[211]
Hessen
Heinrich Gutberlet
Wenn man den Hessen nach seiner Heimat fragt, so wird man aus seiner
Antwort, die der herben, zurückhaltenden Art seines Wesens entspricht,
erkennen, mit welch' tiefer Innigkeit und Treue er an der Scholle der Väter
hängt, mag sie lieblich und traut, mag sie rauh und unwirtlich sein. Er ist
stolz auf die geschichtliche Vergangenheit des deutschesten aller deutschen
Volksstämme, aber in diesen Stolz mischt sich eine leise, auch dem
Fremden nicht verkennbare Wehmut über die Tragik, die dem Hessentum
und dem Gang seiner Geschichte vom Schicksal auferlegt worden ist.
Nicht nur die Lage des Landes, sondern auch Wesen und Sprache des
Volksstammes weisen darauf hin, daß Hessen so recht eigentlich den
Übergang vom deutschen Norden zum Süden bildet. Hessen ist
vorwiegend Hügelland. Es gibt Gegenden, die einen Gürtel
fruchtbarster Ackererde darstellen und die in ihrer Eigenart und in ihrer
Überfülle von Schönheiten mit den kostbarsten Landschaften
Deutschlands wetteifern. Geradezu eine Kornkammer ist die gesegnete Schwalm,
wo die Menschen in ihrer Tracht und Lebensweise den Sitten und Bräuchen
der Altvordern in ursprünglicher Merkwürdigkeit treu geblieben
sind.
Besonders malerisch außer dem Schwalmländchen sind die Gegenden
zwischen Friedberg und Marburg a. d. Lahn und die Ufer der Eder und
Fulda. Wildromantisch sind die Basaltkuppen der Hohen Rhön und die
Berge und Täler, über die sich wie ein König der
Meißner, der sagenumwobene "Hollenberg", erhebt. Wie ein offenes
Schatzkästlein liegt Kassel, die einstige Residenz der hessischen
Landgrafen und Kurfürsten, inmitten schimmernder blauer Wälder,
bewacht von den Burgen von Wilhelmshöh.
[217]
Lahntal im Morgennebel.
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Aber es gibt auch Landstriche in Hessen, wo bitterarme, aber lebensstarke
Menschen in harter Arbeit mit dem Boden ringen müssen, weil dieser nur
hergibt, was ihm abgezwungen wird. Fast an das bekannte Wort der
"Streusandbüchse des heiligen Römischen Reichs", mit dem man die
Mark Brandenburg bezeichnete, erinnert der wohl ein wenig übertriebene
uralte Reim, der nicht gerade wie ein Lob auf Hessens Fruchtbarkeit klingt:
"Im Lande Hessen
Ist wenig zu essen.
Hohe Berg' und tiefe Tal,
Saurer Wein überall.
Wenn die Schlehen und Holzäpfel mißraten,
Haben sie weder zu sieden noch zu braten."
[212] Aber daß an
diesem Reim etwas Wahres ist, wird man zugeben müssen. Schon ein alter
hessischer Chronist sagt, "daß das Lob anderer Länder, wie Babylon,
Ägypten und Palästina, wo Milch und Honig fließt, dem
Hessenlande nicht zugeschrieben werden könne, darinne rauhe Luft und der
Erdboden etwas ungeschlacht."
Daß dennoch das Hessenland sich schon in der Vergangenheit großer
Wertschätzung in deutschen Landen erfreute, wird durch einen Ausspruch
Winkelmanns erhärtet, der auf folgendes hinwies: Die Historiker, sagt er,
haben die Wahrnehmung gemacht, daß die Länder von gutem
Wohlstand zeugen, deren Haupterzeugnisse mit "W" anfangen. Diese
Voraussetzung sei auf Hessen in vollem Maße anzuwenden, während
man das von einer ganzen Reihe anderer Länder nicht sagen könne.
