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[Bd. 2 S. 5]
9. Kapitel: Frankreichs Furcht und Hoffnung,
Volksabstimmungen in Ausführung des Friedensvertrages.

  Entwaffnungsforderungen  

Kaum einen Monat hatten die interalliierten Kommissionen in Deutschland gearbeitet, als Frankreich Mitte Februar schon feststellen zu können glaubte, Deutschland komme seinen Verpflichtungen aus dem Versailler Vertrage nicht nach. Die Entwaffnung ging zu langsam, die Kommissionen entdeckten Kriegsmaterial, das noch nicht zerstört war und sicher für den Revanchekrieg versteckt wurde, die deutsche Regierung gründete Einwohnerwehren und Sicherheitspolizei, welche neue Heeresformationen darstellten und den europäischen Frieden gefährdeten, kurz, täglich wurde ein neuer Verstoß festgestellt, wobei die deutschen Unabhängigen den Franzosen bei der Enthüllung deutscher Ungesetzlichkeiten behilflich waren. Auch mit den Kohlenlieferungen war Deutschland im Rückstande, so daß, alles zusammengenommen, Frankreich sich genötigt sah, mit der Besetzung des Ruhrgebietes zu drohen.

Dann kam der Kapp-Putsch. Mit unfehlbarer Sicherheit stand es für Frankreich fest, daß die Militärherrschaft sich jetzt in Deutschland erheben und über das wehrlose Frankreich herfallen würde. War denn das Unternehmen Kapps nicht der sicherste Beweis dafür, daß Deutschland seinen Entwaffnungsverpflichtungen nicht nachkam? Wie war sonst so etwas möglich? Der Handstreich Kapps bedrohte Frankreich. Und dann der Ruhraufstand! Selbstherrlich und eigenmächtig überschritt General Watter an der Spitze seiner Reichswehrtruppen die Grenze der neutralen Zone und gefährdete die Sicherheit Frankreichs und Belgiens. Dieser Verstoß gegen den Versailler Vertrag durfte nicht ungesühnt bleiben.

Millerand, der französische Ministerpräsident, machte Anfang April die deutsche Regierung darauf aufmerksam, daß das Vorgehen des Generals Watter unzulässig sei. Zwar habe [6] der Oberste Rat der Alliierten auf Fochs Vorschlag am 9. August 1919 den Deutschen gestattet, zur Unterdrückung von Streiks und Aufständen Reichswehr ins Ruhrgebiet zu entsenden. Aber das Maß sei erheblich überschritten, und General Watter solle sich unverzüglich zurückziehen. Die kommunistische Erhebung im Ruhrgebiet sei die Folge des militärischen Kapp-Putsches gewesen, und Frankreich fühle sich infolgedessen absolut nicht verpflichtet, Abweichungen von den getroffenen Vereinbarungen zu gestatten.

General Nollet überreichte am 6. April eine Note, worin unverzügliche Auflösung der Einwohnerwehren gefordert wurde. Diese seien militärische Einrichtungen, sie hielten militärische Übungen ab und begünstigten die Mobilisation; deswegen fallen die Einwohnerwehren unter die Bestimmungen des Friedensvertrages, und die Alliierten hielten ihre Forderung vom 1. Dezember betreffs Auflösung aufrecht. Auch solle die Reichswehr bis spätestens 10. April gemäß der Vereinbarungen auf 200 000 Mann herabgesetzt sein. Gleichzeitig wurde die Besetzung Frankfurts und des Maingaues angekündigt als Vergeltung für den Verstoß General Watters.

Franzosen in Frankfurt am Main: Deutsche Polizeitruppe am Bahnhof.
[Bd. 2 S. 240a]
Franzosen in Frankfurt am Main:
Deutsche Polizeitruppe am Bahnhof.

Photo Scherl.

Besetzung
  Frankfurts  

Ehe sich aber die deutsche Regierung hierzu äußern konnte, war die Besetzung Frankfurts gleichzeitig am 6. April erfolgt. Frankreich rückte mit starker weißer und schwarzer Kriegsmacht in der alten Kaiserstadt ein und erließ folgende lange, aber charakteristische Proklamation:

      "Die französischen Truppen kommen nicht als Eroberer, sondern als Besatzungstruppen. Weder Personen noch Eigentum werden beeinträchtigt werden, unter der Bedingung, daß in dem neubesetzten Gebiet die vollständigste Ordnung herrscht. Um sie sicherzustellen, hat der Oberbefehlshaber der französischen Rheinarmee entschieden, daß folgende Maßregeln in den Kreisen Frankfurt, Darmstadt, Offenbach, Höchst, Königstein und Dieburg in Kraft treten:
      1. Der Belagerungszustand wird verhängt.
      2. Die deutschen Behörden und öffentlichen Dienste setzen ihre Tätigkeit unter der Aufsicht der französischen Militärbehörden fort. Das Personal bleibt auf dem Posten. Das [7] Material bleibt unberührt. Keine Arbeitseinstellung wird geduldet.
      3. Jeder Verkehr zwischen 9 Uhr abends und 5 Uhr früh ist vorläufig untersagt. Jede nicht zur Armee gehörige Person, die angetroffen wird, wird festgenommen. Der Verkehr zwischen dem neubesetzten Gebiet und Deutschland ist grundsätzlich untersagt. Jedoch werden Durchlaßscheine von den Gemeinden ausgestellt und von der militärischen Behörde visiert, um den mit der Lebensmittelversorgung beauftragten Personen den Verkehr zu ermöglichen. Jede Ansammlung von über fünf Personen auf der Straße ist verboten.
      4. Keine private oder öffentliche Vereinigung darf ohne Genehmigung stattfinden.
      5. Die Zeitungen dürfen vorläufig nicht erscheinen. Zum Telephonieren und Telegraphieren bedarf es der Ermächtigung der Militärbehörde. Vorläufig ist Postzensur verhängt. Empfänger und Sender drahtloser Stationen sind sofort anzumelden. Entsendung und Haltung von Brieftauben ist untersagt.
      6. Alle Feuerwaffen und Handgranaten in Privatbesitz oder Depots sind binnen sechs Stunden nach Anschlag dieser Bekanntmachung auf der Bürgermeisterei abzugeben. Nur die Polizeibeamten mit Ausnahme der Sicherheitswehr sind berechtigt, ihre Waffen zu behalten (1 Säbel und 1 Revolver für jeden Beamten). Nach dieser Frist wird jede Person, die im Besitz einer Waffe ist, festgenommen.
      In den Kreisen Groß-Gerau, Langenschwalbach, Wiesbaden-Stadt und Wiesbaden-Land, ausgenommen Biebrich:
      1. Der Belagerungszustand wird verhängt.
      2. Wie oben unter 2.
      3. Öffentliche Kundgebungen sind verboten, ebenso alle privaten oder öffentlichen Versammlungen ohne vorherige Genehmigung.
      4. Post, Telegraph und Telephon stehen unter Zensur.
      5. Diese Verfügung tritt sofort nach Anschlag in Kraft. Jedes Vergehen gegen die Strafgesetze oder gegen diese Verordnung wird kriegsgerichtlich bestraft.
[8]    Der Oberbefehlshaber der Rheinarmee rechnet darauf, daß die Behörden und die Bevölkerung die Notwendigkeit dieser Maßregel einsehen werden und daß keine Zwangsmaßregel notwendig wird."

Franzosen in Frankfurt am Main.
[Bd. 2 S. 224b]      Franzosen
in Frankfurt am Main.
      Photo Scherl.
Franzosen in Frankfurt am Main: Marokkaner haben die Hauptwache am Schillingplatz besetzt.
[Bd. 2 S. 240a]      Franzosen in Frankfurt
am Main: Marokkaner haben die Hauptwache
am Schillingplatz besetzt.
      Photo Scherl.

