenwart hineinragenden Bedeutung hat es erst Philipp der
Großmütige (1509-1567) gebracht. Nachdem er im
eigenen Lande die aufständischen Bauern niedergeschlagen hatte, ist
besonders seinem entschlossenen Eingreifen der Sieg über das Bauernheer
bei Frankenhausen zu verdanken. Als Augenzeuge von Luthers kühnem
Auftreten auf dem Reichstag zu Worms hat er bald die Sache der Evangelischen
zu seiner eigenen gemacht und die Reformation in Hessen eingeführt. "Ich
will lieber Leib und Leben, Land und Leute lassen, als von Gottes Wort weichen."
So wurde er der katholischen Kaisermacht zum Trotz, die auf dem Reichstag zu
Worms 1529 die Ausbreitung der neuen Lehre verbot, der Führer der
evangelischen Fürsten. Ihre Niederlage im Schmalkaldischen Krieg hat er
durch seine Unterwerfung unter Kaiser Karl V. hart genug bezahlen
müssen. Sein Land wurde völlig entwaffnet und er selbst von der
Heimat durch langjährige Gefangenschaft getrennt. Als er starb, betrauerte
sein Volk einen wahren Landesvater und der Protestantismus seinen
entschlossensten Vorkämpfer.
Nach den Bekenntniskriegen kam unter Wilhelm dem Weisen und Moritz dem
Gelehrten für das Land eine Zeit wirtschaftlichen Aufschwungs, der nicht
zuletzt mit der Erschließung der Braunkohlengruben im Habichtswald und
auf dem Meißner zusammenhing. Aber diese friedliche Entwicklung wurde
jäh abgerissen durch den größten Religionskrieg aller Zeiten,
dessen Stürme nun dreißig lange Jahre die deutschen Lande
durchtoben sollten. Am schrecklichsten wird Hessen von ihm 1637 betroffen, als
Isolani und Gallas mit ihren gefürchteten Kroatenhorden das Land
brandschatzten. Der Landgraf muß fliehen, und nur die beiden Festungen
Kassel und Ziegenhain können standhalten. Die [602] Verheerung ist fast
unvorstellbar. 18 Städte, gegen 300 Dörfer und viele
Edelsitze sind damals in Flammen aufgegangen. Da der Bauer das Land nicht
mehr bestellen konnte, kam der Hunger und mit ihm die Seuche. Die erlittene
Marter des verängstigten Volkes ist namenlos. Die Gequälten
flüchteten in die Wälder und ließen doch nicht von ihrem
Glauben. Es ging Treue um Treue. Die Pfarrer suchten sie in ihren Verstecken auf,
hielten dort Betstunden ab und tauften die in solches Elend hinein
Neugeborenen.
Das Zeitalter uneingeschränkter Fürstenmacht findet für
Hessen seine stolzeste Darstellung im Landgrafen Karl
(1670-1730). Er war ein reger Förderer der
Gewerbetätigkeit seines Landes und sah nichts Beschämendes darin,
das aus Bauernsöhnen zusammengestellte Söldnerheer im Dienst
fremder Staaten auszunutzen. Hessische Truppen kämpfen für
Holland, England und Venedig. Sie stehen sogar vor Athen und bringen ihrem
Fürsten viel Geld ein, das zur Aufführung der vielbewunderten
Prachtbauten besonders in der Residenz Kassel verwendet wird. Am
Habichtswald entstehen die Kaskaden und das Oktogon mit dem Herkules. Die
Karlsaue wird angelegt, und überall müssen die Soldaten neben der
zu Spanndiensten verpflichteten Bevölkerung tüchtig mit anpacken.
Ein glänzendes Hofleben macht Kassel weithin berühmt. Aber auch
für die Armen hat der Fürst ein Herz und hilft wo er kann. Die
verzweifelten Hugenotten ruft er aus Frankreich her und gründet ihnen in
Kassel die Oberneustadt. Sie bringen eine
Woll- und Seidenindustrie mit, von der das Land viel Nutzen hat. Unter Wilhelm VIII.,
der treu zu dem großen Friedrich hielt, brachte der
Siebenjährige Krieg wieder viel Leid übers Land. Viermal waren die
Franzosen in Kassel und haben wüst gehaust. Aber zur gleichen Zeit
entsteht im stillen Waldgrunde das heitere Rokokoschlößchen
Wilhelmstal, und durch Erwerb der berühmten "Niederländer" wird
der Grundstock zur großen Kasseler Gemäldegalerie gelegt. Als er
starb, sagte Friedrich der Große von ihm: "Deutschland hat seinen
würdigsten Fürsten, Hessen einen Vater und ich meinen treuesten
Freund verloren."
Mit klugen Mitteln sorglichster Wirtschaftsführung auf allen Gebieten
gelang es Friedrich II. die schweren Kriegsschäden wieder
auszugleichen und daneben nach französischem Muster eine
glänzende Hofhaltung zu gestalten. Rokoko in Hessen! Nach einem Vertrag
mit England traten 18 000 hessische Soldaten dort in Sold, um
während der nordamerikanischen Freiheitskriege die Ruhe in den
englischen Kolonialstaaten wiederherzustellen. Unter Wilhelm IX.
(1785-1821), dem Erbauer des Schlosses Wilhelmshöhe, lag
die französische Fremdherrschaft schwer auf dem Lande. Kassel als
Hauptstadt des Königreichs Westfalen von Napoleons Gnaden sah das
Schauspiel von Jérômes Faschingskönigtum vor seinen
Augen sich abspielen, erlebte den mißglückten Dörnbergschen
Aufstand dagegen und mußte es geschehen lassen, daß die ersten
Vorkämpfer deutscher Freiheit auf dem Forst von westfälischen
Soldaten erschossen wurden. Als dann in den Befreiungskriegen die Hessen unter
Blücher
kämpften, wurde auch ihr Opfertod gesühnt. 1849
stürmten die Hessen noch unter den ruhmreichen kurhessischen Fahnen die
Düppeler Schanzen, [603] und 1866 wurde der
nach Österreich hinneigende Kurstaat Preußen angegliedert. Wie die
Dinge nun einmal lagen, mußte der letzte Kurfürst das Schloß
Wilhelmshöhe als Kriegsgefangener verlassen.
[541]
Schloß Wilhelmshöhe bei Kassel.
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Die wechselvollen Ereignisse der Geschichte haben das Hessenland wohl
härter betroffen als andere abgeschlossenere Gaue unseres Vaterlandes, und
man sollte glauben, daß die Bewohner dieses Durchgangsgebietes sich zu
leicht zugänglichen, weltläufigen Menschen entwickelt hätten,
was für den ähnlichen Schicksalen ausgesetzten Thüringer und
Obersachsen doch zweifellos zutrifft. Aber wer das Land durchwandert, wird
anders belehrt. Er findet mit Ausnahme der Wetterau und der wenigen
größeren Städte eher einen langsamen und bedächtigen
Menschenschlag, und für seine zäh am Herkommen hängende
Art sprechen die hier dichter als anderswo gesäten Trachtengebiete. Bis zur
ernsten Verschlossenheit kann sich sein Wesen verdichten. Besonders nach
Norden zu im Edergebiet, wo auch schon durch die Dialektfärbung die
starke Einmischung niedersächsischen Blutes spürbar wird. Viel
nordisches, mehr noch fälisches Blut bestimmt Wesen und Gestalt und
äußert sich einmal in Schlankheit, Beweglichkeit, Vielseitigkeit und
das andere Mal im breiteren, schwereren Bau mit der entsprechenden
Standhaftigkeit. Hessen gehört zu den Gebieten mit dem
größten Prozentsatz der
Blauäugig-Blonden. Wie ernst sie es mit ihrem Glauben nehmen und
dafür einzustehen wissen, hat die Geschichte gezeigt, die ja zum
großen Teil eine Geschichte der Glaubenskämpfe ist. Daß sie,
wie nur noch die Friesen, der einzige deutsche Stamm sind, der seine
ursprünglichen Wohnplätze auch heute noch innehat, ist ihr
Schicksal geworden.
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Ein hessisches Dorf mit Blick auf den Heiligenberg.
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[565]
Hessische Dorfstraße.
[565]
Hessischer Bauernhof.
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Hessen ist vorzugsweise Bauernland geblieben. Wie weit vorhandene
Bodenschätze diese natürlichste Daseinsform einschränken
und abwandeln, wird bei der geologischen Betrachtung des Gebietes beobachtet
werden. Als Rodungsinseln den umgebenden Wäldern abgerungen liegen
die Siedlungen als stille Haufendörfer mit ihren Felderbreiten oder steigen
Straßendörfer die engen Täler hinauf. Bei 40 Prozent
Waldbestand ist das Land nicht fruchtbar zu nennen. Die rauhen Berggegenden
und der arme Buntsandsteinboden geben meist nur Roggen, Hafer und Kartoffeln
her, aber das viele Wiesenland hat zu guter Viehzucht geführt. Nur in den
fruchtbaren Niederungen wogt schwer der Weizen. Der mittelbäuerliche
Betrieb ist vorherrschend. Die Hofanlage
ist - wie im gesamten mitteldeutschen
Gebiet - mit wenigen Ausnahmen fränkisch. Also im Gegensatz zur
niedersächsischen Gewohnheit, die alles unter einem riesigen Dach
zusammenfaßt, zeigt sie die Trennung von Wohnhaus und
Wirtschaftsgebäuden. Im Laufe langer Entwicklung hat sich
allmählich eine sinnvolle Anordnung der Wirtschaftsgebäude um
einen rechteckigen Innenhof herausgebildet. Zugang gewährt eine meist
von einem kleinen Schutzdach bekrönte Toranlage, die besonders in
Oberhessen oft zu einer Art Torhaus geworden ist. Neben dem
zweiflügeligen Tor ist eine kleine Pforte für Fußgänger.
Am Balkenwerk finden sich Kerbschnittmuster und Inschriften. Die Gesamtanlage
[566]
Hessisches Fachwerkhaus.
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macht so, besonders bei Steinverwendung, einen durchaus wehrhaften Eindruck,
der von Wohlhabenheit spricht, die dort zu Hause ist. Das [604] Wohnhaus selbst
grenzt meist mit der Giebelseite an die Straße und prägt sich mit
seinem für die Waldgebiete eigentümlichen Fachwerk wohl am
stärksten der Erinnerung ein. Der Reiz dieser freundlichen, sauberen
Häuser, die immer, auch wenn sie noch so groß sein mögen,
irgendwie aus einer Spielzeugschachtel zu stammen scheinen, liegt weniger in den
oft bunt bemalten Schnitzverzierungen der einzelnen Hölzer, sondern in
dem planvoll lustigen Linienspiel des ganzen Fachwerkgerippes, das wie ein
engmaschiges Netz über die Wände gelegt erscheint, die zuweilen als
besonderen Schmuck einen Erker tragen. Friesartig umziehen die
Brüstungsgefache mit gern verwendeten gebogenen Hölzern als
Streben die Geschosse. Aber auch die weiß verputzten Lehmwände
zwischen dem Fachwerk geben noch Raum für die Schmuckfreudigkeit
hierzulande: in volkstümlicher Unbefangenheit sind Blumen, Bäume,
Menschen, Symbole und vielformige Ornamente in den Putz gekratzt. Wo in der
Gegend Schiefer gebrochen wird, ist das Fachwerk damit verkleidet. Nach der
Straße hinaus blicken nur die Fenster der behaglichen Wohnstube mit dem
breiten Kachelofen und der unentbehrlichen Ofenbank. Im bergigen Land, wo der
Platz knapp ist, wird die mehrgeschossige Bauweise bevorzugt. Blumen stehen in
den Fenstern, und trotz der Enge der Gassen läßt sich doch immer
noch Raum finden für ein hübsches, von der Hausfrau sorglich
gepflegtes Ziergärtchen.
[568]
Hessische Bauernstube.
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Der Vorzug der fränkischen Hofanlage an behaglicher Wohnlichkeit hat das
niedersächsische Einhaus immer weiter nach dem Norden unseres Gebietes
gedrängt, wo es auch nicht häufig mehr zu finden ist. Leider beginnt
seit dem 19. Jahrhundert mehr und mehr der Einfluß der Stadt sich
bemerkbar zu machen, deren Bauweise nachgeahmt wird, und die
unschönen Gebilde wirken dann genau so merkwürdig verloren wie
der Sonntagsanzug des Städters auf einem Trachtenfest. Aber noch gibt es
genug ungetrübte Urbilder des echten Hessendorfes, die sich an vielen
Orten mit bedeutenden Resten alter Befestigungen in bäurischem Trotz
gegen die Neuzeit zu wehren scheinen. Dort geht in stetem Wechsel zwischen
notwendiger Arbeit und Erholung das Leben seinen gleichen Gang noch wie in
Vorvätertagen mit natürlich erhaltener Tracht, Sitte und Brauchtum.
Der oft künstlerisch gestaltete alte Brunnen oder die Centlinde an der
ehemaligen Gerichtsstätte bildet auch heute noch den Mittelpunkt für
die Jugend, die sich dort an den Sonnnerabenden sammelt zu Spiel und Tanz.