Die Erzeugnisse mit den Anfangsbuchstaben "W" heißen: "Wasser,
Weizen, Wein, Weiden, Wiesen, Weiher, Wolle, Wachs, Werk (Flachs),
Wälder und Wild."
Die Landschaft formt das Wesen des Einzelmenschen; sie gibt aber auch dem
Charakter des Volksstammes dann ein ureigenes Gepräge, wenn der Stamm
seit Jahrhunderten auf der Heimatscholle seßhaft war, also eine
Vermischung mit wesensfremden Elementen in stärkerem Ausmaß
nicht stattgefunden hat.
[215]
Feiertag auf dem Lande. Hessische Bauern in der Kirche.
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Die Bewohner des Hessenlandes haben sich - namentlich auf dem
Lande - wie kein anderes Volk die Eigenart und Geschlossenheit ihres Stammes
bewahrt. Im Gegensatz zu vielen anderen germanischen Völkern haben die
Chatten, die Vorfahren der Hessen, auch während der
Völkerwanderung ihre Wohnsitze nicht verändert. Dem
römischen Geschichtsschreiber Tacitus verdanken wir die ersten
Nachrichten über die Chatten. Er rühmte ihre Kriegskunst, ihre
reinen Sitten und ihre Tapferkeit. Es waren hohe, kräftige Gestalten mit
blondem Haar und blauen Augen.
Die Chatten gehörten zu dem großen Stamme der Franken, dessen
Gebiet sich zu beiden [213=Foto] [214] Seiten des Mains, weit
nach Norden und weit nach Süden hin, ausdehnte. An das Frankenland
grenzte im Norden, etwa vom Reinhardswald ab, das Land der Sachsen. Nach
Osten, ungefähr vom Werragebiet ab, schloß sich das Land der
Thüringer an.
Die Sprache der Franken war von derjenigen der Sachsen recht verschieden. Auch
die kulturellen Merkmale der Sachsen wichen von denjenigen der Franken
wesentlich ab. Noch heute sind diese Unterschiede wahrzunehmen. Im
fränkischen Hessengau, also im
Rhön- und Fulda-Gebiet, auf der Schwalm und dem Vogelsberg, im
Mainstrich und Kinzigtal, an der Eder usw. finden wir den
fränkischen Bauernhof. Die Gebäude werden durch eine Mauer oder
ein Gitter mit einem Hoftor von der Straße abgeschlossen. Durch das Tor
kommt man auf den Hof, der vom Wohnhaus mit dem Stall, der Scheuer und den
Wirtschaftsgebäuden umgeben ist. Das Wohnhaus besteht meist aus zwei
Stockwerken; der Flur führt unmittelbar in die Küche. Hinter der
Wohnstube liegt, durch eine Bretterwand davon getrennt, die Schlafkammer.
Anders im sächsischen Hessengau - Gegend von Wolfhagen und
Hofgeismar und von da weiter nach Norden hin. Sämtliche Räume
im sächsischen Bauernhaus für Menschen, Vieh und Vorräte
sind hier unter einem Dach. Die eine Giebelseite hat ein großes, oben
gerundetes Tor, das auf die Tenne oder Diele führt. An den beiden
Längsseiten, rechts und links von der Tenne, sind die Stallungen.
Über der Tenne und den Ställen wird das Getreide aufbewahrt. Geht
man von der Einfahrt geradeaus über die Tenne nach der anderen
Giebelseite, so kommt man in den Küchenraum, der nicht von der Tenne
abgeschlossen ist. An dieser liegen die Wohn- und Schlafstuben.
[212]
Schlitzerländische Bauernmädchen
am mittelalterlichen Dorfbrunnen in Fraurombach.
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Der Verschiedenartigkeit der Bauweise entspricht auch der Unterschied der
Mundarten der Bewohner des Hessenlandes. Aus dieser Mundart kann man
häufig erkennen, aus welcher Gegend jemand stammt. Der Hessensachse
redet eine platt- oder niederdeutsche, der Hessenfranke eine mitteldeutsche
Mundart.
