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Bd. 1: B. Der Kampf um die
Revision
I. Die deutsche Außenpolitik
im Kampf um die Befreiung von Versailles
Dr. Heinrich Schnee, M. d. R.
Gouverneur z. D., Mitglied des Reichstags, Präsident des
Arbeitsausschusses Deutscher Verbände
Das Versailler
Diktat stellt den ungeheuerlichsten Frieden dar, der in
modernen Zeiten einem großen Volk aufgezwungen worden ist. Das
Deutsche Reich ist verstümmelt worden durch Abtrennung deutscher
Gebiete, durch Herausschneidung eines breiten Korridors mitten durch
Deutschland hindurch. Millionen Deutscher sind unter fremde
Souveränität gebracht worden. Die gesamten deutschen Kolonien,
Länder in der sechsfachen Größe des Deutschen Reiches von
gewaltigen, noch kaum abschätzbaren Entwicklungsmöglichkeiten,
sind uns geraubt
worden. Die einseitige vollständige Entwaffnung des
deutschen Volkes ist diktiert worden. Ungeheure
Tribute sind uns unter dem
Namen von Reparationen auferlegt. Die in der neuen Geschichte noch nicht
dagewesene demütigende Verpflichtung zur Auslieferung der eigenen
Staatsmänner und Heerführer zwecks Aburteilung durch die Gegner
ist in das Diktat aufgenommen. In hunderten von Artikeln sind Bestimmungen
angehäuft worden, welche darauf berechnet sind, in jeder nur denkbaren
Weise das deutsche Volk zu knechten, zu knebeln und auszusaugen und
gleichzeitig für die Alliierten möglichst große Vorteile
herauszuholen. Zum Fundament dieses ganzen Gebäudes von Zwang und
Ungerechtigkeit ist die Lüge von der Kriegsschuld Deutschlands gemacht
worden, die im Artikel
231 des Diktats ausdrücklich festgelegt wurde.
Das Diktat von Versailles stellt gleichzeitig einen schnöden
Vertrags- und Rechtsbruch dar. Es hat die durch die Note des
Staatssekretärs Lansing vom 5. November 1918 zwischen den alliierten und
assoziierten Mächten einerseits und Deutschland andererseits vereinbarte
Friedensgrundlage der 14 Punkte Wilsons beiseite geschoben. Es war ein Franzose,
der frühere Generalkonsul Frankreichs Alcide Ebray, welcher in seinem
Buch La Paix Malpropre (Der unsaubere Frieden) durch Vergleich der im
Versailler Diktat Deutschland auferlegten Friedensbedingungen mit den
Wilsonschen Punkten im einzelnen in klarer und überzeugender Weise
nachgewiesen hat, daß die ersteren im stärksten Widerspruch mit den
letzteren stehen, ja vielfach das gerade Gegenteil derselben darstellen. Auch von
[160] diesem Gesichtspunkt aus betrachtet ist das
Versailler Diktat ein Dokument schlimmster Vergewaltigung des Rechts.
Ganz anders erschien das Friedensdiktat ungeachtet seiner ungeheuerlichen
Festsetzungen vom Standpunkt der französischen Nationalisten aus
gesehen. Sie betrachteten es als ein hinter Frankreichs berechtigten Forderungen
weit zurückbleibendes schwächliches Kompromiß der
französischen Verhandlungsführer. Die Einverleibung des linken
Rheinufers war von jeher französisches Verlangen gewesen. Clemenceaus
darauf gerichtete Anträge scheiterten aber an dem englischen und
amerikanischen Widerstand. Nach langen Verhandlungen kam es zu den
Bestimmungen über die Besetzung der Rheinlande auf
5-15 Jahre, wie sie in das Friedensdiktat aufgenommen sind; gleichzeitig erreichte
Clemenceau den Abschluß von Garantieverträgen mit England und
Amerika, die aber infolge der Nichtratifizierung durch die Vereinigten Staaten von
Amerika keine Wirkung erlangten. Für die Auffassung der nationalistischen
Majorität war das Ergebnis unbefriedigend. Clemenceau mußte gehen.
Die Bemühungen seiner Nachfolger waren darauf gerichtet, die
französischen Ziele über die Festsetzungen des Versailler Diktats
hinaus doch noch zu erreichen, in erster Linie das linke Rheinufer, eventuell ein
autonomes Rheinland unter französischer Herrschaft. Im übrigen ging
die französische Politik darauf aus, Deutschland in jeder Hinsicht
niederzuhalten und zu schwächen, so daß es sich niemals wieder
kräftigen und Frankreich gefährlich werden könnte. Dabei
beschränkte sie sich nicht auf eine Deutschland ungünstige
Ausführung der ohnehin unerträglichen Bestimmungen des Versailler
Diktats, sondern scheute auch, wie im Fall des Ruhreinbruches, vor direkten
Rechts- und Vertragsbrüchen nicht zurück.
England hatte im Friedensdiktat im wesentlichen erreicht, was der englischen
Politik als erstrebenswert erschien. Vor allem war die deutsche Seemacht
vernichtet und ihr Wiederaufbau ausgeschlossen. Aber in einem Punkt blieb das
Versailler Diktat doch hinter den englischen Wünschen zurück,
nämlich betreffend die deutschen Kolonien. Lloyd George hatte die
Annexion der deutschen Kolonien vorgeschlagen. Den gleichen Vorschlag hatten
die Vertreter der beteiligten englischen Dominions gemacht. Die übrigen
Alliierten stimmten dem zu. Wilson aber widersprach entschieden einer solchen
"Verteilung der Kriegsbeute". Auf sein Betreiben erklärten sich die
Alliierten schließlich damit einverstanden, daß das von dem
südafrikanischen Minister Smuts nur für die türkischen Gebiete
in Vorderasien vorgeschlagene Mandatssystem auch auf die deutschen Kolonien
Anwendung finden sollte. Dem entsprechend erhielten die Mächte und
Dominions lediglich eine "Vormundschaft" übertragen, eine Verwaltung zu
treuen Händen, die sie als Mandatare des
Völker- [161] bundes in seinem
Namen und unter seiner Aufsicht auszuüben haben. Es sind dann
Bestrebungen Englands und der beteiligten Dominions hervorgetreten,
nachträglich unter der Hand doch noch das Ziel der Einverleibung der
deutschen Kolonien zu erreichen.
Präsident Wilson hatte sich als Hauptziel die Einrichtung des
Völkerbundes gesetzt. Um diese zu erlangen, gab er in den meisten
Einzelpunkten den Forderungen der Alliierten nach, so daß schließlich
jenes traurige Zerrbild des Versailler Diktats entstand, welches keine
Ähnlichkeit mehr hatte mit den Festlegungen seiner 14 Punkte, die nach
dem Vorfriedensvertrag die Grundlage des Friedens bilden sollten. Wie aus der
Umgebung Wilsons glaubhaft versichert wurde, lebte er der Hoffnung, daß
eine Verbesserung des fehlerhaften Vertrages unter amerikanischer Mitwirkung
herbeigeführt werden würde, wenn nur erst der Völkerbund zur
Entstehung gelangt wäre. Das Gebilde des Völkerbundes erblickte das
Licht der Welt. Aber die amerikanische Mitwirkung blieb aus. Wilsons
Vorschläge wurden von dem amerikanischen Kongreß abgelehnt. Die
Ratifizierung des Versailler Diktats durch die Vereinigten Staaten erfolgte nicht.
Amerika wurde nicht Mitglied des Völkerbundes. Wilson unterlag bei der
Präsidentenwahl. Damit erledigten sich seine etwaigen Pläne einer
Revision des Versailler Diktats vom Völkerbund aus. Die Vereinigten
Staaten von Amerika schlossen am 25. August 1921 einen Sonderfrieden mit
Deutschland, in dem sie sich alle Rechte aus dem Versailler Diktat
gegenüber dem letzteren vorbehielten.
Die Alliierten blieben bei Ausführung des Versailler Diktats unter sich. Es
gab keine Macht, welche den oben charakterisierten Bestrebungen Frankreichs und
Englands hätte entgegentreten wollen oder können. Die Vereinigten
Staaten hätten als Partner des gemeinsamen Vertrages sowie als Mitglied des
Völkerbundes die Ausführung maßgebend beeinflussen
können. Nachdem sie sich selbst ausgeschaltet hatten, blieb die
Ausführung im wesentlichen die Sache Frankreichs und Englands. Zwischen
den beiden Großmächten entstehende Differenzen wurden meist auf
dem Rücken Deutschlands ausgetragen. Ein Widerspruch einer derselben
gegen die Bestrebungen der anderen, über das Versailler Diktat hinaus sich
Vorteile zu verschaffen oder die deutsche Lage zu verschlechtern, trat nur insofern
hervor, als die betreffende Macht darin eine Schädigung ihrer eigenen
Interessen erblickten.
Die Lage der deutschen Außenpolitik war unter diesen
Umständen eine außerordentlich schwierige. Sie hatte einen schweren
Kampf zu führen, um auch nur die Innehaltung des Versailler Diktats selbst
zu erreichen, und um weitere Wegnahme deutschen Landes sowie
Beschränkungen, Belastungen, Nachteile sonstiger Art über das
[162] im Versailler Diktat Festgesetzte hinaus von
Deutschland abzuwehren, einen Kampf, der keineswegs immer zu unseren Gunsten
ausfiel. Das Ringen um Befreiung vom Versailler Diktat selbst trat in dieser
Zwangslage demgegenüber oft in den Hintergrund. In einem Fall allerdings
wurde gleich zu Anfang die Durchführung einer Bestimmung desselben mit
Erfolg verhindert.
Es war die Schandbestimmung der Auslieferung der "Kriegsverbrecher".