Wer sich das Hessenland erwandern will und die Karte näher betrachtet, wird
über die verwirrende Vielgestaltigkeit dieser Landschaft erstaunt sein und
eine Erklärung dafür nur finden können, wenn er die
geologische Geschichte befragt, die nicht minder wechselvoll und vielleicht
aufregender ist als die von Menschen selbst gestaltete. Steine fangen dann an zu
reden, und der Blick weitet sich in unvorstellbare Zeiträume mit
astronomischen Zahlen. Sehr alte Schichten des langsam erkaltenden Erdballs
stehen noch sichtbar an in den Hängen des Rheinischen Schiefergebirges
und des Thüringer Waldes. Für das dazwischenliegende Gebiet
bilden sie das unsichtbare Fundament, das einst bei Faltungsvorgängen der
Steinkohlenzeit abgesunken ist. Ein Meer ist darübergeflutet und wieder
verdunstet. Zurück blieben die Schichten des [605] Zechsteins und darin
eingeschlossen in riesigen Lagern der Salzgehalt des Meeres. Die in Hessen so
zahlreich hervorsprudelnden Mineralquellen haben in jenen Tiefen ihren
Ursprung. Das größte Vorkommen aber bildet der Buntsandstein, der
in ganz Mitteldeutschland sichtbar anzutreffen ist. Er sagt uns, daß alles von
ihm bedeckte Land wahrscheinlich einmal Wüste war mit unterm Winde
wandernden Sanddünen. Wo das vielverwendete Gestein abgebrochen wird,
da leuchten die Wände weithin rot. Der Boden darauf gibt nicht viel her,
und wo es in den Tälern fruchtbar ist, wie in der Schwalm und der
Wetterau, da ist später Schwemmland der Flüsse
darübergekommen. Aber auch diese Wüste sank wieder ein und
wurde von einem Meer überflutet, dessen absterbende Lebewesen sich in
Kalksteinschichten absetzten, die besonders im Werratal zutage treten, wo sie der
Fluß durchschnitten hat. Wieder hebt sich das Land, das Meer strömt
ab, und eine jüngere Sandsteinschicht bildet sich, Keuper genannt. Viele
Millionen Jahre hat jede Epoche gebraucht, um diese mächtigen
Gesteinsschichten abzulagern, und dann kam, mit ungeheurer Wucht vom
innersten Kern her nach oben durchstoßend, das revolutionäre
Ereignis der Erdgeschichte: die riesigen Vulkanausbrüche des
Tertiärs, jener Zeit, die noch weit vor dem frühest vermuteten
Auftreten des Urmenschen liegt. Feuerflüssige Lavamassen quollen empor
und erhärteten zu Basalt. Die hochgewirbelten Aschenmengen gingen als
Regen nieder, und aus ihren Ablagerungen wurde der Tuff, der oft genug von
neuen Lavaströmen überschwemmt wurde. Dieses Kochen und
Brodeln, das Zerbersten und Sichwiederschließen der Erdrinde hat dem
Hessenland sein zerklüftetes Gesicht gegeben. Der Vogelsberg, Hohe
Meißner, Knüll und die Bergkegel der Rhön sind so
entstanden, und wo in der Landschaft jäh und schroff ein Kegel sich
aufreckt, da steht ein Zeuge dieser gewalttätigen Veränderung, von
der her die vielen Kohlensäurequellen dem Lande heute Segen spenden.
Wo aber die sumpfigen Wälder in den Senken unter Luftabschluß
vermoderten, da baut man heute die vielbegehrte Braunkohle ab. Wenn ihre
Gewinnung bei Kassel, Melsungen, Homberg, am Vogelsberg, in der Rhön,
Wetterau und Westerwald auch nur den geringsten Prozentsatz in der deutschen
Gesamtförderung bildet, so gehören die
Eisenerz- und Manganvorkommen an Lahn und Dill neben denen im
benachbarten Siegerland zu den wichtigsten Fundstätten des für
unsere Industrie so wichtigen Rohstoffes in Deutschland. Der Vogelsberg liefert
außerdem noch Bauxit, den Ausgangsstoff für die
Aluminiumgewinnung, und mit hessischem Basalt könnten sämtliche
Straßen Deutschlands gepflastert werden.
Nicht in der Mitte des Landes, sondern in seinem nördlichsten Zipfel, dort,
wo im weiten, fruchtbaren Talbecken der Fulda zwei uralte
Handels- und Heerstraßen sich
kreuzen - die eine von Thüringen nach Westfalenland und dem
Rhein, die andere von der Weser zum
Main - auch die Hauptautobahnen treffen sich heute
hier -, an die Hänge des Habichtswaldes geschmiegt hat sich Kassel
zur Hauptstadt des Landes entwickelt. Durch sechs Jahrhunderte war es die
Residenz der Landgrafen, und aus dem fränkischen Königshof
[606] Chassalla ist eine
moderne Großstadt mit 176 000 Einwohnern geworden.
Großzügiges Planen kunstsinniger Fürsten hat im Verein mit
einer durch Handwerkstüchtigkeit wohlhabenden Bürgerschaft die
Gunst der landschaftlichen Lage ausgenutzt und es verstanden, aus Berg und
Wald, aus Bauwerken und Parks, aus Steilufer, Auen und Fluß ein Stadtbild
zu schaffen, das durch seine festliche Heiterkeit den Besucher zu langem
Verweilen überredet. Wer an einem Sommertag am kleinen Tempelchen
der "Schönen Aussicht" steht, über die mächtigen
Baumgruppen der tiefgelegenen Karlsaue den Blick ins lachende Land wandern
läßt und neben den blauenden Kuppen des Kaufunger Waldes den
Hohen Meißner verdämmern sieht, der weiß dann, warum es
den Hessen aus allen Fernen der Erde immer wieder in seine Heimat
zurückzieht, die doch wahrlich nicht mit Schätzen gesegnet ist. Wie
das ganze Land, so ist auch diese Stadt ein einziges Bilderbuch. Jede Seite zeigt
ein neues, liebenswertes Gesicht, und am Ende weiß man nicht, welches
eigentlich das schönste oder wesentlichste ist. Eben noch im
drängenden Verkehr des Königsplatzes, findet man sich wenige
Schritte davon in der stillen Abseitigkeit der Altstadt, die sich ohne
störende Neubauten eine Geschlossenheit bewahrt hat, deren sich nur ganz
wenige deutsche Städte rühmen können. Lächelnd liest
man Namen wie Fliegengasse, Entengasse, Pomeranzengasse und Seidenes
Strümpfchen. Und wäre es überhaupt anders zu denken, als
daß gerade hier, in der Wildemannsgasse, die Brüder Grimm unsere
deutschen Märchen aufgeschrieben haben? Das war zur Zeit der
Franzosenherrschaft. Fachwerkhäuser, drei und vier Jahrhunderte alt,
säumen den leichten Schwung der Straßen, Giebelseite neben
Giebelseite und eine immer prächtiger als die andere den Ruhm der
heimischen Zimmermannskunst verkündend. Ein selbstbewußtes
Bürgertum hat hier seinen Reichtum zur Schau gestellt, und an den hohen
Häusern mit oft sechs breitgelagerten Geschossen unterm steilen Giebel
mögen drei bis vier Generationen gebaut haben. Über oft kunstvoll
ausgestatteten steinernen Portalen kragen auf wuchtigen Quergebälken die
oberen Geschosse vor, und die reiche Schnitzerei der Pfosten und
Füllbretter leuchtet in bunten Farben. Im Zwehrener Turm richtete sich
Wilhelm der Weise die erste moderne Sternwarte ein und empfing den Besuch des
berühmten Astronomen Tycho de Brahe. Zu jener Zeit sind die stolzen
Renaissancehäuser entstanden und riesige Staatsbauten, wie Zeughaus,
Renthof und Marstall. Sein Sohn, Moritz der Gelehrte, schuf im Ottoneum (heute
Naturkundemuseum) 1606 das erste feste deutsche Theater und machte die Fulda
bis Hersfeld hinauf schiffbar. Damals war die heute so friedlich ausschauende
Stadt eine uneinnehmbare trutzige Festung, die selbst Tillys Grimm viermal
erfolgreich standhielt.
[539]
Kassel. Durchbruch durch die Altstadt.
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Wenn an der Altstadt und der sich ihr anschließenden Freiheit Jahrhunderte
gebaut haben, so ist die Oberneustadt - hoch über der am jenseitigen
Fuldaufer sich ausbreitenden
Unterneustadt - eine Schöpfung des Landgrafen Karl, der hier in den
klaren Straßenzügen um die kuppelgekrönte Karlskirche herum
den unglücklichen Hugenotten eine neue Heimat schuf. Die
streng-vornehme Einfachheit dieser ganzen Anlage geht auf die mit ihnen
eingewanderte Bau- [607] meisterfamilie
du Ry zurück, deren Mitglieder das Stadtbild besonders an der
"Schönen Aussicht" um eine Reihe edler Bauten bereichert haben. Sie sind
es auch, denen die verschwenderische Weiträumigkeit des Friedrichsplatzes
mit den fensterreichen Schauseiten der Staatsgebäude zu verdanken ist.
Eine einzige, riesige Front wahrhaft fürstlicher Repräsentation!
Elisabethkirche, Museum
Fridericianum - heute Landesbibliothek, wo 15 Jahre lang die Brüder Grimm als Bibliothekare
wirkten - und das Residenzschloß mit dem Roten und Weißen
Palais. Die Inneneinrichtung dieser beiden Schlösser,
1815 - 1830 zum größten Teil von heimischen
Handwerkern ausgeführt, weist in der kühlen Pracht des
Empiregeschmacks Räume auf, die zu dem Erlesensten gehören, das
dieser napoleonische Stil auf deutschem Boden hervorgebracht hat.
[540]
Kassel. "Schöne Aussicht". (Vornehme Palaisstraße.)
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Was wäre aber Kassel ohne die andere Schöpfung des Landgrafen,
die mit seinem Namen verbundene Karlsaue, die sich unten im Tal bis
zur Fulda hin in einer Weite ausbreitet, die damals dem Umfang der ganzen Stadt
gleichkam. Zwischen langen Alleen und gepflegten Rasenflächen dehnen
sich die stillen Spiegel großer Teiche. Die ganze Anlage ist ausgerichtet
nach dem breiten Riegel des Orangerieschlosses, hinter dem sich die
neue Hessenkampfbahn ausbreitet. Von der "Schönen Aussicht"
führt ein Gartenhang hinab, dessen mächtige, barocke Treppenanlage
den klug gewählten Rahmen für eine Kriegerehrung bildet, wie sie in
solcher Monumentalität keine andere deutsche Stadt aufzuweisen hat.
Schlichte Tafeln heben für kommende Geschlechter alle Namen der
kurhessischen Regimenter auf, die im Weltkriege deutschen Raum verteidigten.
Die durch die lange Reihe hoher Fenster schöngegliederte und
reichverzierte Fassade des Schlosses bildete den Hintergrund für das
festliche Gepränge der höfischen Gesellschaft, auf die von den hohen
Balustraden der Reigen in lässige Schönheit versunkener antikischer
Figuren herablächelte. Wenn inmitten des glücklichen Auegartens
diese graziöse Szenerie wie die anmutige Strophe eines Schäferliedes
aufklingt, dann bedeutet das danebengelegene Marmorbad ein erlesenes
Stück Kammermusik. Trotz aller Mittel, die eine Benutzung
vortäuschen sollen, ist es nie als Bad gebraucht worden, sondern, bei aller
Pracht der edlen Baustoffe, nur ein intimeres Gehäuse für
tändelnde Festeslust. Mormot hat es 1728 vollendet, und der prunkliebende
Fürst, der wie alle Dynasten dieser Zeit das Ziel seiner Wünsche in
einem Versailles auf deutschem Boden sah, gab ihm hier reichlich Gelegenheit,
seine glatte Kunstfertigkeit an cararischem Marmor auszuwirken. Aber nicht nur
den Fürsten war es vorbehalten, ihre Schönheitsfreude in
prächtigen Bauwerken zu verewigen, auch die Untertanenschaft, die sich
gern im Glanze ihrer Herrscher
sonnte - und auch schließlich an dem Aufwand wohlhabend
wurde -, verstand mit sicherem Geschmack, um den man jene Zeit vor
allem beneiden kann, gut zu bauen. Diese
Häuser - und es sind nicht
wenige - brauchen nicht benannt zu werden, da sie sich von selbst dem
Blick des Schauenden darbieten. Besonders am Königsplatz die beiden
Rokokohäuser des Bildhauers I. A. Nahl und des
Hofstukkateurs Brühl. Viel Frohsinn geht von solchen [608] Schauseiten aus, und
gerade an ihnen wird klar, was Schmuck bedeutet, wenn er geschmackvoll
verwandt wird. Kassel hat viel Kultur! Auch seine Sammlungen beweisen es.
Natürlich vor allem die große Gemäldegalerie. Ihr einmaliger
Ruhm sind mit Rembrandt an der Spitze die "Niederländer", die Landgraf
Wilhelm VIII. aus holländischen Diensten in seine Heimat
mitbrachte.
Die günstige Verkehrslage der Stadt hat aber auch Wirtschaft und Verkehr
aufblühen lassen. Sein Flugzeugbau und seine Großwebereien sind
überall bekannt. Kurhessisches Leinen ging früher in alle Welt, bis
nach Amerika hin, und in den Walddörfern konnte man fast in jedem Hause
den Webstuhl klappern hören. 1810 gründete Henschel
draußen am Möncheberg seine Maschinenfabrik, die sich besonders
nach dem siebziger Kriege zur größten
Lokomotiven- und Waggonfabrik mit einer Belegschaft von rund 10 000
entwickelte und 1933 ihre 22 000. Maschine ablieferte. Auch eine
bedeutende optische Industrie ist hier zu Hause und schließlich befindet sich
der Sitz der Kaliindustrie (Wintershall) ebenfalls in der Stadt. Aber von diesem
ganzen, rastlos hämmernden Arbeitstag merkt der Besucher eigentlich fast
nichts. Das spielt sich draußen am Stadtrande ab, und so hat die
Fürstenstadt des 18. Jahrhunderts wie die moderne Fabrikstadt ihren
eigenen, unbestrittenen Lebensraum.