Dem Hessen wird von jeher Fleiß, Zähigkeit und
Genügsamkeit nachgerühmt. Er ist, wie man sagt, gerad bis zur
Grobheit, aber bieder und brav. Treu und Glauben gelten, besonders bei den
Landbewohnern, noch heute als selbstverständliche Eigenschaften.
Vereinbaren die Schwälmer untereinander ein Darlehen, so geschieht das in
der Regel aufs Wort oder auf einen einfachen Handschein. Gerichtliche
Abmachungen dieser Art werden schon als ein Zeichen von Kreditlosigkeit
angesehen. Wer in ein von den Schwälmern bewohntes Dorf, etwa nach
Loshausen oder nach Willingshausen, kommt, gewahrt bei Männern,
Frauen und Kindern noch die eigenartigen Trachten, die von Geschlecht auf
Geschlecht überliefert worden sind. Selbst die schweren Kriegszeiten, die
Hessen im Laufe der Jahrhunderte von Grund auf erschütterten, haben an
dieser Überlieferung nichts geändert. Die weißen Kittel, der
niedergekrempte Hut, die kurzen Beinkleider sind bei den Männern noch in
vollem Ansehen, und die Frauen, die sorgsam ihre Festtagstrachten in uralten
Truhen bewahren, halten fest an ihrem Kleid aus der von den Müttern und
Großmüttern selbstgefertigten Leinwand. Diese Trachten vererben
sich vielfach von Kind auf Kindeskind.
Im Anfang des zehnten Jahrhunderts treten die Hessen als Volksstamm in das
hellere Licht der deutschen Geschichte. Herzog Konrad aus fränkischem
Geschlecht, ein tapferer [215] Kriegsmann, der in
Fritzlar Hof hielt, wurde nach dem Aussterben der Karolinger 911 zum deutschen
König erwählt. Konrad war der Sohn des in der Babenberger Fehde
gefallenen Herzogs Konrad von Thüringen. König Konrad machte in
den Jahren 912 und 913 wiederholt Anstrengungen, die Franzosen aus Lothringen
zu vertreiben. Allein seine Macht war infolge der Uneinigkeit der deutschen
Stämme zu gering, er mußte sich am Ende damit begnügen,
daß wenigstens das Elsaß dem deutschen Reiche erhalten blieb.
Ununterbrochen bis zum Jahre 1681 ist das Elsaß, dieses kerndeutsche
Land, im Verbande des Reiches verblieben. Erst zu dieser Zeit gelang es
Ludwig XIV. von Frankreich infolge der Ohnmacht des im
Dreißigjährigen Kriege geschwächten Reiches, den schon
längst geplanten Raub des Grenzlandes auszuführen.
Für die seltene Seelengröße König Konrads spricht es,
daß er, als er im Jahre 918 in Weilburg auf dem Sterbebette lag, seinen
Bruder, den Herzog Eberhard, zu sich rief und ihn beauftragte, dem
Sachsenherzog Heinrich, seinem - Konrads - Gegner, die
Königskrone anzutragen. "Das Glück, mein Bruder, und des ganzen
Reiches Wohlfahrt beruhen auf ihm, dem starken Herzog der Sachsen." Das
waren des Königs letzte Worte. So hat Konrad, der Hesse, noch im
Angesichte des Todes seinem Vaterlande den größten Dienst
erwiesen. Konrad liegt in Fulda begraben. Während seiner Regierungszeit
wird zum ersten Mal Chassalla, das spätere Kassel, genannt.
[213]
Weilburg a. d. Lahn. Brunnen auf dem Schloßhof.
|
Unter den hessischen Edlen wurden nun die Grafen von Gudensberg
mächtig. Als die Tochter des letzten Grafen von Gudensberg den
Landgrafen von Thüringen heiratete, kam Hessen an Thüringen.