Nach sechs Wochen, am 17. Mai 1920, nachdem es zu Zusammenstößen mit schwarzen Soldaten gekommen war, räumten die Franzosen das neubesetzte Gebiet wieder. Sie gaben dem Drucke Englands nach, das in San Remo und Hythe (15. und 16. Mai) dem französischen Ministerpräsidenten Millerand den Rückzug aufgab. –

Ziele der
  französischen Politik  

Frankreich hatte jedoch schon lange auf die günstige Gelegenheit gewartet, seine Truppen vorrücken zu lassen, und zwar aus ganz besonderen Gründen. Die öffentliche Meinung des Landes stand noch vollkommen im Banne des Siegesrausches. Presse, Schwerindustrie und Militär konnten sich nicht daran gewöhnen, daß der Friedenszustand wirklich eingetreten sei, und der Poilu, der am ehesten die direkte Verbindung zwischen Regierung und Volk darstellte, wollte die Genugtuung seines Sieges bis zum äußersten auskosten. Seit Wochen und Monaten wurde in tausend Variationen täglich die Zerstückelung Deutschlands in den französischen Zeitungen behandelt. Dieses Thema besaß eine Selbstverständlichkeit, die für jeden Franzosen außer Frage stand. Die Erörterungen bewegten sich, bis weit in die sozialdemokratische Presse hinein, etwa in der Art, wie sie am 4. März 1920 in der Action française, einem ausgesprochen nationalistischen Blatte, zu lesen waren:

      "Ein zersplittertes Deutschland hätte Reichtum erzeugt, ohne Macht zu erwerben. Es hätte für sich und für uns gearbeitet, und bei den kleineren oder mittleren Staaten, die das Reich abgelöst hätten, hätten wir stets unsere gerechten Forderungen durchsetzen können. Unsere Unterhändler haben diese eminent europäische, eminent positive und selbstlose Idee nicht begriffen, die Idee der Wiederherstellung Deutschlands nach dem herrlichen Muster von 1648."

Alle inneren Unruhen und Erschütterungen Deutschlands müßte die französische Regierung benutzen, um dies Ziel zu erreichen, und angesichts der schweren Kommunistenunruhen konnte dasselbe Blatt am [9] 27. März, etwa drei Wochen später, schreiben: "Die deutsche Einheit muß zerschlagen werden, das Reich muß in einen Staub von Staaten aufgelöst werden." Aus diesen Ideen entsprang die Besetzung Frankfurts, die Frankreich gegen den Willen seiner Verbündeten unternahm, nur die Belgier schlossen sich am 14. April an, aber das Niederwerfen der Kommunisten in der neutralen Zone durch General Watter benutzten die Franzosen, um ihr Vorgehen mit einem Schein des Rechts zu umkleiden.

Pläne
  französischer Generale  

Wenn die Action française den französischen Politikern vorwarf, daß sie die eminent positive und selbstlose Idee der Zerstückelung Deutschlands nach dem Vorbild von 1648 nicht begriffen, so bewiesen die Generale trotz alledem, daß sie um so energischer entschlossen waren, dieses Ziel zu erreichen. Am 9. April fand in Mainz eine Besprechung hoher französischer Offiziere statt über die gegen Deutschland zu befolgende Politik. Die Rheinlinie sei nötig als dauernde Gewißheit und Sicherheit vor Revancheideen der deutschen Militärkreise. Das habe wieder einmal der Kapp-Putsch bewiesen. Aber auf dem linken Rheinufer sei kein großer fundierter Reichtum Preußens zu finden, deshalb müsse der zu gründende rheinische Pufferstaat auch Frankfurt am Main und Umgegend, das Ruhrgebiet und Düsseldorfs Industriezentrum umfassen. "Köln wird in vier Jahren geräumt, Koblenz wohl auch. Wenn vorher die rechte und linke Seite des Rheins nicht angegliedert sind, können wir es erleben, daß wir Mainz und Pfalz auch aufgeben müssen. Bis dahin sind die Schulden nicht bezahlt, ist Deutschland wieder hochgekommen und bildet eine Gefahr, besonders durch seine Kohlen, seine Industrietechnik und den Rhein, der der Kanal für die Rohstoffe nach Rheinland, Westfalen und Süddeutschland ist. Jede Verlegenheit Deutschlands ist daher zu benutzen, um damit Vorteile zu erringen." England und Amerika seien in der Welt beschäftigt, "und wir müssen alles tun, solange wir freie Hand haben, um uns festzusetzen und unsere Verbündeten vor eine vollendete Tatsache zu stellen. Vom nächsten Weltkrieg werden wir weniger berührt als England, Amerika und Japan. Innere Unruhen sind kaum [10] zu befürchten, wobei Elsaß-Lothringen stark entgegenzukommen ist. Die Sozialisten sind ja schon bei uns zurückgedrängt."

Deutschland, so wurde weiter ausgeführt, sei am besten in fünf bis sechs größere Bundesrepubliken zu zerlegen: Süddeutschland, welches Bayern, Württemberg und Baden umfaßt; Rheinische Republik auf beiden Ufern des Stromes; eine vorwiegend agrarische Republik im Norden, bestehend aus Pommern, Mecklenburg, Schleswig-Holstein, Hannover, Oldenburg, die Hansestädte seien dann belanglos; eine hauptsächlich industrielle Republik in der Mitte, Thüringen und Sachsen, und als Rest Berlin mit der Mark, Schlesien und einem kleinen Teile Pommerns. Die gegenwärtige deutsche Koalitionsregierung sei ein Ding der Unmöglichkeit, und man müsse ihre Stellung so viel wie möglich erschweren. Vor allem müsse Frankreich die mittlere kapitalistische Richtung (Demokraten) und die Unabhängigen als Bundesgenossen gegen Berlin gewinnen. Auf Grund des Friedensvertrages könne man in Frankfurt und im Ruhrgebiet einmarschieren, dann falle das dazwischenliegende Stück der Rheinischen Republik von selbst zu. "Zielbewußte, kluge Politik setzt uns in ein bis zwei Jahren in den Besitz dessen, was Foch will, nämlich der militärischen Rheingrenze mit starken Brückenköpfen, ohne ernstlichen Widerstand Deutschlands und unserer Verbündeten." – Die französischen Militaristen hatten aus den Versailler Verhandlungen wahrhaftig nichts gelernt, sie glaubten jedenfalls, auf eigene Faust Weltgeschichte machen zu können.

  Neue Separatistenumtriebe  

Die Hoffnungen Frankreichs stützen sich vor allem auf die separatistische Bewegung im Rheinland. Dortens Putsch im Juni 1919 war zwar gescheitert an dem Widerstande der Bevölkerung und der chronischen Geldnot in den Kassen der Sonderbündler. Auch in der zweiten Hälfte des Jahres 1919 kam man nicht zu irgendwelchen Ergebnissen. Damals trat der Unabhängige Smeets in der Bewegung besonders hervor. Frankreich hatte erklärliches Verständnis für die Finanznöte Dortens, und der Oberstkommandierende der Besatzungstruppen, General Mangin, ließ am 14. August 1919 dem Separa- [11] tistenführer 250 000 Franken zu Propagandazwecken überreichen. Und in der Tat setzte sich die eifrige sonderbündlerische Propaganda fort, vorwiegend auf wirtschaftlichem Gebiete, nachdem sie auf politischem Schiffbruch erlitten hatte. Im Verein mit französischen Industrieorganisationen wurden im Rheinland Büros errichtet, welche die "Verbesserung der handelspolitischen Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland" erstrebten. In Wahrheit war dieses Anknüpfen und "Verbessern" von Handelsbeziehungen nichts weiter als "Camouflage", als Verhüllung. Das Zentralbüro nannte sich "Bureau mixte" und führte als Untertitel "Französisch-rheinische Wiederaufbaustelle", und ihr Zweck war, die rheinische Industrie durch Ausschaltung der für Reparationslieferungen eingerichteten Oberaufsicht und Verteilungsstelle der deutschen Regierung den politischen Zielen der Franko-Rhenanen, der Sonderbündler, dienstbar zu machen. Den deutschen Industriellen und Gewerbetreibenden, die sich mit diesen Büros in Verbindung setzten, wurden zunächst eingehende Fragen vorgelegt, aus denen die Industriespionage sich bald erkennen ließ, und den Abschluß dieser Verbindung bildete gewöhnlich die unwahre Mitteilung der Betriebstelle des "Bureau mixte", daß das beabsichtigte Geschäft bereits mit einer andern Stelle zum Abschluß gekommen sei.

