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Hessen und bei Rhein
Eugen Schmahl

Die Franken durchschritten in einer Furt den Main. Eine Stadt wurde an dieser Stelle gebaut. Sie trägt noch heute den Namen danach und folgt an beiden Ufern dem Strom. Statt der Furt verbinden jetzt Brücken das Hüben und Drüben. Der deutsche Süden und der deutsche Norden begegnen und durchbluten sich hier. —

Ein Land liegt diesseits und jenseits der Brücken, dessen Leben und Art in der Stadt am Mainstrom kulminiert. Aber die Stadt gehört nicht zu diesem Land. Denn sie ist, bis zum Jahre 1866 Freie Reichsstadt, jetzt preußisch, und das Land, das sie vom Süden und Norden her klammert, ist bis auf einen kleinen Querstreifen, Hessen, das Großherzogtum, das sich heute Freistaat nennt. Dieses Hessen ist übriggeblieben von Philipps des Großmütigen Territorialbesitz. Es zählt nicht zum Süden und nicht zum Norden, aber es liegt am Main und am Rhein. Seine Großherzöge führten den Namen "von Hessen und bei Rhein". Sie hießen zumeist Ludwig. Wie das alte Fürstenhaus wird sich auch das Land immer dem Süden zugehörig fühlen, und weil es mit seiner Provinz Oberhessen die Hand bis Mitteldeutschland aufhebt, hat es zugleich seine historische Rolle als Umschlagplatz deutscher Art.

Hessen-Darmstadt mit seinen willkürlichen Staatsgrenzen geht vom Vogelsberg mit seiner verträumten Dürftigkeit und seinem derben, offenen Menschenschlag herüber an die Lahn, die gerade noch seine Universität, Gießen, streift. Von da geht es über in die Wetterau mit ihren weichen, welligen Weizenäckern und ihren selbstbewußten Bauerndörfern, mit ihren Städtchen, die alle eine in die Jahrhunderte hinabreichende Geschichte mit viel Abenteuern haben, unter denen sich deutsche Gestaltungskraft verbarg und aus denen sie herausdrängte.

Da legt sich um die fruchtbare Au ein Kranz von Wäldern, die am Abend im blauen Duft stehen und sich den zu ihnen hinstrebenden Ähren neigen. Da atmen Heimlichkeiten in der zarten Landschaft, die sich willig dem Auge öffnet und dem Walde hingibt. Da blühen die Apfel- und Kirschbäume im Frühling an allen Wegen entlang. Sie blühen um die Dörfer und tauchen sie ganz in Rot und Weiß. In den Dörfern aber ist ein zähes, seßhaftes und eigenwilliges Volk zu Hause. Sie machen es sich nicht leicht, die Bauern in der Wetterau, aber sie sind selbstsicher und ausschließlich auf ihre Art und Lebensweise bedacht. "Mir sein mir." Sie haben keinen Untertanenverstand. Schon früh haben sie politisch aufbegehrt. Ihre Schwerfälligkeit und Querköpfigkeit ist in dem Augenblick überwunden, wo sie sehen, daß der Einsatz der Person für die gemeinsame Sache um der Sache und der Person willen auch wirklich lohnt. Diese Bauern haben zugleich die schönsten Volkslieder [224] in Deutschland gesungen, sie stecken voller Sagen und Geschichten. Einmal gingen die Lieder und Geschichten in Spinnstuben und am Röhrenbrunnen um. Heute ist die Stadt mit ihrer Zivilisation von den internationalen Bädern am Taunusrand her auch in die hessischen Dörfer gedrungen. Sie hat gebracht und genommen: Die Wasserleitungen und das elektrische Licht gegen Volkslied und Bibelwort. Aber die Art steht fest. Sie läßt sich nur zeitweise übertölpeln. Sie ist störrischer als das, was im Odenwald oder an der Bergstraße und um die Hauptstadt des Landes wohnt. Sie fühlt sich auch gegenüber denen da unten, zu denen der Weg ja doch nur über Frankfurt und in Verwaltungssachen führt, selbständig.

Darmstadt gehört zu den alten süddeutschen Residenzen, die Fürsten, um ihre eigene Bedeutung zu heben, zum Kulturmittelpunkt zu machen strebten und zum Ausstrahlungszentrum deutschen Landschaftswesens gemacht haben. Die Stadt hat bis heute ihren Lebenszuschnitt nicht verändert. Das ruhige, in sich gesättigte Bürgertum geht neben dem Hof, den Exzellenzen und Geheime Räten gewichtig einher, es geht zu denselben Kaffeeklatschereien an einen Teich, der dort auch Woog heißen kann, und in dieselben Weinstuben. Ob noch immer ein "Datterich" in Darmstadt lebendig ist? Auch Georg Büchner ist dort groß geworden. Er offenbart in seinem revolutionär bewegten Wesen die gehemmte Schöpferkraft eines hochbegabten Stammes, der sich staatspolitisch zersplittert, an den engen Grenzen wundgestoßen hat.

Über die Bergstraße mit ihrer frühen Blütenpracht und ihrem weichen, südlichen Klima zog Scheffels wildes Heer, fiel in Tiefschluckhausen ein, holten den verlaufenen Trompeter aus dem "Schwarzen Lamm" in Darmstadt und fegte durch den Odenwald, der noch heute seine Kronen hinter jagenden Rittern und Hunden herwirft.

Den Wein aber bezogen die Pfaffen, bei denen der Rodensteiner des Nachts um halber Zwölf einkehrte, vom Rhein. Von Bingen über Mainz bis Worms wächst er an hessischen Reben. In seinem schweren Gold leuchtet die alte deutsche Sage und die große, deutsche Kaiserzeit auf. Luthers Ruf findet in Worms sein Weltecho. Vom Dome zu Mainz aber läuten die Glocken weit hinaus und rufen zur Wacht, an der Stelle, an der sich am Rheinknie auch der Main dem deutschen Strom überläßt. Der Strom treibt bis Bingen nach Westen vor, dann wendet er sich entschlossen nach Norden. An der äußersten Südwestecke seines Laufes, in Bingen, ist Stefan George geboren. Hier hat deutsche Art und deutsches Wesen nach Jahren oberflächlicher Gleichgültigkeit wieder neue Prägung gefunden.

Von überall her kommen die deutschen Dinge auf Hessen zu. Hessen ist Kernland und Grenzland zugleich. Es spricht nicht viel von sich, aber es teilt sich mit.

    "Nennt immerhin die Hessen blind —
    die Hessen wissen, was sie sind."

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Deutsches Land: Das Buch von Volk und Heimat
Unter Mitarbeit von Schriftstellern aller deutschen Stämme
herausgegeben von Dr. Eugen Schmahl.
Mit einem Geleitwort von Dr. Hans Steinacher,
Reichsführer des Volksbundes für das Deutschtum im Ausland,
und mit einem Geleitschreiben von Hans Grimm.