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[Bd. 4 S. 7]
Wilhelm Heinrich Riehl, 1823 - 1897, von Friedrich Metz

Wilhelm Heinrich Riehl.
[16a]      Wilhelm Heinrich Riehl.
Photographie, um 1860.

[Bildquelle: Sammlung Dr. Hermann Handke, Berlin.]
Wilhelm Heinrich Riehl erscheint in der deutschen Geistesgeschichte als eine der vielseitigsten, aber auch eigenartigsten Persönlichkeiten. Bereits die Mitlebenden sahen in ihm meist einen Einzelgänger bei aller Anerkennung, die sie ihm zollten. Dann verstand man ihn lange Zeit überhaupt nicht mehr. Und doch ist auch Riehl durchaus ein Sohn seiner Zeit, der nur aus den Geschehnissen andere Folgerungen zog als die große Masse der Zeitgenossen. Riehl ist vor allem ein Kind seiner Heimat. Blut und Boden haben ihn, den bodenverwurzelten Menschen, den Volkserzieher, geformt. In seinem Wesen und Charakter spiegelt sich aber auch die Erziehung wieder. Sein Lebenswerk, das bei manchen scheinbaren Widersprüchen doch aus einem Guß ist, erscheint mit seinem Lebensschicksal untrennbar verbunden. Heute ist Riehl vielfach Mode geworden, er muß uns mehr sein. Sein Werk hat bleibenden Wert, galt es doch dem ewigen Quell unseres Lebens, dem deutschen Volk.

Wilhelm Heinrich Riehl wurde am 6. Mai 1823 zu Biebrich im Rheingau geboren, wo sein Vater als Schloßverwalter in herzoglich nassauischen Diensten stand. Nach seinen eigenen Worten aber hat auf seine Entwicklung der Großvater mütterlicherseits entscheidender eingewirkt. Dieser stammte von Marnheim am Donnersberg; Nassau und Pfalz sind somit die Wiege und Stammesheimat Riehls. Oberrheinische Sinnes- und Lebensart machen sein Wesen aus, die er auch in jahrzehntelangem späteren Aufenthalt in München nie verleugnet hat. Der pfälzisch-nassauischen Heimat aber hat er unter seinen vielen Landes- und Volksschilderungen die schönsten Denkmäler errichtet.

Nachhaltiger als die Eindrücke der Schulen, die er in Biebrich, Wiesbaden und Weilburg besuchte, waren die Einflüsse des Elternhauses. Der Vater hatte vielseitige Interessen und hatte auf seinen Dienstreisen viel gesehen. Von einem vierjährigen Aufenthalt in Paris, wo ihn die Macht und der Glanz Frankreichs geblendet hatten, kam er als ein überzeugter Anhänger französischer politischer und kultureller Ideen zurück. Für seine Interessen aber war sein Amt und Wirkungsbereich zu klein. Ewig mit sich unzufrieden und mit seiner Umgebung schließlich zerfallen, endete er durch Selbstmord. "Ein unruhiger Geist, niemals zufrieden mit sich und der Welt, nach Zielen jagend, die er nicht erreichen konnte, besaß er viele Gaben, nur die eine nicht, glücklich zu sein und glücklich zu machen." Das ist das Urteil des Sohnes über den Vater, und wir wundern uns daher nicht, [8] wenn der Einfluß des Vaters auf den jungen Riehl nur gering, oft nur negativ war. Weder dessen Kosmopolitismus noch sein Freimaurertum haben irgendwie abgefärbt. Vielleicht ist aber das starke Freiheitsgefühl Riehls ein väterliches Erbe – wenn es nicht Erbe der Heimat ist. Sicherlich geht aber die große musikalische Begabung auf den Vater zurück. Wenn Riehl immer wieder begeistert über Hausmusik schrieb und selbst mehrere Instrumente beherrschte, so hat er das dem Vaterhause zu verdanken.

Seine religiöse und sittliche Grundhaltung und das starke und echte soziale Gefühl aber stammten von der Mutter und vom Großvater mütterlicherseits, der ein überzeugter Lutheraner war, konservativ und volksverbunden. Nassau war reformiert und hatte dann wie Baden die Vereinigung der beiden evangelischen Bekenntnisse vollzogen. Wie der Vater war auch der Großvater zuerst Lehrer gewesen. Im höheren Alter trat er als Hofmeister in Wiesbaden in nassauische Dienste, und an der Hand dieses vortrefflichen Mannes wurde der junge Riehl zum Wanderer in der Heimat. Daneben mag ihn auch der Direktor des Weilburger Landesgymnasiums zu Beobachtungen in der Natur angeregt haben. Lahntal und Rheingau, die "Höhe", das heißt der Taunus und der Westerwald, das waren Landstriche reich an Naturschönheit wie an geschichtlichen Erinnerungen; noch bunter fast war das Volksleben. In Schlössern und kleinen Residenzen lebte hier das siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert fort. In den Schlössern waren damals ganze Stapel von Gemälden und Zeichnungen aufgehäuft, die aus aufgehobenen Klöstern und Stiften stammten. Riehl konnte in diesen Kunstschätzen wühlen, und sein Auge wurde geschärft auch für solche Schöpfungen der Kunst.

Auf den Einfluß des Großvaters geht wohl auch der Entschluß des jungen Riehl zurück, Pfarrer zu werden. Aber es war nicht so sehr die Theologie, die ihn anzog, als vielmehr die Aussicht, als Seelsorger ganz mit dem Volke zu leben und ihm zu dienen. Und nach dem eigenen Eingeständnis hoffte Riehl, in diesem Beruf auch seinen musikalischen Neigungen nachgehen zu können. Nach dem Willen des Vaters hätte er Verwaltungsberater werden sollen, ein Gedanke, der ihn schon von weitem schreckte. Dem Polizeistaate blieb er zeitlebens verfeindet.

Im Sommersemester 1841 zog Riehl als Student der Theologie nach Marburg, wo ihn aber geschichtliche und philosophische Vorlesungen mehr als theologische fesselten. Wir hören, daß von den Marburger Theologen allein der Kirchenhistoriker Haase auf ihn stärkeren Eindruck machte. Die Frucht dieses Aufenthaltes und der Ferien waren seine ersten Novellen und musikalische Studien und Entwürfe. Das Wintersemester 1842/1843 verbrachte Riehl in Tübingen, wo die Philosophie in höchster Blüte stand. Aber er geriet weder unter den Einfluß der Hegelschen Philosophie noch hat selbst Fichte einen tiefergreifenden und bestimmenden Einfluß auf sein Denken ausgeübt. Wohl aber wurde er ganz in den Bannkreis des Ästhetikers F. Th. Vischer gezogen, dessen geist- und humorvolle [9] Art ihn packte und nicht mehr losließ. Unverkennbar ist der Einfluß von Vischers meisterhafter Darstellungskraft und Kunst auf W. H. Riehl. Von Bedeutung für seine Volksstudien aber war es, daß er in Schwaben wieder ein anderes, festgewurzeltes deutsches Volkstum kennenlernte. Auch das studentische Verbindungswesen wurde ihm vertraut, während er für die halbmönchische Erziehung der "Stiftler" nur spöttische Bemerkungen übrig hat. Wohl aus Mangel an Mitteln ging Riehl dann für ein weiteres Semester in das nahe Gießen, dessen Universität und ganzes Wesen ihm nur auf Zweckmäßigkeit, Nützlichkeit und Ordnung eingestellt erschienen. Es galt eben, das Brotstudium zu Ende zu führen, was denn auch ordnungsgemäß geschah. Die erste Prüfung wurde im Herbst 1843 auf dem Predigerseminar zu Herborn mit Erfolg abgelegt.