Dortens Politik:
  Rheinische Volksvereinigung  

Nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages durch Deutschland schöpfte Dorten neue Hoffnung und gründete am 22. Januar 1920 in Boppard die "Rheinische Volksvereinigung zur Vertretung der Interessen der Rheinlande", die in Wort und Schrift, in Versammlungen und Zeitungen das sich ablehnend verhaltende Volk reif machen sollte für die Rheinische Republik. Die Redner dieser Versammlungen hatten ein schweres Los. Es kam oft vor, daß sie von den erregten Zuhörern bis zur Ohnmacht verprügelt wurden, und die sonderbündlerischen Agitatoren unterzogen sich nach glaubwürdigem Zeugnis ihrer Aufgabe stets mit dem angsterfüllten Bewußtsein, gelyncht zu werden. Das Treiben dieser Kreise brachte eine derartige Unruhe in die Bevölkerung, daß die Parteien des Rheinlandes am 4. Februar 1920 in einer [12] öffentlichen Erklärung gegen die "Rheinische Volksvereinigung" auftraten:

      "Die unterzeichneten Parteien des Rheinlandes erklären als Vertreter der Bevölkerung des besetzten Gebietes hiermit öffentlich, daß die 'Rheinische Volksvereinigung zur Vertretung der Interessen der Rheinlande' sich mit ihren Bestrebungen außerhalb der Verfassung stellt. Die Mitgliedschaft in der 'Rheinischen Volksvereinigung' ist daher mit der Zugehörigkeit zu einer der unterzeichneten Parteien unvereinbar. Die Parteien werden unverzüglich ihre Mitglieder, die etwa der 'Rheinischen Volksvereinigung' angehören oder deren Bestrebungen unterstützen, aus ihren Reihen ausschließen."

Die Erklärung war unterzeichnet von der Deutschnationalen Volkspartei, der Deutschen Volkspartei, der Zentrumspartei, der Deutschdemokratischen und der Sozialdemokratischen Partei. Die Unabhängige Partei fehlte, denn sie war es gerade, auf deren Freundschaft Frankreich rechnete.

Plan einer
  Rheinischen Republik  

Einige Wochen später, den 25. Februar 1920, übersandte ein wirrer und phantastischer Kopf, Ganter-Gillmans, dem Dr. Dorten einen "Geheimplan für die zu schaffende große Organisation zwecks Errichtung einer Rheinischen Republik". Die Preußischen Provinzen Rheinland, Nassau, ferner Rheinhessen, Starkenburg und bayerische Rheinpfalz, einschließlich Westfalen und Oldenburg, sollten gemäß Artikel 18 und 167 der Deutschen Reichsverfassung "auf streng loyalem Wege" zu einem selbständigen deutschen Gliedstaate als "Rheinische Republik" konstituiert werden. Die föderalistische Bewegung in Bayern und Hannover würden diese Entwicklung unterstützen. Der neue Staat würde etwa fünfzehn Millionen Einwohner zählen und Deutschlands beste und ergiebigste Reichtumsquelle sein. Mit Verwirklichung der Rheinischen Republik würde dem von Preußen mit allen Mitteln angestrebten Unitarismus endgültig das Grab geschaufelt, dem Föderalismus aber zur höchsten Entwicklungsfähigkeit der Weg geebnet werden. "Deutschland, bisher ein Satrap der reaktionären preußischen Junkerpolitik, die in der uneingeschränkten Vorherrschaft Preußens mit ihrem Statthalter Hohenzollern das [13] A und O ihrer verderblichen Politik erblickte, würde mit Verwirklichung des Föderativgedankens ein in sich geschlossenes, nach außen und innen hin festes Staatsgebilde von sechs bis sieben Gliedstaaten werden." Mit dieser Entwicklung würde sowohl der Bolschewismus wie auch die "revanchelüsterne Reaktion in Preußen-Deutschland" für alle Zeiten beendet sein. Auch wäre damit der kommende neue Weltkrieg in fünf, zehn oder fünfundzwanzig Jahren unmöglich gemacht, und die westliche Kultur hätte über die Ostkultur einen entscheidenden Sieg davongetragen. "Mitteleuropa als Eldorado stände in Blüte." Frankreich sei der Arzt, der Deutschland gesund machen werde, indem es diesen Plan, sei es mit Gewalt, durchführe, und den Weg, wie Frankreich vorzugehen habe, um das verblendete, todkranke Deutschland vor dem Untergang zu bewahren, will Ganter-Gillmanns zeigen.

Der Verfasser, der sich als einen "nun durch fünfzehn Jahre praktisch als Sozialdemokrat sich betätigenden Politiker" bezeichnet, schlägt zunächst die Schaffung eines "Wirtschaftsverbandes der werktätigen Arbeiter des Rheinlandes" vor. General Mangin habe seinerzeit den Plan für "sehr gut und brauchbar" befunden, nachdem sich Herr Dr. Dorten im gleichen Sinne dazu geäußert habe. General Mangin hätte diesen Plan auch in die Praxis umgesetzt, wenn er nicht im Oktober 1919 so plötzlich aus dem Rheinlande abgerufen worden wäre. Nun untersucht Ganter die Stärkeverhältnisse der Separatistenbewegung und kommt zu dem Schluß, daß die rheinische Bewegung aus dem Zentrum hervorgegangen, in der Sozialdemokratie einen hartnäckigen Gegner habe. Angesichts der durch den Friedensvertrag geschaffenen Lage seien drei Viertel der Bevölkerung unitaristisch und nur ein Viertel föderativ gesinnt. Aber im Jahre 1921 werde das Verhältnis umgekehrt sein. Der Wirtschaftsverband solle in vier Unterabteilungen gegliedert werden: die "Rheinische Viehzucht- und Verwertungsgesellschaft m.b.H.", die "Rheinische Brot- und Getreidezentrale, G.m.b.H.", die "Rheinische Kolonial- und Tabakzentrale, G.m.b.H." und die "Rheinische Bekleidungsstelle G.m.b.H.". Dazu müßte als [14] "politische Unterabteilung" treten die "Rheinische Verlagsdruckerei G.m.b.H.", welche die Tageszeitung Rheinisches Journal herauszugeben habe. Organisationsstellen sollten in Bonn, Mainz, Ludwigshafen, Köln, Wiesbaden, Koblenz, Trier und Aachen eingerichtet werden. Die Finanzierung würde fünfzig Millionen Mark erfordern. Das Kapital sollten französische, belgische, englische, deutsche (!) und tunlichst amerikanische Banken aufbringen, aber der wahre Zweck, die Loslösung der Rheinlande von Preußen, müsse "total totgeschwiegen werden". "Hierüber darf bei den Finanzierungstransaktionen absolut kein Wort fallen." Außerdem solle Frankreich in erster Linie einen "nicht unerheblichen Kredit zwecks Einkaufs der ausländischen Lebens- und Genußmittel" gewähren. Um den Plan durchzuführen, sei die "tatkräftige Unterstützung des französischen Gouvernements erste und letzte Voraussetzung". Es sollten den französischen Militärbehörden Vertreter der Rheinlandbewegung beigeordnet werden zum Zwecke eines reibungslosen Zusammenarbeitens. "Das Tätigkeitsgebiet dieser betreffenden Personen bei der Hohen Kommission in Koblenz müßte naturgemäß ganz im geheimen gehalten werden und dürfte die Öffentlichkeit nie und in keinem Falle betreten."

Dr. Dorten kommentierte den Plan am 27. Februar 1920 wie folgt:

      "Ich habe den vorstehenden Entwurf gelesen. Meiner Ansicht nach ist die Bildung einer Rheinisch-Nationalen Sozialdemokratischen Partei unbedingt erforderlich und auf dem vom Herrn Verfasser vorgeschlagenen Wege zu erreichen. Außerdem würde dem rheinischen Volke, insbesondere der werktätigen Bevölkerung, ein unschätzbarer Dienst erwiesen werden, der es den Führern der rheinischen Bewegung ermöglichen würde, bei dem Volke ein Gefühl der Dankbarkeit für die Großmut Frankreichs zu erwecken und das Endziel, die Verständigung und Freundschaft zwischen den beiden Völkern, baldigst zu erreichen."

Die Kölner Sonderbündler aber, denen Dortens französische Beziehungen nicht gefielen, riefen am 30. April 1920 die "Christliche Volkspartei" ins Leben.