Das deutsche Volk stand einmütig zusammen in der Zurückweisung
des schmählichen und unerhörten Verlangens, seine
Staatsmänner und Heerführer dem Feinde zur Aburteilung
auszuliefern. Gegenüber dieser einheitlichen entschlossenen Haltung
bestanden die Alliierten nicht auf ihrer Forderung. Sie begnügten sich damit,
daß die deutsche Regierung auf Grund des ihr von den Alliierten
übersandten Materials die Untersuchung und eventuelle Aburteilung durch
das Reichsgericht in Leipzig herbeiführte. Es braucht darauf an dieser Stelle
nicht eingegangen zu werden, da ein besonderer
Abschnitt dieses Buches die
Auslieferung der deutschen "Kriegsverbrecher" behandelt.
Im übrigen handelte es sich für die deutsche Regierung
zunächst im wesentlichen darum, noch weiteren Verschlechterungen des
Versailler Diktats durch die von den Alliierten betriebene Art der
Ausführung entgegenzutreten. Die französische Politik suchte ihre
oben umschriebenen Ziele dadurch zu erreichen, daß sie die in dem
Versailler Diktat gegebenen Möglichkeiten auf das äußerste
ausnutzte und aus der angeblichen Nichterfüllung Deutschland auferlegter
Bedingungen das Recht zu Maßnahmen herleitete, die weit über das
Diktat hinausgingen. "Reparationen" und "Sicherheit" waren
die beiden Schrauben, welche Frankreich abwechselnd oder bisweilen auch
gleichzeitig ansetzte, um die völlige dauernde Ohnmacht Deutschlands
herbeizuführen und möglichst viel aus dem erschöpften
deutschen Volkskörper herauszupressen. Daneben ging das Bestreben, noch
über den Sinn und Wortlaut der Versailler Festsetzungen hinaus Landgebiete
von Deutschland abzutrennen und unter die Herrschaft Frankreichs oder anderer
mit ihm alliierter Staaten zu bringen. England ließ seinen Ententegenossen
gewähren, soweit nicht eigene englische Interessen verletzt wurden. Es
verfolgte seinerseits mit Zähigkeit, wenn auch ohne äußere
Gewaltanwendung und unter Verdeckung seiner wirklichen Absichten seine
über das Versailler Diktat hinausgehenden Ziele in bezug auf die Mandate.
Die übrigen mit Frankreich alliierten Mächte machten entweder
dessen Politik mit und suchten selbst für sich möglichsten Nutzen
daraus zu erlangen oder nahmen wenigstens eine Frankreichs Politik wohlwollende
Haltung ein. Der mit einem großen Aufwand von idealen Worten in die Welt
gesetzte Völkerbund erwies sich lediglich als [163] ein Werkzeug zur Ausführung des
Willens der Siegernationen, in erster Linie Frankreichs. Die einzige
Großmacht, welche Veranlassung gehabt hätte, auf eine
vernünftige Ausführung des Versailler Diktats und auf dessen
spätere Revision zu dringen, die Vereinigten Staaten von Amerika, verhielt
sich zunächst völlig passiv gegenüber den Vorgängen in
Europa und nahm erst im späteren Lauf der Entwicklung durch Beobachter
und schließlich durch Sachverständige und durch
Anleihegewährung an der Regelung der Reparationsfragen Anteil.
Die deutsche Regierung sah sich einer denkbar ungünstigen Lage
gegenüber. Deutschland war bereits durch den Waffenstillstand und die
diesem folgenden Erpressungen der Alliierten seiner militärischen
Machtmittel beraubt. Es befand sich isoliert im Kreise seiner militärisch
starken Widersacher, deren Verlangen nach Unschädlichmachung des
verhaßten und gefürchteten Gegners ebensowenig durch das Versailler
Diktat befriedigt war, wie die Gier nach deutschem Land und deutschen
Gütern. Welche Methoden immer die deutsche Regierung im Ringen um die
Erhaltung des nach dem Versailler Diktat Deutschland noch Belassenen
anzuwenden versuchte, es war klar, daß dies nicht im Wege eines
militärischen Widerstandes gegen die Großmächte geschehen
konnte. Das durch den Zusammenbruch, durch die Umwälzung, durch das
ungeheuerliche, im stärksten Widerspruch zu dem zugesicherten
Rechtsfrieden des Präsidenten Wilson stehende Friedensdiktat
zermürbte deutsche Volk wäre auch nach seinem
Geistes- und Willenszustand gar nicht in der Verfassung gewesen, sich zu einem
Verzweiflungskampf aufzuraffen.
So lag in der Außenpolitik des niedergeworfenen Deutschland, ganz
besonders in der ersten Zeit nach der Unterzeichnung des Versailler Diktats, sehr
viel zwangsläufiges. Es fehlte für Deutschland sowohl die
Möglichkeit, sich auf eigene Macht zu stützen, wie sich an eine
andere Macht anzulehnen. In wirtschaftlicher Beziehung war das Deutsche Reich
geknebelt und für volle 5 Jahre nach dem Inkrafttreten des Diktats
gebunden, den Alliierten ohne Gegenseitigkeit die Meistbegünstigung zu
gewähren. So konnte auch die infolge der weltwirtschaftlichen
Verflechtungen in der deutschen Wirtschaft liegende Macht zunächst nicht
zur entsprechenden Auswirkung gelangen. Auch das Ringen mit geistigen Waffen
zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung der Welt war gegenüber
der Wirkung der skrupellosen
gegnerischen Kriegspropaganda, die zu einem
weitverbreiteten Glauben an die deutsche Kriegsschuld geführt hatte, im
Anfang wenig erfolgreich.
Deutschland war in dieser Lage zunächst mehr Objekt der Politik der
Alliierten, als Subjekt einer eigenen selbständigen Außenpolitik. Die
einander folgenden deutschen Regierungen waren in der
un- [164] glücklichen Lage, entweder die Diktate
der Alliierten anzunehmen oder die Ausführung der durch Ultimatum
angedrohten Folgen der Nichtannahme über Deutschland ergehen lassen zu
müssen. Daß allerdings selbst in dieser Lage entschlossener deutscher
Wille zu Erfolgen führen konnte, trat, wie schon bei der Nichtauslieferung
der "Kriegsverbrecher", auch sonst bei verschiedenen Gelegenheiten hervor. Das
war der Fall bei den Abstimmungen im Osten und Norden, in denen
gefährdete deutsche Gebiete erhalten blieben; das war der Fall bei den
Kämpfen in Oberschlesien, wo der mit schweren Opfern verbundene Einsatz
deutscher Freiwilliger die Wegnahme weiteren Landes durch Polen verhindert hat;
das war der Fall im
Ruhrgebiet, wo der leidensvolle passive Widerstand die
Durchführung der französischen Pläne vereitelt hat. Das
geschah auch im Rheinlande, wo entschlossenes Deutschtum dem von den
Franzosen hervorgerufenen und gestützten Separatistenunwesen ein
klägliches Ende bereitete.
Bei der Ausführung des Versailler Vertrages traten zunächst,
abgesehen von der oben erwähnten Frage der Auslieferung der
"Kriegsverbrecher", die Durchführung der Entwaffnung gemäß
den Forderungen der Alliierten und die Bewirkung der Lieferung der
Sachleistungen für die Reparationen
in den Vordergrund. Die deutsche
Regierung hatte gegenüber den rücksichtslosen Forderungen der
Alliierten, durch deren in Deutschland tätige Kommissionen die deutsche
Souveränität auf das stärkste beeinträchtigt wurde, einen
schweren Stand.
Die erste Regierung nach Annahme des Versailler Diktates mit Bauer als
Reichskanzler und Hermann Müller als Außenminister hatte bis zum
Ausbruch des
Kapp-Putsches im März 1920 Bestand. Dann folgte das Kabinett Hermann
Müller. Dieses wurde im Juni 1920 durch das Kabinett Fehrenbach mit
Simons als Außenminister abgelöst, das bis zum Mai 1921 Bestand
hatte.
Die Überwachung der Abrüstung durch die Interalliierte
Militärkontroll-Kommission, die in Berlin ihren Sitz hatte und durch ihre
Mitglieder und Beauftragte Untersuchungen in verschiedenen Orten des Deutschen
Reiches vornehmen ließ, führte zu wiederholten Reibungen,
Schwierigkeiten und Zwischenfällen. Das Auftreten fremder Offiziere und
Soldaten in Uniform - nicht selten in provokatorischer
Weise -, brachte die demütigende Lage Deutschlands dem deutschen
Volk recht zum Bewußtsein. Die Entwaffnung selbst wurde in rigoroser
Weise von den Alliierten, vor allem den Franzosen, betrieben, ohne daß auf
die schwierigen Verhältnisse Deutschlands Rücksicht genommen
wurde. Der Kapp-Putsch einerseits und die darauf folgenden Bolschewistenunruhen
anderseits führten zu den schwersten Erschütterungen.
Als die deutsche Reichswehr im [165] Frühjahr 1920 in das Ruhrgebiet
einrücken mußte, um den blutigen Aufstand der Kommunisten
niederzuschlagen, besetzten die Franzosen als "Sanktion" Frankfurt a. M. und
andere deutsche Städte. Doch trotz aller Hindernisse und Erschwerungen
von seiten der Alliierten und trotz der loyal durchgeführten Abrüstung
glückte es doch, der von Osten vordringenden Flut des Bolschewismus Halt
zu gebieten. Die Überwachungskommission der Alliierten blieb noch weit
über die Zeit hinaus bestehen, zu der die Entwaffnung Deutschlands in
Gemäßheit des Versailler Diktates durchgeführt war. Es war
erst nach Abschluß der Locarno-Verträge
(s. u.), als die Interalliierte
Militärkontroll-Kommission aufgelöst wurde.
In die Zeit der ersten Kabinette nach dem Inkrafttreten des Versailler Diktates fiel
die Ausführung der Bestimmungen des Versailler Diktates über die
Volksabstimmungen in verschiedenen deutschen Gebieten, welche
über deren Verbleib oder Nichtverbleib bei Deutschland entscheiden sollten.
