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Hessen
Heinrich Gutberlet

Wenn man den Hessen nach seiner Heimat fragt, so wird man aus seiner Antwort, die der herben, zurückhaltenden Art seines Wesens entspricht, erkennen, mit welch' tiefer Innigkeit und Treue er an der Scholle der Väter hängt, mag sie lieblich und traut, mag sie rauh und unwirtlich sein. Er ist stolz auf die geschichtliche Vergangenheit des deutschesten aller deutschen Volksstämme, aber in diesen Stolz mischt sich eine leise, auch dem Fremden nicht verkennbare Wehmut über die Tragik, die dem Hessentum und dem Gang seiner Geschichte vom Schicksal auferlegt worden ist.

Nicht nur die Lage des Landes, sondern auch Wesen und Sprache des Volksstammes weisen darauf hin, daß Hessen so recht eigentlich den Übergang vom deutschen Norden zum Süden bildet. Hessen ist vorwiegend Hügelland. Es gibt Gegenden, die einen Gürtel fruchtbarster Ackererde darstellen und die in ihrer Eigenart und in ihrer Überfülle von Schönheiten mit den kostbarsten Landschaften Deutschlands wetteifern. Geradezu eine Kornkammer ist die gesegnete Schwalm, wo die Menschen in ihrer Tracht und Lebensweise den Sitten und Bräuchen der Altvordern in ursprünglicher Merkwürdigkeit treu geblieben sind.

Besonders malerisch außer dem Schwalmländchen sind die Gegenden zwischen Friedberg und Marburg a. d. Lahn und die Ufer der Eder und Fulda. Wildromantisch sind die Basaltkuppen der Hohen Rhön und die Berge und Täler, über die sich wie ein König der Meißner, der sagenumwobene "Hollenberg", erhebt. Wie ein offenes Schatzkästlein liegt Kassel, die einstige Residenz der hessischen Landgrafen und Kurfürsten, inmitten schimmernder blauer Wälder, bewacht von den Burgen von Wilhelmshöh.

Lahntal im Morgennebel.
[217]      Lahntal im Morgennebel.

Aber es gibt auch Landstriche in Hessen, wo bitterarme, aber lebensstarke Menschen in harter Arbeit mit dem Boden ringen müssen, weil dieser nur hergibt, was ihm abgezwungen wird. Fast an das bekannte Wort der "Streusandbüchse des heiligen Römischen Reichs", mit dem man die Mark Brandenburg bezeichnete, erinnert der wohl ein wenig übertriebene uralte Reim, der nicht gerade wie ein Lob auf Hessens Fruchtbarkeit klingt:

    "Im Lande Hessen
    Ist wenig zu essen.
    Hohe Berg' und tiefe Tal,
    Saurer Wein überall.
    Wenn die Schlehen und Holzäpfel mißraten,
    Haben sie weder zu sieden noch zu braten."

[212] Aber daß an diesem Reim etwas Wahres ist, wird man zugeben müssen. Schon ein alter hessischer Chronist sagt, "daß das Lob anderer Länder, wie Babylon, Ägypten und Palästina, wo Milch und Honig fließt, dem Hessenlande nicht zugeschrieben werden könne, darinne rauhe Luft und der Erdboden etwas ungeschlacht."

Daß dennoch das Hessenland sich schon in der Vergangenheit großer Wertschätzung in deutschen Landen erfreute, wird durch einen Ausspruch Winkelmanns erhärtet, der auf folgendes hinwies: Die Historiker, sagt er, haben die Wahrnehmung gemacht, daß die Länder von gutem Wohlstand zeugen, deren Haupterzeugnisse mit "W" anfangen. Diese Voraussetzung sei auf Hessen in vollem Maße anzuwenden, während man das von einer ganzen Reihe anderer Länder nicht sagen könne. Die Erzeugnisse mit den Anfangsbuchstaben "W" heißen: "Wasser, Weizen, Wein, Weiden, Wiesen, Weiher, Wolle, Wachs, Werk (Flachs), Wälder und Wild."


Die Landschaft formt das Wesen des Einzelmenschen; sie gibt aber auch dem Charakter des Volksstammes dann ein ureigenes Gepräge, wenn der Stamm seit Jahrhunderten auf der Heimatscholle seßhaft war, also eine Vermischung mit wesensfremden Elementen in stärkerem Ausmaß nicht stattgefunden hat.