[542]
Kassel. Herkules und Wasserfall im Park von Wilhelmshöhe.
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Der Reisende, der sich mit der Bahn der Stadt nähert, erblickt auf der
Kammlinie des Habichtswaldes eine nadelartige Spitze: die Pyramide mit dem
Herkules von Wilhelmshöhe, das Wahrzeichen Kassels und damit
des Hessenlandes. Was des Landgrafen Karl allmächtiger Wille, in
Erinnerung an die Gärten von Rom und Frascati, dort entstehen ließ,
findet in Deutschland nirgendwo seinesgleichen. Wenn uns auch heute die
wundervolle Einheit von Park und Wald, von Schloß und
Wasserkünsten fast als naturgewollt erscheint, so mußte doch einmal
ein Mensch in den unberührten Bergwald das alles hineinsehen
können - "einen schönen großen Gedanken in Gottes
Schöpfung hineinwerfen", wie Klopstock davon sagte. 1701 wurde mit den
Arbeiten begonnen, und bereits 1714 springen die Wasser zum erstenmal
über die breiten Kaskaden in einer Länge von 250 Metern
herab. Ganz oben am Oktogon muß man beginnen, von dessen oberster
Plattform sich die ganze zu Füßen ausgebreitete Herrlichkeit mit
einem Blick umfassen läßt. Das Riesenhafte der in ihrer
Maßlosigkeit echt barocken Planung, die ja die Stadt selbst miteinbezieht,
wird hier am deutlichsten. Riesenhaft ist alles hier oben. Die 9 Meter hohe
kupferne Figur des Herkules, und gar das Oktogon selbst, eine gebirghaft
aufgetürmte Urweltburg, die irgendwie an die römische Porta nigra
in Trier erinnert.
Menschenmassen fluten auf und ab, warten, daß die Wasser endlich
springen, und dann stürzt es schäumend und spritzend die basaltenen
Stufen hinab. Die Erde verschluckt es, und weiter talwärts bricht es in
einem künstlich aufgeführten Gebirge als Wasserfall wieder hervor,
braust unter der Teufelsbrücke hindurch, verschwindet nur, um sich erneut
im Aquädukt zu finden, von dem es in einem einzigen Schwall aus der
Wipfelhöhe uralter Tannen hinabstürzt. Über neue Kaskaden
eilt es dem Teiche zu, aus dem es sich dann im gesammelten Strahl [609-624=Fotos] [625] der
Fontäne turmhoch hinaufschleudert. Langsam verlodert unter den Blicken
von Tausenden die ungeheure, funkelnde und dampfende Fackel aus Wasser. Der
römische Baumeister Guernieri und der deutsche "Wassergott"
Steinhöfer teilen sich in den Ruhm für diese gewaltige Anlage, in der
noch nicht einmal alles zu Ausführung gelangte, was der Landgraf plante.
Seine Nachfolger haben manches abgeändert und hinzugefügt. Erst
1826 wird der "Neue Wasserfall" fertig gestellt.
Wilhelms IX. Schloß, das dem Hochwaldpark den Namen gibt, hat
einfachere Bauten als Vorgänger gehabt. Salomon Louis du Ry aus
der berühmten hugenottischen Architektenfamilie hat es
1786-1827 gebaut und Deutschland damit neben dem Koblenzer
Schloß die bedeutendste bauliche Schöpfung des Klassizismus
gegeben. Die weitgespannten Flügel der hufeisenförmigen Anlage
scheinen den vor ihr ausgebreiteten Park umfangen und einer Sperrmauer gleich
den Schwall der ihr von der Höhe aus entgegenstürzenden Wasser
dämmen zu wollen. So schön die Ausstattung der vielen Säle
und Gemächer in kostbarem Spätempire auch ist, der Blick sucht
doch immer wieder durch die hohen Fenster hinauf zu den Kaskaden oder
hinunter über den Teich hinweg zur Stadt. Größte
Machtentfaltung und jäher Niedergang des französischen Kaisertums
haben sich hier abgespielt. Zur Zeit der Fremdherrschaft durchwogte der
leichtsinnige Hofstaat des Königs Jérôme die spiegelnden
Säle, 1870 bewohnte es der letzte Napoleon als Gefangener, und von hier
aus leitete Hindenburg
1918 die Demobilmachung des deutschen Heeres.
Die Lieblingsschöpfung Wilhelms IX. aber ist die etwas höher am
Hange gelegene Löwenburg
(1793-1800), das Meisterstück der damals herrschenden
romantischen Modeströmung. Denn wie alles in diesem Wunderreiche hier
oben - allerdings grandiose - Bühnendekoration ist, so handelt es sich auch bei dieser Burg nicht um ein allmählich zur Ruine gewordenes Bauwerk, sondern von vornherein als Ruine geplant, ist sie mit allen dazugehörigen Requisiten
neu aufgeführt und als Dauerwohnsitz recht behaglich eingerichtet worden.
Hier konnte sich dann der Landgraf in die Zeiten längst entschwundener
Ritterherrlichkeit zurückträumen und nur mit Mühe davon
abgehalten werden, auch das Hauptschloß unten mit der gleichen
Schrullenhaftigkeit auszustatten. Ja, es lag sogar ein Plan vor, es in chinesischem
Stil aufzuführen. Aber ein chinesisches Dörfchen ließ er doch
unter den deutschen Eichen aufbauen für die parfümierten
Schäferspiele des Rokoko. Der Name "Mulang" und ein
entzückendes Pagodentempelchen erinnern noch heute an die so ernst
genommenen Spielereien jener sinkenden Zeit.
Durch schöne Mischwälder und Felderfluren, die weite Blicke
über Kassel und das Fuldatal bieten, führt der Weg nach
Wilhelmstal, wo Ferdinand von Braunschweig 1762 den Sieg
über 80 000 Franzosen erkämpfte, und sich Wilhelm VIII.,
der Rembrandtsammler, um die Mitte des
18. Jahrhunderts sein Sommerschloß nach den Plänen des
Münchener Baumeisters Cuvillié erbauen ließ. Die
riesenhaften Ausmaße des Wilhelmshöher Schlosses muß man
hier vergessen, findet dafür aber in einem stillen, vom Lärm der Welt
[626] abgeschiedenen Park
ein Bauwerk erlesensten Rokokogeschmacks. Nahl und Brühl teilen sich in
die Innenausstattung. Ihre Zierkunst der leicht hingestreuten Ornamente in Stuck
und Holz an Wänden und Gecken ist an Güte
unübertroffen.
Am linken Ufer der jungen Weser zwischen Hannoversch-Münden und
Carlshafen breiten sich die großen, an Rotwild reichen Wälder des
Reinhardswaldes aus. Früher waren
dort - wie auch im Kaufunger
Wald - bedeutende Glashütten, aus denen die Museen noch manches
schöne, bemalte Stück bewahren. Bei dem weinumrankten
Jagdschloß Sababurg (ehemals landgräflicher Tiergarten und
Gestüt) ist ein urwaldähnliches Gelände mit seinen
Baumriesen - darunter Eichen von
6 - 800 Jahren - unter Naturschutz gestellt worden und
gibt mit seiner Wildheit eine Vorstellung davon, wie es im Waldland Hessen noch
vor wenig Jahrhunderten ausgesehen haben mag.
Carlshafen verdankt seine Gründung dem klugen Landgrafen, der
damit das ihm unbequeme Stapelrecht der Stadt Münden umgehen wollte
und von dem neuen Weserhafen aus eine Kanalverbindung mit Kassel plante. In
Münden werden Werra und Fulda, die Stadt umfangend, zur
Weser. Wer oben vom Berge die drei Täler und die Stadt der
schönen Fachwerkhäuser sieht mit Brücken und Wehren und
mächtigem Schloß, der muß dem weitgereisten Humboldt
schon recht geben, wenn er sie mit zu den schönsten Städten der
Welt rechnet. Besonders das schöne
Renaissance-Rathaus spricht von ihrem einstigen Wohlstand, der sich auf das
Recht gründete, daß nur ihre Kaufleute die Waren
flußabwärts weiterführen durften. Und wer kennt nicht den
"weltberühmten und hocherfahrenen" Dr. Eisenbart? In der
Ägidienkirche ist seine Grabschrift zu lesen.
Das Werratal aufwärts, wo der Fluß sich durch die Muschelkalklagen
durchnagen mußte und uferlang die kahlen Felswände schroff
anstehen, ist Witzenhausen durch sein mittelalterliches Stadtbild mit
Mauern, Türmen und Kirchen rühmenswert. Die deutsche
Kolonialschule hat seinen Namen weit in der Welt herumgebracht. Zur
Kirschblüte muß man dort sein und Zeit haben zum Wandern durch
diese Landschaft vielfältiger Abwechslung. Über der Enge des Tales
bei Werleshausen steht rechtsseitig der Hanstein, errichtet als Sicherung
für den wichtigen Zugang vom Leinetal her und heute noch das Muster
einer mittelalterlichen Burganlage. Auf der anderen Seite steht der
Ludwigstein, als hessische Grenzwacht gegen ihn und das damals
kurmainzische Eichsfeld in einem einzigen Jahre aufgeführt. Heute dient er
friedlicheren Zwecken und ist, von den Opfergroschen der deutschen
Jungwanderer zur Jugendburg wohnlich ausgebaut, als Ehrenmal den im
Weltkrieg gefallenen Wandervögeln geweiht. Wieviel Jugend hat von
dieser schönen Mitte aus singend und spielend deutsches Land erwandert
und lieben gelernt!
[543]
Werratal mit Ludwigstein und Hanstein.
|
Sooden-Allendorf vereinigt zu beiden Seiten des Flusses zwei alte
Salzstädte, die schon im frühen Mittelalter ihre Salinen hatten und
eine Pfännerschaft zur Ausbeutung der Sole. Hier wird der Ort vermutet,
wo sich zwischen den Chatten und Thüringern die Kämpfe um die
Salzquellen abspielten. Vorm [627] Salzamt in Sooden
steht noch der steinerne Tisch, an dem ehemals der kostbare Stoff ausgewogen
wurde. Von weither kommen besonders Rheumatiker und Asthmatiker, um durch
die brom- und jodhaltige Sole Heilung und in der waldreichen Umgebung
Erholung zu finden. Eschwege, das im Dreißigjährigen
Kriege in Trümmer gelegt wurde, ist heute ein betriebsamer Ort für
Gerberei, Tuchweberei und Tabakverarbeitung. Vom Turm des
Landgrafenschlosses kündet heute wie einst der "Dietemann", eine
berühmte Kunstuhr, die Stunde.
[544]
Waldkappel (Hessen). Blick zum Meißner.
|
Den Hohen Meißner, der als höchster Berg des
Hessenlandes (753 Meter) die Gegend weithin beherrscht, muß man
vom Werratal aus durch das wilde Höllental besteigen. Die gewaltige
Basaltkuppe birgt reiche Braunkohlenlager, mit deren Erschließung schon
1578 begonnen wurde. Hoch überm Tal steht der Bilstein, dessen letzter
Burgherr sich der Gefangenschaft durch die Belagernden dadurch entzogen haben
soll, daß er mit Weib und Kind im Wagen über die Mauer hinweg in
die Tiefe raste und den Tod der Knechtschaft vorzog. Aber noch weiter
zurück, in die Zeiten vorchristlichen Germanentuns, weisen bezeichnende
Namen, denen wir oben begegnen und die den "Wißner", wie ihn die
Einheimischen noch nennen, zum Götterberge machen. Der Frauhollenteich
verbarg den Eingang zum Schloß der Hulda, und in der Kitzkammer, einer
aus liegenden Basaltsäulen gefügten Felsenhöhle, hausten die
Katzen, die den Wagen der Fruchtbarkeit spendenden Göttin durchs Land
zogen. Die Erinnerung an die Tage Wodans ist noch nicht tot. Drunten in
Germerode wird am ersten Mai, seinem Hochzeitstage, die Kirmes gefeiert,
für die doch sonst im übrigen Hessen erst der Herbst die Zeit ist. In
der Gestalt des buntgeputzten Burschen, der mit flatternden Bändern dem
Zug vorausspringt, ist der alte Sturm- und Wettergott noch zu erkennen, und in
den umliegenden Dörfern ziehen noch immer am Ostertag die
Mädchen und Burschen zum Hollestein, um dort im verborgenen Quell der
Kalkhöhle ihre Blumensträuße als Opfer niederzulegen.
Heilkräftiges Wasser spendet die Göttin dafür, das in
Krügen nach Hause getragen wird. Die Basaltmassen des Meißners
bilden seltsame Grotten, Tische und Klippen, von denen das Trümmerfeld
der Teufelslöcher und Seesteine die phantastischsten sind. Aus den riesigen
Buchenwäldern ist außer den eingestreuten Wiesen und Hüten
fürs Vieh sonst nicht viel zu holen. Aber seltene Blumen und
Arzneikräuter findet der Botaniker dort oben, und das Schönste, was
der Berg zu bieten hat, sind seine Fernblicke über das Wesertal, über
Städte und Dörfer in gesegneten Fluren. Vogelsberg und Rhön
locken, und an klaren Tagen grüßen sogar Brocken und Inselsberg
herüber. Hier auf freier, windumbrauster Höhe fanden sich damals
im Oktober 1913 - abseits vom Hurrapatriotismus der den Zukunftswillen
der Jugend nicht verstehenden
Vätergeneration - zum großen Erinnerungsfeste an die
Freiheitskriege die vielen Bünde der deutschen und österreichischen
Wandervogelbewegung zum ersten Male einig als "freideutsche Jugend"
zusammen. Ihr Versprechen "für höchste Menschheitsaufgaben ein
adliges Dasein zu leben und jederzeit bereit zu sein, ihr Blut dem Vaterlande zu
weihen", sollte kaum ein Jahr später eingelöst werden, als [628] die Hunderttausende
von Kriegsfreiwilligen zu den Fahnen strömten und ihre Regimenter auf
flandrischen Feldern singend in den Tod stürmten.