Im Falle von Eupen
und Malmedy handelte es sich dabei um eine bloße
Scheinabstimmung. In Wirklichkeit wurde durch schärfsten Druck und
Drohung auf die deutsche Bevölkerung die Abstimmung zugunsten
Deutschlands unmöglich gemacht. Über den deutschen Charakter
dieses zu Unrecht Belgien zugesprochenen Landes kann kein Zweifel obwalten.
Dagegen kamen die Volksabstimmungen in Teilen von
Ost- und Westpreußen zur tatsächlichen Durchführung. Sie
ergaben überwältigende deutsche Majoritäten, die erkennen
ließen, daß auch in Teilen der ohne Abstimmung von Deutschland
abgetrennten Gebiete bei Vornahme einer solchen ein ähnliches
Ergebnis erzielt worden wäre. Ebenso fand die Abstimmung in Schleswig
statt, die gleichfalls überwiegend für Deutschland ausfiel, jedoch
durch die Zoneneinteilung nach einseitig dänischen Interessen und sonstige
Unterstützung der letzteren durch die Entente ungünstig
beeinflußt wurde. Die danach gezogene Grenzlinie entspricht, obwohl sie
einen großen Teil des Abstimmungsgebietes bei Deutschland belassen
mußte, doch keineswegs den wirklichen Volksverhältnissen der
Nordmark.
Die Abstimmung in Oberschlesien wurde von den Alliierten lange
hinausgezögert. Oberschlesien war von französischen und
italienischen Truppen besetzt. An der Spitze der interalliierten Kommission stand
der französische General Lerond, welcher mit allen Mitteln die Abtrennung
Oberschlesiens von Deutschland herbeizuführen suchte. Im August 1920
erregte der Polenführer Korfanty einen polnischen Aufstand und versuchte
mit Hilfe aktiver Truppen der polnischen Armee durch Gewalt vollendete
Tatsachen zu schaffen. Obwohl sein Unternehmen von Lerond unterstützt
wurde, scheiterte es an der entschlossenen Abwehr der deutschen Freiwilligen. Die
Abstimmung erfolgte erst am 20. März 1921. Sie fiel ungeachtet [166] des Terrors, der von polnischer Seite
ausgeübt wurde, ungeachtet der Unterstützung, welche die Polen von
Seiten der französischen Besatzung erhielten, mit etwa 60% zugunsten
Deutschlands aus. Ein nochmaliger wieder von Korfanty entfachter polnischer
Aufstand im Mai 1921 wurde wiederum im blutigen Kampf von deutschen
Freiwilligen abgewehrt. Die Entscheidung über die Abtrennung
Ostoberschlesiens von Deutschland erfolgte erst zur Zeit des auf das
letzterwähnte Kabinett folgenden Kabinetts Wirth.
Den größten Raum nahmen die Verhandlungen über die
tatsächlich untragbaren Reparationslasten ein, bei denen damals
die Kohlenlieferungen eine große Rolle spielten. Auf der Konferenz in Spa
im Juli 1920 wurde unter der Androhung des Ruhreinmarsches seitens der
Alliierten die Unterzeichnung eines Protokolls auf Kohlenlieferungen erzwungen.
Eine Sachverständigen-Konferenz in Brüssel Ende des gleichen Jahres
führte zu keinem Ergebnis, ebensowenig einige weitere Konferenzen. Im
Januar 1921 wurde in den Pariser Beschlüssen von den Alliierten die
deutsche Reparationsschuld auf 226 Milliarden Mark festgesetzt. Es folgte die
Konferenz in London im März 1921. Die Ablehnung der ultimativen
Forderung der Alliierten auf Grund der Pariser Beschlüsse durch den
deutschen Außenminister Simons hatte die Besetzung der Städte
Düsseldorf, Duisburg und Ruhrort durch Truppen der Alliierten zur Folge
und die Errichtung einer Zollgrenze für das Rheinland. Nunmehr rief der
deutsche Außenminister Simons den amerikanischen Präsidenten
Harding als Schiedsrichter über die Reparationsfrage an. Dieser lehnte
jedoch ab. Die Reparationskommission hatte inzwischen über die
Höhe der von Deutschland zu zahlenden Reparationen beraten und stellte
die Reparationsschuld am 27. April auf 132 Milliarden Mark fest. Auf dieser
Grundlage richtete der Oberste Rat ein Ultimatum an Deutschland, in dem die
Zahlung dieser Summe in Jahresraten von 2 Milliarden Mark zuzüglich 26%
des Wertes der deutschen Ausfuhr verlangt wurde und als sofortige Leistung
für das erste Halbjahr die Zahlung von 1 Milliarde in Gold. Im Falle der
Nichtannahme wurde die Besetzung des Ruhrgebietes angedroht. Das Kabinett
Fehrenbach trat darauf am 24. Mai 1921 zurück.
An seine Stelle trat das Kabinett Wirth mit diesem als Reichskanzler und dem
Gesandten Rosen als Außenminister, sowie Rathenau als
Wiederaufbauminister. Die von diesem Kabinett geführte Politik ist unter
dem Namen der "Erfüllungspolitik" bekannt geworden. So weit diese Politik
etwa glaubte, durch weitestgehende Erfüllung der Forderungen der Alliierten
ein Entgegenkommen von deren Seite, insbesondere von seiten der Franzosen
erzielen und eine für Deutschland günstige Atmosphäre
schaffen zu können, ist sie durch die Ereignisse widerlegt worden. Die
Erfüllungspolitik hat nicht verhindert, daß
ge- [167] rade zu dieser Zeit auf französisches
Betreiben der Völkerbund entgegen den Ergebnissen der Abstimmung und
entgegen den Bestimmungen des Versailler Diktates am 20. Oktober 1921 die
Abtrennung des größten Teils des oberschlesischen
Industriegebietes von Deutschland und dessen Überantwortung an
Polen anordnete. Die deutsche Regierung fügte sich dem Diktat,
erklärte jedoch den dadurch geschaffenen Zustand für eine
Rechtsverletzung und legte dagegen ausdrücklich Verwahrung ein.
Die für Deutschland ungünstige Entscheidung der oberschlesischen
Frage führte zum Rücktritt des Kabinetts Wirth. Es wurde eine neue
Regierung nur auf der Basis von Zentrum und Mehrheitssozialdemokraten
gebildet, bei der wieder Wirth Reichskanzler wurde und zunächst auch die
Geschäfte des Auswärtigen Amtes wahrnahm, bis Ende Januar 1922
Rathenau Außenminister wurde. Der Versuch der restlosen Erfüllung
der Reparationsforderungen der Alliierten führte zu wachsenden
Schwierigkeiten und zum schnellen Abgleiten der bereits stark gesunkenen Valuta.
Verschiedene Konferenzen führten zu keinen Ergebnissen hinsichtlich der
Reparationen.
Dagegen kam es aus Anlaß der Konferenz von Genua vom
April-Mai zum Abschluß des wichtigen Vertrages von Rapallo mit
Rußland vom 16. April 1922. Durch diesen Vertrag wurden die Beziehungen
zwischen Deutschland und Rußland auf dem Fuße der
Gleichberechtigung und unter Verzicht auf gegenseitige
Kriegs- und Nachkriegsansprüche wieder hergestellt.
Im übrigen gestaltete sich die deutsche Lage immer ungünstiger. Die
Ermordung Rathenaus durch einige unreife Burschen führte zu weiterer
Verschärfung im Innern. Poincarés Verfolgung der Politik der "produktiven
Pfänder" rückte die drohende Ruhrbesetzung immer mehr in den
Vordergrund. Die Versuche, durch Heranziehung neutraler Sachverständiger
zu einer erträglichen Lösung der Reparationsfrage zu gelangen,
scheiterten. Am 14. November 1922 trat das Kabinett Wirth zurück.
Geheimrat Cuno, Generaldirektor der
Hamburg-Amerika-Linie, wurde Reichskanzler und bildete ein Kabinett, dem als
Außenminister der Gesandte von Rosenberg angehörte. Die sofort
aufgenommenen Versuche auch dieses Kabinetts, eine Regelung der Reparationen
herbeizuführen, scheiterten. Am 11. Januar 1923 schritt Frankreich
gemeinsam mit Belgien wegen angeblicher deutscher Verfehlungen bei
Holz- und Kohlenlieferungen zum Einmarsch in das Ruhrgebiet mit starken
Truppen, schweren Geschützen, Tanks usw. Nach außen hin wurde
der Einmarsch lediglich mit der Sorge um die Erlangung deutscher Reparationen
motiviert. Tatsächlich aber handelte es sich um die Verfolgung der
politischen Absichten Frankreichs. U. a. ist das durch den Ende 1922
bekanntgewordenen Geheimbericht des
französi- [168] schen Abgeordneten
Dariac enthüllt worden. Es wurden die dauernde Abtrennung der Rheinlande
von Deutschland, die Erklärung der Autonomie unter französischem
Einfluß und das Verbleiben französischer Militärbesatzung als
Ziele Frankreichs klargelegt.
Dem gewalttätigen Vorgehen der Franzosen setzte die Bevölkerung
einmütig den passiven Widerstand entgegen, der von der deutschen
Regierung gebilligt und finanziell unterstützt wurde. Furchtbar waren die
Leiden der Ruhrbevölkerung unter der französischen
Gewaltherrschaft. Schwere Blutopfer wurden von ihr in diesem Ringen um die
deutsche Freiheit gebracht. Stärkste Rückwirkung auf das gesamte
deutsche Volk hatte die Finanzierung des Ruhrwiderstandes durch das Reich. Er
führte zu derartig hohen Aufwendungen, daß ihm die
geschwächte Kraft der Reichsfinanzen und der deutschen Währung
nicht gewachsen war. Es folgte der katastrophale völlige Zusammenbruch
der schon tief gesunkenen deutschen Valuta, der die wirtschaftliche Vernichtung
großer Teile des deutschen Volkes, besonders des Mittelstandes, besiegelte.
Die Aufrechterhaltung des passiven Widerstandes wurde infolge der
Finanz- und Währungslage nach knapp ¾ Jahren unmöglich.
Das Kabinett Cuno mußte am 12. August 1923 zurücktreten.