Solche Stimmen, Kräfte und Pläne mußten den Franzosen [15] Mut und Hoffnung einflößen, ihre Rheinlandpolitik fortzusetzen, und bei ihrer innigen Verbindung kann es nicht wundernehmen, daß sich die Gedankengänge der französischen Generale und der deutschen Separatisten bis ins kleinste deckten. Frankreich hatte es leicht, dem besetzten Gebiet seinen Willen aufzuzwingen und andere Meinungen zu knebeln. Unbequeme Zeitungen wurden verboten, Versammlungen andersgerichteter Kreise durften nicht stattfinden, Einzelpersonen, die sich mißliebig gemacht hatten, wurden als Bettler ausgewiesen oder der Hölle französischer Gefängnisse überantwortet. Trotz alledem blieb die Mehrzahl der Rheinländer unerschütterlich. "Wir sind Deutsche und wollen Deutsche bleiben!" war ihre Losung. Mit äußerster Geduld ertrug man Demütigungen und Qualen, und im Feuer des Martyriums für Deutschland läuterte sich echter Heldengeist. –

  Zustände in Bayern  

Aber das Kapitel deutscher Unwürde ist noch nicht erschöpft. Auch im unbesetzten Gebiet wuchs die Kraft der sonderbündlerischen Bewegung. Gering an Umfang war der Separatismus in Hessen und Hannover. Zu einer Macht entwickelte er sich in Bayern. Bayern war infolge der Reichsverfassung höchst unzufrieden mit dem Reich. Seine Vorrechte aus der wittelsbachischen Zeit hatte es verloren, und diese Tatsache rief im Herbst 1919 eine royalistische Strömung ins

  Dr. Heim und Graf Bothmer  

Leben, die ebenfalls, wie im Rheinland, Loslösungsbestrebungen von dem "verpreußten" Deutschland nährte. Die Triebkräfte der Separatisten waren Dr. Heim und Graf Bothmer. Sie standen in innigster Beziehung zu Dr. Dorten und weilten oft in Mainz, Wiesbaden und Darmstadt. Heim, der Führer der Bayerischen Volkspartei, hatte gemäßigte Tendenzen, er wollte zwar die Treue zum Reich halten, aber seinem Lande die weitgehende frühere Autonomie wiedergeben. Er beabsichtigte Zurückführung der traditionellen wittelsbachischen Dynastie, deren tatkräftigster Vertreter Kronprinz Rupprecht war. Graf Bothmer, Dortens intimer Freund, ging, wie wir sehen werden, wesentlich weiter. Die französische Zeitung L'Ere Nouvelle nannte ihn (13. September 1922) den "verdächtigsten Mann Deutschlands, wo er der 'siebenmal Gehäutete' genannt wird".

  Graf Bothmers Pläne  

Durch den Kapp-Putsch war in Bayern eine stark [16] monarchisch gefärbte Strömung ans Ruder gelangt. Bothmer gab 1920 eine Schrift Bayern den Bayern heraus, worin er den Föderalismus verteidigte. Er verlangte eine Angliederung Deutsch-Österreichs an Bayern und behauptete, die praktische Durchführung des Föderalismus sei die Herbeiführung der Entscheidung zwischen Berlin und München. Bothmer unterhielt Beziehungen zu Dorten und bemühte sich im März 1920 infolge des Kapp-Putsches, dessen Rheinische Volksvereinigung der Bayerischen Volkspartei anzugliedern. Die Rheinische Volksvereinigung, die überparteilichen Charakter hatte, sollte nach Bothmers Absicht in eine Rheinische Volkspartei umgewandelt werden unter der Bedingung, daß Dorten in der Rheinischen Volkspartei dieselbe Rolle einnehme wie Dr. Heim in der Bayerischen Volkspartei. Auch nach Hannover, Westfalen, Hessen und Oberschlesien hatte er die Verbindung aufgenommen. Ferner aber bestanden geheime Fäden von den Münchner Monarchisten nach Paris und über diesen Umweg zur römischen Kurie. Der Zusammenbruch Österreich-Ungarns war dem Papste sehr schmerzlich gewesen, und in seiner Umgebung tauchte der Plan auf, Deutsch-Österreich, Bayern und Tirol zu einer katholischen Donauföderation zu vereinigen. Der Verwirklichung dieses Vorhabens mußte eine Verständigung zwischen den Häusern Wittelsbach und Habsburg vorausgehen, die auch tatsächlich betrieben wurde. Diese kurialen Pläne wollte Frankreich in eine andere Richtung drängen. Der französische Botschafter beim Vatikan übte auf diesen im Frühjahr 1920 einen Druck aus, um von der römischen Kurie Erklärungen zugunsten einer französischen Lostrennungspolitik in Bayern zu erhalten. Papst Benedikt XV. und sein Staatssekretär Gasparri waren in der Tat eine Zeitlang unschlüssig, ob sie diese Versuche zulassen sollten. In Paris war man voller Hoffnung. Schließlich aber zog es die Kurie doch vor, ihre eigenen Pläne zu verfolgen. Die in München neuerrichtete Nuntiatur wurde angewiesen, die Verhandlungen über das bayerische Konkordat nicht eher zu beginnen, als bis Gewißheit vorhanden sei, daß das Konkordat nicht separatistische Bewegungen gegen das Reich unterstütze. Diese Entscheidung der Kurie mag darauf zurückgeführt werden, [17] daß Kardinal Faulhaber seinen Einfluß zugunsten des katholischen Reichskanzlers Fehrenbach geltend gemacht hatte.

  Die Bayerische  
Königspartei

Frankreich ging jetzt auf eigene Faust vor, man darf annehmen, im Einverständnis mit dem Grafen Bothmer. Ohne die Regierung des Reiches und Bayerns zu befragen, wurde in München eine französische Gesandtschaft errichtet. Am 16. Juli 1920 zog der französische Gesandte Dard in die bayerische Hauptstadt ein; seine geheime Instruktion ging dahin, die separatistischen Strömungen Bayerns zu fördern. Bothmer, der jetzt plötzlich über große Geldmittel verfügte, ging einen Schritt weiter und gründete im November 1920 die "Bayerische Königspartei". Charakteristischerweise stützte er sich hierbei vorwiegend auf das klerikale Moment. Die ersten zweihundert Mitglieder dieser Partei waren fast ausschließlich katholische Geistliche. So wurde die Bayerische Königspartei die Frucht der französischen und römischen Bestrebungen in Bayern, die notwendige Folge der Errichtung der päpstlichen Nuntiatur und der französischen Gesandtschaft in München. Der rührige Bothmer wollte, nachdem es ihm mißlungen war, auch die anderen separatistischen Strömungen in Deutschland seinen Zwecken dienstbar zu machen, beide Kräfte in seiner Hand vereinigen, um mit ihnen den Angriff gegen Berlin vorzubereiten. Sehr geschickt stützte sich Bothmer hierbei auf die im bayerischen Volke vorherrschenden monarchischen Sympathien. Dadurch gelang es ihm, seinen Bestrebungen nach außen hin, dem Volke gegenüber, einen Schein des Rechtes und der Sympathie zu geben. Es war ein großangelegter Plan, den der verwegene Mann verfolgte: mit geschlossener Wucht wollte er der demokratischen, in Weimar zentralisierten Reichsgewalt den Todesstoß versetzen. Wäre dies gelungen, dann wäre Deutschland in seine drei zentrifugalen Bestandteile an Rhein, Donau und an der Meeresküste zerfallen, Frankreich aber hätte seine schönsten Träume erfüllt gesehen.

Kronprinz Rupprecht von Wittelsbach.
[Bd. 2 S. 256b]    Kronprinz Rupprecht
von Wittelsbach.
      Photo Sennecke.

  Kronprinz Rupprecht  

Der unsichtbare Mittelpunkt all dieser Umtriebe war Kronprinz Rupprecht. Er hatte nie seine Rechte auf den Thron preisgegeben und war durchaus der Ansicht, daß ein monarchisches Bayern in einem republikanischen Deutschland möglich sei. Außerdem war er stark föderalistisch eingestellt. Schon [18] während des Weltkrieges vertrat er den Gedanken, daß das Deutsche Reich sich aus dem Bundesstaat in einen Staatenbund verwandeln müsse. Der Kronprinz hielt sich zwar in der Öffentlichkeit sehr zurück, doch wären die Machenschaften. Bothmers ohne Rupprechts prinzipielles Einverständnis nicht möglich gewesen. Es war ihm recht, wenn er wieder auf den Thron berufen wurde, und sei es auch um den Preis einer Trennung vom Reiche. Er hielt sich zurück, weil er hoffte, daß ihm eines Tages die reife Frucht in den Schoß fallen würde.