Im südlich von Eschwege sich ausbreitenden Kalkgebirge des Ringgaues
mit seinen weißleuchtenden mauerartigen Randbergen beherrschen die
stattlichen Reste der Boyneburg (512 Meter) mit dem trutzigen
Bergfried weithin diese vom vielgewundenen Lauf der Werra umschlossene
Landschaft. Von seiner Pfalz Gelnhausen aus ist Friedrich Barbarossa zur Jagd in
den wildreichen Wäldern oft hier eingekehrt und trat von seiner
Lieblingsburg auch seine letzte Fahrt an ins Heilige Land.
Von Kassel aus ist es nicht weit nach Fritzlar im Edertal, dem seit
Bonifatius' Tagen hart umkämpften Hauptort des alten Hessengaues. Die
kleine Landstadt hat sich ihr mittelalterliches Gesicht, nur wenig von Neubauten
gestört, fast so erhalten, wie es Merians Stich von 1646 zeigt. Von der Eder
aus steigt die Stadt den Hügel hinan, noch heute von den Tortürmen
der alten Befestigung bewacht und gekrönt von dem stolzen
Türmepaar des Petersdomes. Vom Bau, den Bonifatius 732 selbst weihte,
sind nur noch die Grundmauern erhalten, und die mächtige Basilika, die
sich heute darüber wölbt, ist ein Werk des frühen
13. Jahrhunderts in den edlen Formen der Wormser Dombauhütte
mit vielen Zutaten aus späterer Zeit. Der Domschatz birgt kostbares
Kunstgut, besonders aus der romanischen Zeit. Zusammen mit Kreuzgang und
Stiftskirche bildet die Kirche eine ungemein malerische Anlage. Das Rathaus hat
noch manche schöne romanische Kunstformen und erweist sich damit
vielleicht als der älteste deutsche Rathausbau überhaupt.
Am anderen Ufer des Flusses, im Westen, ragt der Buntsandsteinkegel des
Büraberges auf, wo Bonifatius seinen ersten Bischofssitz
gründete, von dem die Bekehrung der heidnischen Katten ausging. Dort
oben steht unter mächtigen Linden ein bis in jene fernen Zeiten
zurückreichendes Wallfahrtskirchlein, und dicht daneben ist auch der uralte
Taufbrunnen aufgefunden worden. Die Gründung eines kirchlichen
Mittelpunktes hier oben war aber in den unruhigen Zeiten dauernder
Sachseneinfälle nur möglich im Schutze bewaffneter Macht.
Urkunden berichten denn auch von einer befestigten Stadt Büraburg. Als
Fritzlar 774 von den Sachsen zerstört wurde, hielten die Mauern des
Büraberges ihrem Angriff stand. Wenn auch die Stadt im Mittelalter wieder
verfallen ist, so geben doch die neuerdings dort ausgegrabenen bedeutenden Reste
von Mauern, Gräben und Schanzen ein deutliches Bild dieser riesigen
fränkischen Ringwallfestung, deren Anfänge bis ins
6. Jahrhundert zurückreichen. Rund 1100 Meter Mauerwerk
sind gemessen worden! Bei den Grabungen innerhalb der Kapelle fanden sich
zahlreiche Tierknochen und Scherben der Hallstattzeit, die dafür sprechen,
daß hier schon seit vorgeschichtlicher Zeit eine Kultstätte bestanden
hat, an die sich dann die christliche Missionstätigkeit anschloß, wie
es auch in Fulda und Hersfeld zu beobachten ist. Überhaupt ist die Gegend
hier reich an solchen Funden und Erinnerungen an den germanischen
Götterkult. Gegenüber bei Geismar fällte Bonifatius
die Donareiche, und nordöstlich von Fritzlar bei Gudensberg ragt der
sagenhafte Odenberg [629] steil aus der Landschaft
auf, in dem Wodan als Karl Quintes oder Karl der Große verzaubert unter
seiner einstigen Hauptverehrungsstätte schlafen soll. Etwas weiter
nördlich hinauf liegt bei Niedenstein die Altenburg. Hier befand
sich die Volksburg der Katten, Mattium von den Römern genannt. Das
nahe Dorf Metze hat den alten Namen bewahrt. Die von Natur aus sonst stark
gesicherte Höhe der Altenburg weist an der sanfteren östlichen
Absenkung Mauerstärken von
4-5 Meter auf, und eine äußere weitere
Befestigungslinie gab reichlich Raum für flüchtendes Volk in
Notzeiten. Viel Gerät aus der Zeit um Christi Geburt ist hier gefunden
worden. Beim Dorfe Maden steht noch der "Mahlstein" (von altdeutsch "mahal",
Gerichtsstätte) und kennzeichnet diesen Ort als die
Hauptversammlungsstätte der Katten. Die Überlieferung ist lange
wachgeblieben, denn bis 1654 wurden auf der Mader Heide die großen
Volksversammlungen abgehalten.
Von Fritzlar die Eder aufwärts an einem ihrer rechten Zuflüsse liegt
inmitten ausgedehnter Laubwälder, die von mächtigen Bergen bis
tief in die engen Täler hinabsteigen, das schon im Mittelalter
berühmte Bad Wildungen. Aus einem abseitig verträumten
Dorf ist es durch seine Eisen- und Kohlensäurequellen zum Weltkurort
für Nierenleidende geworden, wo beim Morgentrunk im Park die Sprachen
aller Herren Länder durcheinander schwirren.
Nicht minder besucht wegen ihrer landschaftlichen Schönheit und bekannt
als technisches Wunderwerk ist die Edertalsperre, die bei Hemfurt das
vielgewundene Tal abriegelt, in dem der Fluß das Gebirge durchnagte. Fast
50 Meter hoch steigt die gewaltige Sperrmauer, die bei einer unteren
Stärke von 33 Metern rund 300 000 Kubikmeter Mauerwerk
umfaßt. Hinter ihr dehnt sich auf 27 Kilometer Länge einer der
größten Stauseen Europas. Mit seinen Wassermassen (über 200
Millionen Kubikmeter) wird die Weserschiffahrt reguliert und ein Kraftwerk
gespeist.
[563]
Edertalsperre mit Schloß Waldeck.
|
Von Schloß Waldeck, das sich auf seine alten Tage nun noch im
See spiegeln kann, öffnet sich ein weiter Blick über die durch
Menschenhand so völlig verwandelte Landschaft. Arolsen, die
Residenz des ehemaligen Fürstentums Waldeck, träumt in Stille und
Vornehmheit entschwundenem Glanz barocken Hoflebens nach. 1719 wurde mit
dem Bau der Stadt begonnen, deren Planung einzig nach dem Schloß
ausgerichtet ist. Eine wahrhaft fürstliche Allee von sechs Reihen
mächtiger Eichen führt zu ihm hin. Der Bildhauer Rauch und der
Maler Wilhelm von Kaulbach sind Söhne dieser Stadt.
[567]
Trachten aus der Schwalm.
[567]
Trachten aus der Schwalm. Brautzug.
|
Die Landschaft an der Schwalm, das Herz der hessischen Senke, hat
man die "hessische Schmalzgrube" genannt. Auf ihrer fruchtbaren Scholle hat
sich eine stolze Bauernkultur entwickelt, wie sie leider nicht oft mehr anzutreffen
ist. Ihren bildhaftesten Ausdruck hat sie in den Trachten gefunden, die nicht wie
anderswo in Museen vor Motten geschützt werden, sondern noch
untrennbar zum Fest und Alltag gehören. Um den Hauptort Ziegenhain
herum, besonders in Loshausen, Leimbach, Willingshausen und bis nach
Neukirchen hinüber wird sie fast ausnahmslos von der gesamten
Bevölkerung getragen. Also auch von den Männern, die sie in den
anderen Trachtengebieten Hessens schon längst abgelegt haben. Die Tracht
ist selbst beim Mann ungemein farben- [630] freudig, am meisten
natürlich die an Festtagen angelegte: eine ziegelrote Weste, darüber
eine zweite blaue mit blanken Knöpfen! Dazu weiße Lederhosen in
weißen Strümpfen und Schnallenschuhe mit roter Lasche, auf dem
Kopf eine pelzverbrämte, goldbetreßte, blaue Samtkappe und
über den Westen noch ein langer weißer Drillichrock mit dem
großen, buntflatternden Taschentuch. Das ist der Vorreiter des
Kammerwagens der Braut beim Hochzeitszug. Sonst steht zu den langen
Überröcken und kurzen Kniehosen gut der altertümliche
Dreimaster. Am bekanntesten sind aber wohl die vielen Beiderwandröcke
der Schwälmerin, die sie, den längsten zuunterst und bis ans Knie
reichend, übereinander trägt. Als besonderes Zeichen der
Wohlhabenheit oft bis zu zwanzig! Alle Röcke sind mit Borten verziert und
dazu wieder lange weiße Strümpfe in Schnallenschuhen. Aus der
drollig aufgeplusterten Fülle der Röcke wächst etwas
puppenhaft steif der Oberkörper heraus, drall eingeschnürt durch ein
Mieder mit herrlich-buntem Bruststecker, dessen oft kostbare Stickereien wahre
Kunstwerke sind. Am lustigsten aber ist das "Betzel", ein kreisrundes seidenes
Käppchen - die Farben wechseln je nach dem Alter der
Trägerin -, das auf dem Scheitel die im "Schnatz"
zusammengefaßte Frisur bedeckt. Wollen sie sich ganz "stolz" machen,
dann werden noch die reichgestickten "Kappenbändel" angesteckt, bunte
Bänder um die Hüften geschlungen, die
gold- und silberbestickten Strumpfbänder nicht vergessen und lange
weiße Handschuhe übergestreift. Sogar die Farbensymbolik des
Mittelalters ist wachgeblieben, die sich darin äußert, daß jedem
Alter eine bestimmte Farbe zu tragen vorgeschrieben ist: rot für die Jugend,
grün für die Jungverheirateten, violett für die Mütter
und schwarz für die Alten. Daß auch zu verschiedenen
Anlässen (Kirchgang, Hochzeit, Begräbnis) die Tracht verschieden
zusammengestellt wird, ergibt sich danach von selbst. Die Trachten sind im
Schwinden, im Maße wie die Stadt mit ihren modischen Segnungen aufs
Land kommt. Denn freilich sind die für einen Sommer berechneten
Fähnchen billiger als die gediegenen und zuweilen recht kostbaren
Stücke, die dann aber fürs ganze Leben reichen.
Auch körperlich zeichnet sich der Schwälmer Bauer vor den
übrigen Hessen durch hohen und schlanken Wuchs mit braunem Auge und
Haar aus. So stolzen und herrischen wie aus Holz geschnittenen Gesichtern wie
hierzulande begegnet man sonst nur selten noch. Die Dorfgemeinschaften sind
eng zusammengeschlossen, und gemeinnützige Arbeiten bedingen
gegenseitige Hilfe. Dort gibt es noch Gemeindebackstuben, wo die Reihenfolge
der Benutzung durch das Los bestimmt wird.
Angezogen vom starken Eigenleben der Bauernschaft und der
Unberührtheit ihrer bunten Fachwerkdörfer hat sich im
felderumwogten Willingshausen - ähnlich wie in
Worpswede - eine Malerkolonie gebildet, wo Knaus und Bantzer ihre
vielbegehrten Bilder ländlichen Lebens malten. Der "Schwälmertanz" ist hier wirklich noch Volkstanz nach frischen und neckischen Weisen.
Einer davon soll sogar dem Yankee Doodle, der amerikanischen Nationalhymne,
seine Melodie geliehen haben, ausgewandert mit hessischen Soldaten, die im
18. Jahrhundert für England drüben kämpften.
[631] Nach Westen zu
begrenzt die Bergkette des Knüllgebirges mit sanften Linien den
Horizont des Trachtengebietes. Lichte Buchenwälder steigen die
Buntsandsteinhänge hinan, die den basaltenen Kernstock des Knüll
umlagern. Die kahle Kochfläche mit Wiesen und dürftigen Feldern
gewährt nur einen mühseligen Lebensunterhalt. Im südlichen
Ausläufer des Gebirges, einem wirren Durcheinander von Kuppen und
Kegeln mit engen Tälchen, heißt ein heideähnliches Gebiet mit
Tannen- und Birkenwäldern auf sandigem Boden bezeichnenderweise die
"Heidelbeerenprovinz", im Gegensatz zu den fetten Gründen der
Schwalm.