Es wurde nun eine Regierung der großen Koalition unter Führung von
Stresemann gebildet, der gleichzeitig das Auswärtige Amt übernahm.
Der Ruhrwiderstand wurde im September 1923 abgebrochen. Der Erlaß
eines Ermächtigungsgesetzes für die Regierung, um durch
zweckentsprechende Verordnungen das drohende Chaos zu verhindern und die
Währung zu stabilisieren, konnte erst nach nochmaliger Neubildung des
Kabinetts der großen Koalition unter Stresemann mit Luther als
Finanzminister erfolgen. Doch bereits im November 1923 mußte auch diese
Regierung zurücktreten. Es erfolgte die Bildung des Kabinetts der
Mittelparteien mit Marx als Reichskanzler. Stresemann wurde
Außenminister und hat seitdem bis zur Gegenwart ununterbrochen die
auswärtigen Geschäfte wahrgenommen.
Ein Rückblick auf jene Zeiten tiefsten Leidens der Ruhrbevölkerung
und völligen Währungsverfalls läßt erkennen, daß
der Ruhrwiderstand trotz seines durch die Verhältnisse erzwungenen
Abbruches nicht vergeblich gewesen ist. Er hat die Durchführung der
französischen Pläne verhindert. Durch ihn wurde erwiesen, daß
auf dem Wege der militärischen Besetzung deutschen Landes die Franzosen
weder ihren politischen Zielen näher kommen noch wirtschaftlich
annehmbare Ergebnisse erzielen konnten.
Wenige Wochen nach Abbruch des Ruhrwiderstandes, am 30. November 1923,
berief die Reparationskommission einen internationalen Ausschuß von
wirtschaftlichen Sachverständigen zur Prüfung der Reparationsfrage.
An die Stelle des politischen Diktats trat die
Unter- [169] suchung wirtschaftlicher
Tatsachen unter Teilnahme amerikanischer Sachverständiger. Der
Dawesplan wurde aufgestellt. Er sah ungeheuere Reparationsleistungen
Deutschlands vor, beginnend mit 1 Milliarde im ersten Jahr und steigend bis auf
den Normalsatz von 2½ Milliarden Mark vom 5. Jahre ab unter
interalliierter Kontrolle durch den Reparationsagenten und verschiedene
Kommissare. Aber der Dawesplan bedeutete doch, so untragbar die in ihm
festgesetzten Reparationsleistungen auf die Dauer waren, einen Fortschritt von den
Wegen der bisherigen französischen Gewaltpolitik zu einer wirtschaftlichen
Regelung dieser Frage. Der Dawesplan stellte sich im übrigen selbst als
einen bloßen Versuch hin und sah seine eventuelle spätere
Abänderung nach weiterer Prüfung vor.
In Frankreich wurde durch die Maiwahlen 1924 Poincaré gestürzt. Eine
Linksregierung mit Herriot kam ans Ruder. Auch in England wechselte die
Regierung. Ein Kabinett der Arbeiterpartei mit MacDonald als Premierminister
wurde gebildet. Im August 1924 fanden in London die Verhandlungen zwischen
den Vertretern der beteiligten
Mächte - auf deutscher Seite Marx, Stresemann und
Luther - über den Dawesplan statt. Nach Absicht der Alliierten sollte
dabei jede Bezugnahme auf die Ruhrbesetzung ausgeschlossen bleiben. Die
deutschen Vertreter bestanden jedoch auf der Einbeziehung dieser Frage, die
schließlich auch zugestanden wurde. Das Ergebnis der Verhandlungen war,
daß der noch in einigen Punkten geänderte Dawesplan von allen
Regierungen angenommen und von den Franzosen die Räumung des
Ruhrgebietes innerhalb eines Jahres zugesagt wurde. Im Reichstag wurde die
Gesetzvorlage betreffend den Dawesplan angenommen, die
verfassungsändernde Vorlage über die Reichsbahn mit Zustimmung
etwa der Hälfte der Deutschnationalen Volkspartei. Der Dawesplan trat am
1. September 1924 in Kraft. Die Räumung des Ruhrgebietes und der drei
früher besetzten Rheinstädte erfolgte innerhalb der vereinbarten Frist
von einem Jahr.
Aus Anlaß der Reichstagsbeschlüsse über die Annahme des
Dawesplans gab der Reichskanzler Marx am 29. August 1924 namens der
Reichsregierung eine Erklärung gegen die Kriegsschuldlüge ab.
Bereits vorher hatten wiederholt Vertreter der deutschen Regierung dagegen
Stellung genommen. Graf
Brockdorff-Rantzau hatte in Versailles am 7. Mai 1919 erklärt: "Es wird von
uns verlangt, daß wir uns als die Alleinschuldigen am Kriege bekennen. Ein
solches Bekenntnis wäre in meinem Mund eine Lüge". Am 21. Juni
1919 hatte der Reichskanzler Bauer in einer Note erklärt, daß
Deutschland "den Artikel
231 des Friedensvertrages, der von Deutschland fordert,
sich als alleinigen Urheber des Krieges zu bekennen, nicht annehmen kann und
durch seine Unterschrift nicht deckt". Dann hatten verschiedentlich deutsche
Staatsmänner in Reden die gegnerischen Beschuldigungen
zurückge- [170] wiesen. Aber seit der
Unterzeichnung des Versailler Diktats war es das erste Mal, daß eine solche
offizielle Kundgebung seitens der Reichsregierung erfolgte. Marx erklärte:
"Die uns durch den Versailler Vertrag unter dem Drucke
übermächtiger Gewalt auferlegte Feststellung, daß Deutschland
den Weltkrieg durch seinen Angriff entfesselt habe, widerspricht den Tatsachen der
Geschichte. Die Reichsregierung erklärt daher, daß sie diese
Feststellung nicht anerkennt". Er kündigte an, daß die Reichsregierung
diese Erklärung den fremden Regierungen zur Kenntnis bringen werde.
Es war ein Fehler, daß dieser Schritt nicht vor oder wenigstens gleichzeitig mit
der Erklärung im Reichstag erfolgte, denn unmittelbar nach Bekanntwerden
der letzteren kamen derartig scharf gehaltene Widersprüche von Seiten der
Alliierten gegen die beabsichtigte Notifizierung, daß diese vorläufig
nicht als ausführbar erschien. Erst mehr als ein Jahr später in der Note
vom 26. September 1925 aus Anlaß der Locarnoverhandlungen brachte die
deutsche Regierung die Erklärung vom 29. August 1924 den alliierten
Regierungen zur Kenntnis in einer Form, welche die Weiterführung jener
Verhandlungen ungeachtet der ablehnenden Haltung und mißwollenden
Kritik von alliierter Seite in der Kriegsschuldfrage gestattete.
In der Folgezeit kam es wiederholt zu Äußerungen gegen die
Kriegschuldlüge in Reden des Reichskanzlers und des
Reichsaußenministers. Am 18. September 1927 wies dann der Reichspräsident
von Hindenburg bei der Einweihung des
Tannenbergdenkmals die Anklage, daß Deutschland schuld sei an diesem
größten aller Kriege, namens des gesamten deutschen Volkes
zurück. Auch diese Rede fand ein mißtönendes Echo im
größten Teil der alliierten Presse, während neben manchen
neutralen Zeitungen wenigstens ein Teil der amerikanischen Öffentlichkeit
in wohlwollender Weise dazu Stellung nahm.
Von größter Bedeutung für die Entwicklung der
Kriegsschuldfrage war die Publikation der deutschen Geheimakten, seit
der Gründung des Deutschen Reiches bis zum Kriegsausbruch. Sie wurde
bereits am 7. Juli 1919, kurz nach Unterzeichnung des Versailler Diktats, vom
Reichskabinett beschlossen und erschien unter dem Titel Die große Politik
der Europäischen Kabinette von 1871 bis 1914 in 54 Teilen, deren letzter
Anfang 1927 herauskam. Diese umfangreiche Publikation, in der ohne jede
Rücksichtnahme alle wesentlichen Aktenstücke einschließlich
der Aufzeichnungen und Randbemerkungen der leitenden Staatsmänner
veröffentlicht wurden, hat eine Grundlage für die Feststellung der
tatsächlichen, durch die gegnerische Lügenpropaganda verschleierten
Vorgänge geboten, an der die Wissenschaft und die Öffentlichkeit
auch der alliierten [171] Länder nicht vorübergehen konnte.
Wenn seither auch jene Staaten Aktenveröffentlichungen veranlaßt
haben, wenn eine allmähliche Wandlung in den Ansichten über die
Kriegsursachen auch in den früher feindlichen Ländern Platz greift, so
ist das wesentlich auf das deutsche Vorgehen zurückzuführen,
welches in einem Maße die Geheimnisse diplomatischer Akten der neuesten
Zeit preisgegeben hat, wie es noch niemals in der Weltgeschichte der Fall war.
Damit ist ein wichtiger Schritt getan zur Beseitigung des Schuldurteils des
Versailler Diktates, das nicht bloß moralisch das deutsche Volk
verleumderisch herabsetzt, sondern nach dem Urteil alliierter Staatsmänner,
wie Lloyd George, die Grundlage des gesamten Versailler Diktates darstellt.
Im September 1924 sandte der deutsche Außenminister ein Memorandum an
die Mitglieder des Völkerbundes, in dem er die Voraussetzungen für
einen Eintritt Deutschlands in den Völkerbund umschrieb. Es wird darauf
weiter unten bei den Locarno-Verhandlungen eingegangen.
Am 20. Oktober 1924 wurde der Reichstag aufgelöst. Nach den Neuwahlen
wurde eine neue Regierung unter Beteiligung der Deutschnationalen mit Luther als
Reichskanzler und Stresemann als Außenminister gebildet.