Ein glücklicher Zufall aber sollte seinem Leben jetzt eine ganz andere Wendung geben. Da Riehl für diesen Jahrgang der einzige Predigtamtskandidat war, schien es dem nassauischen Konsistorium billiger, ihn zur Vollendung seiner Ausbildung für das Jahr 1844 mit einem Landesstipendium auf die Universität Bonn zu schicken. Aber hier war es erst recht nicht die Theologie, sondern die Persönlichkeiten eines Ernst Moritz Arndt, eines Dahlmann und Kinkel, die ihn in ihren Bannkreis zogen. An der rheinischen Hochschule war immer noch vom Geist der Befreiungskriege etwas zu spüren, und die Romantik erlebte hier eine Nachblüte. Ohne das Deutsche Volkstum eines Arndt wäre wohl auch die deutsche Volkskunde und Volkslehre Riehls nie gestaltet worden. Hier war Riehl der Begriff der Volkspersönlichkeit und des völkischen Gedankens zuerst aufgegangen, der ja gerade auch wieder in Bonn von so vielen abgelehnt wurde, die unter den Einfluß der von Westen ins Rheinland einströmenden Gedanken geraten waren.

Unter diesen starken Eindrücken faßte Riehl den schwerwiegenden Entschluß, sich von nun an ganz dem Studium des deutschen Volkes und seiner Gesittung zu widmen und den unsicheren Weg eines freien Schriftstellers der gesicherten Lebensstellung eines Geistlichen vorzuziehen. In Romanen und Zeitungsaufsätzen wollte Riehl für die Besserung der sozialen und damit auch der politischen Zustände in Deutschland kämpfen. Als freier Mann glaubte er auch seinen künstlerischen Neigungen ungehindert leben zu können. Das war wohl zunächst eine herbe Enttäuschung für die Mutter, und das Konsistorium und die nassauische Regierung mögen von der Berufsänderung auch nicht besonders angenehm berührt gewesen sein. Sie sollten sich bald mit dem Wechsel aussöhnen.

Aus einer in Gießen beabsichtigten Habilitation wurde nichts. Seiner schriftstellerischen Tätigkeit tat das aber keinen Abbruch, denn unerhört fruchtbar waren die Jahre 1841 bis 1853. Ein von Riehl selbst verfaßtes Schriftenverzeichnis umfaßt für diesen Zeitraum nicht weniger als 670 Nummern. In seinen Bildern aus dem Lahntal (1843), seinen Schwäbischen und Hessischen Skizzen (1844), fanden seine Weilburger, Marburger, Gießener und Tübinger Eindrücke einen ersten literarischen Niederschlag. Sie lassen bereits den meisterhaften Schilderer [10] deutschen Volkslebens erkennen. Aufsätze wie die über den Kosmopolitismus oder den protestantischen Nationalismus zeigen den Kulturpolitiker. Diese Artikel waren teilweise in der Didaskalia erschienen und hatten die Aufmerksamkeit der Frankfurter Schriftleiter auf ihn gelenkt. Riehl trat dort in die Redaktion der Oberpostamtszeitung ein, eine Stelle, die er aber bald mit einer ähnlichen in der Schriftleitung der amtlichen Karlsruher Zeitung vertauschte. Mit K. Christ gab er auch den Badischen Landboten heraus, den er vom 9. Dezember 1847 bis 28. März 1848 allein schrieb. Mit der Abfassung der Landtagsberichte betraut, kam er mit dem Parlamentarismus in engste Fühlung und lernte die Brüchigkeit des liberal-demokratischen Systems an der Quelle kennen.

In diese Jahre fallen die Anfänge seines grundlegenden Werkes: Die Naturgeschichte des deutschen Volkes. Dieses Werk ist aus den Leitartikeln und Feuilletons entstanden, die er in der Karlsruher Zeitung, in der Vierteljahrsschrift von Cotta und anderen Blättern veröffentlicht hatte. Deutlich zeigen manche Abschnitte von Land und Leuten und der Bürgerlichen Gesellschaft diesen Ursprung. Wir nennen für diese Jahre die bedeutsamen Aufsätze über die Bauern, die Proletarier der Geistesarbeit, über die Staatsdiener und den Wehrstand, über den Gemeinen Mann, über den Pauperismus und über handelspolitische Fragen. Auch der soziale Roman Eisele und Beisele fällt in die Karlsruher Zeit.

Die Zeit gärte und warf ihre Wellen auch hinein in das kleine nassauische Land. Riehl mußte es als eine hohe Auszeichnung auffassen, als die nassauischen Stände ihn zum Abgeordneten wählten. Er erwiderte dieses Vertrauen und ging nach Wiesbaden, wo er eine rege politische und publizistische Tätigkeit entfaltete. Nun schien das Ziel, das sich Riehl gesetzt hatte, erreicht, um so mehr, als auch seine künstlerischen Interessen voll zur Geltung gelangten. Er wurde Mitdirektor des Nassauischen Hoftheaters in Wiesbaden, und diese Jahre bedeuteten noch einen besonderen Einschnitt in seinem persönlichen Leben: Riehl schloß den Ehebund mit der Bühnensängerin Berta von Knoll, der ungetrübt achtundvierzig Jahre, bis zum Tode seiner Frau bestand. Die Ereignisse des Sturmjahres, wie diese sich in seiner engeren Heimat abgespielt haben, hat Riehl in dem Buch Nassauische Chronik, das ist die Erhebung des nassauischen Volkes 1848 festgehalten. Dieses Jahr und seine politische Tätigkeit hatten ihm einen tiefen Einblick verschafft in den Gegensatz stürmisch erregter und zäh beharrender Volksgruppen, und diese wohnten hier dicht beieinander auf engstem Raum. Die Vorstellung des zersplitterten "individualisierten mitteldeutschen" Landes und Volkstums begann sich zu formen.

Aber auch die Wiesbadener Zeit sollten nur Lehr- und Wanderjahre sein eines Lebens, das sich in Augsburg und München vollenden sollte. Die Mitarbeit an der Cottaschen Vierteljahresschrift ergab einen regen Briefwechsel mit dem Verleger von Cotta, der auf das Geistesleben des damaligen Deutschlands einen bedeutsamen Einfluß ausüben konnte. Dieser Verbindung ist es wohl zu verdanken, daß Riehl [11] Anfang 1851 nach Augsburg übersiedelte, wo er in die Schriftleitung der Allgemeinen Zeitung eintrat, des damals führenden Organs für gesamtdeutsche Wissenschafts-, Kultur- und Kunstbelange. In der Beilage zur Allgemeinen Zeitung finden wir Aufsätze von Riehl über den deutschen Wald und dessen soziale Bedeutung, Westerwälder Kulturstudien, "Das Land der armen Leute", "Zur Gewerbegeschichte Augsburgs", "Das Taubertal"; Aufsätze, die uns in anderer Form in größeren Werken später wieder begegnen. In der Vierteljahresschrift waren erschienen: "Die politische Ehre", "Der Vierte Stand als Gegenstück zum deutschen Bauer", "Die Aristokratie und ihr sozialer Beruf". In Augsburg trat Riehl auch mit seinen Werken: Die bürgerliche Gesellschaft (1851), Land und Leute (1853) und Musikalische Charakterköpfe (1853) an die breiteste Öffentlichkeit. Sie begründeten seinen Ruhm, und sie sind geblieben bis auf den heutigen Tag.