Im Februar 1921 entwickelte Bothmer die Ziele der Königspartei. Sie sei die Partei des "praktischen Föderalismus" und lehne die Weimarer Verfassung ab. Sie wolle die bayerische Staatshoheit wiederherstellen, wie sie vor 1871 bestanden habe! Die Zusammenfassung der souveränen deutschen Länder zu einem großen Staatengebilde entsprechend den Versailler Verträgen (1870) sei das ideale Ziel. Diese verdächtigen und bedenklichen Äußerungen nötigten alsbald die anderen Parteien, von der Königspartei abzurücken. Schon wenige Tage später, Anfang Mai, wandte sich die Bayerische Mittelpartei scharf gegen die Bayerische Königspartei und verbot ihren Angehörigen, dort Mitglied zu werden. Die Politik der Königspartei gefährde nicht nur den monarchischen Gedanken, sondern vor allem auch die Reichs- und Landesinteressen.

Auch in der Königspartei selbst kam es zu Auseinandersetzungen. Bothmer war nicht imstande, darum befragt, genügende Auskunft über die Quelle seiner reichlich fließenden Gelder zu geben. Deshalb wurde er Anfang März 1921 aus der Partei ausgeschlossen. Da sich aber der Vorsitzende der Partei, Mayer-Koy, vor den Grafen stellte, spaltete sich die Königspartei, bis Mayer-Koy im November 1921 selbst den Ausschluß Bothmers beantragte. –

Über all den hoffnungsfrohen Zukunftsträumen, welche durch deutsche Verräter genährt wurden, vergaß Frankreich nicht die Aufgaben der rauhen Wirklichkeit, deren dringendste die Entwaffnung Deutschlands war. Die deutsche Regierung hatte in zwei Noten vom 14. und 20. April 1920 dargetan, daß die Einrichtung der Einwohnerwehren nicht im Gegensatz [19] zu den Versailler Bedingungen stände und daß man sie notwendig brauche, wie ja die kommunistischen Aufstände zur Genüge bewiesen. Auch bat man, das Heer nicht unter 200 000 Mann herabsetzen zu müssen. Diese Truppe sei außenpolitisch ganz ungefährlich, denn die europäischen Staaten verfügten zum großen Teile über weit umfangreichere Armeen, aber innenpolitisch brauche man diese Stärke, um gegen weitere Staatserschütterungen gesichert zu sein.

  Konferenz in  
San Remo

Inzwischen tagten die Verbündeten vom 18.–26. April 1920 in San Remo. Frankreich beschwichtigte zunächst England, das über die Besetzung des Maingaues ungehalten war, und erklärte sich zur Räumung bereit, wenn die Truppen General Watters aus dem Ruhrgebiet zurückgezogen seien. Die Verbündeten kamen ferner zu dem Entschlusse, noch weitere Teile Deutschlands zu besetzen, vor allem das Ruhrgebiet, um von Deutschland die Durchführung des Friedensvertrages zu erzwingen. Deutschlands Forderung betreffs einer Armee von 200 000 Mann sollte abgelehnt werden, außerdem sollte Deutschland schneller entwaffnen. An eine Revision des Versailler Vertrages sei nicht zu denken. Über die Höhe der zu zahlenden Entschädigungen wollten sich die Verbündeten auf einer nächsten Konferenz einigen, dann sollten in Spa unmittelbare Verhandlungen mit Deutschland über die Höhe der Entschädigungen und die Entwaffnung stattfinden.

Der Erfolg der Besprechung in San Remo war ferner, daß das "Loch im Westen" geschlossen wurde, wodurch bisher Luxus- und andere Waren unverzollt nach Deutschland eingeführt wurden. Dieser Schritt bedeutete den Anfang zu einer wirtschaftlichen Konsolidierung Deutschlands, wodurch das Vertrauen des Auslandes zur deutschen Mark gekräftigt wurde. Sie reagierte mit einem Ansteigen von 7 Pfennigen bis auf 10 Pfennige und darüber. Dagegen wurde Deutschlands Ersuchen um Beibehaltung eines 200 000-Mann-Heeres abgelehnt. –

Am 7. Mai überreichten die Alliierten der deutschen Regierung eine "Probeliste" mit 45 Namen von deutschen "Kriegsverbrechern", die vor dem Reichsgericht abgeurteilt werden sollten. Im übrigen wurde Deutschland trotz [20] seines Protestes gezwungen, die Handelsflotte auszuliefern. Lloyd George und Millerand trafen am 15. und 16. Mai in

  Konferenz von  
Boulogne

Hythe zusammen gemäß der Besprechung von San Remo; aber sie beschlossen, die Konferenz bis nach den deutschen Reichstagswahlen zu verschieben. So kam man denn am 20. Juni noch einmal in Boulogne zusammen. Hier wurde zwar offiziell keine Höchstsumme für die Wiedergutmachungen festgesetzt, sondern nur jährliche Ratenzahlungen Deutschlands von mindestens drei Milliarden beschlossen. Sollte Deutschlands Wohlstand wachsen, dann sollten auch die Annuitäten, nicht aber die Gesamtschulden vergrößert werden. Die englischen Times sprachen von einer deutschen Gesamtschuld in Höhe von 105 Goldmilliarden; Pertinax meinte im Echo de Paris, Deutschland werde zweierlei Zahlungen leisten müssen: erstens 42 Annuitäten von je drei Goldmilliarden, die sogleich zu laufen beginnen, und zweitens progressiv berechnete Zuschläge in 37 Annuitäten von 1926 ab. Frankreich, als der Hauptleidtragende, sollte 52 Prozent des deutschen Tributes erhalten, Großbritannien 22, Italien 10 und Belgien 8 Prozent. Den "Parallelismus der Schulden", das heißt die Abhängigkeit der Verpflichtungen der Verbündeten untereinander von den deutschen Reparationszahlungen, lehnte Lloyd George ab, da Amerika sich nicht damit einverstanden erkläre. Außerdem wurde eine schnelle und strenge Durchführung der Entwaffnung in bezug auf Mannschaftsbestände, Kriegsmaterial, Sicherheitspolizei und Einwohnerwehren beschlossen. Man beriet über die ungenügenden Kohlenlieferungen Deutschlands, seine Zahlungspflicht und die anzuwendenden Zwangsmittel. – Zum erstenmal hatte die Entente in der Reparationsfrage positive Beschlüsse gefaßt: England hatte gegen Zugeständnisse in Kleinasien Deutschland an Frankreich ausgeliefert.

Das Ergebnis von Boulogne hatte seine Vorgeschichte, die zwar nicht unmittelbar mit den Ereignissen in Deutschland zusammenhängt, aber doch des Verständnisses wegen kurz angedeutet werden muß. Der Versailler Vertrag stellte zwar fest, daß Deutschland als schuldiger Teil für alle Verluste und Schäden des Krieges verantwortlich sei, daß es aber doch über [21] Deutschlands Kräfte ginge, sie wieder gutzumachen. Deswegen wurde die Pflicht der Wiedergutmachung beschränkt auf "alle Schäden, die der Zivilbevölkerung jeder der alliierten und assoziierten Mächte und ihrem Gut durch diesen Angriff zu Lande, zur See und in der Luft zugefügt worden sind, und auf die Pensionen für Kriegsverletzte und Kriegshinterbliebene". Trotzdem lebten die Sieger in "der großen Illusion", sich den Krieg bezahlen zu lassen und sich zu entschädigen durch die Ausplünderung des besiegten und verarmten Feindes. Jedoch führte diese Auffassung zu ernsten Meinungsverschiedenheiten zwischen England und Frankreich sowohl über die Höhe des zu fordernden Betrages, als auch über die Dauer und Art der Zahlungen, sowie über etwaige Zwangsmaßnahmen. Die Engländer verspürten empfindlich den Ausfall des deutschen Absatzgebietes und wären im Interesse ihrer eigenen Industrie schonend mit Deutschland umgegangen. Frankreich brauchte die Reparationen zum Wiederaufbau und als Druckmittel, Deutschland arm und schwach zu erhalten, daß es an keine Revanche denken könne. Zunächst sollte Deutschland 20 Milliarden Goldmark bis zum 1. Mai 1921 zahlen, um die Ausgaben für die Besatzungsarmeen und die Nahrungs- und Rohstofflieferungen der Alliierten zu bezahlen. Die Reparationskommission sollte inzwischen den ganzen Schuldbetrag festsetzen und angeben, wie die Summe binnen dreißig Jahren zu zahlen sei. Deutschland selbst erhielt das Recht, bis zum 10. Mai 1920 eigene Vorschläge einzureichen, aber die Alliierten erklärten sich mit den deutschen Projekten nicht einverstanden, da England darauf bestand, daß auch Pensionen und Fürsorgebeträge eingerechnet werden sollten. Deutschland erklärte, daß ihm die Beschaffung derartiger Summen unmöglich sei.