Der gewaltigste Zeuge vulkanischer Tätigkeit in der vorletzten Erdzeit ist
der Vogelsberg, der Oberhessen zum größten Teile
einnimmt. Bis zu einem Umkreis von 25 Kilometer haben sich die
Lavaströme über die Buntsandsteinfläche dieses Gebietes
ergossen und bilden damit die größte zusammenhängende
Basaltmasse Deutschlands. Von dem riesigen Vulkan, dessen Höhe
ursprünglich
3-4000 Meter betragen haben muß, ist nur noch eine
Ruine übriggeblieben, die im Taufstein mit 770 Metern ihre
höchste Erhebung erreicht. Von allen Seiten her steigt das Gelände
mit den Wipfelmassen seiner ausgedehnten
Eichen- und Buchenwälder langsam zu einer windumsausten und
niederschlagsreichen Hochfläche an, deren Wiesenhänge und
einsame Hochmoore von wildzerklüfteten Basaltkuppen und den
eigentlichen Gipfeln überragt werden. Mit dem längsten und
schneereichsten Winter ist es das rauheste Gebirge des Hessenlandes, von dem der
Volkswitz sagt, daß man dort das letzte Feuer einen Tag vor Johanni
anmacht und das erste einen Tag nach Johanni. Inmitten solcher Unwirtlichkeit ist
das Leben der Bevölkerung hart und arm. Wo die Viehzucht auf den
Hochwiesen nicht ausreicht, muß die Hausindustrie nachhelfen mit
Weberei, Töpferei und Strohflechten. Aber wer ohne die Sorgen dieses
Daseinskampfes hier heraufkommt, der findet eins der schönsten,
urwüchsigsten Wandergebiete und im Winter die Lust des Skilaufes auf den
weiten, tiefverschneiten Hängen. Außer dem vielverwendeten Basalt
gibt das Gebirge noch Eisenerze her, die talwärts, in Hirzenhain in den
bekannten Buderuswerken verarbeitet werden, und am Osthang werden bei
Altenschlirf die Kieselgurlager des Basaltes ausgebeutet. Was die
schwammigen Moore auf den Höhen an Niederschlägen aufsaugen,
das tritt dann in unzähligen Quellen wieder zutage. Nach allen Richtungen
der Windrose haben Bäche und Flüßchen den Gebirgsstock
zernagt und legen von ihm aus ihr engmaschiges Netz über das umgebende
Gebiet.
[585]
Felsberg (Hessen). Dorf und Burg.
|
Der unermeßliche Holzreichtum der riesigen Wälder hat hier einen
besonders reichen Fachwerkbau begünstigt, der die Ortschaften so bunt und
liebenswert macht. Oft sind sogar die Kirchen in dieser Bauweise
aufgeführt. Das Schwalmtal nach Norden hinab ist Alsfeld wohl
das bunteste Städtchen. Hier begegnet man den Schwälmer Trachten
auf Schritt und Tritt. Sein freistehendes Rathaus von 1512 mit den spitzbogigen
steinernen Laubengängen im Erdgeschoß gehört zu den
bedeutendsten Fachwerkbauten Westdeutschlands. Daneben hat sich die Stadt,
deren einstige Wohlhabenheit damit zum Ausdruck kommt, [632] noch ein besonderes
Weinhaus und ein Hochzeitshaus geleistet. Sie haben zu leben gewußt,
unsere Altvorderen, und jeder Balken noch an den behaglichen
Bürgerhäusern bekam durch Schnitzwerk etwas von ihrer
Daseinsfreude zu spüren. So gleichen die Dörfer und
Städtchen einander mit ihren freundlichen und verrunzelten Gesichtern,
Lauterbach, Schotten und das stark bewehrte Büdingen,
das mit allem Recht das hessische Rotenburg genannt wird, und Nidda,
nun schon am Rande der Wetterau gelegen. Am südlichsten
Ausläufer des Vogelsberges aber, am Büdinger Wald, hütet
Gelnhausen im lieblichen Tal der Kinzig Erinnerungen an die Zeit der
Staufenkaiser.
[586]
Gelnhausen. Alte Kaiserpfalz.
|
Hoch überragt von der Marienkirche - einer türmereichen Basilika
des 13. Jahrhunderts mit meisterhafter romanischer Steinmetzkunst an
Säulen und Portalen - hat die einstige freie Reichsstadt des ersten
deutschen Reiches Herrlichkeit in ihren Mauern gesehen. Denn unten, auf einer
Insel des langsam vorüberziehenden Flusses, verkünden die
bedeutenden Reste seiner Lieblingspfalz noch heute den Namen Friedrich
Barbarossas. Von allen erhaltenen staufischen Palastbauten ist die Gelnhausener
die edelste. Beim Betrachten der mächtigen Torhalle mit der
darübergelegenen, ihrer Gewölbe beraubten Kapelle, des Pallas und
des Bergfrieds kann man sich ein gutes Bild von den glänzenden
Reichsversammlungen machen, die sich hier abgespielt haben. 1180 wurde hier
die Reichsacht über den stolzen Welfenherzog Heinrich den Löwen
ausgesprochen, der damit Macht und Gut verlor. Heute rankt der Efeu um die
köstlichen Zierformen der Bauglieder, und Tannen halten ihre Zweige
über die geborstenen Mauern. Im Dreißigjährigen Krieg haben
die Schweden das Schloß verwüstet, und mit der Erinnerung an diese
grauenvolle Zeit steigt der Name des Mannes auf, der sie, aus eigenen
abenteuerlichen Erlebnissen schöpfend, am wahrhaftigsten in seinem
Roman Simplicissimus beschrieb. Christoffel von Grimmelshausen ist in
dieser Stadt geboren. Aber auch noch ein anderer, ohne dessen technische
Leistung wir uns das heutige Leben kaum noch vorstellen können, Philipp
Reis, der Erfinder des Telephons.
Die unwirtliche und in ihrer Sprödigkeit doch so anziehende Gebirgswoge
des Vogelsberges verebbt nach Westen hin in den unerschöpflich
fruchtbaren, wasserreichen Gefilden der Wetterau. Dieses
breiteinladende Anfangsglied der Hessischen Senke, von dessen Bedeutung als
Durchgangsstraße nach Norden schon die Rede war, ist deshalb seit jeher
dicht besiedelt gewesen. Das bei Eberstadt ausgegrabene bandkeramische Dorf
aus der Jungsteinzeit hat wertvolle Aufschlüsse über den damaligen
Wohnbau gegeben. Ein selbstbewußtes,
weltoffen-heiteres Bauerntum ist hier zu Hause, dem Blond und Blau gut zu
Gesicht steht. Umgeben von wogenden Feldern und früchteschweren
Obstgärten schließen sich Dörfer und Städte zu einem
einzigen lachenden Garten zusammen. Lich an der jungen Wetter war
die Hauptstadt des alten Solmser Ländchens und zeigt in der Stiftskirche
eine stattliche Reihe mittelalterlicher Grabmäler edler Geschlechter,
darunter das anmutigste des Kuno von Falkenstein und seiner Gemahlin Anna von
Nassau, aus der Mitte des 14. Jahrhunderts. Unweit davon birgt die
Waldeinsamkeit die stolze Ruine des 1174 gegründeten
Zister- [633] zienserklosters
Arnsburg. Großartig wirken inmitten des Verfalls die
überdauernden Zeugen der Werkkunst einer berühmten
mittelalterlichen Bauhütte, die als Gewölbe den Himmel selbst
tragen, der hoch hereinschaut. Die reichen Herren von Münzenberg haben
das Kloster gestiftet, aber auch ihre eigene Burg Münzenberg
weiter talwärts liegt lange schon in Trümmern. Das "Wetterauer
Tintenfaß", wie sie ihrer beiden klobigen Türme wegen genannt wird,
ist neben der Wartburg der bedeutendste Burgbau des hohen Mittelalters und wird
mit der Pfalz in Gelnhausen zugleich entstanden sein. Die zierlich gekuppelten
Fensterreihen der Pallaswände schauen von dem Basalthügel
über das in seinem Schutz zusammengedrängte altersgraue
Städtchen in die Ferne der walddurchsetzten Auen hinaus, wo auf der
anderen Seite des Flusses das malerische Butzbach mit Resten des
Limes von der Römerzeit erzählt.
Auch Friedberg, der Hauptplatz der Wetterau, die spätere freie
Reichsstadt, geht auf ein starkes römisches Kastell zurück, das 260
von Katten und Alemannen zerstört wurde. Die mächtige
Liebfrauenkirche stellt den für Hessen so bezeichnenden
weiträumigen Hallenbau in seiner reinsten Form dar. Die "Burg", ein durch
einen tiefen Graben von der übrigen Stadt gesonderter Teil, wird von dem
riesigen Adolfsturm beherrscht, der mit doppeltem Zinnenkranz und vorgekragten
Erkern das Wahrzeichen der Stadt bildet. Eine kulturgeschichtliche
Merkwürdigkeit ist das Judenbad aus dem 13. Jahrhundert.
Für die rituellen Frauenbäder angelegt führt ein düsterer
Schacht mit steilen Treppen 25 Meter in die Tiefe.
Von den Thermal- und Solbädern der Wetterau ist Nauheim das
eleganteste und berühmteste. Die ganze herrlich gelegene Stadt mit
12 000 Einwohnern lebt nur von und für die Herzkranken und
Rheumatiker, die aus aller Welt hergereist kommen und Heilung finden. In dem
zur Gießener medizinischen Fakultät gehörenden
Kerkhoffschen Institut - einzig in seiner
Art - wirkt sich deutscher Forschungsgeist auf unerreichter Höhe
zum Wohle für die Menschheit aus.
Nauheim liegt schon im Bereich des Taunus, der am weitesten nach
Osten vorgeschobenen Schranke des Rheinischen Schiefergebirges. Schiefer ist
das Hauptgestein der von SW nach NO ziehenden Bergkette, und die silbergrauen
Städtchen unten im Rheingau holen von hier ihre Beschieferungen. Das
Wort Taunus (Höhe) ist keltischen Ursprungs und erinnert an die
vorgermanischen Bewohner dieser Gegend. Die "Höhe" heißt denn
auch im Gegensatz zum westlichen Rheingaugebirge der höchste
östliche Teil, ein nach Süden, gen Frankfurt hin steil abfallender
Quarzitrücken. Das Vorkommen dieses aus Quarzsand gebildeten Gesteins
auf dem Kamm zeugt davon, wie hoch einst im Erdaltertum das devonische Meer
gestanden hat. Nach Norden, dem Lahntal zu, senkt sich das Gebirge langsam
herab und bildet mit seinen schönen Beständen an
Buchen- und Eichenwäldern eine von vielen Flußtälchen
zerteilte Landschaft, deren besonderer Reiz ihre abwechslungsreiche Lebendigkeit
ist. Ihre liebliche Verträumtheit hat uns am besten Hans Thoma in seinen
Bildern beschrieben. Von der Höhe des Feldberges (800 Meter)
eröffnet sich ein Rundblick, wie er in [634] solcher Weite selten
anzutreffen ist: Rhön, Thüringer Wald, Meißner,
Rothaargebirge, Siebengebirge, Eifel, Hunsrück, Haardt, Spessart und
Odenwald grenzen in der Ferne den Horizont. Zu den landschaftlichen
Schönheiten kommen die Segnungen der heißen und kalten
Mineralquellen, die hier Bäder mit Namen höchsten Ranges
entstehen ließen: Nauheim und Homburg, Schlangenbad, Niederselters und
Soden, Langenschwalbach und Wiesbaden, nicht zu vergessen die Luftkurorte
Falkenstein, Königstein und Kronberg am Fuße des Altkönigs,
dessen Gipfel mit drei Ringen steinerner Wälle eine keltische
Höhenfeste trägt. Wo Schönheiten und Heilkräfte der
Natur in so reichem Maße beisammen sind, ist es kein Wunder, wenn der
Taunus zu den am reichsten besuchten Gebirgen zählt. Die Nähe der
großen Städte und die für den Autoverkehr bequemen
Bergstraßen haben es dahin gebracht, daß der Einsamkeit liebende
Wanderer nur noch wenige vergessene Winkel für sich findet.
Im Schutze des Feldberges breitet Bad Homburg v. d. H. seine
vornehmen Kuranlagen aus, die den sprudelnden Segen von acht Quellen mit
reichem Kohlensäure- und Eisengehalt auswerten. Die Stadt selbst ist zum
größten Teil eine Gründung des Landgrafen Friedrich II.
von Hessen-Homburg, des "Prinzen von Homburg", für die in sein Land
gerufenen Hugenotten, die sich auch drüben in Friedrichsdorf ein
anmutiges Städtchen erbauten.
Von den vielen berühmten Gästen Homburgs war Hölderlin
der erlauchteste. Sein "Hyperion", "Empedokles" und viele unsterbliche Gedichte
sind hier entstanden, wo der
glücklich-unglücklich Liebende in verzehrender Sehnsucht nach
[588]
Wiesbaden. Partie im Kurpark.
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Susette von Gontard, seiner Diotima, den Tag nicht erwarten konnte, der ihm in
Frankfurt ein heimliches Wiedersehen mit der Geliebten brachte. Wo von den
Eichenhügeln dieser milden Landschaft aus einer der besten Deutschen das
Land der Griechen mit zarter Seele suchte, da dröhnte einst im tiefsten
Wald auf der noch heute unversehrten Römerstraße der Schritt
schwerbewaffneter Kohorten, die hinüber marschierten zur
"Saalburg", dem wiederaufgebauten Kastell zum Schutz des Limes, das
uns das genaue Bild einer römischen Grenzfeste gibt. Das Museum mit
30 000 Fundstücken spricht eindringlich von dem regen Leben im
damaligen Kolonialgebiet. Auch die Römer wußten schon den Wert
der hier überall aus dem Boden dampfenden Quellen zu schätzen,
und um ihren Besitz zu sichern, wurde der Limes an dieser Stelle so weit nach
Norden vorgeschoben. In Wiesbaden erbauten sie eine Bäderstadt,
deren prächtige Anlagen beim Bau der modernen Hotels wieder in Resten
zutage traten. Nach dem Sturz ihrer Herrschaft verfiel dies alles, und erst das
14. Jahrhundert wieder berichtet vom regen Besuch der Bäder.
27 heiße Kochsalzquellen fördern hier täglich an
20 000 Hektoliter des Gicht und Rheuma heilenden Getränkes,
davon der berühmte "Kochbrunnen" - mit einer Temperatur von
66°C - allein ein Viertel dieser Menge. Dem Luxus der Einrichtungen
des Kurhauses und des
Kaiser-Friedrich-Bades kann sich kaum ein anderes Bad der Erde zur Seite
stellen.