Diese Vereinigung der beiden Länder hielt 125 Jahre an. Ludwig der
Heilige, Landgraf von Hessen und Thüringen, der Gemahl der Heiligen
Elisabeth, starb im Jahre 1227. Die heilige Elisabeth, von ihrem Schwager
Heinrich Raspe von [216] der Wartburg
vertrieben, hauchte in Marburg im Jahre 1231 ihr junges Leben aus. Sophie, ihre
Tochter, vermählte sich mit dem Herzog von Brabant. Der
vierjährige Sohn der Herzogin, Heinrich von Brabant, genannt das Kind
von Hessen, wurde 1265 als Heinrich I. zum Landgrafen von Hessen
erwählt. Er wurde der Stammvater des hessischen Fürstenhauses.
Alle Nachkommen Heinrichs, bis zu Wilhelm IX., der im Jahre 1803 als
Wilhelm I. die Würde eines Kurfürsten von Hessen annahm,
führten den Titel Landgraf. Landgraf Heinrich II., der im Jahre 1376
starb, war ein von seinen Gegnern gefürchteter Herrscher.
"Hüte dich vor dem Landgrafen von Hessen,
Wilt du anders nicht werden aufgefressen,"
lautete ein Sprichwort, das damals bei Freund und Feind Geltung hatte. Von allen
Fürsten des Hessenlandes hat keiner so hohe Bedeutung erlangt wie
Landgraf Philipp
der Großmütige, der beinahe 60 Jahre
(1509-1567) seinem Hessenvolke ein hochgesinnter Führer
und gütiger Vater war. In weiser Voraussicht berief er, nachdem in Hessen
die Reformation durchgeführt worden war, Luther und Zwingli zu einem
Religionsgespräch nach Marburg. Seine Hoffnung, daß diese
Zusammenkunft zu einer Einigung der Reformatoren führen würde,
erfüllte sich nicht, weil in der Lehre vom Abendmahl jeder der beiden
großen Männer auf seiner Ansicht beharrte. Mit den anderen
protestantischen Fürsten schloß Philipp einen Bund (Schmalkalden).
Die Gegensätze zwischen den im Schmalkaldischen Bund vereinigten
Fürsten und dem Kaiser Karl V.
führten zu einer kriegerischen
Auseinandersetzung. Nach dem Sieg Kaiser Karls V. bei Mühlberg
(1547) geriet Philipp in Gefangenschaft, aus der er erst nach fünf Jahren
befreit wurde.
Für die weitere Entwicklung des Hessenlandes war es
verhängnisvoll, daß Philipp, dieser kluge und sonst so
vorausschauende Fürst, sein Land unter seine vier Söhne teilte, und
zwar dergestalt, daß aus dem wegen seiner Macht und Größe
achtunggebietenden Hessenland vier in ihrer Bedeutung entsprechend
geschmälerte Länder: Hessen-Kassel, Hessen-Marburg,
Hessen-Darmstadt, Hessen-Rheinfels, hervorgingen. Von diesen vier
Ländern verblieben später als selbständige Staaten nur noch
die beiden Hauptlinien Kassel und Darmstadt.
Ein widriger Schicksalswind trieb die beiden Länder, deren Bewohner
gleichen Stammes waren, im Laufe der Jahrhunderte auseinander.