Die Vorgänge in Kleinasien aber, die Mossul- und Irakfrage, nahmen Englands Interesse in zunehmendem Maße in Anspruch, und Großbritannien hatte das Verlangen, in Europa entlastet zu werden. Deshalb gingen die englischen Vertreter nach Boulogne, um Frankreich Deutschland gegen Kleinasien auszuliefern. Man einigte sich über grundsätzliche Fragen der Reparationsverteilungen, teilte aber die Interessensphäre [22] nach dem politischen Grundsatz des do ut des so, daß England den Franzosen in Deutschland, Frankreich den Engländern in Kleinasien freie Hand ließ. In dem Augenblicke also, da das deutsche Volk seinen Willen, bürgerlich regiert zu werden, bekundete, verschärften die Alliierten ihr Verhältnis zu Deutschland, eine Maßnahme, die besonders in der Frage der Reparationen und der Entwaffnung zu schweren Meinungsverschiedenheiten führte. Es wurde ferner in Boulogne beschlossen, für Berlin nicht mehr Geschäftsträger, sondern ordnungsmäßige Botschafter zu ernennen. Für den 5. Juli 1920 wurde eine Konferenz nach Spa festgesetzt, an der, zum erstenmal seit 1918, auch deutsche Vertreter teilnehmen sollten. –

Französische
  Entwaffnungsnoten  

Die nächste Folge der Konferenz von Boulogne waren drei Noten Millerands vom 23. Juni an die deutsche Regierung, welche die Entwaffnung forderten. Deutschland sei in der Erfüllung der Entwaffnungsbestimmungen noch sehr im Rückstande. Statt am 10. April, sei jetzt erst die Reichswehr auf 200 000 Mann herabgesetzt worden, und die Zerstörung des Kriegsmaterials sei erst zum Teil erfolgt. Die Antwort der Alliierten gehe dahin, "daß die militärischen Kräfte Deutschlands auf der durch den Friedensvertrag bestimmten Stärke von 100 000 Mann und in der durch diesen Vertrag vorgesehenen Gliederung zu belassen sind, daß die Sicherheitspolizei innerhalb von drei Monaten vollständig aufzulösen ist und daß anderseits die Stärke der Polizeikräfte auf 150 000 Mann erhöht, somit um 70 000 Mann im Vergleich zu der Stärke von 1913 vermehrt wird. Des weiteren fordern die verbündeten Regierungen die deutsche Regierung auf, unverzüglich die deutsche Gesetzgebung entsprechend der Bestimmung des Artikels 211 mit den militärischen Bestimmungen des Vertrages in Einklang zu bringen, gesetzliche Maßregeln zu treffen, um entsprechend dem Artikel 170 die Ausfuhr von Kriegsmaterial nach dem Auslande zu verbieten, die Formationen der Einwohnerwehren, die im Widerspruch mit der Entschließung vom 8. April noch fortbestehen, tatsächlich aufzulösen und die Auslieferung der Waffen dieser Formationen durchzuführen." Die zweite Note verlangte Heeresverminderung auf 100 000 Mann bis zum 10. Juli, Erhöhung der [23] "Ordnungspolizei" von gegenwärtig 92 000 auf 150 000 Mann, Auflösung der "Sicherheitspolizei". Die "Ordnungspolizei" solle eine örtliche und Gemeindepolizei sein und keine staatliche Zentralisation besitzen. Ihre Bewaffnung werde vom Interalliierten Überwachungsausschuß festgesetzt. Auch sollten in den 150 000 Mann die in der neutralen Zone stationierten 10 000 Mann enthalten sein. Reichswehrsoldaten dürften nicht in die Sicherheitspolizei übernommen werden. Die dritte Note schließlich teilte mit, daß Artikel 201, der Deutschland sechs Monate nach Inkrafttreten des Vertrages den Bau von zivilen Luftfahrzeugen gestatte, am 10. Juli noch nicht in Kraft trete, da Deutschland erwiesenermaßen mit der Zerstörung und Ablieferung des militärischen Luftfahrzeugmaterials im Rückstande sei.

Frankreich fühlte sich dauernd vom deutschen Volke militärisch bedroht. Die in der Weltgeschichte einzig dastehende, elementare Wucht, mit welcher Deutschland den Weltkrieg begann, hatte den Franzosen Furcht und Entsetzen eingeflößt. Die exakte Arbeit des Großen Generalstabes, der Bezirkskommandos und der Eisenbahnen war so überwältigend und überraschend gewesen, daß es die Organisation keines anderen Staates den Deutschen gleichtun konnte. Der Kapp-Putsch hatte bei den Franzosen den Glauben erweckt, daß diese großartige militärische Mechanik noch völlig unberührt sei, daß es noch Stellen gäbe, welche die wunderbar geschwinde Mobilisation wie 1914 durchführen könnten, daß es noch Waffen genug gäbe, um mit einem Schlage Millionen auszurüsten, und daß nun, nach dem für die Rechte günstigen Wahlausfall, alle diese Gefahren größer seien denn je. Nach der Konferenz von Boulogne begann für die bürgerliche Regierung der deutschen Republik ein schlimmeres Martyrium, als es den bisherigen deutschen Reichsregierungen beschieden war. Doch bevor wir die Deutschen nach Spa begleiten, müssen wir den Gang der nach dem Friedensvertrag stattfindenden Volksabstimmungen verfolgen. –

Am ersten historisch begründet war die Volksabstimmung in Nordschleswig. Als im Prager Frieden 1866 Österreich die Elbherzogtümer an Preußen abtrat, nahm Bismarck den fünften [24] Artikel auf Drängen Napoleons III. in den Friedensvertrag auf, welcher besagte, "daß die Bevölkerung der nördlichen Distrikte von Schleswig mit Dänemark wieder vereinigt werden solle, wenn sie durch eine freie Abstimmung den Wunsch darnach zu erkennen gebe". Es wurde hierbei der Tatsache Rechnung getragen, daß diese nördlichen Distrikte einen beträchtlichen Teil dänischer Bevölkerung umfaßten. Der Artikel galt jedoch zwischen den beiden Kontrahenten des Prager Friedens, Preußen und Österreich, und enthielt keine völkerrechtliche Verpflichtung mehr, nachdem er 1878 durch Vereinbarung zwischen den beiden beteiligten Mächten aufgehoben worden war. Die ganze Abstimmungsfrage war damals an den überspannten Wünschen der Dänen gescheitert, die ja noch auf die Wiedergewinnung Flensburgs hofften und den Schutz der deutschen Minderheiten in den abzutretenden Gebieten nicht gewährleisten wollten. Durch den Optantenvertrag vom 11. Januar 1907 hatte Dänemark jedoch ausdrücklich anerkannt, daß für Preußen nach der 1878 geschaffenen Lage keine Verpflichtung für eine Abstimmung mehr bestand.