Von den vielen Burgen, mit denen die Taunushügel gekrönt sind, ist
der Königstein über dem gleichnamigen Luftkurort die
großartigste. Seit dem [635] 12. Jahrhundert
war sie der Sitz ruhmreicher Geschlechter, die sie oft umgestalteten, bis sie 1746
von den Franzosen gesprengt wurde. Unweit davon zeichnet sich die Dorfkirche
von Kronberg durch ihre schöne alte Ausstattung mit vielen
mittelalterlichen Grabsteinen aus. Darunter besonders der Reiffenbacher des
großen Mainzer Bildhauers Backofen von 1517. Burg und Schloß
sind als Besitzung der Kaiserin Friedrich wiederhergestellt worden.
Von allen Tälern des Hessenlandes verdient das vielgewundene, zwischen
Taunus und Westerwald eingebettete Lahntal am meisten gerühmt
zu werden. Nicht nur wegen der vielfältigen Anmut seiner landschaftlichen
Schönheiten oder der bunten Fülle geschichtlicher Ereignisse, die
von der steinernen Chronik seiner wie an einer Schnur aufgereihten Städte
und Burgen erlauchter Namen abzulesen sind, sondern auch wegen seiner
Bodenschätze, die von der Natur hier besonders in Gestalt von Eisenerzen
und anderen Mineralien zusammengetragen wurden. Einsame, schluchtartige
Strecken, die oft genug durch hart an den Fluß sich drängende
Sandsteinfelsen und Schieferklippen ausweglos erscheinen, werden im breiter sich
dehnenden Tal abgelöst durch Industrielandschaften, auf die, verwundert
genug, vom Berge herab eine Burg schaut. So ist die Lahn (mit
142 Kilometer schiffbarer Strecke) wirklich zur Lebensader des Landes
geworden, auf der die Flöße den Holzreichtum der Bergwälder
zu Tal führen.
Vom Jagdberg, aus den einsamen Waldgründen des Rothaargebirges sich
sammelnd, durchquert sie zunächst das abseitige, ernste "Hinterland", wo
der Kleinbauer an den Hängen der engen Täler seinem
mühevollen Feldbau nachgeht. Der arme Boden reicht nicht zu und treibt
die Männer im Frühjahr hinaus in die westfälischen und
rheinischen Industriegebiete, die Feldbestellung den dadurch früh alternden
Frauen allein überlassend. Im Winter hat sich das Hausiergewerbe als
heimischer Beruf entwickelt. Zähe Menschen, zur Verschlossenheit
neigend, hat solcher Boden hervorgebracht und die "schwarze" Tracht dazu, deren
düstere Einfarbigkeit in stärkstem Gegensatz zur heiteren Buntheit
der "Hessentracht" des benachbarten Marburger Gebietes steht. In
Biedenkopf, dem Hauptort des Hinterlandes, hat sich als alter
Volksbrauch das alle sieben Jahre gefeierte Grenzgangfest erhalten, in dessen
Zeichen dann das ganze Jahr steht. Mit viel Aufwand und drolligen
Gedächtnisstützen für die Neulinge wird die Begehung der
Grenze hügelauf und
‑ab nach den alten unvergessenen Vorschriften vorgenommen. In den
Dörfern hier herum, besonders im Breidenbacher Grund, sind auch die
eigentümlichen, in den Kalkputz eingeritzten Kratzmuster zu Hause, und
schließlich stammt von hier Friedrich Diel, der Begründer der
wissenschaftlichen Obstkunde, dem zu Ehren die beliebte Butterbirne ihren
Namen erhielt.
Als schönste Stadt des Lahntals gilt unbestritten Marburg. Auf
hohem Sandsteinfelsen thront das mächtige Landgrafenschloß, zu
dem die Straßen und Gäßchen, oft als Treppen angelegt,
hinaufklimmen. Talwärts breitet sich die Stadt mit vielen baulichen
Erinnerungen an die große mittelalterliche Zeit zu beiden Seiten des Flusses
aus, und der Blick von einer der Höhen auf das [636] friedliche
Dächergewirr wird von keinem Fabrikschlot gestört.
[591]
Marburg (Lahn). Universität und Schloß.
|
Marburg ist seit
der Gründung der Universität 1527 die Stadt der Studenten
geblieben, die neben den bunten Trachten aus der Umgebung das
Straßenbild bestimmen. Wenn droben die gebäudereiche Burg mit
ihrem stolzen Saalbau aus dem 13. Jahrhundert unzerstört von
einstiger landesherrlicher Macht kündet, so preist unten im Tal die
Elisabethkirche die Liebestätigkeit der fürstlichen Dulderin und
Stammesmutter der Landgrafen, die, von der Wartburg kommend, zur Heiligen
des Hessenlandes geworden ist. Als sie beigesetzt wurde, half sogar Kaiser
Friedrich II. den Sarg mit tragen. Der vergoldete Schrein, der einst ihre
wundertätigen Gebeine
barg - Landgraf Philipp hat sie während der Reformation aus leicht
ersichtlichen Gründen daraus entfernt und außer Landes bringen
lassen -, ist ein Prunkstück deutscher Goldschmiedekunst des
13. Jahrhunderts, leider während der französischen
Fremdherrschaft seiner kostbarsten Edelsteine beraubt. Die Kirche selbst mit ihrer
steil aufstrebenden doppeltürmigen Fassade
ist - 1235 von den Deutschordensherren
gegründet - eine der frühesten Bauten des rein gotischen Stiles
auf deutschem Boden. Im Äußeren fast schmucklos, aber
reichgegliedert durch klare Strebepfeiler und doppelte Fensterreihen, steht sie wie
ein schöngewachsener Kristall als edelster Schmuck der Stadt. Im
Landgrafenchor ruhen unter hohen Sarkophagen mit ihren lebensgroßen
steinernen Bildnissen 22 Hessenfürsten, darunter Hermann von
Salza, Hochmeister und Begründer des Deutschordensstaates im
Preußenlande. Wie wenig sich seit den Landgrafentagen der Volksschlag
hier verändert hat, zeigen die Figuren auf den Grabmälern. Ihren
scharfgemeißelten, kühnen Gesichtern begegnet man noch heute auf
dem Lande. Und heute wie schon im Mittelalter blüht in den
Töpfereien ein bodenständiges Handwerk, dessen Marburger
Dipperchen, Volkskunst im besten Sinne, als Krüge, Vasen,
Schüsseln und Teller weithin verschickt werden. Der Werkstoff dazu
kommt aus den Tonfeldern des Ebsdorfer Grundes.
Auch Gießen, die andere Universitätsstadt Hessens, am
nördlichen Zugang der Wetterau gelegen, hat sich mit zwei
Schlössern und vielen schönen Fachwerkbauten, von denen
besonders das Rathaus hervorzuheben ist, ihr altes Gesicht bewahrt. Der
große Chemiker Justus von Liebig arbeitete und lehrte hier. Bis nach
Wetzlar hinab und nach Butzbach hinüber breitet sich die
Trachtenlandschaft des "Hüttenberges" aus, deren Frauen an Festtagen mit
bunten, breiten Schürzenbändern, Brustschleifen und einer
Vielfältigkeit von Hauben prunken, die über der eigenartigen
Haartracht des "Schnatz" getragen werden.
Wetzlar selbst, am Steilufer des Flusses sich aufbauend, zeigt den
merkwürdigsten Gegensatz zwischen Mittelalter und Neuzeit. Zwar
überragt der mächtige Dom noch immer das malerische
Häusergedränge der Altstadt, aber in der Gegend des Bahnhofes steht
die Front schlanker Schornsteine, und ihre schwarzen Rauchfahnen wehen
über die Förderschächte und Hütten der
Röchling- und Buderuswerke, die auf den Erzvorkommen hier ein Zentrum
der Montan- und Schwerindustrie geschaffen haben. Von den
Leitz-Werken geht das optische Wunder der kleinen "Leica" in alle Welt. Ja, und
dann steht man [637] plötzlich vor
dem sorgsam bewahrten Lottehaus und denkt daran, daß es noch gar nicht
allzulange her ist, daß der junge Goethe hier einer Liebe Lust und Leid
erlebte, der wir die "Leiden des jungen Werther" verdanken. Damals 1772
war er noch Jurist und arbeitete an dem aus Kaiser Maximilians Tagen
herübergeretteten Reichskammergericht, wo von den 5000 Einwohnern der
Stadt allein 900 tätig waren.
Auf dem Wege nach Weilburg winkt inmitten der Wälder von hohem
Basaltkegel Braunfels, das stolze, türmereiche solmsische
Schloß, mit einer bedeutenden Kunstsammlung. Aber die prächtigste
Anlage ist doch das alt-nassauische Residenzschloß Weilburg, das
den sich aufdrängenden Vergleich mit
Heidelberg - auch wegen der umgebenden
Landschaft - durchaus verträgt. Im schönsten Teil des Lahntals
inselhaft eingebettet lehnt sich die Altstadt an die ausgedehnte
Gebäudegruppe des 1000jährigen Schlosses und blickt über
den brückenüberspannten Fluß zur Neustadt hinunter. Ein
weitgereister Feldmarschall hat im Anfang des 18. Jahrhunderts das
vierflügelige Schloß seiner Väter neu ausgebaut, mit
stukkierten Prunkräumen ausgestattet und vor allem die Bergfläche
durch Terrassen, großzügige Treppenanlagen und
Orangeriegebäude zu einem barocken Lustgarten umgestaltet.
Geländer, Gitter und Öfen sind schöne Zeugnisse hessischen
Kunstfleißes, die aus der alten Eisengießerei Audenschmiede im
Weiltal stammen.
Die Gegend zwischen Weilburg und Dietz ist das Gebiet des mannigfach
verwendeten Lahn-Marmors. Villmar, Schupbach, Wirbelau,
Gaudenbach und Limburg sind die Hauptorte für den Abbau dieses edlen
Steines, der hier eine Farbenprächtigkeit aufweist, wie sie das Ausland
nicht vielfältiger und schöner zu bieten vermag. Feurigrot steht er in
den Brüchen, weiß- und gelbgeflammt oder silbergrau mit schwarzem
und weißem Geäder.
Aus dem nackten Fels herausgewachsen droht mit unnahbarer Düsterkeit
Burg Runkel wie ein Gewitter über den verschüchterten
Häusern am schmalen Ufer. Turm neben Turm, kantig und schroff, fast
fensterlos, als ob der Berg selbst hier riesige Kristalle der Finsternis
hervorgetrieben hätte. Der Inbegriff einer Burg! Mit mächtigen
Bögen steigt eine uralte Brücke über den Fluß. Aber auf
der anderen Seite tragen Weinberge den "Runkeler Roten", der in den
großen Kellern des Schlosses lagert.
Nicht minder burghaft als Runkel spiegelt sich, auf steilem Felsen über
Dietkirchen gegründet, eine romanische Kirche im Fluß.
St. Lubentius, der Apostel des Lahngaues, ist hier begraben, von dem die
Sage geht, daß das Boot mit seinem Leichnam führerlos die Mosel
hinabtrieb und dann von unsichtbarer Kraft lahnaufwärts geführt
wurde. "Wir haben St. Lubentiwind" heißt es noch heute, wenn es
dem Fluß entgegenweht.
[592]
Limburg (Lahn). Blick auf den Dom (1235)
von der Lahnbrücke aus.
|
Das Limburger Becken ist Nassaus fruchtbarste Gegend und seine
Volkstumsmitte. Die Stadt selbst aber ist der Georgsdom, bei dessen Anblick alles
andere drumherum klein und unbedeutend wird. Senkrecht zum Fluß hinab
stürzt der Fels, auf dem das steinerne Wunderwerk seine sieben
Türme gen Himmel reckt, die Gralsburg auf deutschem Boden und eine
Landeskrone. [638] Der streng
zusammengefaßten Vielteiligkeit des Äußeren entspricht der
Reichtum an Pfeilern, Säulen, Bögen und Galerien des
hochgewölbten Innenraumes. Alles in der edlen Formensprache des
frühen 13. Jahrhunderts, als sich der romanische Stil in den
gotischen verwandelte. Hinter dem Dom steht die Burg der Landgrafen, und unten
über den Fluß führt eine schöne Steinbrücke aus
dem 14. Jahrhundert. Im Angesicht des Domes ist die berühmte
Chronik des Stadtschreibers Tilemann Elhen von Wolfhagen entstanden. In der
seinen Mitbürgern verständlichen Muttersprache, der
mittelfränkischen Mundart, schildert er die bewegten Zeitläufte fast
des ganzen 14. Jahrhunderts. "Und der großen pestilencien han ich
vier gesehen und erlebet." Kein Ereignis vom Erdbeben bis zur Mode, von der
Philosophie bis zur Kunst ist seinem scharf beobachtenden Blick entgangen. Dazu
war er ein Dichter, der neben eigenem das Liedgut seiner Zeit uns
überliefert hat. In diesen Limburger Liedern spiegelt sich mit Lust und Leid
die ganze Breite des Volkslebens so frisch und ungebrochen, daß man
mitten darin zu stehen meint.