Hessen-Darmstadt stand im Dreißigjährigen Kriege im Lager
Österreichs. Im Gegensatz zu Hessen-Kassel, dessen Wohlstand vernichtet,
dessen Städte und Dörfer von den Scharen Tillys und Wallensteins
verheert und gebrandschatzt wurden, weil Kassel für die Sache der
Protestanten focht, blieb Darmstadt von den Schrecknissen des Krieges im
großen und ganzen verschont. Im Siebenjährigen Kriege, an dem
Hessen-Darmstadt nicht teilnahm, stand der Landgraf
Hessen-Kassels, Wilhelm VIII., mit seinem Heere auf der Seite Friedrichs
des Großen. Gegen die Franzosen kämpften die Hessen mit
großer Tapferkeit. Von den Verwüstungen, die die Franzosen auf
ihrem Rückzug 1761 im Hessenland angerichtet hatten, zeugt heute noch
die Ruine der altehrwürdigen Stiftskirche in Hersfeld. Dieser Dom, der aus
einer Kapelle, die der Abt Lullus, der Schüler Winfrieds, im Jahre 736
errichtet hatte, erstand, war eines der gewaltigsten romanischen Bauwerke
Deutschlands.
[217] Der Hesse galt - wie
der Schweizer - als ein tapferer Soldat. Mit den Schweizern hatten die hessischen
Truppen das Schicksal gemein, daß sie auf vielen Schlachtfeldern
Europas - ja selbst in
Amerika - für die Interessen fremder
Völker kämpfen mußten. Welch ausschlaggebende Macht
hätte Hessen in Deutschland erringen können, wenn die
Fürsten, anstatt ihre Landeskinder als Kanonenfutter an andere Staaten zu
verkaufen, das unvergleichliche Soldatenmaterial, das ihnen zu Gebote stand, zur
Ausgestaltung der Vormachtstellung ihres eigenen Landes verwandt hätten!
Die Geschichte Deutschlands hätte eine andere Wendung erhalten. Hessen
wäre dann nicht auf der Übergangsstufe vom Kleinstaat zum
größeren Staat stehen geblieben. Mit Wehmut denkt der Hesse an die
Versäumnisse des Fürstenhauses, das unter Philipp einen so
großen Anlauf genommen hatte, zurück.
Allerdings darf bei gerechter Berichterstattung nicht verschwiegen werden,
daß die Landgrafen Karl und Friedrich II. die reichen Mittel, die
ihnen vorzugsweise aus den Subsidien-Verträgen zuflossen, zur
Verschönerung des Landes, namentlich zur Errichtung hervorragender
Bauten in Barock- und Rokokostil benutzten. Ein entzückendes Kleinod im
Rokokostil ist das Schlößchen Wilhelmstal bei Kassel. Aber auch der
Dom zu Fulda, die Ober-Neustädtische Kirche in Kassel, das Oktogon mit
Kaskaden und Herkules, ferner [218] der
Königs- und Friedrichsplatz in Kassel, verdanken jener Zeit ihre
Entstehung. Dieser Glanz und diese Pracht konnten aber die Tatsache nicht
verdecken, daß das hessische Volk mehr und mehr verarmte.
Während am Hof ein Fest das andere jagte, mußten die hessischen
Bauern nicht nur im Schweiße ihres Angesichts die schwersten Lasten
tragen, sondern auch ihre Söhne den Fürsten zur Bereicherung der
Staatskasse opfern.
[219]
Der Dom zu Limburg. Ein Höhepunkt deutscher
romanischer Baukunst.
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Ein zwar autokratischer aber trotz seiner Baulust sparsamer, höchst
origineller Herrscher aus der Zopfzeit war Wilhelm IX.,. der spätere
Kurfürst Wilhelm I. Er war der Schöpfer der Schlösser
in Wilhelmshöh, das während der Franzosenzeit
(1806-1813) von Jerome, dem flatterhaften König Lustig,
den Namen "Napoleonshöh" erhielt. Der Kurfürst, ein echter
deutscher Mann, der 1806 mit Preußen gegen Napoleon gekämpft
hatte, wurde von dem Korsen entthront und mußte das Land verlassen. Im
Jahre 1813, nach den Befreiungskriegen, kehrte er aus Prag in das Land seiner
Väter zurück. Seine Nachfolger, die Kurfürsten
Wilhelm II. und Friedrich Wilhelm I., hatten schwere
Verfassungskämpfe mit ihrem Volke, die zu einer dauernden Entfremdung
führten und wie eine schwere Wolke des Unheils die Seele des
Hessenvolkes umdüsterten, auszufechten. Im deutschen Bruderkriege,
1866, hatte der Kurfürst, der seinen vertraglichen Verpflichtungen treu
bleiben wollte, Partei für die von Österreich vertretene
großdeutsche Auffassung ergriffen. Der unglückliche Fürst,
der, von reinstem Willen beseelt, unter Hemmungen und
Gemütsverstimmungen litt, verlor Freiheit, Heimat und Thron. Kurhessens
Eigenstaatlichkeit hatte aufgehört zu bestehen.