Wohl wiederum durch Cotta waren inzwischen das bayrische Ministerium und König Maximilian II. auf Riehl aufmerksam geworden, die ihn bewogen, als Pressechef zum Jahresbeginn 1854 nach München zu gehen. Damit verbunden war die Ernennung Riehls zum Honorarprofessor. Sein Lehrgebiet war ganz auf seine eigensten Interessen zugeschnitten, und der für die Zeit ungewöhnliche Lehrauftrag lautete auf Staatswissenschaft, Staatskunst, Gesellschaftswissenschaft, Volkswirtschaft, Kultur- und Staatengeschichte. Das war der Gesamtumfang der Staatswissenschaft, wie sie als Programm von Riehl gefordert wurde. Zu König Max II. trat Riehl in ein enges Verhältnis. In dessen Auftrag schrieb er jenes Kabinettstück oberrheinischen Volkes und Landes: Die Pfälzer, ein rheinisches Volksbild. In seiner Deutschen Arbeit, "einer meisterhaften Psychologie und Ethik" der Arbeit, aber hat Riehl seinem königlichen Gönner ein bleibendes Denkmal gesetzt.

Leider sind uns die Vorlesungen Riehls über die Ethnographie Deutschlands und die Landes- und Völkerkunde Bayerns nicht mehr erhalten. In seiner Antrittsvorlesung hatte Riehl erklärt, daß seine Wissenschaft die bestehende Fakultätsordnung sprenge. Damit hatte er aber auch für seine akademische Laufbahn die Grenzen angedeutet, die andere dann aufrichteten. Die Zeit war nicht reif für ihn, und die liberalen Kräfte, deren Hochburgen die deutschen Hochschulen wurden, erwiesen sich als die stärkeren. Als Riehl 1859 zum Ordinarius mit zwölfhundert Gulden Gehalt bestellt wurde – seine Tätigkeit bei der Münchener Zeitung hatte er bereits 1856 aufgegeben –, lautete der Lehrauftrag nur noch auf Kulturgeschichte und Statistik! Der Reformer der gesellschaftlichen Zustände sollte von jetzt an nur noch registrieren, zählen, beschreiben und über Vergangenes vortragen.

Nach wie vor aber begeisterte Riehl Scharen von Studenten und ungezählte Tausende von Zuhörern, die seine in allen Teilen Deutschlands gehaltenen Vorträge besuchten und durch ihn zu Wanderungen durch das deutsche Land und zum Volksstudium veranlaßt wurden. Aber das eigentliche Lebenswerk Riehls [12] war abgeschlossen. 1862 kam das Wanderbuch, von dem einzelne Teile vorher schon erschienen waren, als zweiter Band von Land und Leute heraus. Seine Naturgeschichte erlebte immer neue Auflagen; das Werk aber wurde von ihm selbst immer mehr als ein geschichtliches Gemälde betrachtet. Äußerlich gesehen vervielfachte sich zwar die Tätigkeit Riehls durch die Übernahme der Leitung der Bavaria, einer topographisch-statistischen, historischen und volkskundlichen Beschreibung des Königreichs Bayern, die im Auftrag des bayrischen Königs erschien. Von 1870 bis 1880 lag in den Händen von Riehl außerdem die Herausgabe des von Raumer begründeten, im Verlag Brockhaus erscheinenden Historischen Tagebuchs. Als Sechzigjähriger übernahm er auch Vorlesungen über Musikgeschichte an der neuerrichteten Münchener Musikhochschule. Riehl wurde Direktor des Bayrischen Nationalmuseums und Generalkonservator der Kunstdenkmäler und Altertümer Bayerns, er wurde Geheimrat, und es häuften sich akademische Auszeichnungen, Orden und Ehrenzeichen.

Aber selbst die Tatsache, daß Riehl zweimal das Rektoramt der Universität München bekleidete, konnte über die Tatsache nicht mehr hinwegtäuschen, daß die liberale Welt über ihn den Sieg davongetragen hatte. Nicht, daß er seinem Jugendwerk untreu geworden wäre, aber aus dem Kämpfer der vierziger und fünfziger Jahre war der ruhige Betrachter der Zeitläufe geworden, die ihm zunächst unrecht gaben, ihn nicht mehr verstanden und verstehen wollten. Alles andere aber als ein Doktrinär, glaubte er sich einer unvermeidbaren Entwicklung nicht mehr entgegenstemmen zu sollen. Er gestaltete nun nicht mehr die Geschichte, sondern schrieb Geschichten, Romane, Novellen. Sie alle atmen noch denselben Geist der Freude am Erzählen, gelten der deutschen Familie, dem Bürgertum, der kleinen Stadt, der Vergangenheit, der "guten alten Zeit". 1867 erschien bei Cotta Neues Novellenbuch, 1871 bis 1879 Gesammelte Geschichte und Novellen. Geschichten aus alter Zeit: I. Band 1863, II. Band 1867; Aus der Ecke, sieben Novellen, 1867 (Bielefeld); Vierzehn Nothelfer, 1874; Burg Neideck, 1876 (bei Reclam); Am Feierabend, 1880; Lebensrätsel, fünf Novellen, 1880; der Roman Ein ganzer Mann, 1894.

In seinen Religiösen Studien eines Weltkindes, 1894, faßte er seine Erfahrungen und seine Ansichten über Kirche und Religion zusammen. Er nannte sich jetzt liberal, und doch war er nur tolerant und stets konservativ geblieben. In München war sein Haus in der Gartenstraße ein Mittelpunkt geistiger und künstlerischer Interessen geworden. Die Ferien verbrachte er meist im bayrischen Oberland, in Tegernsee. Als Riehl am 13. November 1897 in München die Augen schloß, hatte er sich selbst um ein ganzes Menschenalter überlebt – aber seine Zeit sollte noch einmal kommen.


Wilhelm Heinrich Riehl.
Wilhelm Heinrich Riehl.
Druckgraphik, o. J.
[Nach bayerische-landesbibliothek-online.de.]
Was ist an Riehls Werk zeitlich bedingt und vergänglich, wo hat er uns auch heute noch oder wieder etwas zu sagen? Riehl lebt fort als Erzähler, als Kunsthistoriker, als Meister der Volkskunde und Landeskunde, als Sozialpolitiker. Als [13] Mensch und Künstler, als Wissenschaftler und Politiker ist er aus einem Guß, und doch müssen wir die einzelnen Seiten seines Wirkens ganz verschieden bewerten.