Drüben aus Niederselters, im "goldenen Grund" des Emstales,
und aus dem lahnabwärts gelegenen Fachingen kommen die
beliebten, perlenden Sauerbrunnen. Diez, die Stadt der schönen
Fachwerkhäuser am Einfluß der Aar, zieht seine
altertümlich-malerischen Straßen und Gassen um einen
mächtigen Felsklotz mit der Oranienburg. Von hier aus verengt sich das
Lahntal zu seiner landschaftlich schönsten Strecke. Am Mischwaldberge
windet sich der Fluß, und wo die
Kalk- und Porphyrfelsen Raum bieten, da erzählen Ruinen und
Schlösser von durchkämpften Zeiten. Wie weit die Macht des Trierer
Erzbischofs reichte, zeigt die Ruine der Doppelburg Balduinstein.
Ebenfalls für Trier erbaut nimmt Langenau als Talburg des
14. Jahrhunderts mit weiter Ringmauer und massigem Wohnturm eine
besondere Stellung ein. Auf dem Waldberg darüber hat das
12. Jahrhundert die prächtige Kirchenburg Arnstein mit
vier stolzen Türmen als kreuzförmige Basilika errichtet. Eine
fünfteilige Choranlage schließt die machtvolle romanische
Baugruppe nach Osten ab, zu deren Füßen die Anmut des Tales
ausgebreitet liegt. Unter der Stammburg der Nassauer Grafen, im freundlichen
Städtchen Nassau ist der Freiherr von und zum Stein geboren und weiter
talwärts, auf waldiger Höhe über dem alten Bergbauort
Friedrichssegen steht das Mausoleum, wo der unbeugsame Reformator
Preußens von seinen nie vergessenen Taten für Deutschland ausruht.
Auch das Weltbad Ems, dessen zahlreiche heiße alkalische Sauerquellen
schon seit der Römerzeit den Kranken Heilung spenden, hat in der
deutschen Geschichte ein gewichtiges Wort mitzureden. Auf der Kurpromenade
steht ein einfacher Stein mit der Inschrift "13. Juli 1870". An dieser
Stelle wies der greise König Wilhelm den französischen Botschafter
Benedetti zurück, und die darauf nach Berlin gesandte "Emser Depesche"
löste den siegreichen Krieg mit Frankreich aus, der das Deutsche Reich
einte und ihm wieder einen Kaiser gab.
Vom Rhein aus steigt der von Lahn und Sieg umschlossene Westerwald
als Teil des Schiefergebirges zu einer mittleren waldigen Hochfläche
langsam [639] an, die von vielen
gewundenen Tälern zernagt ist und von überragenden Vulkanbergen
aus weit überblickt werden kann. Die durch wintermildes und feuchtes
Klima auf fruchtbarem Boden begünstigte Besiedlung im vorderen
Westerwald tritt in den rauhen und schneereichen Bezirken des Hohen
Westerwaldes stark zurück. Hier, in den Einsamkeiten der Hochheiden mit
ihren Basalttrümmerfeldern und Mooren, ist nur noch das Reich der
Schaf- und Rinderhirten. Die kleinen Dörfchen mit den harten Menschen
drücken sich ängstlich in flache Mulden, um Schutz zu finden vor
den Stürmen, die hier zu Hause sind, und vor den Schneemassen, die der
"Woost" im langen Winter über die Höhen jagt. Dort tragen die
niedrigen Fachwerkhäuser noch schwarzbemooste Strohdächer, die
an der Wetterseite bis auf den Boden herabgezogen sind, und Mensch und Vieh
drängen sich unter ihnen zusammen. Mit Schutzhecken von langen,
düsteren Tannenschonungen sind die armen Äcker umhegt als Ersatz
für die verlorenen Wälder. Denn einst war auch der Hohe
Westerwald ein rechtes Waldgebirge, bis die Dillenburger Eisenhütten sein
Holz zur Heizung brauchten und die Niederländer ihre Schiffe aus seinen
Stämmen bauten. Da kam denn auch eine landesherrliche Verordnung, die
"zu Vermeidung übermäßigen Bauholzes" neue
Fachwerkbauten auf dem Lande verbot. Die kahlgeholzte Hochfläche
versumpfte, und viele Dörfer wurden zu Wüstungen. Mauerreste und
verlassene, überwucherte Friedhöfe erinnern an einstiges
bäuerliches Leben und vervollständigen das Bild
schwermütiger Trostlosigkeit des "Landes der armen Leute", wie Riehl es
benannt und beschrieben hat.
Die Eisenerz- und Braunkohlenvorkommen des Hohen Westerwaldes haben
besonders in Dillenburg im engen oberen Dilltale eine beachtliche
Hüttenindustrie hervorgerufen, die ihre Vorgänger in den saynischen
und oranischen Eisenhämmern schon im 16. Jahrhundert hatte, aus
denen die Güsse schöner figürlicher Grabplatten und
Reliefofenplatten mit biblischen Szenen hervorgingen (z. B. im
Kloster Marienstatt und im Rathaus von Hadamar). Über dem kleinen
Städtchen liegen die Ruinen der Stammburg der Oranier, der Ahnherren des
niederländischen Königshauses. Hier ist der größte Sohn
des Westerwaldes, Prinz Wilhelm
von Oranien, geboren, der die Niederlande von
der spanischen Fremdherrschaft befreien sollte. Die Linde steht noch, unter der
der "Schweiger" 1568 die Gesandten der verzweifelten Provinzen empfing. Talab
bietet Herborn, ehemals Sitz einer berühmten Hohen Schule, mit
vielen düster beschieferten Fachwerkhäusern und mittelalterlichem
Gepräge guten Zugang zur eigenartigen Basaltwelt des Gebirges. Dicht bei
Schönberg am Steinkringsberg ist die basaltische Lava der
Vulkane zu fünfkantigen, regelmäßigen Säulen erstarrt,
die eine Höhe von 50 Metern erreichen! Der Steinbruch bei
Marienberg unterm Salzburger Kopf und die Dornburg bei
Hadamar zeigen ähnliche gewaltige Naturwunder. In den Brüchen
herrscht ein lärmendes Leben von Sprengungen, Brechern und riesigen
Steinmühlen, die den blauschwarzen Basalt, den grauen Trachyt und
Phonolith für den Straßenbau verarbeiten. Die längsten
Säulen dienen als Uferbefestigungen und gehen bis weit nach Holland
hinunter. Die unter der Basaltdecke bewahrten [640]
Braunkohlenflöze haben besonders bei
Höhn-Urdorf und Bach ein Bergbaurevier entstehen lassen, das sein
Fördergut in die Siegener Eisenhütten liefert.
Für die vielen romanischen Kirchen und Kapellen des Westerwaldes, deren
Formensprache auf die Meisterbauten von Trier und Köln zurückgeht
und in denen noch schöne Reste mittelalterlicher Wandmalerei zu finden
sind, soll als einziges Beispiel die
Benediktiner-Abtei Marienstatt im Tal der nach der Sieg zu eilenden
Nister stehen. Fernab vom Verkehr, inmitten einsamer Wälder führen
die schwarzgewandeten Mönche dort seit 1888 wieder ihr stilles und
tätiges Leben. Die Kirche, an die sich die ausgedehnten
Klostergebäude anlehnen, ist eine jener spröden und stolzen
Zisterzienserbauten, deren Einfachheit gerade ihren Adel ausmacht und mit dem
Gegitter ihrer Strebebögen den fortschrittlichen, nach neuen konstruktiven
Lösungen drängenden frühgotischen Stil des
13. Jahrhunderts zeigt.
Im vorderen Westerwald, dessen schmale Täler sich dem Rhein zuneigen,
haben die großen Lager besten, geschmeidigen Tones aus der
Tertiärzeit seit altersher eine weitberühmte Steinzeugindustrie
hervorgerufen, die dem Gebiet um Höhr, Grenzau, Grenzhausen und
Hillscheid den Namen "Kannenbäckerland" eingetragen hat. Sein
Mittelpunkt ist das auf eine keltische Siedlung zurückgehende
Höhr mit einer keramischen Fachschule. Der hochgebrannten und
klingend harten Ware mit grauer Salzglasur und blauem Rankenmuster begegnet
man in Gestalt von Schüsseln, Kannen und geschmackvollen Vasen
überall. Die bekanntesten Erzeugnisse sind aber die bayrischen
Maßkrüge und die roten
Steinhäger- und Mineralwasserflaschen. Vor der Erfindung des Porzellans,
besonders im 16. und 17. Jahrhundert war das kunstvoll verzierte Steinzeug
auch im Ausland sehr begehrt, und hochbeladene Planwagen führten es bis
nach Rußland und in die Türkei.
Die Rhön
Zwischen den Oberläufen von Werra und Fulda breitet sich, nach
Süden bis zur fränkischen Saale vorstoßend, das
Rhöngebirge aus. Vulkanischen Ursprunges, wie das jenseits der
Fulda aufgetürmte Vogelsgebirge, besteht es aus zahlreichen, teils
zusammenhängenden, teils selbständigen Kuppen, Decken und
Schloten von Basalt, die die älteren Schichten von Buntsandstein,
Muschelkalk und Keuper durchschossen oder überlagert haben. Aus der
nördlichen, in vielen Kuppen verstreuten, unübersichtlich zerteilten
Vorderrhön sammelt sich das Gebirge zum nordsüdlich verlaufenden
schmalen und steilen Zuge der Hohen Rhön, die im westlich
vorgeschobenen Bollwerk der Wasserkuppe mit 950 Metern die
größte Höhe erreicht. Von diesem Zuge durch den tiefen
Einschnitt bei Bischofsheim abgetrennt bildet der Kreuzberg mit den Schwarzen
Bergen den südlichen Stock des Gebirges. Ehemals war es ein echtes
Waldland, aber der Raubbau früherer Zeiten hat es dahin gebracht,
daß sich nur an den Steilrändern noch dichte
Laub- und Fichtenwälder erhalten haben, wo über lichtgrüne,
blumenreiche Matten die Bäche in oft wildzerklüfteten Tälern
eilig ihren Weg suchen in die Buntsandsteinebene mit den [641-648=Fotos] [649]
rötlichen Felderbreiten. Der spärliche Ackerbau in den Tälern
gäbe kein Auskommen für die Bewohner der kleinen Dörfer
und vielen einsamen Einzelhöfe, wenn nicht auf den weiten Wiesen an den
Hängen und auf der Hochfläche
Schaf- und Rinderherden ihr gutes Futter fänden. So ist auch das wichtigste
Ereignis im Jahre des Rhönbauern die am St. Kilianstage
(8. Juli) beginnende Heuernte. Dann herrscht auf den freien,
sonnendurchglühten Höhen für vier Wochen ein frohes
Zeltlagerleben, und am Ende wird auf hochgetürmten Wagen die
beschwerlichen Wege hinab die duftende Ernte zu Tal gefahren. Flachsanbau hat
besonders bei Weyhers und Hilders die Leinenweberei begünstigt, von der
die Fuldaer Textilindustrie beliefert wird. Leinwandbleichen an den Hängen
gehören dort mit zum sommerlichen Bild. Am Kreuzberg und Dammersfeld
wurde früher Bergbau auf Eisenerz betrieben, aber die Schächte sind
lange verlassen, und nur die Becken der alten Stadtbrunnen auf dem Markt in
Bischofsheim erinnern noch daran. Auch den Abbau der Braunkohlenlager dort
am Bauersberg, der bis ins 16. Jahrhundert zurückreichte, hat man
wieder eingestellt. Neue Anregungen zur Ausnutzung des Holzreichtums gibt die
Holzschnitzschule in Bischofsheim, und in Dermbach hat sich eine Korkindustrie
entwickelt. Alles in allem ein armes Land, für das die Siedlungsdichte mit
57 auf den Quadratkilometer der ziffernmäßige Ausdruck ist.
Ortsnamen wie Sparbrod, Wüstensachsen, Kaltennordheim, Wildflecken,
Schmalenau, Dürrhof, Dürrfeld, Todtemann, Rabenstein,
Rabennest usw. reden auch für den Fremden eine deutliche Sprache.
Doch die Ruinen einst stolzer Burgen auf den Höhen, stattliche Kirchen
und schöne alte Häuser in mauerbewehrten Ortschaften und die in
Museen gehüteten kostbaren Trachten erzählen auch hier noch von
früheren besseren Zeiten. Da war der mächtige Rücken des
Dammersfeldes bei Gersfeld noch wegen seines landwirtschaftlichen Reichtums
berühmt und so begehrt, daß sich um seinen Besitz zwischen den
Kirchenfürsten von Fulda und Würzburg ein regelrechter
Eroberungskrieg entspann. Wer heute den Namen Rhön hört, denkt
vor allem an die Segelfliegerei, die von der schroffen Höhe der
Wasserkuppe ihren Weg zur Ertüchtigung deutscher Jugend
über das ganze Reich nahm. Im Fliegerlager dort oben herrscht das ganze
Jahr über ein reger Betrieb, besonders während des
Rhön-Segelflugwettbewerbes, der jährlich im Hochsommer
ausgetragen wird. Und dann ist die rauhe Bergwelt ihrer herben landschaftlichen
Schönheit wegen schon längst begehrtes Reiseziel geworden und als
Skigebiet berühmt.