Es ist merkwürdig, wie sehr das Schicksal des Hessenlandes demjenigen
des großen deutschen Vaterlandes gleicht. In beiden Fällen tapfere
Soldaten, tüchtige Werkleute, bedeutende Führer, gewaltige Taten
und doch wieder nach hohen Zeiten des Zusammenschlusses und Aufstiegs ein
vorzeitiger Niedergang infolge des Auseinanderstrebens der inneren Kräfte.
Ein Weltfahrer, der zahlreiche von hessischen Auswanderern angelegte
Dörfer in Nordamerika, in Brasilien, in Australien und im Wolgagebiet
[222]
Die Hohe Rhön mit der Wasserkuppe,
die Heimat der deutschen Segelfliegerei.
|
aufgesucht hatte, nannte Hessen das "Heimwehland", denn bei keinem anderen
deutschen Volksstamm, nicht einmal bei den Schwaben, hatte er so
wehmutgetränkte Sehnsucht nach der fernen Heimat wahrgenommen. Die
Tiefe des Empfindens, die Treue zur angestammten Art und die Liebe zur Heimat
sind dem Hessen angeboren und bleiben daher sein unveräußerlicher
innerer Besitz. Je ärmer die Gegend, je größer die Ungunst des
Klimas, um so größer ist die Anhänglichkeit des Hessen an die
mütterliche Scholle. Von der Hohen Rhön sagt Riehl einmal,
daß sich die Weltgeschichte wie ein tragisches Schicksal auf die Berge
gelegt habe, und Gottfried Kinkel, der rheinische Dichter, prägte das Wort,
daß die Rhön zu jenen deutschen Gauen gehöre, die zu
romantisch seien, um das Glück in sich einschließen zu
können.
Die Hohe Rhön, wo in den Tälern der turmartig spitze Kopfputz der
Frauen mit den langen, flatternden, kostbaren Bändern auffällt, hatte
im Mittelalter eine große kulturelle Bedeutung. Klein und armselig sind
jetzt vielfach die Bergnester, aber der Wanderer findet noch zahlreiche
zertrümmerte Burgen, und die Wohnhäuser und Kirchen vieler
Rhöndörfer sind stattlicher gebaut, als der gegenwärtige
wirtschaftliche Tiefstand der Bewohner es zuläßt. Die Eisengruben,
die man früher in vielen Gegenden der Rhön [219=Foto] [220] fand, sind
längst verschüttet. Auf dem Markt zu Bischofsheim reden noch alte
eiserne Brunnentröge von dem verschollenen Bergbau des Kreuzbergs, und
in den herrschaftlichen Häusern zu Fulda standen noch im vorigen
Jahrhundert große eiserne Öfen aus den versunkenen
Schächten des Dammersfeldes, das einst berühmt war wegen seines
Bodenreichtums.
Die kleinen und mittleren Städte des Hessenlandes, wie Fritzlar, Homberg,
Spangenberg, Treysa, Grebenstein (das noch ganz mittelalterlich anmutet) haben
sich eine wohltuende Unberührtheit bewahrt. Das Herz des Hessenlandes
schlägt in Marburg, dessen Dom zu den schönsten
Baudenkmälern aus der Zeit der Frühgotik gehört. Wem das
Glück beschieden war, in dieser sonnigen, spitzweg-winkligen
Musenstadt ein paar Semester zu verbringen, den
umschimmert ein Glanz der Jugendfreude das ganze Leben lang.