Feiertag auf dem Lande.
[215]      Feiertag auf dem Lande. Hessische Bauern in der Kirche.

Die Bewohner des Hessenlandes haben sich - namentlich auf dem Lande - wie kein anderes Volk die Eigenart und Geschlossenheit ihres Stammes bewahrt. Im Gegensatz zu vielen anderen germanischen Völkern haben die Chatten, die Vorfahren der Hessen, auch während der Völkerwanderung ihre Wohnsitze nicht verändert. Dem römischen Geschichtsschreiber Tacitus verdanken wir die ersten Nachrichten über die Chatten. Er rühmte ihre Kriegskunst, ihre reinen Sitten und ihre Tapferkeit. Es waren hohe, kräftige Gestalten mit blondem Haar und blauen Augen.

Die Chatten gehörten zu dem großen Stamme der Franken, dessen Gebiet sich zu beiden [213=Foto] [214] Seiten des Mains, weit nach Norden und weit nach Süden hin, ausdehnte. An das Frankenland grenzte im Norden, etwa vom Reinhardswald ab, das Land der Sachsen. Nach Osten, ungefähr vom Werragebiet ab, schloß sich das Land der Thüringer an.

Die Sprache der Franken war von derjenigen der Sachsen recht verschieden. Auch die kulturellen Merkmale der Sachsen wichen von denjenigen der Franken wesentlich ab. Noch heute sind diese Unterschiede wahrzunehmen. Im fränkischen Hessengau, also im Rhön- und Fulda-Gebiet, auf der Schwalm und dem Vogelsberg, im Mainstrich und Kinzigtal, an der Eder usw. finden wir den fränkischen Bauernhof. Die Gebäude werden durch eine Mauer oder ein Gitter mit einem Hoftor von der Straße abgeschlossen. Durch das Tor kommt man auf den Hof, der vom Wohnhaus mit dem Stall, der Scheuer und den Wirtschaftsgebäuden umgeben ist. Das Wohnhaus besteht meist aus zwei Stockwerken; der Flur führt unmittelbar in die Küche. Hinter der Wohnstube liegt, durch eine Bretterwand davon getrennt, die Schlafkammer.

Anders im sächsischen Hessengau - Gegend von Wolfhagen und Hofgeismar und von da weiter nach Norden hin. Sämtliche Räume im sächsischen Bauernhaus für Menschen, Vieh und Vorräte sind hier unter einem Dach. Die eine Giebelseite hat ein großes, oben gerundetes Tor, das auf die Tenne oder Diele führt. An den beiden Längsseiten, rechts und links von der Tenne, sind die Stallungen. Über der Tenne und den Ställen wird das Getreide aufbewahrt. Geht man von der Einfahrt geradeaus über die Tenne nach der anderen Giebelseite, so kommt man in den Küchenraum, der nicht von der Tenne abgeschlossen ist. An dieser liegen die Wohn- und Schlafstuben.

Schlitzerländische Bauernmädchen.
[212]      Schlitzerländische Bauernmädchen
am mittelalterlichen Dorfbrunnen in Fraurombach.
Der Verschiedenartigkeit der Bauweise entspricht auch der Unterschied der Mundarten der Bewohner des Hessenlandes. Aus dieser Mundart kann man häufig erkennen, aus welcher Gegend jemand stammt. Der Hessensachse redet eine platt- oder niederdeutsche, der Hessenfranke eine mitteldeutsche Mundart.

Dem Hessen wird von jeher Fleiß, Zähigkeit und Genügsamkeit nachgerühmt. Er ist, wie man sagt, gerad bis zur Grobheit, aber bieder und brav. Treu und Glauben gelten, besonders bei den Landbewohnern, noch heute als selbstverständliche Eigenschaften. Vereinbaren die Schwälmer untereinander ein Darlehen, so geschieht das in der Regel aufs Wort oder auf einen einfachen Handschein. Gerichtliche Abmachungen dieser Art werden schon als ein Zeichen von Kreditlosigkeit angesehen. Wer in ein von den Schwälmern bewohntes Dorf, etwa nach Loshausen oder nach Willingshausen, kommt, gewahrt bei Männern, Frauen und Kindern noch die eigenartigen Trachten, die von Geschlecht auf Geschlecht überliefert worden sind. Selbst die schweren Kriegszeiten, die Hessen im Laufe der Jahrhunderte von Grund auf erschütterten, haben an dieser Überlieferung nichts geändert. Die weißen Kittel, der niedergekrempte Hut, die kurzen Beinkleider sind bei den Männern noch in vollem Ansehen, und die Frauen, die sorgsam ihre Festtagstrachten in uralten Truhen bewahren, halten fest an ihrem Kleid aus der von den Müttern und Großmüttern selbstgefertigten Leinwand. Diese Trachten vererben sich vielfach von Kind auf Kindeskind.