Am meisten lockt wohl die Hohe Rhön mit der Unwegsamkeit des
Schwarzen und Roten Moores, die sich bis zu 1000 Hektar
ausdehnt und ihre Entstehung den starken Niederschlägen auf der
undurchlässigen Basalthochfläche verdankt. Über die
Hochmoore zu wandern ist ein köstlicher Genuß. Besonders an klaren
Herbsttagen, wenn die weite Fernsicht nach dem Thüringer Wald, ins
liebliche Franken hinein und hinüber zum Vogelsberg offen liegt. Rein ist
die Luft wie an der See und gesättigt vom würzigen Duft der Wiesen,
den der immerwährende Wind herüberträgt. Aber die
Schaurigkeit einer Moorwanderung im Sinne Drostescher Gedichte offenbart sich
erst, wenn der Nebel [650] braut und die nahen
Stämme einsamer zerzauster Birken oder ein abenteuerlich geformter
Felsblock spukhaft aus den wehenden Schleiern auftauchen. Dann weiß
man, warum der schmale, oft unter den Füßen schwankende Pfad
durch hohe Stangen markiert ist. Denn ein Abirren vom so bezeichneten Wege
bedeutet in der lautlosen Abgeschiedenheit ein rettungsloses Versinken im
zähen Schlamm. Moos und Sumpfpflanzen, darunter der seltene
fleischfressende Sonnentau, Heidekraut, auch niedrige Birken und Weiden
bedecken die Oberfläche des Moores, die nach der Mitte hin bis zu
10 Meter uhrglasförmig über den äußeren Rand
ansteigt, weil die größere Feuchtigkeit dort ein rascheres Wachstum
fördert - ein echtes
"Hoch"-Moor! Der Torf wächst bis zu 7 Meter hohen Schichten an,
wird in mühevollem Tagewerk ausgestochen und dann auf
pyramidenförmigen Holzgestellen getrocknet. Im Roten Moor wird ein
vorzüglicher Schlammtorf gewonnen, der zur Bereitung von
Moorbädern verwendet wird. An 30 000 Zentner jährlich
kommen in die Bäder Kissingen, Brückenau, Neuhaus, Salzschlirf,
Homburg, Orb und Salzungen zum Versand.
Vom Roten Moor ist es nicht weit zur Schwedenschanze auf dem
Reesberg. Der stundenlange Laufgraben bis zur beherrschenden
Höhe des Eierhaucks bezeichnet die Ausdehnung eines riesigen, befestigten
Lagers, von dem aus die Schweden
1632-1634 Franken und Hessen beherrschten. Weiter zurück
läßt der heilige Berg der Rhön, der Kreuzberg
(930 Meter), denken. Dort, schon im fränkischen Stammesgebiet,
soll der Frankenapostel Kilian 638 an Stelle eines Hollabildes das Kreuz
aufgerichtet und das Evangelium gepredigt haben. Von Würzburg aus
wurde inmitten der Basaltwildnis ein Franziskanerkloster gegründet, das
noch heute das Ziel großer Wallfahrten aus allen Gegenden bildet. Dann ist
der Gipfel der Lagerplatz einer unübersehbaren Menge, die in den Trachten
der umliegenden Gaue ein buntes Bild von frohen Gläubigen bietet,
überragt von einem 27 Meter hohen eichenen Kreuz. Ungemein
stimmungsvoll und an die Eindringlichkeit der Gemälde Kaspar David
Friedrichs erinnernd ist der Blick auf die riesige Kreuzigungsgruppe des
Stationsweges mit den dahinter sich zusammendrängenden
Bergzügen. Im Winter sind die Gebäude oft bis zum oberen
Stockwerk eingeschneit, und ein altes Sprichwort meint, daß es hier oben
"dreiviertel Jahr Winter und einviertel Jahr kalt sei".
Dem Zuge der Hohen Rhön westlich vorgelagert ist die weithin sichtbare,
sargdeckelähnliche Basaltkuppe der Milseburg zum Wahrzeichen
des Gebirges geworden. Ihr Gipfel trägt die stattlichen Mauerreste einer
ausgedehnten keltischen Ringwallburg mit vielen Feuerstellen und reichen
Funden aus der späten Eisenzeit. Überhaupt sind die
natürlichen Schutz gegen Angriffe bietenden Kuppen des Gebirges an
vielen Stellen ähnlich befestigt worden. So u. a. auf dem
Wachtküppel, Hessenkopf bei Dermbach und auf dem Öchsen bei
der altertümlichen Kalistadt Vacha. Die Milseburg wird von einer Kapelle
gekrönt, wo zu Pfingsten viel Volk zusammenströmt und die
Mühe des Anstieges nicht scheut, um auf freier Bergeshöhe der
Predigt zu lauschen. In Salzungen, dem schönen Solbad am
nördlichen Werrarand des Gebirges, ist durch Einbruch darunter
ausgelaugter Salzlager ein großer kreisrunder See [651] entstanden. Diese
geologische Eigentümlichkeit findet sich mitten in den nahen,
ausgedehnten Wäldern noch am Schönsee und der
"Grünen Kutte". Vom weit ausladenden Gezweig der Buchen
überwölbte glatte Spiegel beträchtlich tiefer, fischreicher Seen,
deren kristallklares Wasser nach langer Wanderung den hier selten bescherten
Genuß des Schwimmens bietet. Das Märchen hat ihre
Unergründlichkeit mit Wasserjungfern bevölkert, die in die
Dörfer zum Tanzen gehen, um durch ihre Schönheit die Burschen zu
verführen.
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An der fränkischen Saale, deren vielfache Windungen die genaue
Südgrenze des Gebirges bezeichnen, ist zunächst Neustadt
mit gut erhaltener Mauerumgürtung aus dem 13. Jahrhundert und
dem stattlichen Hohetor zu nennen. Gegenüber liegt das Solbad
Neuhaus, dessen gräfliches Schloß mit schönen
Stuckdecken aus dem 18. Jahrhundert jetzt als Kurhaus dient. Auf steilem
Kalkfelsen darüber erhebt sich mit zinnengekrönten Mauern die
Salzburg, eine der größten Burganlagen Deutschlands aus
romanischer Zeit. Bocklet, das kleine Stahlbad mit geschmackvoller
Kuranlage aus dem 18. Jahrhundert inmitten eines englischen Parkes, hat
seinen einstigen Ruhm längst an das bevorzugte Kissingen
abtreten müssen, wo Bismarck
gern zur Kur weilte. Mit der über der
Stadt gelegenen Bodenlaube - der im Bauernkrieg zerstörten
Stammburg der Henneberger Grafen - ist der Name des
Minnesängers Otto von Bodenlauben verbunden. In der Kirche von
Frauenroth bei Bockleth ist er neben seiner Gemahlin Beatrix bestattet.
Die große Grabplatte mit der Darstellung des Paares, umrauscht vom
Schwung der faltenreichen Gewänder, gehört zu dem Edelsten, was
deutsche Bildhauerkunst im Stile höfischer Vornehmheit des
13. Jahrhunderts hervorgebracht hat. Münnerstadt an der
Würzburger Hauptstrecke ist bedeutend wegen seines Reichtums an
Kunstwerken der verschiedensten Zeiten, darunter sind am kostbarsten die
Arbeiten des großen Würzburger Bildhauers Riemenschneider und
die betörende Pracht der Rokokoausstattung in der Augustinerkirche, der
sich das Treppenhaus der benachbarten ehemaligen Abtei Bildhausen
mit der sprudelnden Formenfülle seiner Geländer und Stuckdecken
würdig anschließt. Hinter Aura, einem ehemaligen
Benediktinerkloster mit schöner romanischer Kirche, beginnt im Schutze
des Gebirges das Weingebiet des Saaletales. Die besten Sorten des Frankenweines
dieser Gegend wachsen an den kahlen Kalkbergen um das alte Städtchen
Hammelburg herum, besonders bei den trutzigen, das Tal weithin
beherrschenden Burgen Trimberg und Saaleck. Im
schönen Sinntal inmitten von Wiesengründen und Wäldern
verdankt das Stahlbad Brückenau den Fürstäbten von
Fulda seine Entstehung. Auf sie geht auch die Gründung des
Franziskanerklosters Volkersberg zurück. Von dem steilen
Basaltkegel eröffnet sich über den Wäldern ein weiter Blick
nach dem Dammersfeld, den Schwarzen Bergen und der Steckelsburg
bei Vollmerz, wo 1488 Ulrich von Hutten, der Humanist und
leidenschaftliche Parteigänger Luthers, geboren wurde. Der von Fulda aus
in der Barockzeit lebhaft betriebene Kirchenbau hat als schönste Leistung
die Kirche in Zella bei Dermbach im Feldatale mit der prächtigen
geschweiften Sandsteinfassade entstehen lassen.
[652] Droben an der
Wasserkuppe entspringt die Fulda, die einer der ältesten und
berühmtesten Städte Deutschlands den Namen gegeben hat. Das
Grab des Bonifatius hat die Stadt für alle Zeiten zum berühmten
Wallfahrtsort gemacht. Ihm zu Ehren hat einer der größten
Baumeister der Barockzeit, Johann Dientzenhofer aus Bamberg,
1704-1712 an Stelle der karolingischen Grabeskirche den Dom in
Anlehnung an das Vorbild der Peterskirche zu Rom errichtet. Auch die
mittelalterliche Abtsburg hat damals einem ausgedehnten Schloßneubau
weichen müssen, dessen Prunkstück der Kaisersaal bildet. Ein weiter
Park mit Orangeriegebäude vervollständigt die Anlage dieses
geistlichen Fürstensitzes, dessen Weltfreudigkeit ihren deutlichsten
Ausdruck in der berühmten Floravase mit der Blumengöttin findet.
Der strenge Geist karolingischer Baukunst dagegen bestimmt den fast
ursprünglich erhaltenen, von acht Säulen getragenen Kuppelraum der
Michaeliskirche, einem Rundbau, der altchristlichen Grabkirchen nachgebildet
wurde. Von der berühmten Klosterschule, besonders unter dem Abt
Hrabanus Maurus (gest. 856) - dem seine Zeit den Ehrennamen
"Lehrer Deutschlands" gab - ist viel Kultur
christlich-deutscher Frühzeit ausgegangen, der wir u. a. auch die
Aufzeichnung des Hildebrandsliedes verdanken.
Der Geist klösterlicher Strenge und Reinheit, der einst mitten im wilden
Waldland hier eine Stätte weithin zeugender Kultur schuf, ist in der
Siedlung Loheland bei Dirlos an den Vorbergen der Rhön in
besonderer Form neu erstanden. Frauen haben dort auf der Grundlage von
Körpererziehung und Tanz eine Stätte weiblichen
Gemeinschaftslebens geschaffen, dessen
kultisch-ernste Tanzgestaltungen dem Tanz überhaupt eine neue Bedeutung
gegeben haben. Aber die von dort ausgehende Tanzkultur, die in vielen
Städten Schulen gründete, ist nur eine Ausdrucksform des auf vielen
Gebieten tätigen "Ordens". Den einfachen notwendigen ländlichen
Arbeiten hat sich die Pflege bodenständigen Handwerkes angeschlossen,
und wer die Webarbeiten der Loheländerinnen, ihre Keramik und
[562]
Schloß Friedewald bei Hersfeld (Fulda).
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Holzgeräte als Kunstwerke bewundert, erfährt bald, daß die
"Kunst" daran nur die von der Natur des Werkstoffes geforderte einfachste
Verarbeitung ist und spürt in der Aufrichtigkeit dieser Dinge noch die herbe
Bergluft als den Lebensodem einer nur aufs Wesentliche gerichteten
Gemeinschaft.
Der Lauf der Fulda wird von vielen malerischen Städtchen begleitet, von
denen nur Schlitz am gleichnamigen Zufluß wegen seiner
schönen Fachwerkhäuser und der gräflich Görzschen
Burgen besonders hervorgehoben sei. Der Ehrwürdigkeit Fuldas steht auch
Hersfeld nicht nach. Lullus, der Nachfolger des Bonifatius auf dem
Bischofssitz in Mainz, hatte hier 769 ein Benediktinerkloster gegründet.
[590]
Hersfeld. Das Rathaus.
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Der spätere Bau der Stiftskirche aus dem 12. Jahrhundert ist leider
der sinnlosen Zerstörungswut der Franzosen im Siebenjährigen
Kriege zum Opfer gefallen. Nach dem Bericht des Stiftsamtmannes vom 25.
Februar 1761 an den Landgrafen Friedrich II. von Hessen hat der Marschall
de Broglie "die große Domkirche in einem Moment auf einmal
abends 6 Uhr durch brennend angelegte Materie anzünden lassen,
dabei Commandos Wache stehen müssen, [653] bis alles in
völligen Flammen gestanden und nicht geholfen werden können,
sondern man hat es müssen fortbrennen lassen". Aber die Mauern stehen
noch wie für die Ewigkeit gegründet, und wer den von ihnen
umhegten heiligen Bezirk durchschreitet und staunend die Höhe der
über sich gespannten Bögen des breitgelagerten Querhauses
empfindet, wer Sinn für die fugenlose Technik edelster Steinmetzkunst hat,
dem redet noch jeder Quader und Säulenstumpf von dem mächtigen
Herrscherwillen einer Zeit, die hier in den Wäldern Gott zu Ehren ein
Bauwerk auftürmte, für dessen riesige Ausmaße zum
Vergleich nur die Kaiserdome von Worms und Speyer herangezogen werden
können. Die Erinnerung an den Stifter hat das Städtchen, das
übrigens eine lebhafte
Tuch- und Maschinenindustrie betreibt, in einem dreitägigen Volksfest zu
Ehren des heiligen Lullus wachgehalten, und die Lullusglocke droben im Turm
wird als die älteste Deutschlands gerühmt.
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