Zu dem Wesenszug der Beharrlichkeit und Treue, die den Hessen auszeichnet,
gehört seine Freude an den Überlieferungen der germanischen
Vorfahren. Fast auf Schritt und Tritt begegnen wir Wahrzeichen und Merkmalen,
die an die vorgeschichtliche Vergangenheit, an die Götterverehrung der
Ahnen, erinnern. Die Sagen von den Wichtelmännchen sind weit verbreitet;
zahlreiche Orts- und Flurnamen deuten auf ihre Wohnungen hin, z. B. die
Wichtelkammer bei Rieselsdorf, das Wichtelhaus bei Frankenberg, das
Wichtelloch am Dosenberg bei Utershausen an der Schwalm. In den
Dörfern um Ziegenhain ziehen die Burschen in der Nacht vor Walpurgis
hinaus auf die Felder und knallen mit den Peitschen die halbe Nacht hindurch,
um die Geister zu vertreiben. Am Meißner istr der uralte
Holle-Mythus noch jetzt lebendig. "Frauhollenteich" heißt ein kleiner See
an der Ostseite des Meißners. Wenn es am Meißner schneit, macht
Frau Holle ihr Bett, wenn es am Meißner nebelt, schürt Frau Holle
ihr Feuer im Berge. Aus dem Frauhollenteiche, der den Badenden Fruchtbarkeit
verleiht, werden die kleinen Kinder geholt. Götter, Kobolde und Riesen
wohnen in den Bergen. An heilige Stätten, die den Göttern geweiht
waren, erinnern Ortsnamen, wie Gudensberg, Odenberg, Donnerskaute,
Donnersgraben, Ermenswart, Hermensassen, Hermannsheim. Wodan, Donar,
Hulda waren die Götter, denen die Chatten besondere Verehrung
zollten.
Der Christenberg im Burgwalde bei Marburg war - unter heidnischem
Namen - eine germanische Opferstätte. An der nordwestlichen Seite
des Berges zeigt man noch heute zahlreiche, im Tannendickicht versteckte, in
Reihen geordnete Hünengräber, vom Volk "Hünhübel"
genannt. Unweit davon, nach Mellnau zu, liegt ein ehedem ganz von Wald
umgrenztes Feld, das seit unvordenklichen Zeiten den Namen Rosengarten
führt. Mit dem Namen Rosengarten bezeichnete man in heidnischer Zeit die
Begräbnisstätten, da die zum Zweck der Leichenverbrennung
errichteten Scheiterhaufen mit dem den Göttern Wodan und Donar
geweihten Rosendorn unterflochten wurden. Nach der nordischen Mythe war
Brunhild von Odin mit dem Schlafdorn gestochen; sie schlummerte nun auf
einsamer Schildburg im goldenen Panzer, umringt von der wabernden Feuerlohe,
bis sie endlich Sigurd erlöst, nachdem er den goldhütenden Drachen
Fafnir getötet. Aus diesem Mythus is bekanntlich das anmutige
Märchen vom Dornröschen entstanden.
In einem solchen Lande läßt der rückwärts gekehrte
Seherblick des Volkes Sagen und Märchen entstehen, die wie die
versunkenen Glocken Vinetas aus der Tiefe läuten. Es ist [221] kein Zufall, daß
die schönsten deutschen Märchen Schneewittchen,
Dornröschen, Rotkäppchen, die sieben Raben und andere, die von
den Brüdern Grimm
dem Volksmunde abgelauscht worden sind, ein in
heiliger Ehrfurcht behütetes Erbgut der hessischen Volksseele waren. Diese
Märchen sind dem Naturleben der hessischen Landschaft entwachsen.