Im Anfang des zehnten Jahrhunderts treten die Hessen als Volksstamm in das hellere Licht der deutschen Geschichte. Herzog Konrad aus fränkischem Geschlecht, ein tapferer [215] Kriegsmann, der in Fritzlar Hof hielt, wurde nach dem Aussterben der Karolinger 911 zum deutschen König erwählt. Konrad war der Sohn des in der Babenberger Fehde gefallenen Herzogs Konrad von Thüringen. König Konrad machte in den Jahren 912 und 913 wiederholt Anstrengungen, die Franzosen aus Lothringen zu vertreiben. Allein seine Macht war infolge der Uneinigkeit der deutschen Stämme zu gering, er mußte sich am Ende damit begnügen, daß wenigstens das Elsaß dem deutschen Reiche erhalten blieb. Ununterbrochen bis zum Jahre 1681 ist das Elsaß, dieses kerndeutsche Land, im Verbande des Reiches verblieben. Erst zu dieser Zeit gelang es Ludwig XIV. von Frankreich infolge der Ohnmacht des im Dreißigjährigen Kriege geschwächten Reiches, den schon längst geplanten Raub des Grenzlandes auszuführen.

Für die seltene Seelengröße König Konrads spricht es, daß er, als er im Jahre 918 in Weilburg auf dem Sterbebette lag, seinen Bruder, den Herzog Eberhard, zu sich rief und ihn beauftragte, dem Sachsenherzog Heinrich, seinem - Konrads - Gegner, die Königskrone anzutragen. "Das Glück, mein Bruder, und des ganzen Reiches Wohlfahrt beruhen auf ihm, dem starken Herzog der Sachsen." Das waren des Königs letzte Worte. So hat Konrad, der Hesse, noch im Angesichte des Todes seinem Vaterlande den größten Dienst erwiesen. Konrad liegt in Fulda begraben. Während seiner Regierungszeit wird zum ersten Mal Chassalla, das spätere Kassel, genannt.

Weilburg a. d. Lahn.
[213]      Weilburg a. d. Lahn. Brunnen auf dem Schloßhof.

Unter den hessischen Edlen wurden nun die Grafen von Gudensberg mächtig. Als die Tochter des letzten Grafen von Gudensberg den Landgrafen von Thüringen heiratete, kam Hessen an Thüringen. Diese Vereinigung der beiden Länder hielt 125 Jahre an. Ludwig der Heilige, Landgraf von Hessen und Thüringen, der Gemahl der Heiligen Elisabeth, starb im Jahre 1227. Die heilige Elisabeth, von ihrem Schwager Heinrich Raspe von [216] der Wartburg vertrieben, hauchte in Marburg im Jahre 1231 ihr junges Leben aus. Sophie, ihre Tochter, vermählte sich mit dem Herzog von Brabant. Der vierjährige Sohn der Herzogin, Heinrich von Brabant, genannt das Kind von Hessen, wurde 1265 als Heinrich I. zum Landgrafen von Hessen erwählt. Er wurde der Stammvater des hessischen Fürstenhauses. Alle Nachkommen Heinrichs, bis zu Wilhelm IX., der im Jahre 1803 als Wilhelm I. die Würde eines Kurfürsten von Hessen annahm, führten den Titel Landgraf. Landgraf Heinrich II., der im Jahre 1376 starb, war ein von seinen Gegnern gefürchteter Herrscher.