Am 10. Januar 1925 war die Zeit abgelaufen, nach welcher gemäß
Versailler Diktat die erste Rheinlandzone geräumt werden
mußte. Frankreich machte jedoch keine Anstalten zur Räumung,
sondern schob, nachdem die Reparationsfrage durch den
Dawes-Plan eine vorläufige Regelung gefunden hatte, wieder die
Sicherheitsfrage in den Vordergrund. Die französische Behauptung ging
dahin, daß Deutschland die Bedingungen hinsichtlich der Abrüstung
noch nicht erfüllt habe, von deren Durchführung die Räumung
der ersten Zone abhängig sei. Auch sonst erwies sich das Vorschieben der
Sicherheitsfrage seitens der französischen Außenpolitik als Hindernis
auf dem Wege weiteren Fortschrittes in der Regelung des Verhältnisses
zwischen Deutschland und Frankreich.
Der deutsche Außenminister ging nun mit dem
Sicherheitsangebot des
Memorandums vom 9. Februar 1925 vor, aus dessen Anregungen die
Locarno-Konferenz im Herbst 1925 hervorging. Das Ergebnis der Verhandlungen
waren die Locarno-Verträge, deren wesentlicher Inhalt der folgende
war:
Die vertragschließenden Teile (Deutschland, England, Frankreich, Belgien
und Italien) garantieren die Aufrechterhaltung des sich aus den Grenzen zwischen
Deutschland und Frankreich sowie Deutschland und Belgien ergebenden status
quo und die Unverletzlichkeit dieser Grenzen. Die genannten Mächte
verpflichten sich gegenseitig, nicht zu einem Einfall oder zu einem Kriege
gegeneinander zu schrei- [172] ten; sie verpflichten
sich, alle zwischen ihnen bestehenden Streitfragen durch Schiedsgericht
entscheiden zu lassen.
Damit war für Frankreich und Belgien eine Garantie der Grenze geschaffen,
aber ebenso für Deutschland, das die Garantie der Vertragsunterzeichner
gegen einen etwaigen französischen oder belgischen Einbruch erhielt, wie er
unter der Politik der "Sanktionen" noch zwei Jahre vorher im Ruhreinfall
stattgefunden hatte. In den Verträgen wurden nähere Bestimmungen
über das Schiedsverfahren zwischen den Vertragsparteien getroffen.
Entsprechende Schiedsverträge wurden auch zwischen Deutschland
einerseits und Polen und der Tschechoslowakei andererseits geschlossen unter der
gegenseitigen Verpflichtung, nicht zum Kriege gegeneinander zu schreiten.
Dagegen wurde eine Garantie auch der Ostgrenzen, wie sie die Alliierten
wünschten, von deutscher Seite abgelehnt. Die Verträge sollten
sämtlich in Kraft treten, sobald die Ratifizierung erfolgt und Deutschland
Mitglied des Völkerbundes geworden wäre.
In dem Schlußprotokoll vom 16. Oktober 1925 wurde u. a. die
Überzeugung ausgesprochen, daß die Verträge zu einer
moralischen Entspannung zwischen den Nationen beitragen und das geeignete
Mittel sein würden, in wirksamer Weise die im Artikel
8 der Völkerbundssatzung vorgesehene Abrüstung zu
beschleunigen. In letzterer Beziehung haben die
Locarno-Verträge tatsächlich keinerlei Wirkung gehabt. Die Alliierten
sind heute noch ebenso weit von einer Abrüstung entfernt, als das vor dem
Inkrafttreten jener Verträge der Fall war. Im übrigen wurden in
Locarno von den Staatsmännern der Alliierten lediglich mündliche
Zusicherungen gegeben, die sich vor allem auf die besetzten Rheinlande bezogen,
und auf Grund deren die deutschen Unterhändler Luther und Stresemann in
der Öffentlichkeit erklären konnten, daß für die
deutschen Opfer und Leistungen entsprechende Rückwirkungen die Folge
des Vertragsabschlusses sein würden. Einige schriftliche Zusagen in bezug
auf die Verminderung der Stärke der Rheinlandbesetzung und die
Umgestaltung des Rheinlandregimes enthielt die etwa einen Monat später an
die deutsche Regierung gerichtete Note der Botschafterkonferenz vom 14.
November 1925.
Die Regierung, aus der die deutschnationalen Minister infolge der Einstellung ihrer
Partei gegen Locarno ausschieden, erhielt im Reichstag am 21. November 1925
eine Majorität für die Unterzeichnung der
Locarno-Verträge und den Eintritt in den Völkerbund. Im Dezember
erfolgte die Unterzeichnung in London.
Am 31. Januar 1926 wurde dann endlich, über ein Jahr nach Ablauf der im
Versailler Diktat vorgesehenen Frist, die erste Zone des besetzten
Gebietes mit Köln von den Truppen der Alliierten
geräumt.
[173] Bei den
Locarno-Verhandlungen war auch die Kolonialfrage berührt worden. Der
Reichsaußenminister Dr. Stresemann hatte bereits in seinem Memorandum
vom 29. September 1924, in dem er die Voraussetzungen für einen etwaigen
Eintritt Deutschlands in den Völkerbund umschrieb, erklärt:
Deutschland erwarte, zu gegebener Zeit aktiv an dem Mandatssystem beteiligt zu
werden. Bei den Besprechungen in Locarno hatten die Staatsmänner der
Alliierten grundsätzlich anerkannt, daß Deutschland im Falle seines
Eintritts in den Völkerbund ebenso wie andere Völkerbundsmitglieder
für Kolonialmandate kandidieren könne. Darin konnte ein indirektes
Fallenlassen der kolonialen
Schuldlüge erblickt werden, die dahin lautet,
daß Deutschland sich als unfähig und unwürdig zum
Kolonisieren erwiesen habe. Die Eignung Deutschlands zur Verwaltung von
Kolonialgebieten wurde somit wieder anerkannt. Aber weiter ging die Wirkung
dieser Erklärungen zunächst nicht. In die
Locarno-Verträge wurde nichts über Kolonialmandate aufgenommen.
Aus späteren Erklärungen englischer Staatsmänner ging hervor,
daß sie nicht daran dachten, diese grundsätzliche Anerkennung zu
einer praktischen Auswirkung durch tatsächliche Zuteilung von
Kolonialmandaten an Deutschland zu führen. Im Gegenteil waren sie
bemüht, nachträglich unter der Hand die Annexion der England als
Mandatgebiete anvertrauten deutschen Kolonien zu erreichen, welche ihnen der
Widerspruch Wilsons bei der Aufstellung der Friedensbedingungen verwehrt hatte.
Das einzige, was Deutschland zunächst erreichte, war die Wiederzulassung
der Deutschen in den Mandatsgebieten, in welchen ihnen die Einreise und
Niederlassung nach Kriegsende verboten war. Ferner wurde etwa ein Jahr nach
dem Eintritt Deutschlands in den Völkerbund ein Deutscher Mitglied der
Permanenten Mandatskommission, des Organs des Völkerbundes
über die Aufsicht über die Mandatsverwaltung.
In der Frühjahrstagung 1926 sollte der Eintritt Deutschlands in den
Völkerbund mit ständigem Ratssitz erfolgen. Im März
begaben sich Luther und Stresemann als deutsche Delegierte nach Genf. Ein
Intrigenspiel, welches die gleichzeitige Übertragung eines Ratssitzes an
Polen und sonstige Veränderungen in der Zusammensetzung des
Völkerbundrates herbeiführen sollte, vereitelte den Eintritt
Deutschlands. Trotz dieser unerfreulichen Vorgänge, und obwohl bisher die
zugesagten Auswirkungen von Locarno ausgeblieben waren, erklärte sich
doch die deutsche Delegation ebenso wie die Delegierten der Alliierten zur
Fortsetzung der Locarno-Politik bereit.
Kurz darauf vollzog sich ein wichtiges außenpolitisches Ereignis in bezug
auf das Verhältnis Deutschlands zu Rußland. Am 24. April 1926
wurde der Berliner Vertrag abgeschlossen. Darin wurde als die
Grundlage der deutsch-russischen Beziehungen nochmals der [174] Rapallo-Vertrag erklärt und die
freundschaftliche Verständigung aller die beiden Länder gemeinsam
berührenden Fragen in Aussicht genommen. Ferner wurde Neutralität
zugesichert, im Falle einer der vertragschließenden Teile trotz friedlichen
Verhaltens von einer dritten Macht angegriffen werden sollte; desgleichen wurde
die Enthaltung von der Teilnahme an einem etwaigen wirtschaftlichen und
finanziellen Boykott seitens dritter Mächte zugesagt. Durch diesen Vertrag
wurde dokumentiert, daß Deutschland nicht mehr, wie unmittelbar nach
Versailles, lediglich Objekt der Politik der Westmächte war, sondern
daß es selbständige politische Bindungen nach Osten einzugehen in
der Lage war, auch wenn sie von den Alliierten nicht mit günstigen Augen
betrachtet wurden. Die deutsche Außenpolitik verschaffte sich damit ein
gewisses Gegengewicht gegenüber ihren Beziehungen zu den
Westmächten. Eine Kreditgewährung und später eine
Kreditgarantie zur Förderung des Güteraustausches mit Rußland
trugen dazu bei, um eine praktische Auswirkung der Abmachungen in die
Erscheinung treten zu lassen.
Ungeachtet dieser abseits der Locarno-Politik liegenden Vorgänge betrieb
die deutsche Außenpolitik weiter den Eintritt in den
Völkerbund. Die wegen Zusammensetzung des Rates aufgetretenen
Differenzen wurden dahin gelöst, daß nur Deutschland
ständiges Mitglied wurde, im übrigen aber die Zahl der Mitglieder auf
14 erhöht wurde unter Einrichtung der Wiederwählbarkeit einiger
nicht ständiger Mitglieder. Inzwischen war das Kabinett Luther infolge der
Verordnung über die Führung der
schwarz-weiß-roten Handelsflagge mit
schwarz-rot-goldener Gösch neben der
schwarz-rot-goldenen Reichsflagge durch die Vertretungen des Deutschen Reiches
im Auslande im Mai gefallen. In der neuen Regierung wurde Marx Reichskanzler,
während Stresemann Außenminister blieb.