Märchensinnigkeit, Malerei und Dichtung wurzelten von jeher tief im
hessischen Heimatboden. Die naturfremde, vom Einfluß heimatloser
Tagesgrößen genährte Asphaltkunst war dem gesunden Sinn
der Hessen zuwider. Es fehlt hier der Raum, um auf die Geschichte der hessischen
Malerei näher einzugehen. Aber ein Hinweis auf die hundertjährige
Geschichte der Willingshäuser Malerkolonie, die ganz mit der hessischen
Landschaft verbunden ist, sei mir gestattet. Schon im Jahre 1814 kam der Maler
Gerhard von Reutern, dem Goethe Gönner und Förderer war, in das
Schwalmdörfchen Willingshausen. Die heimliche Schönheit des
lieblichen Tals hat in der Folgezeit immer wieder Maler von Bedeutung
angezogen. Die Maler Jakob Becker, Ludwig Knaus, Ludwig Grimm, Karl Raupp,
J. F. Dielmann haben in der Mitte des vorigen Jahrhunderts in
Willingshausen wertvolle künstlerische Ausbeute gefunden. Die Glanzzeit
des Malerdorfs begann aber, als Karl Bantzer, der begnadete hessische
Künstler, in den letzten Jahren des vorigen Jahrhunderts seine zu
großer Berühmtheit gelangte Malerschule in Willingshausen
begründete.
Hessen ist ein liederfrohes Land. Allerdings hat das Hessenland wenig Dichter
hervorgebracht, denen ein großes Weltbild eignet. Schon in den
Klosterschulen zu Hersfeld und Fulda, die im frühen Mittelalter
gegründet wurden, ließ man der Poesie sorgfältige Pflege
angedeihen. Die Äbte Gotzbert und Lambert in Hersfeld waren eifrige
Mehrer der in der Klosterschule angelegten Büchersammlung. Das
berühmte Hildebrandslied ist in einem hessischen Kloster entstanden.
Eobanus Hessus, Euricius Cordus und Ulrich von Hutten waren hessische Dichter,
deren Namen am Ausgang des Mittelalters weithin leuchteten.
Emanuel Geibel, der in Lübeck geboren wurde, stammt aus Wachenbuchen
bei Hanau, wo sein Vater, bevor er nach Lübeck übersiedelte, Pfarrer
war. In Escheberg bei Zierenberg sang Geibel, als er in seiner Jugend vier Jahre
lang Gast des Schloßherrn von Malsburg war, zum ersten Mal das Lied:
"Der Mai ist gekommen".
Viel zu wenig bekannt ist Ernst Koch aus Witzenhausen, der Dichter des "Prinz
Rosa-Stramin", einer köstlichen Spätblüte der Romantik. Ernst
Koch ist 1858, fern von seiner Heimat - in
Luxemburg - an gebrochenem Herzen gestorben.
Franz Dingelstedt, die Brüder Grimm,
in allerneuester Zeit Wilhelm Speck,
der Schöpfer des tiefschürfenden Romans Zwei Seelen,
Wilhelm Schäfer aus der Schwalm, ein Erzähler von hohem Rang,
der zum rheinischen Dichterkreis gehört, - alle diese Dichter, die in
deutschen Landen zu verdienten Ehren gekommen sind, haben in ihrer
Hessen-Heimat nicht Fuß fassen können. Hans
Grimm - auch ein Hesse -, der das Werk Volk ohne Raum
geschrieben hat, verdankt einem jahrzehntelangen Aufenthalt in
Südwest-Afrika seinen dichterischen Aufstieg.
Es gehört zu den unergründlichen Auswirkungen der
Schicksalverbundenheit, daß Hessen die Hemmungen, die es in seiner
Geschichte erlitt, sein ausgesprochenes Märtyrertum, an die Dichter, deren
Wesenheit im Tiefsten mit dem Boden der Heimat verflochten ist, weiter
abgegeben hat. [222=Foto]
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