    "Hüte dich vor dem Landgrafen von Hessen,
    Wilt du anders nicht werden aufgefressen,"

lautete ein Sprichwort, das damals bei Freund und Feind Geltung hatte. Von allen Fürsten des Hessenlandes hat keiner so hohe Bedeutung erlangt wie Landgraf Philipp der Großmütige, der beinahe 60 Jahre (1509-1567) seinem Hessenvolke ein hochgesinnter Führer und gütiger Vater war. In weiser Voraussicht berief er, nachdem in Hessen die Reformation durchgeführt worden war, Luther und Zwingli zu einem Religionsgespräch nach Marburg. Seine Hoffnung, daß diese Zusammenkunft zu einer Einigung der Reformatoren führen würde, erfüllte sich nicht, weil in der Lehre vom Abendmahl jeder der beiden großen Männer auf seiner Ansicht beharrte. Mit den anderen protestantischen Fürsten schloß Philipp einen Bund (Schmalkalden). Die Gegensätze zwischen den im Schmalkaldischen Bund vereinigten Fürsten und dem Kaiser Karl V. führten zu einer kriegerischen Auseinandersetzung. Nach dem Sieg Kaiser Karls V. bei Mühlberg (1547) geriet Philipp in Gefangenschaft, aus der er erst nach fünf Jahren befreit wurde.

Für die weitere Entwicklung des Hessenlandes war es verhängnisvoll, daß Philipp, dieser kluge und sonst so vorausschauende Fürst, sein Land unter seine vier Söhne teilte, und zwar dergestalt, daß aus dem wegen seiner Macht und Größe achtunggebietenden Hessenland vier in ihrer Bedeutung entsprechend geschmälerte Länder: Hessen-Kassel, Hessen-Marburg, Hessen-Darmstadt, Hessen-Rheinfels, hervorgingen. Von diesen vier Ländern verblieben später als selbständige Staaten nur noch die beiden Hauptlinien Kassel und Darmstadt.

Ein widriger Schicksalswind trieb die beiden Länder, deren Bewohner gleichen Stammes waren, im Laufe der Jahrhunderte auseinander. Hessen-Darmstadt stand im Dreißigjährigen Kriege im Lager Österreichs. Im Gegensatz zu Hessen-Kassel, dessen Wohlstand vernichtet, dessen Städte und Dörfer von den Scharen Tillys und Wallensteins verheert und gebrandschatzt wurden, weil Kassel für die Sache der Protestanten focht, blieb Darmstadt von den Schrecknissen des Krieges im großen und ganzen verschont. Im Siebenjährigen Kriege, an dem Hessen-Darmstadt nicht teilnahm, stand der Landgraf Hessen-Kassels, Wilhelm VIII., mit seinem Heere auf der Seite Friedrichs des Großen. Gegen die Franzosen kämpften die Hessen mit großer Tapferkeit. Von den Verwüstungen, die die Franzosen auf ihrem Rückzug 1761 im Hessenland angerichtet hatten, zeugt heute noch die Ruine der altehrwürdigen Stiftskirche in Hersfeld. Dieser Dom, der aus einer Kapelle, die der Abt Lullus, der Schüler Winfrieds, im Jahre 736 errichtet hatte, erstand, war eines der gewaltigsten romanischen Bauwerke Deutschlands.

[217] Der Hesse galt - wie der Schweizer - als ein tapferer Soldat. Mit den Schweizern hatten die hessischen Truppen das Schicksal gemein, daß sie auf vielen Schlachtfeldern Europas - ja selbst in Amerika - für die Interessen fremder Völker kämpfen mußten. Welch ausschlaggebende Macht hätte Hessen in Deutschland erringen können, wenn die Fürsten, anstatt ihre Landeskinder als Kanonenfutter an andere Staaten zu verkaufen, das unvergleichliche Soldatenmaterial, das ihnen zu Gebote stand, zur Ausgestaltung der Vormachtstellung ihres eigenen Landes verwandt hätten! Die Geschichte Deutschlands hätte eine andere Wendung erhalten. Hessen wäre dann nicht auf der Übergangsstufe vom Kleinstaat zum größeren Staat stehen geblieben. Mit Wehmut denkt der Hesse an die Versäumnisse des Fürstenhauses, das unter Philipp einen so großen Anlauf genommen hatte, zurück.

Allerdings darf bei gerechter Berichterstattung nicht verschwiegen werden, daß die Landgrafen Karl und Friedrich II. die reichen Mittel, die ihnen vorzugsweise aus den Subsidien-Verträgen zuflossen, zur Verschönerung des Landes, namentlich zur Errichtung hervorragender Bauten in Barock- und Rokokostil benutzten. Ein entzückendes Kleinod im Rokokostil ist das Schlößchen Wilhelmstal bei Kassel. Aber auch der Dom zu Fulda, die Ober-Neustädtische Kirche in Kassel, das Oktogon mit Kaskaden und Herkules, ferner [218] der Königs- und Friedrichsplatz in Kassel, verdanken jener Zeit ihre Entstehung. Dieser Glanz und diese Pracht konnten aber die Tatsache nicht verdecken, daß das hessische Volk mehr und mehr verarmte. Während am Hof ein Fest das andere jagte, mußten die hessischen Bauern nicht nur im Schweiße ihres Angesichts die schwersten Lasten tragen, sondern auch ihre Söhne den Fürsten zur Bereicherung der Staatskasse opfern.