Am 10. September 1926 erfolgte der Eintritt Deutschlands in den
Völkerbund unter dem Beifall der Versammlung, begrüßt
insbesondere von dem französischen Außenminister Briand mit einer
rhetorisch hervorragenden Friedensrede. Gelegentlich dieser
Völkerbundsversammlung kam es dann zu jenem bekannten Gespräch
von Thoiry zwischen Stresemann und Briand, in dem eine Gesamtlösung
aller deutsch-französischen Streitigkeiten erörtert und insbesondere der
Gedanke einer alsbaldigen Rheinlandräumung gegen Mobilisierung gewisser
Teilbeträge der Reparationen durch Deutschland zugunsten Frankreichs ins
Auge gefaßt wurde. Die Hoffnungen, welche an diese Erörterungen
geknüpft wurden, lösten sich aber ins Nichts auf. Es zeigte sich,
daß die französische Regierung in Wirklichkeit keineswegs gewillt
war, einen solchen Weg zu gehen, um so weniger, als es Poincaré gelang, die
französische Währung zu halten und praktisch zu stabilisieren. Selbst
die zugesagten Rückwirkungen von [175] Locarno blieben aus. Um die Auslegung der
Note der Botschafterkonferenz vom 14. November 1925, in welcher Zusagen
betreffend Verminderung der Besatzungstruppen im Rheinland und
Änderung des Rheinlandregimes enthalten waren, entspann sich ein
langwieriger diplomatischer Schriftwechsel. Das Ergebnis war für
Deutschland unbefriedigend. Es bestand in einer Verminderung der
Besatzungstruppen um einige Tausend Mann. Auch die Änderung des
Rheinlandregimes entsprach, wenngleich sie beträchtliche Wandlungen
herbeiführte, doch nicht dem, was Deutschland auf Grund der
Locarno-Verhandlungen zu erwarten berechtigt war. Im übrigen blieben
irgendwelche direkten Auswirkungen von Locarno aus.
Indirekt dürften manche in den diplomatischen Verhandlungen erreichten
Fortschritte mit der Locarno-Politik zusammenhängen. Neben der
Räumung der Kölner Zone war die endliche Aufhebung der
Militär-Kontrollkommission ein solcher Fortschritt. Die Beseitigung der
Beschränkungen der deutschen zivilen Luftfahrt und des Flugzeugbaues war
ein anderer. So berechtigt diese deutschen Forderungen an sich waren, so
läßt sich doch bezweifeln, ob sie zu dieser Zeit ohne Locarno
durchgesetzt worden wären. Damit hat sich allerdings die Wirkung von
Locarno vorläufig erschöpft.
Die deutsche Außenpolitik wurde weiter von Stresemann als
Außenminister geführt, obwohl wiederholt Kabinettwechsel eintraten.
Ende Januar 1927 war unter Marx eine neue Regierung gebildet worden, in welche
die Deutschnationalen mit 4 Ministern eintraten. Nach den Reichstagswahlen vom
20. Mai 1928, welche zur Stärkung der Linken führten, wurde eine
Regierung unter Hermann Müller gebildet. In der Richtung der deutschen
Außenpolitik trat dadurch kein Wechsel ein. Seitdem Deutschland in den
Völkerbund eingetreten war, hat sein Außenminister Dr. Stresemann
an den Sitzungen in Genf regelmäßig teilgenommen mit Ausnahme
der Sitzung vom Herbst 1928, in der er durch Krankheit verhindert war
teilzunehmen und die vom Reichskanzler Müller wahrgenommen wurde. In
manchen dort behandelten Einzelfragen sind infolge der deutschen Mitwirkung
andere für uns günstigere Entscheidungen erzielt worden, als es bei
Deutschlands Fehlen im Völkerbundsrat der Fall gewesen
wäre - meist allerdings durch Kompromiß, das für keinen
der Beteiligten voll befriedigend war. Aber in den großen Fragen sind wir
bisher nicht weiter gekommen.
Das gilt einmal von der Abrüstung. In der Völkerbundsatzung ist die
Herabsetzung der nationalen Rüstungen auf das Mindestmaß
vorgesehen, das mit der nationalen Sicherheit und mit der Erzwingung
internationaler Verpflichtungen durch gemeinschaftliches Vorgehen vereinbar ist.
Die Entwaffnung Deutschlands sollte den Anfang der allgemeinen
Abrüstung bilden. In Wirklichkeit haben die
Alli- [176]
ierten nicht
abgerüstet. Frankreich und die mit ihm verbundenen Staaten haben vielmehr
ihre Rüstung immer weiter vermehrt und sind jetzt militärisch viel
stärker gerüstet, als es vor dem Kriege der Fall war. Die
Verhandlungen der vom Völkerbund eingesetzten
Abrüstungskommission lassen einen vollständigen Fehlschlag als
zweifellos erscheinen, nachdem der Forderung der Franzosen, daß
ausgebildete Reserven nicht auf die Truppenstärke anzurechnen seien, von
den Vertretern Englands und der Vereinigten Staaten von Amerika nachgegeben
worden ist, und auch das Kriegsmaterial unberücksichtigt bleiben soll. Es
liegt auf der Hand, daß von einer Abrüstung überhaupt keine
Rede mehr sein kann, wenn dieser Standpunkt der Kommission auch von der
endgültigen, entscheidenden Instanz des Völkerbundes
aufrechterhalten werden sollte, was allerdings nur allzu wahrscheinlich ist.
Durch diesen Fehlschlag der Abrüstung wurde die Wirksamkeit des
bedeutsamen Kelloggpaktes in stärkstem Maße
beeinträchtigt, welcher am 27. August 1928 von dem Vertreter Deutschlands
ebenso wie von denen Amerikas, Englands, Frankreichs und einer Reihe anderer
Mächte in Paris unterzeichnet wurde. Darin erklären die
Vertragschließenden, daß sie den Krieg als Mittel für
Lösung internationaler Streitfälle verurteilen und auf ihn als
Werkzeug nationaler Politik in ihren gegenseitigen Beziehungen verzichten, und
daß sie die Regelung der Entscheidung aller Streitigkeiten oder Konflikte,
die zwischen ihnen entstehen könnten, niemals anders als durch friedliche
Mittel anstreben würden. Mit Recht hat Lloyd George kürzlich in
einer Rede darauf hingewiesen, daß der wirkliche Schlüssel zum
Frieden nicht Verträge, sondern Abrüstung sei, und daß es
gegenwärtig trotz Völkerbund, Locarno und Kelloggpakt
stärkere Armeen in Europa gäbe, sowie größere
See- und Luftflotten als im Jahre 1914.
Das gilt weiter von der Rheinlandräumung. Diese ist nicht weiter
gekommen, nachdem die Blütenträume von Thoiry verblaßt
sind. Die Rheinlandbesetzung sollte nach dem Versailler Diktat dazu dienen, die
Ausführung desselben sicherzustellen. Leistet Deutschland allen
Verpflichtungen aus dem Vertrage vor Ablauf der 15 Jahre Genüge, sollen
nach Artikel
431 die Besatzungstruppen sofort zurückgezogen werden.
Deutschland fordert dementsprechend die Räumung der Rheinlande, da es
alle Verpflichtungen erfüllt. Frankreich seinerseits sucht die
Zurückziehung der Truppen von der Erlangung weiterer Garantien und
Vorteile abhängig zu machen. Es ist dabei wiederholt der Wunsch nach
Einrichtung von dauernden Kontrollorganen in der entmilitarisierten Zone
aufgetaucht. Es ist klar, daß Deutschland auf derartige über das
Versailler Diktat hinausgehende dauernde Beschränkungen seiner
Souveränität niemals eingehen kann. [177] Es ist weiter von französischer Seite die
Frage der Rheinlandräumung mit einer anderweitigen Gestaltung der
Reparationsleistungen unter Mobilisierung solcher zugunsten Frankreichs in
Verbindung gebracht worden. In dem Versailler Diktat findet eine solche
Verknüpfung der beiden Angelegenheiten miteinander keine Grundlage. Im
übrigen hängt die Gestaltung der Reparationsfrage von den
gegenwärtig noch in Paris schwebenden Verhandlungen ab.
Das gilt ferner von der Kolonialfrage. Der Völkerbundsrat ist nach
der Bundessatzung zum Hüter des Mandatssystems berufen, welcher
lediglich eine Verwaltung zu treuen Händen durch die
Mandatsmächte vorsieht. Der Völkerbundsrat hat den Bestrebungen
einiger Mandatare, die Mandate in dauernden Besitz umzuwandeln, dadurch
Vorschub geleistet, daß er 1922, als Deutschland noch nicht Mitglied des
Völkerbundes war, es zugelassen hat, daß in die Mandate für
einzelne Kolonien mit der Völkerbundssatzung unvereinbare Bestimmungen
hineingeschrieben wurden, welche die Vereinigung der Verwaltung jener
Mandatgebiete mit angrenzenden eigenen Kolonien der Mandatmacht zulassen. Er
hat auch seither entschiedenes Auftreten zur Wahrung des Mandatssystems
vermissen lassen, welches insbesondere durch englische Maßnahmen in
bezug auf Deutsch-Ostafrika (geplante Vereinigung mit den angrenzenden englischen
Kolonien unter einem Generalgouverneur gemäß den
Vorschlägen des Hilton-Young-Berichtes) und durch
südafrikanische auf die Einverleibung
Südwestafrikas abzielende Maßnahmen gefährdet erscheint.