Als Erzähler nimmt Riehl eine beachtliche Stellung ein, freilich keine überragende. Am besten sind ihm manche Novellen und Skizzen gelungen, und vor allem dort, wo nur die Freude am Erzählen ihm die Feder führte. Eine stille Heiterkeit und gesundes, frisches Leben strömt von diesen Erzählungen aus. Nicht ungezügelte Leidenschaft, nicht das Absonderliche, nicht verworrene Lebensschicksale werden geschildert, sondern das gediegene Bürgertum, kräftige Bauerngestalten, die deutsche Familie. Ein starker ethischer Zug geht durch Riehls Erzählungen. Auch die Kunst hat sich in den Dienst der Volkserziehung zu stellen. Kein Wunder, daß er ein Volksschriftsteller wurde und Abertausende haben seine Erzählungen gelesen, die bei Reclam, in den Wiesbadener Volksbüchern und anderwärts erschienen sind: Burg Neideck, Die Spielmannskinder, Die vierzehn Nothelfer, Dachs auf Lichtmeß, Die Liebesbuße und andere mehr. Die Umwelt ist oft die Kleinstadt, die stille Residenz des Landfürstentums. Die gut alte Zeit war für Riehl nicht das Mittelalter, das er kaum richtig erfaßte, sondern das siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert. Im historischen Roman, wenn wir hier halbwegs die geschichtliche Treue der Umwelt und der Gestalten verlangen, erreicht Riehl seinen Zeitgenossen Gustav Freytag nicht. In seinem Sozialroman verspüren wir den Einfluß des Schweizers Jeremias Gotthelf, an dessen Größe sich Riehl nicht heranwagt. Wenn er es durchaus vermieden hat, das Schweizer Bauernvolk zu schildern, so mag in der Tat die Scheu vor den unerreichbaren Leistungen des großen Schweizers die Ursache sein. Bei den späteren Novellen und Romanen Riehls ist unverkennbar der Münchener Umgang mit Geibel und Heyse zu verspüren. Der Umfang der Erzählungen Riehls ist beträchtlich, aber andere Werke Riehls wiegen viel schwerer. Als Erzähler ist er in die Literaturgeschichte eingegangen.

Überraschen aber mag dagegen, daß er auf einem anderen Gebiet, wo er als bedeutender Fachmann erscheint, nicht die volle Anerkennung gefunden hat – als Kunsthistoriker. Aber auch das begreift man schließlich, wenn man sieht, wie eigenwillig er mit den Quellen umgegangen ist. Er wollte weder Sammler noch auch eigentlich Quellenkritiker sein. Er nahm aus der Masse gedruckter und anderer Quellen nur das, was ihm zur Beleuchtung der Zustände und Persönlichkeiten wertvoll erschien. Aber Bewunderung verdient es, wie er bisher und auch später kaum beachtete Quellen, Volkskalender, Malerbücher, Liebesbriefsteller, volkstümliche Karten und Atlanten kulturgeschichtlich auswertete. Sein Aufsatz über den Homannschen Atlas verdiente in der Geschichte der Kartographie größere Beachtung, als bisher ihm zuteil geworden ist. Die kritischen Kunsthistoriker hatten an Riehl viel auszusetzen, sie übersahen aber ganz, daß Riehl nicht lückenlose historische Entwicklungsreihen bieten wollte – er stellte vielmehr das Kunstwerk in die Landschaft. Riehl hat damit den Weg gewiesen für eine Kunstgeographie, die mehr ist [14] als nur Kunsttopographie. Dazu hat er aber meist nicht die alles überragenden Einzelleistungen auf dem Gebiet der Baukunst herausgegriffen, sondern die Dorfkirchen, die Rathäuser, Bürger- und Bauernhäuser vergleichend betrachtet auf ihrem besonderen landschaftlichen Hintergrund. Und hier ist er ein Meister geblieben und ein Lehrer gerade auch für uns.

In seinem viel zu wenig gelesenen Aufsatz über Das landschaftliche Auge lehrte er uns die Zeitbedingtheit der Naturauffassung und der Kunst. "Das landschaftliche Auge ist niemals ein absolutes, und wenn von zehn Menschengeschlechtern jedes den Urkanon landschaftlicher Schönheit in etwas anderem findet, dann hat doch keines durchaus recht oder unrecht. Wenn aber das landschaftliche Auge nur, wie die Juristen sagen, bona fide sieht, dann hat es auch für seine Zeit richtig gesehen!" Als Kinder sehen wir die Landschaft, die Gestalten anders als im höheren Alter, obwohl sich diese inzwischen wesenhaft gar nicht geändert haben.

Sein Sohn Berthold Riehl hat diese kunstgeographische Richtung fortgesetzt, und wir werden dessen Buch Die Kunst an der Brennerstraße die Anerkennung auch in jenen Teilen nicht versagen, wo wir die Zusammenhänge heute anders und richtiger sehen. Die Innstadt ist weder in Altbayern noch in Tirol eine italienische, sondern eine gotische Schöpfung, und in Südtirol vermengen sich mit der Annäherung an die Sprachgrenze keineswegs italienisches und deutsches Wesen, vielmehr heben sich deutsche und italienische Kulturlandschaft mit aller Deutlichkeit voneinander ab.

Dem "landschaftlichen Auge" ist das "musikalische Ohr" verwandt, und als Musikhistoriker ist W. H. Riehl stets mit Ehren genannt worden. Hier war er auch selbst Künstler, wenn auch weniger schöpferisch als nachempfindend. Die Eindrücke der Jugend und seiner Erziehung sind bestimmend für seine ganze Bewertung der Musik. Die deutsche Musik ist für ihn Hausmusik und Kirchenmusik. Das Volkslied erscheint ihm als die lauterste Quelle und als höchste Leistung. An die Volksmusik stellte er hohe Forderungen. "Für das Volk ist das Beste gerade gut genug." Aus dieser Einstellung heraus geißelte er die Verfallserscheinungen auf dem Gebiet der Volksmusik. Er, der Nichtsoldat, schrieb einen auch heute noch sehr zu beachtenden Aufsatz über Militärmärsche und Militärmusik. Nicht die Operette, sondern die Volksweise sollte auch hier der Wegweiser sein. An dem Bekenntnis seiner Jugend: "Mozart können wir nicht begreifen, Beethoven müssen wir staunend bewundern, Haydn aber müssen wir lieben", hat er auch im späteren Leben festgehalten.

Riehl war Professor für Kunstgeschichte, Musikgeschichte und Statistik. Wem fiele da nicht das Wort Scheffels ein von der Dichtung und Statistik, die leider auf gespanntem Fuße stehen? Riehl hat für seine Volks- und Kulturschilderungen in meisterhafter Weise die historische Statistik und moderne statistische Werte verwandt, im ganzen aber stand er dem statistischen Großbetrieb kritisch gegenüber. Wie viel Unfug ist auch durch eine gedankenlose Errechnung [15] und Verwendung von Mittelwerten in Wissenschaft und Praxis angerichtet worden. Die statistischen Institute und Ämter aber hätten mit großem Gewinn den geist- und humorvollen Vortrag Riehls Die statistische Krankheit zu Rate ziehen können. Für Riehl war die Statistik mehr als eine auf alle möglichen Lebenserscheinungen angewandte Mathematik, sie sollte eine Bestandsaufnahme von Land und Volk sein. Das Württembergische Amt für Statistik und Landeskunde hat dieses Ziel zu erreichen gesucht, ein Statistiker von der Größe Georg von Mayrs das Lebenswerk Riehls voll zu würdigen gewußt. Die Masse der Statistiker aber hat diesen nicht begriffen, konnte ihn nicht begreifen, weil sie nur Zahlen und Ziffern sahen, Riehl aber Land und Leute und eine organisch gegliederte Gesellschaft und viele Dinge, die man nur wägen, aber nicht zählen kann.

W. H. Riehl hat nicht das Studium von Tabellen und Kompendien, von Büchern und sonstigen Aufzeichnungen an die Spitze gestellt, sondern die Beobachtung selbst. Er wurde der "Fußwanderer im Bereich der Wissenschaft". Seine Handwerksgeheimnisse des Volksstudiums sind der Leitfaden für ungezählte Tausende von Wanderern in der deutschen Heimat geworden, sind es heute erst recht. Aber der Wanderer, der auf das Landes- und Volksstudium ausgeht, muß mit einem gründlichen Wissen ausgerüstet sein, das er sich aus geologischen und topographischen Karten, Landeskunden, Landesgeschichten, Ortschroniken und Statistiken erworben hat.