Der Dom zu Limburg.
[219]      Der Dom zu Limburg. Ein Höhepunkt deutscher romanischer Baukunst.

Ein zwar autokratischer aber trotz seiner Baulust sparsamer, höchst origineller Herrscher aus der Zopfzeit war Wilhelm IX.,. der spätere Kurfürst Wilhelm I. Er war der Schöpfer der Schlösser in Wilhelmshöh, das während der Franzosenzeit (1806-1813) von Jerome, dem flatterhaften König Lustig, den Namen "Napoleonshöh" erhielt. Der Kurfürst, ein echter deutscher Mann, der 1806 mit Preußen gegen Napoleon gekämpft hatte, wurde von dem Korsen entthront und mußte das Land verlassen. Im Jahre 1813, nach den Befreiungskriegen, kehrte er aus Prag in das Land seiner Väter zurück. Seine Nachfolger, die Kurfürsten Wilhelm II. und Friedrich Wilhelm I., hatten schwere Verfassungskämpfe mit ihrem Volke, die zu einer dauernden Entfremdung führten und wie eine schwere Wolke des Unheils die Seele des Hessenvolkes umdüsterten, auszufechten. Im deutschen Bruderkriege, 1866, hatte der Kurfürst, der seinen vertraglichen Verpflichtungen treu bleiben wollte, Partei für die von Österreich vertretene großdeutsche Auffassung ergriffen. Der unglückliche Fürst, der, von reinstem Willen beseelt, unter Hemmungen und Gemütsverstimmungen litt, verlor Freiheit, Heimat und Thron. Kurhessens Eigenstaatlichkeit hatte aufgehört zu bestehen.


Es ist merkwürdig, wie sehr das Schicksal des Hessenlandes demjenigen des großen deutschen Vaterlandes gleicht. In beiden Fällen tapfere Soldaten, tüchtige Werkleute, bedeutende Führer, gewaltige Taten und doch wieder nach hohen Zeiten des Zusammenschlusses und Aufstiegs ein vorzeitiger Niedergang infolge des Auseinanderstrebens der inneren Kräfte. Ein Weltfahrer, der zahlreiche von hessischen Auswanderern angelegte Dörfer in Nordamerika, in Brasilien, in Australien und im Wolgagebiet

Die Hohe Rhön mit der Wasserkuppe.
[222]      Die Hohe Rhön mit der Wasserkuppe,
die Heimat der deutschen Segelfliegerei.
aufgesucht hatte, nannte Hessen das "Heimwehland", denn bei keinem anderen deutschen Volksstamm, nicht einmal bei den Schwaben, hatte er so wehmutgetränkte Sehnsucht nach der fernen Heimat wahrgenommen. Die Tiefe des Empfindens, die Treue zur angestammten Art und die Liebe zur Heimat sind dem Hessen angeboren und bleiben daher sein unveräußerlicher innerer Besitz. Je ärmer die Gegend, je größer die Ungunst des Klimas, um so größer ist die Anhänglichkeit des Hessen an die mütterliche Scholle. Von der Hohen Rhön sagt Riehl einmal, daß sich die Weltgeschichte wie ein tragisches Schicksal auf die Berge gelegt habe, und Gottfried Kinkel, der rheinische Dichter, prägte das Wort, daß die Rhön zu jenen deutschen Gauen gehöre, die zu romantisch seien, um das Glück in sich einschließen zu können.

Die Hohe Rhön, wo in den Tälern der turmartig spitze Kopfputz der Frauen mit den langen, flatternden, kostbaren Bändern auffällt, hatte im Mittelalter eine große kulturelle Bedeutung. Klein und armselig sind jetzt vielfach die Bergnester, aber der Wanderer findet noch zahlreiche zertrümmerte Burgen, und die Wohnhäuser und Kirchen vieler Rhöndörfer sind stattlicher gebaut, als der gegenwärtige wirtschaftliche Tiefstand der Bewohner es zuläßt. Die Eisengruben, die man früher in vielen Gegenden der Rhön [219=Foto] [220] fand, sind längst verschüttet. Auf dem Markt zu Bischofsheim reden noch alte eiserne Brunnentröge von dem verschollenen Bergbau des Kreuzbergs, und in den herrschaftlichen Häusern zu Fulda standen noch im vorigen Jahrhundert große eiserne Öfen aus den versunkenen Schächten des Dammersfeldes, das einst berühmt war wegen seines Bodenreichtums.