Abstimmung
  in Nordschleswig  

Bereits am 14. November 1918 erklärte sich die deutsche Regierung bereit, auf Grund einer Volksabstimmung die Verhältnisse in Nordschleswig zu regeln. Der Versailler Frieden verfügte zunächst eine Abstimmung in drei Zonen, von denen auf den deutschen Widerspruch hin die südlichste fallen gelassen wurde. Die erste Zone sollte in der Gesamtheit, die zweite gemeindeweise über ihre künftige Staatszugehörigkeit entscheiden. Die südliche Grenze der nördlichen Zone verlief zwischen Tondern und Flensburg, diese Grenze war die sogenannte Claußen-Linie. Die Dänen entfalteten eine großangelegte Propaganda mit Speck, Lebensmitteln, Geld und Versprechungen. Sie wurden durch die dänisch gesinnte Bevölkerung unterstützt, die ebenfalls nicht mit der Propaganda sparte und vor allem das Recht der Gemeinde, Notgeld ausgeben zu dürfen, in den Dienst der dänischen Sache stellten. Aber trotz aller Anstrengungen mußten Dänemark und die Alliierten über das Abstimmungsergebnis in der ersten Zone am 10. Februar 1920 enttäuscht sein, denn von 109 745 Abstimmungsberechtigten stimmten zwar 75 431, d. h. 74,2 Prozent für Dänemark, aber [25] 25 329, d. h. 24,9 Prozent für Deutschland. Von den vier Städten Hadersleben, Apenrade, Sonderburg und Tondern wies nur Hadersleben eine dänische Mehrheit auf. Auf Grund der Abstimmung nahm Dänemark das Land nördlich der Flensburger Förde mit Hadersleben, Apenrade, Tondern, Düppel und die Insel Alsen in Besitz.

In der zweiten Zone wurde am 14. März abgestimmt. Von 64 416 Abstimmungsberechtigten wurden 51 392 Stimmen (d. h. 80 Prozent) für Deutschland und nur 12 924 (d. h. 20 Prozent) für Dänemark abgegeben. Der starke deutsche Sinn der Friesen hatte behauptet:

      Gott möge uns Frieden behüten,
      Daß wir nicht werden Jüten!

In der Stadt Flensburg waren 27 074 deutsche Stimmen und nur 8 987 dänische abgegeben worden.

Dänemark forderte zwar, daß die zweite Zone mit Flensburg "internationalisiert" werden solle. Aber der Rat in Paris lehnte diesen Rechtsbruch ab. Jedoch wurde bei der Grenzfestsetzung am 5. Juli 1920 in Paris mit geringen Abänderungen die von den Dänen geforderte südliche Claußen-Linie anerkannt und die von den Deutschen vorgeschlagene, den Bevölkerungsverhältnissen besser entsprechende Tiedje-Linie abgelehnt. Diese Tiedje-Linie verlief nördlich von Hoyer und Tondern durch das Kongsmoor nördlich Rapstedt und Tingleff nach Rinkenis an der Flensburger Förde. Auch die Deutschgesinnten zwischen der Tiedje- und Claußen-Linie, die nun unter dänische Herrschaft kamen, protestierten:

      Magister Claußen, gesteh's nur ein:
      Deine Linie ist nicht fein.
      Du griffst zu weit hinab nach Süden,
      Die Tiedje-Linie nur bringt Frieden.

Während Deutschland sich unter der Bürgschaft der Entente zum Schutze der dänischen Minderheit verpflichten mußte, lehnte Dänemark eine gleiche Garantie zugunsten der deutschen Minderheit ab. Das Deutsche Reich hatte an seiner Nordmark ein Gebiet von rund 4000 Quadratkilometern verloren, mit einer Bevölkerung von über 200 000 Einwohnern, von denen [26] 60 000 Deutsche waren. Die Interalliierte Abstimmungskommission verließ das Gebiet, zur Freude und Erleichterung der Einwohnerschaft.

Abstimmungsnotgeld 1920.
[Bd. 3 S. 144b]      Abstimmungsnotgeld 1920.      [Photo Scherl?]

Volksbefragung
  in Eupen-Malmedy  

Von wesentlich anderer Art war die "Volksbefragung" in den Kreisen Eupen und Malmedy. Die Belgier hatten durch den Versailler Vertrag Neutral-Moresnet und Preußisch-Moresnet erhalten, während die Bevölkerung von Eupen und Malmedy selbst über ihre Zugehörigkeit zu Deutschland oder Belgien entscheiden sollte. Da die Belgier das Abstimmungsgebiet nach dem Zusammenbruch Deutschlands gewissermaßen als Feindesland besetzten, wurde die Abstimmung zur Komödie: die Bevölkerung wurde also nicht vor, sondern bereits nach dem Wechsel der Souveränität befragt. Man wählte diesen Weg, um das Ergebnis zu fälschen, da von den etwa 60 000 Einwohnern der beiden Kreise nur 10 000 Wallonen waren. Es wurden also nach Inkrafttreten des Friedens Listen ausgelegt, worin sich diejenigen Einwohner einzeichnen sollten, die den Wunsch hatten, daß die Gebiete ganz oder teilweise deutsch blieben. Nach sechs Monaten sollten die Listen geschlossen und dem Völkerbund vorgelegt werden, Belgien mußte sich verpflichten, die Entscheidung des Völkerbundes anzunehmen.

Die freie Meinungsäußerung bei dieser Abstimmung war sehr beschränkt infolge der Anwesenheit der Belgier. Die Tatsache schon, daß die Abstimmung nicht geheim war, bestimmte manchen, sich nicht in die "Protestlisten" einzutragen. Die Einzeichnung konnte nur in den beiden Städten geschehen, und die Dorfbewohner hatten umständliche Reisen dahin zu unternehmen. Manchmal traf es sich, daß der zuständige Beamte gerade abwesend war, und die Listen waren eingeschlossen. Auch scheute man sich nicht, denen, die ihre Unterschrift geben wollten, die Möglichkeit unangenehmer Konsequenzen vorzuhalten, da ja die Belgier Herren im Lande seien, denn diese beschränkten die Verkehrsfreiheit, erschwerten die Lebensmittelversorgung und den Geldaustausch und verfügten Ausweisungen.

Die Einwohner protestierten gegen diese Art und Weise. Auch schweizerische, skandinavische, holländische und eng- [27] lische Zeitungen übten Kritik. Die deutsche Regierung appellierte zunächst an die Alliierten, doch diese antworteten, sie hätten volles Vertrauen zu den belgischen Behörden. Dem Völkerbund schlug Deutschland vor, eine Untersuchungskommission einzusetzen, doch er erwiderte, daß er vor Ablauf der sechs Monate nicht intervenieren könne. Die Einwohner der beiden Kreise selbst wollten eine Abordnung an den Völkerbund entsenden, doch ihr wurde die Erlaubnis zur Abreise versagt. Sie richteten nun ein Schreiben an das Sekretariat des Völkerbundes und erhielten keine Antwort.

Die Alliierten selbst schienen die "Volksbefragung" nur als Gaukelspiel aufzufassen. Denn bereits nach zwei Monaten, ehe man etwas Endgültiges über das Ergebnis sagen konnte, wurde am 23. März 1920 die Bahnlinie des rein deutschen Kreises Monschau den Belgiern zugesprochen, die eine wertvolle strategische Ergänzung des Besitzes von Eupen und Malmedy darstellte. Am 23. Juli erreichte das Possenspiel sein Ende: von 33 726 Stimmberechtigten hatten nur 271 für Deutschland gestimmt! Der brutale Terror der Belgier hatte seinen Zweck erreicht. Die deutsche Regierung legte dem Völkerbund ein Weißbuch vor, in dem sie darlegte, wie die Abstimmung zustande gekommen war, und eine freie Abstimmung unter dem Schutze des Völkerbundes forderte. Dieser jedoch gab die Angelegenheit an den brasilischen Gesandten in Paris weiter, welcher erklärte, daß eine starke Opposition gegen einen Anschluß an Belgien nicht bestünde. Auf erneute Vorstellungen Deutschlands erwiderte der Völkerbund, seine Entscheidung durch den brasilischen Gesandten sei unwiderruflich, und so erhielt Belgien die waldreichen Gebiete, indem es seinen Raubzug mit einer Geschichtsfälschung bemäntelte und behauptete, Eupen und Malmedy habe einst zum burgundischen Staate gehört, dessen "Rechtsnachfolger" Belgien sei. Am 20. September 1920 wies der Völkerbund endgültig die beiden Kreise den Belgiern zu, und Deutschland verlor 989 Quadratkilometer mit 61 500 Einwohnern.