So ist Riehl der unerreichte Meister deutscher Landeskunde geworden, und diese erkennt heute Riehl immer deutlicher als den Bahnbrecher auf dem Gebiet der Kulturgeographie. Keiner hat die deutsche Kulturlandschaft, die Siedlungen, Wege und Stege mit größerer Meisterschaft geschildert als er, ja Riehl hat diese entdeckt, ihre Elemente uns gezeigt und ihre Ganzheit. Selten ist es einem Vertreter der deutschen Landeskunde so wie Riehl gelungen, Land und Leute als eine Einheit zu schildern, Geschichte und Landesnatur so zu verknüpfen, Wesenhaftes vom nur Zufälligen zu scheiden. Und doch übersah gerade Riehl die kleinsten, scheinbar nebensächlichsten Züge nicht. Seine Bilder sind aus tausend Mosaiksteinchen zusammengefügt und sind doch Leben und Wirklichkeit. Ohne Riehls Vorbild wären wohl Ratzels Altbayrische und Südwestdeutsche Wanderungen, auch sein liebenswürdiges Deutschlandbüchlein nie geschrieben worden. Niemand hat vor und nach ihm die Pfalz und den Rheingau treffender und künstlerischer dargestellt. Im wohlabgegrenzten Rheingau das Weinland, eine halbstädtische Welt, die Wandelbarkeit der Ortschaften und des Volkstums. In der Pfalz erkannte er, die wissenschaftliche Arbeit in späteren Jahrzehnten vorwegnehmend, die Gliederung der Rheinebene in Niederung und Hochgestade, den Gegensatz von Ebene und Vorhügelland an der Haardt, das gebirgige Westrich, das hügelige Westrich, die alle für Siedlung und Wirtschaftsleben, für die Volksart so ganz verschiedene Voraussetzungen bedeuten. Und den ganzen Rückschritt der Landeskunde unter dem Einfluß partikularistischen Denkens mag man ermessen, wenn [16] man Riehls Buch Die Pfälzer mit den zahlreichen nachfolgenden landeskundlichen Veröffentlichungen über die Pfalz bis in unsere Tage vergleicht. Für die späteren waren die weißblauen Grenzpfähle maßgebend für die landeskundlichen Begriffe und die Darstellung; für Riehl aber war die bayrische Pfalz ein "topographisches Fragment", ein Bruchstück oberrheinischen Landes und Lebens, dessen Lebensader, der Rhein, man zur Grenze erniedrigt hatte.

Wo das Denken der Wissenschaft und der Nation erstarrt war in den Grenzen von Bezirksämtern und haltmachte an den binnendeutschen Grenzpfählen, stellte Riehl wieder jene Landeinheiten heraus, die durch Natur und Geschichte organisch geworden sind. Ihm gelang es, den Taubergrund landeskundlich meisterhaft zu schildern, und wir konnten ihm siebzig Jahre später fast noch auf Schritt und Tritt in einer modernen Schilderung folgen. Ein früheres Wein- und Städteland, reiche landschaftliche Gliederung, mit der die Abschattierung des Volkstums zusammenklingt. Aber Riehls Meisterschaft zeigt sich dort in ihrer ganzen Größe, wo andere wohl gar nichts gesehen hätten. Sand, Kies, Gemüsefelder, große Dörfer ohne historisches Gesicht, eine einförmige und langweilige Ebene, interessant höchstens durch gelegentliche Erdbeben, das ist wohl das Urteil der meisten über das Gerauer Land. Riehl aber hat uns dieses Stück Rhein-Mainebene geschildert als Das Land der Phantasie, das Land der Kaiserpfalz Tribur, der Wahl von Kamba, wo der Salier Konrad II. in glänzender Versammlung zum deutschen König erwählt wurde, als das Land der Schwedensäule, der Gustavsburg gegenüber Mainz.

Oder welcher Geograph hatte bisher dem scheinbar so einförmigen niederbayrischen Hügelland südlich von Ingolstadt stärkeres Interesse abgewonnen! Riehl aber hat uns in seiner Schilderung der "Holledau" ein Musterbeispiel für die Darstellung eines solchen Bauernlandes mit der ganzen Eigenart seiner Siedlung, seines wirtschaftlichen und sozialen Lebens gegeben.

Heute ist die Zahl der Städtebeschreibungen schier unübersehbar angeschwollen. Ob die Städtegeographen und Städtehistoriker aber wissen, daß auch hierfür Riehl das glänzendste Vorbild geschaffen hat in seinen Augsburger Studien, wo er uns den Stadtplan als "Grundriß der Gesellschaft" entwickelte. Die rechtlich, sozial und wirtschaftlich gegliederte mittelalterliche Gesellschaft sonderte sich auch topographisch. Im Dombezirk die Geistlichkeit, die Patrizier im Herzen und Mittelpunkt der Bürgerstadt, in der späteren Maximilianstraße, die ihresgleichen in Deutschland nicht hat, die Handwerker an den Gewerbekanälen. Die soziale Gesinnung kommt in Stiftungen, in der Fuggerei, in den kleinen Häuschen an und auf der Stadtmauer zum Ausdruck. Grundriß und Aufriß einer deutschen Stadt sind künstlerisch und wissenschaftlich kaum von einem andern vollendeter geschildert worden.

Hatte Riehl in Rothenburg und Augsburg Reichsstädte dargestellt, eine protestantische und eine paritätische, so erstand in seiner Schilderung von Freising [17] das Bild einer geistlichen Stadt, alles geschöpft auch aus anderen Quellen. Die Bürgerstadt Freising liegt "hinter" dem Domberg, der mit seinen Kirchen und Klöstern alles bürgerliche Wesen überragt und überschattet.

Für uns ist Riehl auch ein Meister auf dem Gebiet der Grenzlandforschung. Es bedarf natürlich keiner Begründung, daß Riehl im Rahmen des ganzen deutschen Volkes, nicht des Deutschen Bundes oder des Deutschen Reiches dachte. Für ihn mußte es aber eine besonders dankbare Aufgabe sein, der Eigenart deutschen Volkstums an dessen Grenzen nachzuspüren. Schweizer und Niederlände stellte er in Vergleich und hob das Gemeinsame und das Unterscheidende heraus. In seinem Aufsatz Auf dem Wege nach Holland hat er tiefer als viele vor und nach ihm gesehen, was uns mit den Niederländern verbindet und was uns trennt. Von Friesland her wie auf dem Rheinweg und längs der limburgischen Lande sucht und findet er die Übergänge auf dem Lande und den Gegensatz in den großen Städten. Landschaft und Volkstum, Mundart und Siedlung, Volksbrauch, Feste und Alltag blieben gleich, aber die politische Geschichte und die Hochsprache haben Schranken aufgerichtet. Wo später oberflächliche Schilderungen trennende Wirkungen der Landesnatur behaupteten, erkannte Riehl in der Schwäche des Reichs und in der seewärts gerichteten Entwicklung der Niederlande und deren Freiheitskampf die Ursache der Ablösung und Sonderentwicklung. Des Gemeinsamen aber bleibt noch genug.