Die kleinen und mittleren Städte des Hessenlandes, wie Fritzlar, Homberg, Spangenberg, Treysa, Grebenstein (das noch ganz mittelalterlich anmutet) haben sich eine wohltuende Unberührtheit bewahrt. Das Herz des Hessenlandes schlägt in Marburg, dessen Dom zu den schönsten Baudenkmälern aus der Zeit der Frühgotik gehört. Wem das Glück beschieden war, in dieser sonnigen, spitzweg-winkligen Musenstadt ein paar Semester zu verbringen, den umschimmert ein Glanz der Jugendfreude das ganze Leben lang.

Zu dem Wesenszug der Beharrlichkeit und Treue, die den Hessen auszeichnet, gehört seine Freude an den Überlieferungen der germanischen Vorfahren. Fast auf Schritt und Tritt begegnen wir Wahrzeichen und Merkmalen, die an die vorgeschichtliche Vergangenheit, an die Götterverehrung der Ahnen, erinnern. Die Sagen von den Wichtelmännchen sind weit verbreitet; zahlreiche Orts- und Flurnamen deuten auf ihre Wohnungen hin, z. B. die Wichtelkammer bei Rieselsdorf, das Wichtelhaus bei Frankenberg, das Wichtelloch am Dosenberg bei Utershausen an der Schwalm. In den Dörfern um Ziegenhain ziehen die Burschen in der Nacht vor Walpurgis hinaus auf die Felder und knallen mit den Peitschen die halbe Nacht hindurch, um die Geister zu vertreiben. Am Meißner istr der uralte Holle-Mythus noch jetzt lebendig. "Frauhollenteich" heißt ein kleiner See an der Ostseite des Meißners. Wenn es am Meißner schneit, macht Frau Holle ihr Bett, wenn es am Meißner nebelt, schürt Frau Holle ihr Feuer im Berge. Aus dem Frauhollenteiche, der den Badenden Fruchtbarkeit verleiht, werden die kleinen Kinder geholt. Götter, Kobolde und Riesen wohnen in den Bergen. An heilige Stätten, die den Göttern geweiht waren, erinnern Ortsnamen, wie Gudensberg, Odenberg, Donnerskaute, Donnersgraben, Ermenswart, Hermensassen, Hermannsheim. Wodan, Donar, Hulda waren die Götter, denen die Chatten besondere Verehrung zollten.

Der Christenberg im Burgwalde bei Marburg war - unter heidnischem Namen - eine germanische Opferstätte. An der nordwestlichen Seite des Berges zeigt man noch heute zahlreiche, im Tannendickicht versteckte, in Reihen geordnete Hünengräber, vom Volk "Hünhübel" genannt. Unweit davon, nach Mellnau zu, liegt ein ehedem ganz von Wald umgrenztes Feld, das seit unvordenklichen Zeiten den Namen Rosengarten führt. Mit dem Namen Rosengarten bezeichnete man in heidnischer Zeit die Begräbnisstätten, da die zum Zweck der Leichenverbrennung errichteten Scheiterhaufen mit dem den Göttern Wodan und Donar geweihten Rosendorn unterflochten wurden. Nach der nordischen Mythe war Brunhild von Odin mit dem Schlafdorn gestochen; sie schlummerte nun auf einsamer Schildburg im goldenen Panzer, umringt von der wabernden Feuerlohe, bis sie endlich Sigurd erlöst, nachdem er den goldhütenden Drachen Fafnir getötet. Aus diesem Mythus is bekanntlich das anmutige Märchen vom Dornröschen entstanden.


In einem solchen Lande läßt der rückwärts gekehrte Seherblick des Volkes Sagen und Märchen entstehen, die wie die versunkenen Glocken Vinetas aus der Tiefe läuten. Es ist [221] kein Zufall, daß die schönsten deutschen Märchen Schneewittchen, Dornröschen, Rotkäppchen, die sieben Raben und andere, die von den Brüdern Grimm dem Volksmunde abgelauscht worden sind, ein in heiliger Ehrfurcht behütetes Erbgut der hessischen Volksseele waren. Diese Märchen sind dem Naturleben der hessischen Landschaft entwachsen.