Die deutsche lebenswichtige Forderung nach
Wiederbeteiligung Deutschlands an
der überseeischen Kolonisation hat bisher noch keine Erfüllung
gefunden. Deutschland hat noch kein Kolonialmandat erhalten, obwohl es seit
seinem Eintritt in den Völkerbund die Voraussetzungen dafür
erfüllt. Die Wiederzulassung Deutscher in die unter Mandatsverwaltung
gestellten deutschen Kolonien, aus denen sie, abgesehen von Südwestafrika,
vertrieben waren, ist erfolgt. Aber damit wird der Lebensnotwendigkeit des
deutschen Volkes nicht Genüge getan. Es ist ein Verdienst des
Reichsbankpräsidenten Schacht, daß er bei der gegenwärtig
noch tagenden Pariser Reparationskonferenz darauf hingewiesen hat, daß zur
Ermöglichung der Erfüllung dieser Zahlungsverpflichtungen
"Deutschland Gelegenheit gegeben werden muß, sich wieder eine eigene
überseeische Rohstoffbasis zu schaffen, die es mit eigenen
Produktionsmitteln, mit eigener Währung und unter eigener Verantwortung
entwickeln und ausbauen kann". Damit ist die vom wirtschaftlichen Standpunkt
dringendste deutsche Kolonialforderung der Gegenwart zutreffend umschrieben.
Die Forderung Schachts ist in französischer Pressehetze als "Politik"
hingestellt und von den fremden Sachverständigen beiseite geschoben
worden. Aber diese unter rein
wirt- [178] schaftlichem
Gesichtspunkt von dem deutschen Hauptdelegierten bei der Reparationskonferenz
erhobene Kolonialforderung behält doch ihren Wert und ihre Wirkung
für die Zukunft. Ohne die Lösung dieser deutschen Lebensfrage durch
Wiedereintritt Deutschlands in die überseeische Kolonisation kann es nicht
zu der dauernden Verständigung zwischen den Nationen kommen, an der
alle ein gleichmäßiges Interesse haben.
Die Reparationsfrage wurde bei den Verhandlungen in Genf im Herbst
1928, an denen der Reichskanzler Müller als deutscher Vertreter teilnahm,
erneut zum Gegenstand der Erörterung gemacht. Es wurde die
Zusammenberufung einer Sachverständigenkonferenz beschlossen, welche
im Februar 1929 in Paris unter Vorsitz des Amerikaners Owen Young
zusammentrat. Der Dawesplan hat bisher, äußerlich betrachtet,
funktioniert. Die deutschen Reparationsleistungen sind in voller Höhe
bewirkt worden. Der
Transfer - die Übertragung - großer Summen in fremder
Währung an die Gläubigerländer ist durchgeführt
worden. Das war aber nur möglich dank den großen aus dem
Auslande, besonders aus Amerika nach Deutschland geflossenen Anleihen. Eine
Krise des Dawesplanes muß sofort eintreten, sobald nicht mehr ausreichende
ausländische Anleihen gewährt werden. Die Herabsetzung der
Dawesleistungen auf ein mit der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit
Deutschlands zu vereinbarendes Maß ist eine Notwendigkeit. Bei
Niederschrift dieses steht noch nicht fest, welches das Ergebnis der Pariser
Verhandlungen sein wird.
Einer Erörterung bedarf noch die Behandlung des deutschen
Privateigentums auf Grund des Versailler Diktats. In diesem hatten sich die
alliierten und assoziierten Mächte das Recht vorbehalten, alle den deutschen
Reichsangehörigen gehörenden Güter, Rechte und Interessen
innerhalb ihres Herrschaftsbereichs zurückzubehalten und zu liquidieren.
Hiervon haben die Alliierten einen rücksichtslosen Gebrauch gemacht und
das gesamte bereits während des Krieges beschlagnahmte Privateigentum,
soweit es noch nicht liquidiert war, nunmehr zur Liquidation gebracht. Sogar in
den nach dem Versailler Diktat unter fremde Mandatverwaltung gestellten
deutschen Kolonien wurden sämtliche Deutschen vertrieben und ihres
Eigentums beraubt, allein ausgenommen
Deutsch-Südwestafrika. So wurde die im neuzeitlichen Völkerrecht
seit langem anerkannte Unverletzlichkeit des Privateigentums in
schmählicher Weise beiseite geschoben. Dem Deutschen Reich ist in dem
Versailler Diktat zwar die Verpflichtung zur Schadloshaltung seiner davon
betroffenen Angehörigen auferlegt worden, aber die Alliierten haben durch
Wegnahme großer deutscher Gebiete, der deutschen Handelsflotte, der
deutschen Kolonien sowie sonstiger ungeheurer Werte und durch Auferlegung
untragbarer Reparationslasten das Deutsche Reich tatsächlich
außerstande gesetzt, [179] diese Verpflichtung auszuführen. Nur in
beschränktem Maße hat das Deutsche Reich nach Wiederherstellung
seiner zusammengebrochenen Währung Entschädigungen
gewähren können, die, abgesehen von den kleinsten
Schadensbeträgen, weit hinter dem wirklich erlittenen Schaden
zurückbleiben.
Wie England mit den Beschlagnahmungen im Weltkriege vorangegangen war, so
nimmt es auch zum Schluß die ablehnendste Haltung unter allen
Großmächten gegenüber der Heiligkeit des Privateigentums ein.
England hat als einzige Großmacht bisher selbst die Herausgabe der Summe
(im Betrage von einigen hundert Millionen Mark) abgelehnt, welche nach Deckung
der Forderungen und Schäden der eigenen Staatsangehörigen aus dem
Erlös des liquidierten Privateigentums übriggeblieben ist.
Eine andere Haltung als die Alliierten haben eine Reihe
außereuropäischer Länder eingenommen. Fast sämtliche
am Kriege beteiligten Länder
Süd- und Mittelamerikas haben von einer Liquidation deutschen
Privateigentums überhaupt abgesehen. Japan, China und Südafrika
haben dieses Verfahren bald nach dem Kriege außer Kraft gesetzt und das
Eigentum oder dessen Wert zum größten Teil zurückgegeben.
Schließlich haben die Vereinigten Staaten von Amerika durch das am 29.
Februar 1928 vom amerikanischen Kongreß angenommene Gesetz die
Freigabe des deutschen Eigentums und die Herbeiführung einer
angemessenen Regelung der deutschen und amerikanischen
Schadenersatzansprüche verfügt.
Wenn wir zum Schluß das bisherige Ergebnis des
zehnjährigen Ringens der deutschen Außenpolitik um die
Befreiung von Versailles zusammenfassen, so bietet sich das folgende Bild:
Die Gesamtlage Deutschlands im Kreise der übrigen Nationen ist eine
wesentlich andere geworden, als sie in den ersten Jahren nach Inkrafttreten des
Diktates war. Damals wurde das deutsche Volk behandelt als Schwerverbrecher,
gegen den ein Strafurteil zu vollstrecken ist, und als ein leistungsfähiger,
aber böswilliger Schuldner, aus dem nur durch Exekution verweigerte oder
verheimlichte Werte herausgezogen werden können. Durch Ultimatum mit
Androhungen von Besetzung deutschen Gebietes wurde wiederholt die Annahme
unerfüllbarer Forderungen von den deutschen Regierungen jener Tage
erpreßt. Unter dem Namen von "Sanktionen" wurden rechtswidrige
Gewaltmaßnahmen ergriffen, wie die Besetzung der drei Rheinstädte
nach der Londoner Konferenz 1921 und der Ruhreinmarsch 1923, welche
tatsächlich kriegerische Handlungen gegenüber einem durch
völlige Entwaffnung wehrlos gemachten Land bedeuteten. Durch
furchtbaren Terror gegen die Bevölkerung der besetzten Gebiete, durch
Unterstützung des Separatistengesindels und sonstige Mittel [180] suchten die Franzosen die dauernde Abtrennung
der Rheinlande zu erzielen und die des Saargebietes vorzubereiten. Im Westen
wurden nach bloßer Scheinabstimmung Eupen und Malmedy mit Belgien
vereinigt, im Osten wurde durch die das Ergebnis der Abstimmung in
Oberschlesien, wie die die Bestimmungen des Versailler Diktates selbst
mißachtende Entscheidung des Völkerbundrates der
größte Teil des oberschlesischen Industriegebietes von Deutschland
abgerissen und an Polen gegeben. Im Deutschen Reich selbst machten sich
Kommissionen der Siegerstaaten breit, von denen besonders die Interalliierte
Militärkommission mit ihren beständigen Durchsuchungen nach
angeblich verheimlichten, tatsächlich nicht vorhandenen Waffenbeständen
das deutsche Selbstgefühl auf die schwerste Probe stellte und
unerträgliche Zustände schuf. Auch sonst war Deutschland seiner
Selbständigkeit in weitestem Maße beraubt. Vom Völkerbund,
der lediglich als Werkzeug zur Ausführung der Anordnungen der
Siegerstaaten diente, war Deutschland ausgeschlossen. Es war in der Tat nicht weit
ab von der Wirklichkeit, wenn der Führer des Bolschewismus, Lenin, in
jener Zeit Deutschland zum Typus der halbkolonialen Länder
zählte.