Abstimmung
  in Preußen  

Wesentlich reibungsloser verliefen die Abstimmungen in den west- und ostpreußischen Gebieten von Marienburg, [28] Marienwerder und Allenstein. Diese Teile werden zum großen Teile von Masuren bewohnt, die zwar den Polen verwandt, aber evangelisch sind und seit langer Zeit unter deutscher Herrschaft leben, so daß sie sich als Deutsche und Preußen fühlen. Eine interalliierte Abstimmungskommission hatte sich in das durch die Schlacht von Tannenberg historisch gewordene Allensteiner Gebiet begeben, um den Gang der Abstimmung zu beaufsichtigen. Jede Person über zwanzig Jahre durfte ohne Unterschied des Geschlechts ihre Stimme abgeben. Am 11. Juli fand die Abstimmung statt und 87,4 Prozent der Bevölkerung beteiligten sich an ihr. Deutschland erhielt 363 209 (d. h. 97,5 Prozent), Polen 7 980 (d. h. 2,5 Prozent) der Stimmen. Der überwältigende Sieg des Deutschtums stand außer jedem Zweifel, und das südliche Ostpreußen mit seinen 600 000 Einwohnern, von denen die Hälfte Masuren waren, blieb bei Deutschland.

In den Gebieten von Marienburg und Marienwerder lagen die Dinge ebenso. Es war der Rest der ehemaligen Provinz Westpreußen, den man in Versailles wegen seines deutschen Charakters nicht so ohne weiteres an Polen geben wollte. Auch hier nahmen 87 Prozent der Bevölkerung an der Abstimmung teil, und Deutschland erhielt 96 923 (92,8 Prozent), Polen dagegen 8 018 (7,2 Prozent) Stimmen. Die im Reiche wohnenden Ost- und Westpreußen hatten in weitem Umfange von dem Rechte Gebrauch gemacht, sich zur Abstimmung in ihre Heimat zu begeben, und ein Jubel der Begeisterung erhob sich in den Städten und Dörfern, daß sich ihr Schicksal für Deutschland entschieden hatte, und aus befreiten Herzen brauste es in den Kirchen unter Glockengeläut dem Himmel entgegen: "Nun danket alle Gott!"

Aber Polen und sein französischer Bundesgenosse konnten es nicht unterlassen, einen Wermutstropfen in den Becher der deutschen Freude zu gießen. Die Botschafterkonferenz entschied zwar am 27. Juli, daß Allenstein, Marienburg und Marienwerder bei Deutschland verbleiben. Aber ein flagranter Bruch des Völkerrechts war es, daß auf dem östlichen Weichselufer trotz der für Deutschland günstigen Abstimmung ein Streifen Landes mit fünf Orten den Polen zugeteilt [29] wurde. Die Polen beanspruchten das Gebiet der fünf deutschen Dörfer als Vorland für ihre Festung Mewe, die gegenüber auf dem westlichen Weichselufer lag und eine große Besatzung hatte. Auch war es gegen alles Recht, daß die Grenze nicht in der Mitte des Stromes, sondern zwanzig Meter östlich von ihm auf deutschem Gebiet verlief. Nur einen einzigen, völlig belanglosen Zugang zur Weichsel in einer Breite von vier (!) Metern erhielt Deutschland beim Dorfe Kurzebrack westlich von Marienwerder. Damit war Deutschland von der Weichsel verdrängt. Sie war ein rein polnischer Fluß geworden, und Polen hatte das ausschließliche Hoheitsrecht darüber erhalten. Die deutschen Widersprüche verhallten unbeachtet. –

  Oberschlesien  

So waren im Sommer 1920 auch die Abstimmungsartikel des Versailler Vertrages in der Hauptsache erfüllt. Überall trat die Gewalttat und der Rechtsbruch zutage, und das wehrlose Deutschland hatte sich dem Diktat der Entente zu fügen. Nur eine Frage war noch nicht gelöst, eine sehr wichtige: die Abstimmung in Oberschlesien. Seit Mitte Januar 1920 wurde das Gebiet von alliierten Truppen besetzt gehalten, und eine Kommission beschäftigte sich mit dem eingehenden Studium der dortigen Verhältnisse. Aber es war sowohl wegen der größeren Bevölkerungszahlen als auch wegen der schweren wirtschaftlichen Bedenken nötig, die Abstimmung auf den Anfang des folgenden Jahres zu verschieben. Auch sollte in der Bevölkerung, die stark von den Polen erregt wurde, erst eine gewisse Beruhigung eintreten. Der bange Zustand der Gewalttaten und Unterdrückungen wurde aber gerade durch das Hinausschieben der Abstimmung hier um Monate verlängert. Die deutschen Reichswehrtruppen waren allmählich zurückgezogen worden, und unter dem Kommando des französischen Generals Le Rond übernahmen Franzosen und Italiener den "Schutz" der Bevölkerung, unterstützt

  Polnischer Aufstand  
in Oberschlesien

durch ein schwaches Detachement deutscher "Abstimmungspolizei". Le Rond handelte keineswegs unparteiisch. Er unterstütze die Polen und unterdrückte die Deutschen. Die Polen fühlten sich durch das Verhalten der Franzosen derart ermutigt, daß sie auf Anstiften Korfantys am [30] 17. August 1920, nach der Besiegung des russischen Bolschewistenheeres vor Warschau, einen gewaltigen Aufstand in Oberschlesien entfesselten, der durch eindringende polnische Banden unterstützt wurde. Die Franzosen widersetzen sich nicht nur nicht diesem vertragsbrüchigen Vorgehen, sondern nahmen

  Verzweiflung der Bevölkerung  

offen für die Polen Partei. Polen und Alliierte wetteiferten in schweren Gewalttaten und gemeinen Verbrechen gegen den deutschen Teil der Bevölkerung. Tagelang wurden wüste Drangsalierungen vorgenommen, die oft in unmenschliche Grausamkeiten ausarteten. Viele Hunderte deutschgesinnter Oberschlesier wurden vertrieben und flüchteten nach Breslau, wo sie am 26. August nach erregten Kundgebungen das französische und polnische Konsulat stürmten. Die Alliierten schenkten dem deutschen Protest über die Vorgänge in Oberschlesien

Zwischenfälle in
  Berlin und Breslau  

keine Beachtung, Frankreich aber verlangte Sühne für die Zerstörung des Breslauer Konsulats. Es blieb eine tiefe Demütigung für diese Tat der Verzweiflung dem deutschen Volke nicht erspart. Zwar erschien der Reichskanzler zur Entschuldigung nicht selbst auf der französischen Botschaft in Berlin, wie es Paris gefordert hatte, sondern ließ sich durch den Außenminister und preußischen Innenminister vertreten. Aber eine Kompanie Reichswehr mußte dem französischen Konsulat in Breslau nach seiner Wiederherstellung militärische Ehre erweisen! (17. September 1920).

Ein ähnlicher Zwischenfall hatte sich am 14. Juli, dem französischen Nationalfeiertag, in Berlin zugetragen. Auf dem französischen Botschaftsgebäude wurde die Trikolore gehißt, und das Gesandtschaftpersonal, hemdsärmelig auf dem Balkon und in den Fenstern verweilend, erregte durch sein Verhalten die Wut des Volkes, das durch die französische Anmaßung in der Politik schon stark gereizt war. Ein einundzwanzigjähriger Schlosser, welcher der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei angehörte, erstieg das Dach der Botschaft und holte die Trikolore herab. Von seiner ursprünglichen Forderung, daß der Reichskanzler persönlich sich in der französischen Botschaft entschuldigen sollte, nahm Frankreich zwar Abstand und begnügte sich mit dem Erscheinen [31] des Außenministers Dr. Simons und des preußischen Innenministers Severing. Eine Reichswehrkompanie mußte über sich die Demütigung ergehen lassen, am 16. Juli vor der Fahne Frankreichs die militärische Ehrenbezeugung zu leisten! Da diese aber nicht knechtisch genug nach dem Sinne der Franzosen ausfiel, wurde auf Befehl von Paris am 31. August der Hauptmann der Kompanie disziplinarisch bestraft. Konnte man ein besiegtes Volk furchtbarer in seiner Seele verwunden, als es der maßlose und übermütige Sieger tat?



Geschichte unserer Zeit
Dr. Karl Siegmar Baron von Galéra