[223]
Hessen und bei Rhein
Eugen Schmahl
Die Franken durchschritten in einer Furt den Main. Eine Stadt wurde an dieser
Stelle gebaut. Sie trägt noch heute den Namen danach und folgt an beiden
Ufern dem Strom. Statt der Furt verbinden jetzt Brücken das Hüben
und Drüben. Der deutsche Süden und der deutsche Norden begegnen
und durchbluten sich hier. —
Ein Land liegt diesseits und jenseits der Brücken, dessen Leben und Art in
der Stadt am Mainstrom kulminiert. Aber die Stadt gehört nicht zu diesem
Land. Denn sie ist, bis zum Jahre 1866 Freie Reichsstadt, jetzt preußisch,
und das Land, das sie vom Süden und Norden her klammert, ist bis auf
einen kleinen Querstreifen, Hessen, das Großherzogtum, das sich
heute Freistaat nennt. Dieses Hessen ist übriggeblieben von Philipps des
Großmütigen Territorialbesitz. Es zählt nicht zum Süden
und nicht zum Norden, aber es liegt am Main und am Rhein. Seine
Großherzöge führten den Namen "von Hessen und bei Rhein".
Sie hießen zumeist Ludwig. Wie das alte Fürstenhaus wird sich auch
das Land immer dem Süden zugehörig fühlen, und weil es mit
seiner Provinz Oberhessen die Hand bis Mitteldeutschland aufhebt, hat es
zugleich seine historische Rolle als Umschlagplatz deutscher Art.
Hessen-Darmstadt mit seinen willkürlichen Staatsgrenzen geht
vom Vogelsberg mit seiner verträumten Dürftigkeit und seinem
derben, offenen Menschenschlag herüber an die Lahn, die gerade noch
seine Universität, Gießen, streift. Von da geht es über in die
Wetterau mit ihren weichen, welligen Weizenäckern und ihren
selbstbewußten Bauerndörfern, mit ihren Städtchen, die alle
eine in die Jahrhunderte hinabreichende Geschichte mit viel Abenteuern haben,
unter denen sich deutsche Gestaltungskraft verbarg und aus denen sie
herausdrängte.
Da legt sich um die fruchtbare Au ein Kranz von Wäldern, die am Abend
im blauen Duft stehen und sich den zu ihnen hinstrebenden Ähren neigen.
Da atmen Heimlichkeiten in der zarten Landschaft, die sich willig dem Auge
öffnet und dem Walde hingibt. Da blühen die
Apfel- und Kirschbäume im Frühling an allen Wegen entlang. Sie
blühen um die Dörfer und tauchen sie ganz in Rot und Weiß.
In den Dörfern aber ist ein zähes, seßhaftes und eigenwilliges
Volk zu Hause. Sie machen es sich nicht leicht, die Bauern in der Wetterau, aber
sie sind selbstsicher und ausschließlich auf ihre Art und Lebensweise
bedacht. "Mir sein mir." Sie haben keinen Untertanenverstand. Schon früh
haben sie politisch aufbegehrt. Ihre Schwerfälligkeit und
Querköpfigkeit ist in dem Augenblick überwunden, wo sie sehen,
daß der Einsatz der Person für die gemeinsame Sache um der Sache
und der Person willen auch wirklich lohnt. Diese Bauern haben zugleich die
schönsten Volkslieder [224] in Deutschland
gesungen, sie stecken voller Sagen und Geschichten. Einmal gingen die Lieder
und Geschichten in Spinnstuben und am Röhrenbrunnen um. Heute ist die
Stadt mit ihrer Zivilisation von den internationalen Bädern am Taunusrand
her auch in die hessischen Dörfer gedrungen. Sie hat gebracht und
genommen: Die Wasserleitungen und das elektrische Licht gegen Volkslied und
Bibelwort. Aber die Art steht fest. Sie läßt sich nur zeitweise
übertölpeln. Sie ist störrischer als das, was im Odenwald oder
an der Bergstraße und um die Hauptstadt des Landes wohnt. Sie fühlt
sich auch gegenüber denen da unten, zu denen der Weg ja doch nur
über Frankfurt und in Verwaltungssachen führt,
selbständig.
Darmstadt gehört zu den alten süddeutschen Residenzen,
die Fürsten, um ihre eigene Bedeutung zu heben, zum Kulturmittelpunkt zu
machen strebten und zum Ausstrahlungszentrum deutschen Landschaftswesens
gemacht haben. Die Stadt hat bis heute ihren Lebenszuschnitt nicht
verändert. Das ruhige, in sich gesättigte Bürgertum geht neben
dem Hof, den Exzellenzen und Geheime Räten gewichtig einher, es geht zu
denselben Kaffeeklatschereien an einen Teich, der dort auch Woog heißen
kann, und in dieselben Weinstuben. Ob noch immer ein "Datterich" in Darmstadt
lebendig ist? Auch Georg Büchner ist dort groß geworden. Er
offenbart in seinem revolutionär bewegten Wesen die gehemmte
Schöpferkraft eines hochbegabten Stammes, der sich staatspolitisch
zersplittert, an den engen Grenzen wundgestoßen hat.
Über die Bergstraße mit ihrer frühen
Blütenpracht und ihrem weichen, südlichen Klima zog Scheffels
wildes Heer, fiel in Tiefschluckhausen ein, holten den verlaufenen Trompeter aus
dem "Schwarzen Lamm" in Darmstadt und fegte durch den Odenwald, der noch
heute seine Kronen hinter jagenden Rittern und Hunden herwirft.
Den Wein aber bezogen die Pfaffen, bei denen der Rodensteiner des Nachts um
halber Zwölf einkehrte, vom Rhein. Von Bingen über
Mainz bis Worms wächst er an hessischen Reben. In seinem schweren Gold
leuchtet die alte deutsche Sage und die große, deutsche Kaiserzeit auf. Luthers Ruf
findet in Worms sein Weltecho. Vom Dome zu Mainz aber
läuten die Glocken weit hinaus und rufen zur Wacht, an der Stelle, an der
sich am Rheinknie auch der Main dem deutschen Strom
überläßt. Der Strom treibt bis Bingen nach Westen vor, dann
wendet er sich entschlossen nach Norden. An der äußersten
Südwestecke seines Laufes, in Bingen, ist Stefan George geboren. Hier hat
deutsche Art und deutsches Wesen nach Jahren oberflächlicher
Gleichgültigkeit wieder neue Prägung gefunden.
Von überall her kommen die deutschen Dinge auf Hessen zu. Hessen ist
Kernland und Grenzland zugleich. Es spricht nicht viel von sich, aber es teilt sich
mit.
"Nennt immerhin die Hessen blind —
die Hessen wissen, was sie sind."
|