Wenn wir mit jenen Zeiten die Gegenwart vergleichen, so springt ein großer
Unterschied in die Augen. Diktate mit ultimativen Androhungen haben seit dem
Zusammentritt der Daweskommission Ende 1923 aufgehört. Es werden
seitdem in international üblicher Weise zwischen den Staatsmännern
der beteiligten Staaten Verhandlungen geführt und Verträge
geschlossen. Ebenso sind seit jenem Zeitpunkt weitere "Sanktionen" mit
willkürlicher Besetzung deutschen Gebietes nicht erfolgt; die im Wege
dieser französischen Gewaltpolitik nach dem Inkrafttreten des Versailler
Diktates besetzten Gebiete sind wieder geräumt worden. Durch die
Locarno-Verträge ist die Wiederholung solcher Gewaltmaßnahmen
ausgeschlossen und die Regelung von Differenzen auf das Schiedsverfahren
verwiesen worden. Die Militärkontrolle durch die Interalliierte
Militärkontrollkommission ist beseitigt worden. Dagegen sind auf Grund des
Dawesplanes neu eingesetzt der Reparationsagent und verschiedene
Kommissionen, welche eine weitgehende Kontrolle ausüben, die sich in
ungleich zivileren Formen abspielt als diejenige früherer Kommissionen,
ohne allerdings damit an einschneidender Wirkung auf die deutschen Finanzen zu
verlieren. Deutschland ist in den Völkerbund als äußerlich
gleichberechtigte Großmacht mit ständigem Sitz im
Völkerbundsrat eingetreten. Sicherlich hat Deutschland damit nicht die
Stellung einer wirklichen Großmacht erlangt, zu der ihm das wichtigste
Attribut, das der Macht fehlt. Auch sind die positiven Auswirkungen des deutschen
Eintritts in den Völkerbund noch nicht sehr erheblich gewesen und in den
größten und wichtigsten Fragen [181] bisher ganz ausgeblieben. Aber trotzdem
muß anerkannt werden, daß gegenüber dem früheren
Zustande der Eintritt Deutschlands in den Völkerbund im Herbst 1926 einen
beträchtlichen Fortschritt bedeutete. Das gilt einmal von der Gesamtstellung
und Einschätzung unseres Vaterlandes im Kreise der übrigen
Nationen; das gilt andererseits von der Möglichkeit der wirkungsvollen
Wahrnehmung der deutschen Belange. Da in wichtigen Fragen Einstimmigkeit
für die Beschlüsse des Völkerbundes erforderlich ist, vermag
Deutschland mit seinen Interessen unvereinbare Beschlüsse des
Völkerbundes zu verhindern. Im übrigen vermag es, wie die
seitherigen Verhandlungen des Völkerbundrates unter Teilnahme des
deutschen Mitgliedes gezeigt haben, in geeigneten Fällen die
Beschlüsse des Rates im Sinne der deutschen Wünsche zu
beeinflussen. Auch das häufige Zusammentreffen der leitenden
Staatsmänner der Völkerbundstaaten in Genf kann sich unter
Umständen als günstig erweisen, obwohl das deutsche Vertrauen auf
solche Wirkungen nach der Erfahrung von Thoiry einen starken Stoß
erhalten hat.
Deutschland ist, in seiner Gesamtstellung betrachtet, gegenwärtig zwar noch
weit von dem Zustande einer freien und selbständigen Großmacht
entfernt; es ist aber doch ein gutes Stück Weges vorwärts gekommen
seit jenen Tagen, in denen es Objekt für ultimative Drohungen und
Truppeneinmärsche in deutsches Gebiet war. Diese Wandlung ist zum
wesentlichen Teil zurückzuführen auf die Politik, welche durch die
Namen Dawesplan und Locarno gekennzeichnet wird. An diesem Urteil wird
dadurch nichts geändert, daß der Dawesplan auf die Dauer
undurchführbar ist und ebensowenig dadurch, daß die
Locarno-Politik keineswegs die sonst erwarteten Rückwirkungen gezeitigt
hat. Auch wenn diese Politik durch die letzte Entwicklung mit dem Wiedererstehen
der englisch-französischen Entente und der völligen
Verflüchtigung des
Locarno-Geistes endgültig erledigt sein sollte, so bleibt ihr doch das
Verdienst, daß sie zu ihrer Zeit eine Verbesserung der Stellung Deutschlands
bewirkt hat.
Wenn vorstehend von der wesentlichen Verbesserung der Gesamtstellung
Deutschlands gegenüber den Jahren unmittelbar nach Inkrafttreten des
Versailler Diktates gesprochen wurde, so läßt sich das gleiche leider
nicht von den wichtigsten Einzelfragen sagen. Die in der Völkerbundsatzung
vorgesehene Abrüstung der anderen Nationen ist so weit wie je von der
Verwirklichung entfernt. Vom Rheinland ist nur die erste Zone mit mehr als
einjähriger Verspätung geräumt worden, die beiden
übrigen Zonen sind noch von französischen, belgischen und
englischen Truppen besetzt, obwohl die Bedingungen für ihre
Räumung vor Ablauf der Fristen des Versailler Diktates von Deutschland
erfüllt sind. Im Saargebiet dauern die französischen
Bemühungen an, dort festen Fuß zu fassen. Die zeitweise im Rahmen
[182] des Möglichen erscheinende
Rückgabe von Eupen und Malmedy ist von Frankreich vereitelt worden; von
einer wirklichen und unbeeinflußten Abstimmung, durch die diese deutschen
Gebiete zweifellos an Deutschland zurückfallen würden, ist noch
keine Rede. Im Osten besteht nach wie vor die unmögliche Grenze, welche
Ostpreußen von dem übrigen Deutschland durch den breiten
Weichselkorridor
abtrennt und das Industriegebiet in Oberschlesien
durchschneidet. Noch ist Deutschland ausgeschlossen von der Kolonisation auf
eigenem überseeischen Boden. Noch besteht das mit dem
Selbstbestimmungsrecht der Völker völlig unvereinbare Verbot des
Zusammenschlusses
Deutsch-Österreichs mit dem Deutschen Reich. Noch harren die Fragen der
unterdrückten deutschen Minderheiten in den abgetretenen Gebieten und in
den Nachfolgestaaten der Lösung. Noch sind eine Reihe weiterer Fragen
ungelöst, welche in den verschiedenen Abschnitten dieses Werkes behandelt
werden.1
Diese Betrachtung läßt erkennen, daß wir trotz der oben
gekennzeichneten Fortschritte doch von der Wiedergewinnung der Freiheit
und Selbständigkeit Deutschlands und seiner wirklichen
Gleichberechtigung unter den Nationen noch weit entfernt sind. Wir
haben noch nicht wieder, um ein Wort Bismarcks aus seiner großen
Reichstagsrede vom 24. Februar 1881 anzuführen, die Stellung erlangt,
"daß wir als große Nation in der Welt frei atmen können". Dazu
gehört, daß die letzten fremden Truppen vom deutschen Boden
verschwinden, daß die sonstigen Fesseln und Schranken, welche der
deutschen Souveränität auferlegt sind, in Wegfall kommen, daß
mit der Abrüstung seitens der anderen Nationen ernst gemacht wird. Das
gegenwärtige Mißverhältnis, daß Deutschland inmitten
stark gerüsteter Nationen völlig entwaffnet ist, ist auf die Dauer
unerträglich und steht im schärfsten Widerspruch zu den
Bestimmungen der Völkerbundsatzung, nach denen allgemein eine
Herabsetzung der Rüstungen erfolgen sollte. Sofern diese ausbleibt, so
würde nur die Alternative vorliegen, daß auch die Rüstung
Deutschlands unter Berücksichtigung der seiner Nachbarn
gemäß Artikel
8 der Völkerbundsatzung auf das
Mindestmaß gebracht wird, welches mit seiner nationalen Sicherheit
vereinbar ist.
Dazu gehört ferner, daß die unmögliche Ostgrenze
geändert wird, die den deutschen
Volks- und Wirtschaftskörper in einer mit seinem Gedeihen
unverträglichen Weise durchschneidet. Keine der einander folgenden
deutschen Regierungen hat dem Gedanken einer Garantie dieser Grenze
zugestimmt, wie sie nach Analogie der Vereinbarung über die Westgrenze
wiederholt von außen angeregt wurde, keine
kom- [183] mende Regierung wird
dem je zustimmen können. Möge die Erkenntnis bei den anderen
Völkern durchdringen, daß eine den deutschen
Lebensbedürfnissen entsprechende Regelung dieser Frage für die
dauernde friedliche Verständigung zwischen den Nationen
unerläßlich ist.
Dasselbe gilt von der anderen großen Frage: der Wiedererlangung deutschen
Kolonialbesitzes. Auch hierbei handelt es sich um eine Lebensfrage Deutschlands,
das auf seinem zu schmalen Heimatsboden die Masse seiner in beständiger
Zunahme begriffenen Bevölkerung nicht zu erhalten vermag und einer
Verbreiterung seiner Bodengrundlage durch überseeischen Besitz
bedarf.
Zu der Wiedererlangung der Freiheit und Selbständigkeit gehört auch,
daß nicht nur die mit dem Dawesplan verbundene Verpfändung
deutscher Einnahmen und Kontrolle des Reichshaushalts in Wegfall kommt,
sondern auch, daß die Reparationslasten selbst auf ein der deutschen
Leistungsfähigkeit entsprechendes Maß herabgesetzt werden. Denn
übermäßige Belastung muß notgedrungen zur
Verschuldung und Fronarbeit für fremde Nationen führen.
Zur Wiedererlangung der Gleichberechtigung unter den Nationen gehört
endlich die Beseitigung der Kriegsschuldlüge, wie sie im Artikel
231 und
sonst im Versailler Diktat
enthalten ist. Denn diese Lüge ist die Grundlage,
auf welcher die unterschiedliche Behandlung Deutschlands und der Deutschen
gegenüber anderen Nationen und deren Angehörigen beruht.
Außerordentlich schwierig sind die Aufgaben, die sich aus den vorstehend
angedeuteten und den sonstigen noch ungelösten Fragen für die
deutsche Außenpolitik ergeben. Lang dehnt sich vor uns der Weg. Schwer
gestaltet sich der Aufstieg aus der Tiefe zu den lichten Höhen, auf denen die
Freiheit und die Gleichberechtigung wohnt. Nur in zähem dauernden Ringen
können wir erwarten, unser Ziel zu erreichen. Das Schiff der deutschen
Außenpolitik besitzt wenig eigene Motorkraft. Es ist angewiesen auf die
Ausnutzung der Winde, wie sie aus der Weltkonstellation sich ergeben. Trotz
allem aber haben wir die Zuversicht auf endliches Gelingen. Wir schöpfen
sie vor allem aus dem Vertrauen auf unser Volk, das auch in den schwersten Zeiten
die großen deutschen Eigenschaften bewahrt hat. Wir schöpfen sie
aber auch aus dem Blick auf das geschichtliche Werden, in dem ein
beständiger Wandel stattfindet, und auf die allgemeine politische
Entwicklung, welche eine dauernde Beschränkung der Freiheit und der
Gleichberechtigung einer großen europäischen Nation weder mit den
Anschauungen der Völker noch mit den eigenen Interessen der anderen
Nationen vereinbar erscheinen lassen wird.
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