Für das Verständnis des Elsaß hätten die Elsässischen Kulturstudien Riehls für viele Verantwortliche und Unverantwortliche ein Schlüssel sein können. Er hat uns dort in genialer Weise das Elsaß als Straßenland, als Kriegsland, als Zwischenland geschildert. Einst das Land des Nordsüdverkehrs durch Rhein, Ill und die Landstraßen, wurden die Straßen gewaltsam in die Westrichtung abgelenkt. Aus den deutschen Reichsstädten wurden französische Grenzbollwerke, ihr Gesicht nach Frankreich gewendet. Aber das deutsche Wesen lebt auf dem Lande weiter, und das Bild der deutschen Kulturlandschaft konnte in Stadt und Land doch nicht ausgelöscht werden. Das Elsaß – der Aufsatz ist vor 1870 geschrieben – ist ein Zwischenland, nicht im Sinne eines Transitlandes für deutsche und französische Kulturware, nein, ein kerndeutsches Land nach seinem Volkstum, aber in die Mittlerrolle zwischen die beiden großen Nationen hineingestellt.

Der Verehrung Haydns verdanken wir die schöne Skizze Aus dem Leithawinkel. Riehl wollte den großen Komponisten aus seiner Heimat heraus verstehen dort, wo die deutsche Volksmusik auf madjarische und kroatische Musik stößt. Von Rohrau, dem Geburtsort Haydns, geht die Wanderung nach Rust und Eisenstadt, und wir erhalten eine eindrucksvolle Schilderung des damals gerade wieder einmal beinahe ausgetrockneten Neusiedler Sees. Wir lernen das deutsche Theater des Fürsten Esterházy kennen, noch hatte der ungarische Adel die Schwenkung ins madjarisch-chauvinistische Lager nicht vollzogen. Wenn es aber eines einwandfreien Beweises für den deutschen Charakter des Burgenlandes noch [18] bedürfte, so brauchte man nur auf Riehls klassische Schilderung zu verweisen, der jede politische Absicht fernlag und fernliegen mußte.

Riehl kannte nicht nur Wien und die Ostmark, er war auch in Königsberg, Danzig und Breslau zu Hause. Aber in seiner Naturgeschichte des deutschen Volkes kommt doch der Nordosten zu kurz. Ostpreußen und Schlesien werden nur ganz ausnahmsweise einmal erwähnt. Man wird zwar nicht sagen können, daß ihn das Kolonialland und die Neustämme des Ostens weniger interessiert hätten als die im Westen und Süden. Aber im alten Volksland lagen für ihn reizvollere Aufgaben, und man wird zugeben müssen, daß die räumliche Beschränkung der Vertiefung nur zugute gekommen ist. Den Gegensatz West und Ost erkannte Riehl wie den Gegensatz Nord und Süd im deutschen Volksleben. Die Unterschiede hat er in dem schönen Aufsatz Der Geldpreis und die Sitte festgehalten, der wohl auch wieder Vorbild zu Ratzels Aufsatz über das deutsche Dorfwirtshaus wurde. Aber er wandte sich gegen eine gedankenlose Übertreibung dieser Unterschiede, und er überwand die Mainlinie durch eine neue Auffassung wissenschaftlich vor deren politischer Beseitigung.

Die Dreiteilung deutschen Landes: Hochgebirge, Mittelgebirge und Tiefland, war auch von anderen schon erkannt und betont worden. Aber Riehl stellte jetzt in Landschaft und Volkstum, Siedlung und Wirtschaft, Natur und Kultur eine Übereinstimmung von Oberdeutschland und Niederdeutschland auf vielen Gebieten fest und Mitteldeutschland als Gegensatz zu beiden. Sein Mitteldeutschland umfaßt einmal die mitteldeutsche Gebirgsschwelle, aber auch das Land am Oberrhein; es ist also nicht so sehr ein Begriff der physischen Erdkunde als der Kulturgeographie und Sozialgeographie. In Nord und Süd sieht Riehl zentralisiertes, in Mitteldeutschland individualisiertes Land, Begriffe, die freilich auch zu Mißverständnissen Anlaß geben konnten. Das eine ist das gleichheitlich geeinigte, das andere das vielgestaltig gesonderte Land. Hier breit gelagertes Bauerntum, dort die Zersplitterung der Volksgruppen, Auflösung und Vielgestaltigkeit auf engem Raum. Hier durchdringen sich Stadt und Land, dort stehen die Städte für sich und sind herausgehoben aus dem platten Land. Man hat eingewendet, daß Riehl in seinen Abstraktionen zu weit gegangen sei. In der Tat, seine Stärke lag nicht in der begrifflichen Arbeit, sondern in der Anschauung und Beobachtung, nicht so sehr in der Forschung wie in der Gestaltung.

Eindringlich schildert Riehl den Gegensatz von Wald und Feld auf deutschem Boden in seiner Bedeutung für die Kulturentwicklung und die sozialen Zustände. Er nahm damit Erkenntnisse vorweg, wie sie durch Robert Gradmann ein halbes Jahrhundert später erst in ihren tieferen Ursachen erfaßt wurden. Im älteren Feldland finden wir meist nicht die ältesten Zustände. Vieles ist hier verlorengegangen und umgeformt worden. Aber im Waldland lebt noch die ganze Urwüchsigkeit des Volkstums. "In unseren Walddörfern sind unserem Volksleben noch die Reste uranfänglicher Gesittung bewahrt, nicht bloß in ihrer Schattenseite, [19] sondern auch in ihrem naturfrischen Glanze. Nicht bloß das Waldland, auch die Sanddünen, Moore, Heiden, die Felsen und Gletscherstriche, alle Wildnis und Wüstenei ist eine notwendige Ergänzung zu dem kultivierten Feldland. Ein durchweg in Bildung abgeschliffenes, in Wohlstand gesättigtes Volk ist ein totes Volk, dem nichts übrigbleibt, als daß es sich mitsamt seinen Herrlichkeiten selber verbrenne wie Sardanapal. Der ausstudierte Städter, der feiste Bauer des reichen Getreidelandes, das mögen Männer der Gegenwart sein, aber der armselige Moorbauer, der rauhe, zähe Waldbauer, der einsame, selbstgewisse, sagen- und liederreiche Alpenhirt, das sind die Männer der Zukunft." Und Riehl tritt für die Erhaltung des Waldes ein, den das große deutsche Binnenland mit seiner weit geringeren Küstenentwicklung so viel notwendiger habe als das meerumstoßene England. "Darum nehme ich den Wald in Schutz gegen das Feld, das Land gegen die Stadt, das rohe aber starke und frohgemute jugendliche Naturleben des Waldes gegen die greisenhafte Altklugheit der Zivilisation."

Zu den berühmtesten Schilderungen Riehls gehört das Land der armen Leute. In Westerwald und Rhön, im Fichtelgebirge und Bayrischen Wald, im Westrich und anderwärts hatte er die Elends- und Notstandgebiete der deutschen Mittelgebirge kennengelernt. Armseliges Bauerntum, angewiesen auf Taglöhnerarbeit, Arbeit im Steinbruch und in Heimarbeit; wandernde Musikanten, Hausierer sind hier zu Hause. Hier wurzeln so viele Hausindustrien – und die Auswanderung. Vom Fulder Land und der Westpfalz hat uns Riehl das besonders eindrucksvoll berichtet.