Märchensinnigkeit, Malerei und Dichtung wurzelten von jeher tief im hessischen Heimatboden. Die naturfremde, vom Einfluß heimatloser Tagesgrößen genährte Asphaltkunst war dem gesunden Sinn der Hessen zuwider. Es fehlt hier der Raum, um auf die Geschichte der hessischen Malerei näher einzugehen. Aber ein Hinweis auf die hundertjährige Geschichte der Willingshäuser Malerkolonie, die ganz mit der hessischen Landschaft verbunden ist, sei mir gestattet. Schon im Jahre 1814 kam der Maler Gerhard von Reutern, dem Goethe Gönner und Förderer war, in das Schwalmdörfchen Willingshausen. Die heimliche Schönheit des lieblichen Tals hat in der Folgezeit immer wieder Maler von Bedeutung angezogen. Die Maler Jakob Becker, Ludwig Knaus, Ludwig Grimm, Karl Raupp, J. F. Dielmann haben in der Mitte des vorigen Jahrhunderts in Willingshausen wertvolle künstlerische Ausbeute gefunden. Die Glanzzeit des Malerdorfs begann aber, als Karl Bantzer, der begnadete hessische Künstler, in den letzten Jahren des vorigen Jahrhunderts seine zu großer Berühmtheit gelangte Malerschule in Willingshausen begründete.

Hessen ist ein liederfrohes Land. Allerdings hat das Hessenland wenig Dichter hervorgebracht, denen ein großes Weltbild eignet. Schon in den Klosterschulen zu Hersfeld und Fulda, die im frühen Mittelalter gegründet wurden, ließ man der Poesie sorgfältige Pflege angedeihen. Die Äbte Gotzbert und Lambert in Hersfeld waren eifrige Mehrer der in der Klosterschule angelegten Büchersammlung. Das berühmte Hildebrandslied ist in einem hessischen Kloster entstanden. Eobanus Hessus, Euricius Cordus und Ulrich von Hutten waren hessische Dichter, deren Namen am Ausgang des Mittelalters weithin leuchteten.

Emanuel Geibel, der in Lübeck geboren wurde, stammt aus Wachenbuchen bei Hanau, wo sein Vater, bevor er nach Lübeck übersiedelte, Pfarrer war. In Escheberg bei Zierenberg sang Geibel, als er in seiner Jugend vier Jahre lang Gast des Schloßherrn von Malsburg war, zum ersten Mal das Lied: "Der Mai ist gekommen".

Viel zu wenig bekannt ist Ernst Koch aus Witzenhausen, der Dichter des "Prinz Rosa-Stramin", einer köstlichen Spätblüte der Romantik. Ernst Koch ist 1858, fern von seiner Heimat - in Luxemburg - an gebrochenem Herzen gestorben.

Franz Dingelstedt, die Brüder Grimm, in allerneuester Zeit Wilhelm Speck, der Schöpfer des tiefschürfenden Romans Zwei Seelen, Wilhelm Schäfer aus der Schwalm, ein Erzähler von hohem Rang, der zum rheinischen Dichterkreis gehört, - alle diese Dichter, die in deutschen Landen zu verdienten Ehren gekommen sind, haben in ihrer Hessen-Heimat nicht Fuß fassen können. Hans Grimm - auch ein Hesse -, der das Werk Volk ohne Raum geschrieben hat, verdankt einem jahrzehntelangen Aufenthalt in Südwest-Afrika seinen dichterischen Aufstieg.

Es gehört zu den unergründlichen Auswirkungen der Schicksalverbundenheit, daß Hessen die Hemmungen, die es in seiner Geschichte erlitt, sein ausgesprochenes Märtyrertum, an die Dichter, deren Wesenheit im Tiefsten mit dem Boden der Heimat verflochten ist, weiter abgegeben hat. [222=Foto]

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Das Buch der deutschen Heimat, das Kapitel "Hessenland und Rhön".

Deutsches Land: Das Buch von Volk und Heimat
Unter Mitarbeit von Schriftstellern aller deutschen Stämme
herausgegeben von Dr. Eugen Schmahl.
Mit einem Geleitwort von Dr. Hans Steinacher,
Reichsführer des Volksbundes für das Deutschtum im Ausland,
und mit einem Geleitschreiben von Hans Grimm.