Alle diese Bilder aber lassen deutlich erkennen, daß es nicht so sehr ästhetische und rein wissenschaftliche Gründe waren, die Riehl die Feder führten bei seinen Schilderungen von Land und Leuten, als vielmehr das soziale Interesse. Und das übersahen auch so viele, die deshalb Riehls Volkskunde nicht verstanden. Name und Begriff dieser Wissenschaft geht auf Riehl zurück. Aber für ihn ist Volkskunde weder Museumswissenschaft noch Raritätenkunde, sie ist auch kein Tummelplatz für Philologen. "Die moderne Ethnographie will das Volksleben in seiner inneren Notwendigkeit erkennen und die äußeren Tatsachen desselben als das Produkt aller organischen Entwicklung – der Natur wie der geistigen und materiellen Kultur eines Landes." Die Volksseele, das Volk selbst bei der Arbeit und auch bei Festen, das ist das Ziel der Volkskunde. Auch über das Verhältnis von Landeskunde und Volkskunde hat sich Riehl klar ausgesprochen. "Die Volksschilderung faßte man als eine Illustration zur Geographie, das Volk als eine Staffage der Landschaft auf, wo es doch umgekehrt viel näher läge, in der Landschaft einen Hintergrund des Volkslebens zu sehen." Er weiß um den engen wechselseitigen Zusammenhang von Land und Leuten, von Blut und Boden. Riehl sieht aber die Erdgebundenheit unseres Daseins und seiner Formen. "Die Naturbedingtheit der Bodengestalt führt uns auf wirtschaftliche Notwendigkeiten und dieses wieder auf notwendige Gestaltungen des Volkstums. So bedingt ein topographisches ein wirtschaftliches Moment, und aus den ökonomischen Zuständen wachsen wieder [20] soziale Besonderungen des Volkstums hervor." Mit größter Meisterschaft zeichnet Riehl aber nicht nur die scharf sich abhebenden Volksgruppen auf dem Hintergrund verschieden ausgestatteter Landschaften, sondern gerade auch die allmählichen Übergänge und Schattierungen des Volkstums, die andere bisher ganz übersehen hatten.

Riehls Volkskunde ist eine Volkslehre, seine Volksschilderungen sind ein Sittengemälde – Riehl ist der Begründer einer organische Auffassung unserer Gesellschaft, Riehl ist vor allem Sozialpolitiker und Sozialwissenschaftler. Seine Stellung und Bedeutung ergibt sich aus seiner Ablehnung des Polizeistaates und der liberal-demokratischen Auffassung von Staat und Gesellschaft. Jene Auffassung ging aus von der gleichartigen Untertänigkeit der Staatsbürger, sie verneinte den Unterschied von Stadt und Land und der verschiedenen Volksgruppen und Stände. Seit Riehl aber wissen wir, daß ein Volk mehr ist als die Summe der Staatsbürger. Vor Gott sind alle Menschen gleich – aber nur vor Gott allein, nicht vor den Menschen. "Die Lehre von der bürgerlichen Gesellschaft ist die Lehre von der natürlichen Ungleichheit der Menschen. Ja in dieser Ungleichheit der Gaben und Berufe wurzelt die höchste Glorie der Gesellschaft, denn sie ist der Quell ihrer unerschöpflichen Lebensfülle."

In seiner Auffassung einer ständischen Gliederung der Gesellschaft scheint Riehl von dem Berner Patrizier L. von Haller beeinflußt zu sein. Die Stände sind aber für Riehl nicht die rechtlich und beruflich gesonderten Stände des Mittelalters. "Unter den natürlichen Ständen denke ich mir die wenigen, großen Gruppen der Gesellschaft, welche nicht durch ihren Beruf, sondern durch die aus der Arbeit erwachsenen Sitten, Bildung und Lebensart, durch ihre ganz naturgeschichtliche Erscheinung, durch das Prinzip, welches sie in der geschichtlichen Fortbildung der Gesellschaft vertreten, unterschieden sind." Schäffle hat in seinem Bau und Leben des sozialen Körpers eine andere Theorie einer organischen Gesellschaftslehre versucht. Aber wir müssen Eberhard Gothein zustimmen, wenn er Schäffles Theorien als phantastische Analogien bezeichnet, die wohl glänzen, aber sich in Rauch auflösen, während wir bei Riehl überall auf den festen Boden richtig beobachteter Tatsachen treten, die allerdings auch gelegentlich einer anderen Auslegung zugänglich sind. "Es ist Waldluft nach Stubenluft, die man bei Riehl einatmet." Später wurden gewiß exaktere Methoden der sozialen Zergliederung angewandt – aber keine war vielseitiger und künstlerischer als die Riehls.

Die bürgerliche Gesellschaft gliedert Riehl in die Mächte des Beharrens und der sozialen Bewegung. Zu den ersteren gehören nach ihm Bauern und Adel, zu den letzteren das Bürgertum und das Proletariat. Unsere Beurteilung dieser Kräfte mag von der Riehls abweichen, aber darin gehen wir mit ihm einig: "Der Bauer ist die erhaltende Macht im deutschen Volke, so suche man denn auch diese Macht zu erhalten." Zu unserem Verhängnis hat man aber jahrzehntelang diesen Staatsgrundsatz mit Füßen getreten. In seiner Schilderung des deutschen Bauerntums [21] lehnte sich Riehl an Justus Möser an, ohne aber in dessen Fehler zu verfallen. Für Möser waren die westfälischen Bauern des Osnabrücker Landes schlechthin die Vertreter des Deutschtums und Germanentums. Riehl hielt auch manches für ursprünglich, was in Wirklichkeit im Laufe der Geschichte erworben wurde. Dazu gehören auch manche angeblich aus der Urzeit stammende und scheinbar kommunistische Züge unserer Agrarverfassung. Er hat uns selbst am Beispiel der niederbayrischen Holledau gezeigt, wie durch den Hopfenbau auch die sozialen Verhältnisse verändert wurden und die Sitte. Aber darin bedeutet Riehl einen so großen Fortschritt gegen J. Möser, daß er uns die ganze Vielgestaltigkeit deutschen Bauerntums leibhaftig vor Augen geführt hat. Ob Riehl beim Adel immer richtig gesehen hat, mag bezweifelt werden. Immer wieder macht sich hier die Verwechslung des Mittelalters mit dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert geltend. Das Fideikommiß ist nicht wie das bäuerliche Anerbenrecht aus rein deutscher Wurzel entsprungen. Unsere Erbhofgesetzgebung aber hat in Riehl eine starke Stütze.

Riehl zeigt uns die Bauern von guter Art und entartete Bauern, Bauernstädte und Stadtdörfer. So auch ein in sich noch gefestigtes Bürgertum, Handwerker, Kaufleute und ein zerbröckelndes, zerfallendes, aufgelöstes Bürgertum, den sozialen Philister. In aller Farbenpracht hat er uns in Augsburg das Bild einer echten Bürgerstadt gezeichnet; mit ätzender Schärfe geißelt er dagegen die künstlichen Städte mit ihrem unechten Bürgertum. Der Satz, daß Stadtluft frei mache, gelte nur für die alten organisch gewachsenen Bürgerstädte, in den neuen Residenzen und Verwaltungsstädten aber lebe ein armes, gedrücktes, unfreies Bürgertum. Solche Städte sind aber auch alles andere als Klammern für den Zusammenhalt der Nation. "Die künstlichen Städte sind die rechten Stützpunkte und Strebpfeiler der Kleinstaaterei – denn beide haben in gleicher Weise Ursache, sich vor jeder naturgemäßen Reform unserer nationalen Zustände zu fürchten." Die Zeit hat allerdings Riehl hier an manchem Punkt nicht recht gegeben, und Riehl hat später das harte Urteil denn auch etwas gemildert.

Das echte Bürgertum aber, das uns Riehl als Macht der Bewegung geschildert hat, möchten wir auch eher zu den Mächten des Beharrens rechnen. In früheren Jahrhunderten war der Adel die führende Schicht, heute ist es das Bürgertum. Darum spricht Riehl von der Gesellschaft der Gegenwart als der "bürgerlichen Gesellschaft". Der Bauer aber gehörte nur in wenigen Landstrichen Ober- und Niederdeutschlands zu den Ständen.

Zu den geistvollsten Untersuchungen sind Riehls Ausführungen über das Proletariat zu rechnen. Einen Vierten Stand gab es zunächst bei uns nicht, und der deutsche "Arbeiter" ist nur ein übersetzter "ouvrier". Dem deutschen sozialen und politischen Leben droht auch von der Handarbeiterschaft keine Gefahr, wohl aber von den deklassierten Ständen. Zu diesen Proletariern des Geistes und der Arbeit gehören nicht nur jüdische und andere Literaten, verkrachte Akademiker, [22] brotlose Künstler, sondern auch heruntergekommene Adlige, entartete Bürger, Handwerker und Bauern. Wir haben daher nur die Wahl, entweder eine soziale und ständische Politik zu treiben oder uns dem politischen Sozialismus und Kommunismus zu verschreiben. Die liberale und demokratische Doktrin weiß keinen Ausweg aus dem Verfall und der Zersetzung. Und weil sie nicht den Mut und die Einsicht hat, ihre Gedanken zu Ende zu denken, werden wir bei einem radikalen, internationalen Sozialismus landen. Vergeblich hatte Riehl das den Zeitgenossen gepredigt. Es kam die Nivellierung und Atomisierung der Gesellschaft, und erst heute – nach schwersten Erschütterungen unseres Volkslebens – suchen und finden wir zu Riehl zurück.

Der Aufbau der Gesellschaft aber hat von der Familie aus zu erfolgen. Wo der Familienzusammenhalt noch besteht, da ist auch die Gesellschaft gesund. Riehl verlangt ein patriarchalisches Verhältnis zwischen den Kindern und dem Gesinde, den Knechten und Mägden und dem Hausherrn. Riehl spricht vom "ganzen Haus" und verlangt strenge Unterordnung unter das Regiment und die Sitte des Hauses. Auch auf den Zusammenhalt und die soziale Bedeutung der Nachbarschaft hat Riehl hingewiesen. Seine Auffassung der Familie wurzelt in der Ungleichheit der Geschlechter, daher bekämpft er auch die Emanzipation der Frau und die Gleichberechtigung der Geschlechter.

Es bedeutete einen großen Fortschritt, als Riehl den Unterschied zwischen politischer und sozialer Gemeinde, bürgerlicher und Staatsgesellschaft erkannte. "Die bürgerliche Gesellschaft ist das Volk unter dem Gesichtspunkte seines Gemeinlebens in Arbeit und Besitz und in der hieraus entstehenden Gesittung. Die Staatsgesellschaft dagegen ist das Volk unter dem Gesichtspunkte seines Rechtsbewußtseins und Rechtswillens und des ganzen auf Grund dieser Rechtsgemeinschaft entwickelten Gesittungslebens." "Die Nation ist ein durch Stamm, Sprache, Sitte und Siedlung verbundenes Ganze. Die vier S sind innig miteinander verbunden, voneinander abhängig. Die vier großen S sind der Grund alles lebendigen Lebens, ein Urgrund, der das wandelbare Staatsleben der Völker weit überdauert und erst mit dem letzten Atemzuge des Volkes in Trümmer fällt." Das Volk ist das Ewige, der Staat das Vergängliche, aber Staat und Volk sollen zur Deckung gebracht werden. "Ihren Mittelpunkt aber muß die Volkskunde in der Idee der Nation finden, wenn sie wirklich eine Wissenschaft sein soll." Nicht die Rechtswissenschaft, sondern die Volkskunde hat am Anfang der staatsbürgerlichen Erziehung zu stehen, und kein Erzieher und Pfarrer, Richter und Verwaltungsbeamter, Arzt und Offizier sollte ohne diese Grundlagen sein Amt ausüben dürfen. Die staatsbürgerliche Erziehung habe zu beginnen mit der "Naturgeschichte" des Volkes, die in Wahrheit eine politische Volkslehre sein sollte. "Und die Politik, welche solchergestalt mit der Erkenntnis von Land und Leuten anhebt, müßte eine farben- und gestaltenreiche fröhliche Kunst und Wissenschaft sein, nicht eine dürre, graue Doktrin." An die Einführung in die Kenntnis von Land und Leuten, die [23] natürlichen und ethnographischen Grundzüge des deutschen Landes und Volkes, hat sich die Kenntnis der Familie, ihre Ordnung und Geschichte anzuschließen, dann die der bürgerlichen Gesellschaft und zuletzt die des Staates und seiner Rechtsordnung. Riehl wollte aber ein starkes Reich; daher wandte er sich so scharf gegen die Zufallsstaaten und einen schädlichen Partikularismus. Sondergeist und Einigungstrieb im deutschen Volk müssen sich ergänzen.

Ohne ein Sittengesetz könne keine Gesellschaft bestehen. Das religiöse Glaubensbekenntnis Riehls wurzelt in den konfessionell gemischten Gebieten am Oberrhein, vor allem der Pfalz. In dreißig Jahren hatten dort viele Städte und Dörfer bis zu fünfmal das Bekenntnis gewechselt, was blieb dann noch übrig als Duldung – wenn nicht Gleichgültigkeit. Riehl nennt sich liberal und ist doch nur tolerant. Er beklagt die religiöse Spaltung nicht, sieht dahin eher einen Reichtum deutschen Lebens, das uns einen Vorsprung vor konfessionell einheitlichen Volkstümern gäbe. Im katholischen Glauben rühmt er die Reste naiver Volksreligion, im Protestantismus Frömmigkeit und Milde. Jeden konfessionellen Fanatismus bekämpft er als unser nationales Unglück.

In Wilhelm Friedrich Riehl spiegelt sich die Wandlung des deutschen Volkes wider, das im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts noch in altväterlichen Zuständen verharrte. Bauerntum, Mittel- und Kleinstädter bestimmten damals das soziale Leben. Dann kam die Auflösung und Zersetzung der Gesellschaft im Gefolge des ökonomischen und politischen Liberalismus. Großstadtentwicklung und Fabrikindustrie siegten über das Bauerntum und die Kleinstadt. Heute, wo die Fehlentwicklung offenkundig ist, suchen wir den Weg zurück zu Riehl, der ja kein Bannerträger der Reaktion war, wie seine Gegner behaupten, sondern nur ein Mahner an das deutsche Volk, zu beharren in den natürlichen Grundfesten unseres Daseins. Der Volksstaat, der völkische Staat hat und muß in Riehl einen seiner wichtigsten geistigen Wegbereiter sehen. Der zeitliche Mißerfolg Riehls lag nicht in seiner Persönlichkeit begründet, er sprach zum Herzen und Gemüt und fand und findet damit auch den Weg zum Verstande. Sein Vermächtnis an das deutsche Volk, an die Wissenschaft und die Staatsführung ist bleibend. Heute, nachdem die Zeit erfüllt ist, erntet Riehl, nachdem er selbst nicht mehr auf eine volle Ernte gerechnet hatte. Und die Stimmen derer sind verstummt, die Riehl einen Journalisten, einen Romantiker, einen unzeitgemäßen Weltverbesserer genannt haben. So lebt Riehl in der Geschichte unseres Volkes fort als eine seiner vielgestaltigsten und fruchtbarsten Persönlichkeiten.




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Die großen Deutschen: Neue Deutsche Biographie.
Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz