[Bd. 2 S. 32] 10. Kapitel: Der Streit um Wiedergutmachung und Entwaffnung. Wiedergutmachung und Entwaffnung waren die beiden Handhaben des Versailler Vertrages, durch welche Frankreich hoffte, Deutschland wirtschaftlich und militärisch derart schwach zu machen für alle Zeiten, daß es an eine Erhebung und, daraus folgend, eine Bedrohung Frankreichs nicht mehr denken konnte. Durch die Vereinbarungen in Boulogne war Frankreich in die Lage versetzt worden, seinen Forderungen schärferen Nachdruck zu verleihen. Deutschland hatte seit Ende Juni 1920 eine bürgerliche Regierung. In ihr war durch die Minister der Deutschen Volkspartei das industrielle Kapital vertreten. Es war an sich erklärlich, daß die Besitzenden wenig geneigt waren, Tribute zu zahlen. Da sie aber die durch den Versailler Vertrag gegebenen Notwendigkeiten nicht aus der Welt schaffen konnten, erklärten sie sich zu Wiedergutmachungen bereit, jedoch nur in dem Umfange, als dies die deutsche Wirtschaft vertrüge. Ihr Verantwortungsgefühl gegenüber dem deutschen Volke und seiner Wirtschaft war zu groß, als daß sie unbedenklich auf feindliche Forderungen eingegangen wären, deren Unerfüllbarkeit sie ehrlicherweise erkennen mußten. In der Entwaffnungsforderung andererseits sahen sie eine schwere Gefahr für die Zukunft des deutschen Staates und der deutschen Wirtschaft, und es war verständlich, daß man die Ordnungsmacht des Staates nicht verringern wollte, solange die bolschewistische Gefahr akut war. – In der Regierung, an deren Spitze Fehrenbach vom Zentrum stand, fehlten zum ersten Male die Sozialdemokraten, da sie aus prinzipiellen Gründen nicht mit der Deutschen Volkspartei zusammenarbeiten wollten.
Schwieriger waren die Verhandlungen über die Kohlenlieferungen. Durch die Gebietsabtretungen des Versailler Vertrages verlor Deutschland in Lothringen, Saargebiet und möglicherweise in Oberschlesien 28,3 Prozent seiner Steinkohlenförderung oder etwa 49 Millionen Tonnen Jahresförderung. Dazu mußten jährlich noch zehn Jahre hindurch 42 Millionen Tonnen Kohle an Frankreich, Belgien, Italien und Luxemburg geliefert werden. Also mehr als die Hälfte der Kohlenproduktion von 1913 ging dem deutschen Volke verloren. Dieser Aderlaß mußte auf das deutsche Verkehrswesen (Eisenbahn) und die deutsche Industrie nicht nur lähmend, sondern tödlich wirken. Durch die Streiks, die Arbeitsunlust und die Unruhen wurde der bei Deutschland verbleibende Rest auf nahezu ein Drittel der Vorkriegsproduktion herabgedrückt. – Der Großindustrielle Stinnes gab den Alliierten in Spa ein Bild von der Lage der deutschen Industrie, und sein Bericht gipfelte darin, daß die deutsche Wirtschaft vor dem Zusammenbruch stehe und dann die Sieger überhaupt keine Wiedergutmachungen und Entschädigungen zu erwarten hätten. Der Vertreter der Arbeiterschaft, Hue, wies darauf hin, daß auch die Leistungen der Bergarbeiter unter den Folgen der mangelhaften Ernährung und der Streiks zurückgegangen seien und daß die Lage infolge der Geldentwertung immer [34] trostloser würde, für die Unternehmer wie für die Arbeiter. Er folgerte, daß, wenn die Sieger Unmögliches verlangten, die deutschen Arbeiter schließlich überhaupt nichts mehr leisten würden, das aber würde den Bolschewismus bedeuten. Unter der Wucht dieser Einwände waren die Alliierten bereit, die monatliche Kohlenlieferungen von 3,5 Millionen Tonnen, wie sie vom Versailler Vertrag gefordert wurden, auf 2 Millionen herabzusetzen, für jede Tonne eine Prämie von fünf Goldmark zu gewähren und einen Vorschuß in Höhe des restlichen Unterschiedes zwischen dem deutschen Verbandspreis und dem Weltmarktpreis zu zahlen. Aber die deutschen Vertreter waren auch mit dieser Regelung nicht zufrieden und versuchten, eine weitere Herabsetzung der Monatslieferungen zu bewirken. Doch die Alliierten drohten, im Falle des deutschen Widerspruchs würden sie das Ruhrgebiet vom Reiche abtrennen und allein ausbeuten, außerdem wurde Marschall Foch nach Spa zitiert und ein militärisches Abkommen unter den Ententemächten getroffen betreffend eine etwaige Besetzung des Ruhrgebietes. Stinnes erklärte zwar, er würde in diesem Falle seine gesamten Bergwerke ersaufen und den Franzosen nur eine Wüste überlassen, aber es blieb den Deutschen schließlich doch nichts weiter übrig, als der Gewalt zu weichen und das Kohlenabkommen in der vorliegenden Form zu unterzeichnen. In der Wiedergutmachungsfrage wurde kein Ergebnis erzielt. Die Deutschen forderten Bekanntgabe der Gesamtsumme, worauf die Alliierten die Antwort schuldig blieben, denn nach dem Vertrage von Versailles hatten sie bis zum 1. Mai 1921 Zeit, die Gesamthöhe der Entschädigungen festzustellen. Die Deutschen, welche den Gesamtbetrag ihrer Wiedergutmachungsverpflichtungen auf dreißig Milliarden schätzten, machten den Vorschlag, deutsche Arbeiter und Erwerbslose zum Wiederaufbau Nordfrankreichs zur Verfügung zu stellen. Dieser Plan war sehr vernünftig, denn er hätte das deutsche Wirtschaftsleben nicht nur vom Alpdruck der Erwerbslosigkeit befreit, sondern hätte auch zu einer wesentlichen Verminderung der Wiedergutmachungsverpflichtungen beigetragen. Die Alliierten lehnten indessen dieses Angebot [35] ab, wohl in der Hauptsache, weil sie dadurch eine "bolschewistische Verseuchung" Westeuropas fürchteten. Schließlich wurde die ganze "Wiedergutmachungsfrage" auf eine später nach Genf einzuberufende Konferenz vertagt, die aber niemals zustande kam. Auch die "Kriegsverbrecher"-Angelegenheit kam zur Sprache, und man vereinbarte, das deutsche Reichsgericht solle zunächst die in der "Probeliste" vom 7. Mai aufgeführten Fälle klären. Von dem Ergebnis würden die Alliierten ihre weiteren Schritte abhängig machen. Das Ergebnis von Spa war unbefriedigend in seiner Gesamtheit, und da es den Charakter eines Diktates trug, war es vorauszusehen, daß es bald zu weiteren Komplikationen kommen mußte.
Frankreich versuchte auch Holland für eine ähnliche Militärkonvention zu gewinnen, doch erzielte es hier keinen Erfolg. Dagegen wurde mit Gewalt und Drohung das kleine Luxemburg gezwungen, mit Frankreich und Belgien ein Abkommen zu treffen. Die beiden Bundesgenossen teilten sich in die Beherrschung und Ausbeutung des kleinen Landes. Frankreich beanspruchte die Kontrolle über die Eisenbahn Esch – Luxemburg – Wasserbillig – Trier und behauptete, diese Linie strategisch auszubeuten und auszubauen. Belgien wurde die Kontrolle zugeteilt über die Bahnlinie Arlon – Kleinbettingen – Luxemburg – Ufflingen – Lüttich. Außerdem mußte sich Luxemburg, das vor dem Kriege nur zwei Schutzkompanien unterhielt, verpflichten, eine Heeresmacht von 6000 Mann aufzustellen! Die politische Selbständigkeit des Ländchens war seitdem nur noch eine Kuriosität ohne praktische Bedeutung. [37] Was bedeutete Deutschlands lächerliche Militärmacht noch im Vergleich zu der seiner Nachbarn! Da war der Westen bis an die Zähne bewaffnet: rund 900 000 Franzosen, Belgier und Luxemburger standen unter den Waffen, von denen Frankreich allein über 809 652 verfügte. Die feindselige Tschechoslowakei unterhielt eine Armee von 147 000 Mann, Italien hatte 300 000 Soldaten und Polen das Doppelte, 600 000. Welcher wahnsinnige deutsche Staatsmann hätte wohl den verruchten Plan fassen dürfen, mit der deutschen Reichswehr Frankreich zu überfallen, mit einem Heereskörper, der, es ist lächerlich zu sagen, nur halb so stark war wie das Schweizerische Bundesheer! Und dennoch fand Frankreich keine Ruhe: das revanchelüsterne, das gefährliche, das drohende, das furchtbare und gewaltige Deutschland mußte bis zum äußersten entwaffnet werden! Und wenn dieses grauenhafte Volk entwaffnet war, hatte Frankreich immer noch keine Ruhe, denn es wußte sehr wohl, daß die Kraft des Riesen nur gefesselt, nicht gebrochen war!
Dies deutliche Hinüberschwenken der deutschen Sozialisten auf die Seite der Internationale mußte das deutsche Volk und seine Regierung als einen schweren Schlag empfinden. Wäre es doch eine der Hauptaufgaben der Regierung Fehrenbach geworden, nach Veröffentlichung aller Vorkriegsdokumente den fundamentalen Hauptsatz des Versailler Vertrages von der deutschen Schuld zu erschüttern, vielleicht zu beseitigen! Denn das wäre ja das Ziel gewesen, in dem die Politik dieser Regierung, nicht unbedingt zu erfüllen, sondern die Regelung der Wiedergutmachungsfrage in einem gerechten und für Deutschland günstigen Sinne zu beeinflussen, gegipfelt hätte. Eine große Aufgabe von weltgeschichtlicher Bedeutung: die moralische Verurteilung und wirtschaftliche Erdrosselung des deutschen Volkes durch den Versailler Vertrag abzuwenden! Nun beging die Sozialdemokratie den Verrat, den Feinden Deutschlands durch ein freiwilliges Schuldbekenntnis ein neues Machtmittel gegen die Bestrebungen der deutschen Regierung in die Hand zu geben! Nach dem Auftakt von Spa war es vorauszusehen, daß eines Tages die deutsche Regierung [39] über die Lösung der Wiedergutmachungsfrage als physisch Schwächere stürzen müsse – oder aber als moralisch Stärkere die Feinde besiegen würde. Die zweite Möglichkeit auszuschließen und die erste zu beschleunigen, das war der taktische Zweck des Genfer Schuldbekenntnisses. – Der Herbst des Jahres [1920] verlief ohne große und besondere Ereignisse auf dem Gebiete der Wiedergutmachungsfrage. Es gelang den Engländern und Franzosen, auch Italien für ihre Politik gegen Deutschland zu gewinnen. Eine internationale Finanzkonferenz in Brüssel verlief ergebnislos (24. September bis 8. Oktober). Auch die Entwaffnungsfrage machte insofern Fortschritte, als am 1. Oktober die neutrale Zone von den Reichswehrtruppen geräumt und das Heer auf 150 000 Mann herabgemindert war. Der Argwohn der Interalliierten Militärkontrollkommission war jedoch noch nicht gewichen, und sie forderte sofortige Auflösung und Entwaffnung der Selbstschutzorganisationen, Einwohnerwehren usw. Diese Verbände waren die Quelle steten Mißtrauens der Franzosen, vor allem, weil sie in bezug auf ihre Stärke nicht zu übersehen waren. Und gerade aus diesem Grunde blieb das französische Mißtrauen wach und ließ sich durch die Bemühungen der deutschen Regierung nicht beschwichtigen (25. Oktober). Der Wiedergutmachungsausschuß teilte am 16. Oktober mit, daß Deutschland die nach dem Friedensvertrage auszustellenden Schuldverschreibungen in Höhe von 20 und 40 Milliarden Goldmark überreicht habe, und zehn Tage später verzichtete die englische Regierung auf das ihr nach dem Versailler Vertrage zustehende Recht, deutsches Nachkriegseigentum in England zu beschlagnahmen. Zwar verlangte England die Zerstörung der gefährlichen deutschen Dieselmotoren, jedoch zog die Botschafterkonferenz diese Forderung für die in der Industrie verwendeten Motoren zurück (10. November). Am 11. November trat die Wiedergutmachungsfrage in ein neues Stadium. England und Frankreich einigten sich dahin, daß in Brüssel eine Sachverständigenkonferenz stattfinden solle, an der sich Deutschland beteiligen würde; es sei darüber ein Bericht an die Regierung und den Wiedergutmachungsausschuß zu erstatten. Nach der Lösung der oberschlesischen [40] Frage sollte in Genf eine Konferenz der Alliiertenminister stattfinden, wozu Deutschland zu beratender Teilnahme "wie in Spa" einzuladen sei. Hierüber sei ein Bericht an die Regierungen zu machen, die ihrerseits ihre Delegierten in der Wiedergutmachungskommission zu unterrichten hätten. Ferner habe der Wiedergutmachungsausschuß den Gesamtbetrag und die Zahlungsweise festzusetzen und über Deutschlands Zahlungsunfähigkeit zu berichten. Die Sicherungen und Strafmaßnahmen habe der Oberste Rat der Alliierten zu prüfen. Bis hierhin war Frankreich den Engländern entgegengekommen, und die englische Regierung erwies sich erkenntlich, indem sie das formelle Versprechen abgab, eine Aufhebung des Verbotes vom 16. Juni 1919, Deutschland in den Völkerbund aufzunehmen, zur Zeit nicht zu begünstigen. Daraufhin gab die französische Regierung ihren Delegierten den Rat, sich sofort von den Völkerbundsverhandlungen zurückzuziehen, falls von der Aufnahme Deutschlands gesprochen würde. Noch fürchtete Frankreich Deutschlands Widerstandskraft, hoffte aber anderseits auf seine Auflösung, so daß ihm jetzt ein Eintritt Deutschlands in den Völkerbund als vollkommen absurd und verfrüht erschien. Auch wären dadurch die französischen Pläne der Ruhrbesetzung vereitelt worden. Man ging in England und Frankreich mit aller Ruhe und Langsamkeit daran, das Problem der Wiedergutmachungen einer Lösung entgegenzuführen. Es hatte den Anschein, als gefalle den Alliierten der gegenwärtige regel- und gesetzlose Zustand, in welchem sie nach Gutdünken und Willkür neue Verfehlungen Deutschlands feststellen und neue Zwangsmaßregeln durchführen konnten. Aber in Deutschland wuchs die Nervosität über verzögerte und stets verschobene Klärung der bedeutsamen Fragen, und man vernahm Stimmen, welche die endgültige Ordnung der Dinge forderten. Die Reichsregierung sah mit Entsetzen das Milliardendefizit, das sich am Ende des Jahres vor ihr auftürmen würde, und das langsame, aber ständige Sinken der Mark erhöhte die Sorgen der Industrie. Reichsaußenminister Dr. Simons und Reichskanzler Fehrenbach unternahmen eine Rheinlandreise, um sich persönlich von den dort herrschenden Zuständen zu überzeugen. In [41] Düsseldorf und Köln hielt Dr. Simons Reden (14. und 15. November), worin er in ehrlicher Entrüstung über das seelisch und körperlich quälende System der Alliierten erklärte, auch das feindliche Recht auf Gewaltmaßnahmen aus dem Versailler Frieden habe eine Grenze. Auch beschwerte er sich über die unnötig hohe Besatzung von 145 000 Mann, mit der man die Rheinlande bedrücke. Diese Reden wurden von Frankreich, Belgien und England in anmaßendem Stolze am 6. Dezember zum Gegenstande neuer Demütigungen für Deutschland gemacht. Man würde deutschen Ministern in Zukunft nur dann die Einreise ins besetzte Gebiet gestatten, wenn sie während ihres Aufenthaltes alle Angriffe gegen die Behörden, die Regierungen und Maßnahmen der Alliierten sowie gegen den Friedensvertrag unterließen. Behandelten die Franzosen und Belgier nicht schon das Rheinland, als gehöre es ihnen? Wo blieb das Recht der freien Meinungsäußerung? Wo sollte die Hoheit des Reiches, der Glaube an die Regierung bleiben, wenn den höchsten Beamten, den Ministern, derartig entwürdigende Verpflichtungen auferlegt wurden? War der Krieg beendet, oder führten ihn die Alliierten auf eigene Faust gegen das wehrlose Deutschland weiter? Welch ausgeklügelte Demütigungen hatten die Alliierten seit Monaten dieser ersten bürgerlichen Regierung der deutschen Republik bereitet, weil ihnen diese Regierung unbequemer war als die vorhergehenden!
Dennoch war die Wirtschaftslage Deutschlands nichts weniger als rosig. Das Reich hatte Gesamtausgaben in Höhe von 121 Milliarden Papiermark gehabt (1920), von denen 83,2 Milliarden, also fast 70 Prozent, ungedeckt blieben! Die Gesamtsteuerlast pro Kopf der Bevölkerung betrug bereits 765 Mark gegenüber 67,80 Mark im Jahre 1913. Die deutsche Zahlungsbilanz, die sich 1913 im Gleichgewicht befand, wies 1920 ein Defizit von 4 Milliarden Goldmark auf! Der Verlust an Kohle und Erzen hatte die deutschen Ausfuhrmöglichkeiten verringert, dagegen hatte sich durch den Verlust landwirtschaftlicher Überschußgebiete der Einfuhrbedarf um 2½ Milliarden erhöht. Dazu kamen andere Zahlungsverpflichtungen in Höhe von 1½ Milliarden Goldmark. Der Versailler Vertrag hatte die deutschen Auslandsguthaben geraubt, die deutsche Handelsflotte genommen, die deutschen Außen- [44] handelsbeziehungen zerstört. Statt am Ausland Geld zu verdienen, mußte Deutschland noch sehr hohe Frachten für die Benutzung ausländischer Handelsschiffe zahlen. Dazu waren an die Alliierten etwa 4 Goldmilliarden gezahlt und geleistet worden, von denen jedoch nur der vierte Teil zum Wiederaufbau Frankreichs verwandt wurde, während den Rest die Besatzungsheere verschlangen! 8 Milliarden Goldmark hatte das deutsche Volk 1920 verloren, und das war etwa ein Drittel seines damaligen Nationaleinkommens. Fast drei Stunden des Tages leistete also jeder deutsche Mann und jede deutsche Frau den Feinden Frondienste! – Der Wiedergutmachungsausschuß kam am 6. Januar 1921 mit einem neuen Entwurf eines Abkommens über Nachlieferung und Kontingenterhöhung der deutschen Spakohle heraus. Die deutsche Regierung erklärte von vornherein, daß derartige Vorschläge unausführbar seien, und den Alliierten schien es nunmehr an der Zeit, die Wiedergutmachungsfrage in geordnete Formen zu bringen.
Deutschland müsse eine halbe Million Tonnen Spakohle nachliefern. Vom 1. Februar ab werde die Lieferung auf monatlich 2,2 Millionen Tonnen erhöht, Vorschüsse seien abzulehnen. An Wiedergutmachungen habe Deutschland zu zahlen 42 Jahre lang, vom 1. Mai 1921 bis zum 1. Mai 1963, insgesamt 226 Milliarden Goldmark. Die Jahresraten (Annuitäten) sollten je zur Hälfte am Ende jedes Halbjahrs zahlbar sein, und zwar nach folgender Staffel:
Ferner sollte 42 Jahre lang von der gesamten deutschen Ausfuhr in Höhe von je 12 Prozent ihres Wertes eine Abgabe in Gold erhoben werden, die auf 1–2 Goldmilliarden jährlich geschätzt wurde und nicht auf die Wiedergutmachung anzurechnen sei. [45] Schließlich wurde der Reichsregierung, den Landesregierungen, den Provinzial- und Gemeindebehörden sowie sämtlichen Gesellschaften und Unternehmungen, die von diesen Stellen überwacht wurden, verboten, ohne Zustimmung der Reparationskommission im Ausland direkte oder indirekte Kreditoperationen vorzunehmen, d. h. Anleihen aufzunehmen. – Das war ein phantastisch-ungeheuerlicher Plan! Er überstieg die kühnsten Erwartungen. Er bedeutete nichts anderes, als die Auslieferung des gesamten deutschen Nationalvermögens im Laufe weniger Jahrzehnte, eine restlose und vollständige Verproletarisierung des gesamten deutschen Volkes. Es bedeutete Enteignung der Wirtschaft, des Besitzes und des Handels, Aufsicht und Bevormundung durch grausame Kerkermeister, Hinabtreten eines hohen Kulturvolkes in das Schicksal chinesischer Kulis. Kinder und Kindeskinder wurden verurteilt, bis zum Zusammenbrechen Frondienste für die englischen und französischen Herrscher zu leisten. Die Gesamthöhe der beim Wiedergutmachungsausschuß angemeldeten Kriegsschäden belief sich auf 186 Milliarden. Diese Summe wurde vom Ausschuß auf 132 herabgesetzt. Aber auch das war noch viel zuviel. Waren doch hierin die kapitalisierten Beträge der Renten und Pensionen enthalten, welche die Alliierten ihren Kriegsopfern zu zahlen hatten. Nach deutscher Auffassung reichten 30 Milliarden vollkommen aus, um die durch den Krieg verursachten Schäden zu ersetzen. Das deutsche Volk war ohnehin arm genug geworden, daß es seinen Feinden nicht noch Renten und Pensionen ersetzen konnte, zudem ja seine Unschuld am Kriege feststand. Es war schon 1920 schwierig gewesen, die Forderungen der Gegner zu erfüllen, wie sollten aber nun erst diese maßlos überspannten Ansprüche befriedigt werden? Nun, Deutschland war entwaffnet, an einen Widerstand war nicht zu denken, und die Alliierten durften unbedenklich wagen, das wahre Gesicht zu zeigen und ihren Willen kundzutun: Deutschland auszulöschen aus dem Reiche der Kulturvölker und der Wirtschaftsmächte. – Ein Entrüstungssturm erhob sich in Deutschland. Die deutsche Regierung lehnte zunächst diese Forderungen ab, suchte aber [46] eine annehmbare Basis für die Kohlenlieferungen aus dem Spaabkommen zu schaffen. Dazu hatte Deutschland alle Ursache, denn Frankreich trieb mit der deutschen Tributkohle einen schwunghaften Handel. Da nämlich Frankreich und Belgien nicht imstande waren, die von Deutschland gelieferten Kohlenmengen zu verdauen, konnten sie einen großen Teil der Reparationskohle an andere Länder verkaufen. Da der dem deutschen Reparationskonto gutzuschreibende Preis sehr gering war, verdiente der französische Staat Milliarden, und de Lasteyrie, der Berichterstatter der Finanzkommission in der Französischen Deputiertenkammer und nachmalige Finanzminister, erklärte späterhin, daß Frankreich für die deutschen Kohlenlieferungen vom September 1920 bis zum September 1921 dem Deutschen Reiche nur hätte 960 Millionen Franken gutzuschreiben brauchen, während es selbst dafür einen Kaufpreis von 2572 Millionen erzielt hätte, also einen Reingewinn von 1,612 Milliarden Franken verbuchen konnte! Für die deutsche Regierung waren diese Verhältnisse unbillig, ja unwürdig. Wie sollte sie es stillschweigend hinnehmen, daß aus deutscher Fronarbeit sich der französische Rentnerstaat bereicherte? Waren die Tage Karthagos wiedergekehrt, da diese blühende Stadt von den siegreichen Römern im grenzenlosen Überschwange geschleift worden war und ihre Bewohner, solange sie noch lebten, den Römern Knechts- und Sklavendienste zu leisten hatten. Hatten zweitausend Jahre Kultur nicht ausgereicht, um die barbarischen Gepflogenheiten übermütiger Sieger auszurotten? Deutschland wies also darauf hin, daß durch die Lieferungen der Spakohle Frankreich in Kohlen ersticke und daher mehr erhalte, als es billigerweise brauchen und beanspruchen könne. Es widerstrebe dem Sinne der Wiedergutmachungen aber, wenn mit diesen Reparationsgütern Handel getrieben werde, und es müsse verboten werden, daß Frankreich und Belgien die gelieferten deutschen Kohlen weiterverkaufen. Andererseits befinde sich die deutsche Wirtschaft in einer solchen Notlage, daß eine Herabsetzung der Tribute gefordert werden müsse, eine Erhöhung aber unbedingt abzulehnen sei. Unter diesen Umständen sollten die Alliierten auf Nachlieferungen verzichten, die monatlichen [47] Raten auf 1,8 Millionen Tonnen festsetzen und die Prämie von fünf Goldmark auch weiterhin zahlen. – Diese deutschen Vorschläge wurden den Alliierten am 4. Februar übermittelt, und am folgenden Tage wurde die Regierung Fehrenbach zur Londoner Konferenz in der Wiedergutmachungsfrage eingeladen.
Der englische Bundesgenosse war zwar nicht in allen Stücken mit den Ankündigungen Frankreichs einverstanden, und die britische Regierung erklärte schon zwei Tage später im Unterhause, daß die Artikel 428–431 des Versailler Vertrages über die Dauer der Besetzung nicht geändert seien. Danach haben die Fristen für die Rheinlandbesetzung am Tage der Friedensratifikation, dem 10. Januar 1920, begonnen, und davon sei man nicht abgewichen.
Der Oberste Rat beschäftigte sich in seiner Sondersitzung mit den deutschen Vorschlägen und erklärte sie für undiskutabel. Lloyd George hielt es für nötig, die Wiedergutmachungspflicht Deutschlands zu begründen, da die deutschen Vertreter aufs nachdrücklichste die Alleinschuld Deutschlands am Weltkriege ablehnten und aus diesem Grunde auch eine ungerechtfertigte Wiedergutmachungslast zu übernehmen sich weigerten, es sei jeder Staat an seinem Teile am Kriege schuld gewesen und habe deswegen auch seinen Teil an den Wiedergutmachungen zu tragen. Die Alliierten wußten wohl, daß jedes Zugeständnis in der Schuldfrage ihre schrankenlose Macht in der Wiedergutmachungsfrage verkürzen konnte, und deswegen erklärte Lloyd George am 3. März vor der Konferenz folgendes:
"Für die Alliierten ist die deutsche Verantwortlichkeit für den Krieg grundlegend. Sie ist die Basis, auf der das Gebäude des Vertrages errichtet worden ist, und wenn das Anerkenntnis verweigert oder aufgegeben wird, ist der Vertrag hinfällig. Die Alliierten fühlen daher, daß sie die Tatsache in Rechnung ziehen müssen, daß die deutsche Regierung mit offenbarer Unterstützung der deutschen öffentlichen Meinung die eigentliche Grundlage des Vertrages von Versailles anficht. Vorschläge wie die von Dr. Simons gemachten sind einfach die notwendige Folgerung aus dieser neuen Haltung. Wenn Deutschland in dieser Gemütsverfassung an seine Verpflichtungen herangeht, sind solche Vorschläge unvermeidlich. Wir wünschen deshalb ein für allemal es ganz klar auszusprechen, daß die deutsche Verantwortlichkeit für den Krieg als cause jugée behandelt wird." Infolgedessen erklärte man also, die deutschen Vorschläge seien völlig ungeeignet als Grundlage für Besprechungen, und den Deutschen wurde in ultimativer Form aufgegeben, bis zum 7. März befriedigende Vorschläge zu machen oder die Pariser Beschlüsse anzunehmen. Am 6. März fand eine Sonderbesprechung zwischen Simons, Lloyd George, Briand, Bergmann, Curzon und Loucheur statt. Die Deutschen machten [50] neue Vorschläge: fünfjährige Regelung durch feste Annuitäten und ein Äquivalent für die Ausfuhrabgabe, allerdings auch unter der Voraussetzung der vollen Handelsfreiheit und des Verbleibens Oberschlesiens beim Reiche. Man kam aber zu keinem Ergebnis, und am folgenden Tage wurden die Verhandlungen abgebrochen, nachdem der Oberste Rat in seiner Gesamtheit die deutschen Vorschläge abgelehnt hatte.
Nun wurde die Wiedergutmachungskommission beauftragt, die von Deutschland zu zahlende Entschädigungssumme offiziell festzusetzen und die von Deutschland bis zum 1. Mai 1921 gezahlten Beträge zu schätzen. Zunächst war es das Bestreben der Kommission, von der deutschen Regierung die Durchführung des Artikels 235 zu erreichen. Deutschland berechnete den Wert seiner Lieferungen bis Anfang Mai 1921 auf 21 Milliarden Goldmark, doch die Wiedergutmachungskommission erkannte diese Summe nicht an und forderte, daß gemäß Artikel 235 des Versailler Vertrages bis zum 1. Mai die Summe von 20 Milliarden Goldmark zu zahlen sei. Da von ihr die bisherigen Leistungen Deutschlands nur auf acht Milliarden geschätzt wurden, mußten also innerhalb der nächsten sechs Wochen noch 12 Milliarden abgeliefert werden. Bis zum 1. Mai sollte dann auch die Gesamt- [51] summe für die Wiedergutmachungen mitgeteilt werden. Als Abschlagszahlung auf die am 1. Mai fälligen Summen sollte Deutschland bis zum 23. März eine Milliarde Goldmark zahlen.
Entgegen der englischen Erklärung im Unterhause verkündete Briand am 24. März vor dem vereinigten Finanz- und Auswärtigen Ausschuß, daß England und Frankreich den Beginn der 15jährigen Besetzungsfrist des Rheinlandes abhängig machen vom Beginn befriedigender Vertragserfüllung durch Deutschland. Es war dies einer der bekannten französischen Einschüchterungsversuche, welche Deutschland den Forderungen der Alliierten gefügig machen sollten. Es war ja leicht, den Deutschen stets Erfüllungsverzug vorzuwerfen, und wie hätten die Franzosen die günstige Gelegenheit, ihre Rheinlandpläne zu verwirklichen, nicht beim Schopfe fassen sollen? Trotzdem verkauften Frankreich und Belgien die mit deutschem Schweiße geschürfte Tributkohle weiter, so daß die deutsche Regierung fünf Tage später wiederum Einspruch hiergegen erhob. Von Tag zu Tag stieg die Erregung über die vermeintliche deutsche Hartnäckigkeit in Frankreich, und Anfang April drohte Briand in einer Senatsrede, wenn Deutschland am 1. Mai versuche, sich seinen Verpflichtungen zu entziehen, so werde eine feste Hand es am Kragen packen, und eine Woche später variierte er das Thema, indem er in einer [52] Kammerrede bemerkte, wenn der deutsche Schuldner sich widerspenstig zeige, dann müsse den Gerichtsvollzieher ein Gendarm begleiten. Auch die Wiedergutmachungskommission setzte den Deutschen zu und forderte die Überführung der Goldbestände der Deutschen Reichsbank und der übrigen deutschen Notenbanken als Pfand nach dem besetzten Gebiet (17. April). Deutschland wies darauf hin, daß die Durchführung dieser Forderung rechtlich unmöglich sei, da die Reichsbank ein Privatinstitut sei, und schlug eine Verlängerung des Goldausfuhrverbotes vor. – Am 20. April war auch die Rheinlandgrenze in Kraft getreten. Sie bedeutete einen herben Schlag für das deutsche Wirtschaftsleben, denn es wurde etwa der achte Teil der deutschen Bevölkerung gewissermaßen vom Reiche abgeriegelt. Auch der Wiedergutmachungszoll von 50 Prozent, ein "Kampfzoll" von ganz unerhörter Schärfe, begann sich unheilvoll bemerkbar zu machen. In Lympne bei Hythe trafen am 24. April Lloyd George und Curzon mit Briand und Berthelot zusammen, und in der Sorge um das "widerspenstige" Deutschland wurde die vollkommene Einmütigkeit Frankreichs und Englands über die volle Erfüllung der deutschen Verpflichtungen festgestellt. Die Lage war ernst, denn die bürgerliche Regierung Deutschlands war mutig und standhaft, und sie stellte die Alliierten vor Entschlüsse, die von weittragender Bedeutung sein konnten. Eine Vollkonferenz des Obersten Rates sollte zum 30. April einberufen werden. So anerkennenswert das Verhalten der deutschen Regierung vom politisch-moralischen Standpunkte aus war, so hoffnungslos war es doch andererseits! Wie wollte das gänzlich seiner Macht entkleidete und entwaffnete Deutschland seine Forderungen des Rechtes durchsetzen, während doch seine Gegner bis an die Zähne bewaffnet waren. Ja, jede deutsche Weigerung war Wasser auf Frankreichs Mühlen! Wie frohlockte die Pariser Presse, wie fleißig und unentwegt zeigte sie den Engländern, daß ihr Schwachwerden einem Verrat am Siege der Alliierten gleichkomme! Nein, jetzt gelte es, fest zusammenzustehen wie in den schönen Augusttagen 1914 glorreichen Angedenkens! Die mit der Härte der siegreichen Helden gepanzerten Herzen der Fran- [53] zosen wurden weich vor Rührung, denn es stand unerschütterlich fest vor der Welt, daß die verdammten Deutschen wahrhaft schlechte Menschen waren, die sich weigerten, ihre gerechten Verpflichtungen zu erfüllen.
Die Alliierten gingen zur letzten entscheidenden Offensive über: das Ruhrgebiet sollte besetzt werden, dadurch würde die bürgerliche Regierung in Deutschland gestürzt werden und eine "Erfüllungsregierung" von Zentrum und Sozialisten würde ihr folgen, eine Regierung, von der man nicht so viel Widerstände zu erwarten habe wie von der gegenwärtigen. Auch lagen die allgemeinen Verhältnisse im deutschen Volke noch so, daß die Alliierten auf ein Gelingen ihres Planes hoffen durften. Die Besetzung des Ruhrgebietes würde in der Tat eine innere Opposition hervorgerufen haben, die den Sturz der ersten bürgerlichen Regierung und ihre Ersetzung durch eine sozialistische Erfüllungsregierung nach sich gezogen hätte. Die Wiedergutmachungskommission handelte selbstverständlich in voller Übereinstimmung mit den alliierten Regierungen. Zunächst ward der alte Streit weitergeführt, der sich [54] aus der deutschen und alliierten Berechnung der bereits von Deutschland geleisteten Zahlung ergab. Die Kommission hielt hartnäckig an ihrer Behauptung fest, daß Deutschland erst acht Milliarden entrichtet habe, während Dr. Simons seinen Standpunkt über bereits gezahlte 20 Milliarden aufrechterhielt. Der Ausschuß verlangte nach wie vor, daß bis zum 30. April eine Milliarde Goldmark in die Keller der Bank von Frankreich zu liefern sei, was ja von deutscher Seite konsequent abgelehnt werden mußte. Am 27. April ging der deutschen Regierung die Note des Ausschusses zu, in welcher gemäß Artikel 232 und Anhang A zum Teil 8 des Versailler Vertrages die deutsche Gesamtschuld auf 132 Milliarden Goldmark festgesetzt wurde. Nicht eingerechnet waren hierin die deutschen Zurückerstattungen nach Artikel 238 und 232 Absatz 3. Die deutsche Reichsregierung sollte bis zum 1. Mai, an welchem Tage nach Artikel 233 Absatz 3 die deutschen Zahlungsverpflichtungen zu laufen beginnen sollten, die Schuld anerkennen.
Anlage I spezifiziert die Schäden nun folgendermaßen:
"Gemäß Artikel 232 kann von Deutschland Ersatz für die Gesamtheit der Schäden verlangt werden, die unter die nachstehenden Kategorien fallen:
Für dieses Schuldkonto hatte also das deutsche Volk 132 Milliarden Goldmark zu zahlen. Es hatte für die Schäden, die seine Bundesgenossen angerichtet hatten, mit aufzukommen. Seine Verpflichtung war nichts mehr und nicht weniger, als Europa wieder aufzubauen.
"In Erfüllung der Verpflichtungen, die Deutschland früher bezüglich der Belgien geschuldeten völligen Wiederherstellung und Rückerstattung übernommen hat, verpflichtet sich Deutschland, außer dem anderweitig vorgesehenen Schadenersatz wegen Verletzung des Vertrages von 1839 die Rückzahlung aller Summen zu bewirken, welche Belgien von den alliierten und assoziierten Regierungen bis zum 11. November 1918 geliehen hat, einschließlich 5 Prozent Zinsen. Die Höhe dieser Summen wird von der Wiedergutmachungskommission festgesetzt werden. Die deutsche Regierung verpflichtet sich, unverzüglich zu einem entsprechenden Betrage besondere Schuldverschreibungen auf den Inhaber auszugeben, die in Goldmark am 1. Mai 1926 oder nach Wahl der deutschen Regierung am 1. Mai irgendeines früheren Jahres zahlbar sein sollen. Vorbehaltlich der vorstehenden Bestimmungen wird die Form dieser Schuldverschreibungen von der Wiedergutmachungskommission festgestellt werden. Diese Schuldverschreibungen werden der Wiedergutmachungskommission übergeben, die ermächtigt sein soll, sie in Empfang zu nehmen und namens der belgischen Regierung darüber Quittung zu erteilen." Das waren noch einmal sechs Milliarden Goldmark. Und schließlich waren die im Artikel 238 aufgeführten Leistungen nicht in der Grundsumme enthalten. Dieser Artikel verfügt:
"Außer den oben vorgesehenen Tilgungsleistungen wird Deutschland, indem es sich dem durch die Wiedergutmachungskommission geschaffenen Verfahren unterwirft, die Zurückgabe des fortgenommenen, beschlagnahmten oder sequestrierten Geldes in bar bewirken, ebenso die Zurückgabe der fortgenommenen, beschlagnahmten oder sequestrierten Tiere, Gegenstände aller Art und Wertpapiere, sofern es möglich ist, sie im Gebiete Deutschlands oder seiner Bundesgenossen festzustellen. – Bis zur Schaffung dieses Verfahrens soll die Rückerstattung nach den Bestimmungen des Waffenstillstandsvertrages vom 11. November 1918, der Erweiterungsverträge und der inzwischen getroffenen Vereinbarungen fortgesetzt werden." – Alles in allem genommen, Zins und Zinseszins [58] eingerechnet, belief sich Deutschlands "Reparationsschuld" auf etwa 200 Milliarden, und die Ende April 1921 der deutschen Regierung von der Wiedergutmachungskommission übergebene Denkschrift war nichts anderes als eine Variation des Themas von Paris und London; man kam zu demselben Endergebnis: Deutschland Verpflichtungen aufzuerlegen, die es auf Jahrzehnte zu physischer und wirtschaftlicher Ohnmacht verurteilten. – Mit derartigen Plänen und Anschlägen war die deutsche Regierung ganz und gar nicht einverstanden. Sie beharrte unerschütterlich auf ihrem stets zum Ausdruck gebrachten Standpunkt, daß Deutschland nicht die Alleinschuld und die alleinige Verantwortung für den Krieg trage, wie es durch die Veröffentlichung der Dokumente erwiesen sei, und deshalb nicht mit Recht und Billigkeit durch seine Wirtschaftskraft ganz allein Europa wieder aufzubauen verpflichtet sei. Natürlich sei Deutschland bereit, seinen Anteil am Wiederaufbau zu tragen, aber es käme hierfür kein größerer Betrag in Frage als höchstens der dritte bis vierte Teil der von der Wiedergutmachungskommission festgesetzten Summe, allerhöchstens insgesamt 85 Milliarden. Voraussetzungen für Deutschlands Zahlungsfähigkeit seien jedoch Aufhebung der Sanktionen, Herstellung der überseeischen Handelsfreiheit und Verbleiben Oberschlesiens beim Reiche. Die deutsche Regierung sei überdies viel zu ehrlich, als daß sie nach genauer Kenntnis des deutschen Wirtschaftslebens Verpflichtungen eingehe, von deren Unerfüllbarkeit sie von vornherein überzeugt sei. Man wies auch auf die sündhafte Vergeudung des Geldes im besetzten Gebiet hin, des Geldes, das mühsam die Deutschen im Schweiße ihres Angesichts erarbeiteten, um es sich von den Besatzungstruppen abpressen zu lassen. Wie war es möglich, daß vom 11. November 1918 bis zum 30. April 1921 fast 3⅔ Milliarden Goldmark für Besatzungskräfte in Stärke von rund 150 000 Mann gezahlt werden konnten! Und hierin waren nicht eingerechnet die Kontributionen an deutschem Land-, Sach-, Natural- und Hauseigentum! Das war fürwahr eine kostspielige Armee! Und dann die vielen Überwachungsausschüsse! Erhielt doch ein [59] Kommissar ein Jahresgehalt von über 30 000 Goldmark, ein General hierbei 12 500, ein Maschinenschreiber 5 700 Goldmark, ein Chauffeur 3 800! Die Kommissionen waren wirklich nicht kleinlich, wenn es galt, sich Gehälter auf Deutschlands Kosten zu bewilligen! Es waren seit 1918 rund neun Milliarden in Gold an barem Gelde aus dem deutschen Volke herausgepreßt worden, und nur der vierte Teil ist den Wiedergutmachungen, dem Aufbau Nordfrankreichs, wirklich zugute gekommen! Mußte nicht eine deutsche Regierung, die diesen Mißbrauch tagtäglich erlebte, mit vollem Rechte gegen die unerhörten Forderungen der Alliierten Einspruch erheben? Es ward ein Raubbau mit deutscher Kraft getrieben, der nicht nur schwere Folgen für das Wirtschaftsleben, sondern auch für die Gesundheit und die Kultur des deutschen Volkes nach sich ziehen mußte. – Es blieb den Deutschen nicht verborgen, daß der Gang der Wiedergutmachungsverhandlungen seit dem Scheitern der Londoner Konferenz eine drohende Wendung genommen hatte, und sie erkannten, daß man durch unmittelbare Verhandlungen mit den Gegnern zu keinem Ergebnis kommen werde. Deshalb rief Deutschland die Vermittlung einer unparteiischen Macht an: der Vereinigten Staaten von Amerika. Der neue Präsident Harding hatte am 12. April seine Antrittsbotschaft verkündet; er lehnte darin den Völkerbund als Zwangsmittel der Sieger ab und forderte die Herstellung des technischen Friedenszustandes mit Deutschland, wobei die Rechte Amerikas aus dem Waffenstillstande zu berücksichtigen seien. Es sei unbedingt notwendig, Europa wiederherstellen zu lassen und den Kriegsschuldigen gerechte Wiedergutmachungsbedingungen aufzuerlegen. Schließlich kündigte Harding Maßnahmen an, um einen Bund der Nationen zu errichten.
Es war ein gewaltiges Ringen der beiden welthistorischen Prinzipien Macht und Recht gewesen, welches vier Monate lang Europa in Atem gehalten hatte. Paris, London und zu guter Letzt die Forderungen der Reparationskommission waren die Etappen dieses Kampfes, der ein Leidensweg für Deutschland wurde. Die Regierung Fehrenbach, beseelt von den besten Vorsätzen des Rechtes und der Gerechtigkeit, mußte Schritt für Schritt vor der Macht der Gegner weichen. Das ist das Tragische im Schicksal der Fehrenbach-Regierung: sie fiel im Kampfe für ihr Volk, auf dessen Gesamtheit sie sich nicht stützen konnte bei der Verteidigung gegen brutale Gewalt. Und dennoch siegte sie moralisch durch ihren Sturz: Die Faust Frankreichs, die bereits zum Schlage gegen das Ruhrgebiet ausgeholt hatte, sank zurück. Das war nämlich das große Problem jener Tage, welches schicksalsschwer auf dem Reiche lastete: Konnte das deutsche Volk, das sich noch in starker revolutionärer Gärung befand, eine Ruhrbesetzung ertragen, ohne Schaden zu nehmen an seinem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, ja an seiner politischen Einheit? Den Verlust des Ruhrgebietes konnte das deutsche Volk um so weniger ertragen, als infolge eines blutigen Polenaufstandes auch Oberschlesien für das deutsche Wirtschaftsleben ausfiel. Das politische und wirtschaftliche Chaos wäre unvermeidbar gewesen. Auch mußte der einmütige Wille Frankreichs und Englands, das Ruhrgebiet zu besetzen, von vornherein für [62] Deutschland außenpolitisch hoffnungslos wirken. Das Ruhrgebiet durfte nicht besetzt werden, anderseits durften auch die unmäßigen Forderungen der Feinde nicht angenommen werden. Das waren die beiden Thesen, auf welche die Reichsregierung sich stützte. Diese beiden Thesen, erwachsen auf dem Boden des Rechtes, vertrugen sich nicht mit dem Machtwillen der Gegner. So blieb der Regierung Fehrenbach nur ein Ausweg: abzutreten, nachdem auch der Versuch einer Vermittlung gescheitert war. – Als die Regierung Fehrenbach gestürzt war, war die Entwaffnung Deutschlands endgültig durchgeführt. Die Sicherheitspolizei ("Sipo"), jene "gefährliche" Einrichtung, war aufgelöst worden, nachdem die Interalliierte Militärkontrollkommission noch am 23. Dezember 1920 ihre sofortige Auflösung verlangt hatte. Und doch war gerade die Sipo nach langen, schwierigen Verhandlungen mit den Alliierten errichtet worden, zu dem Zwecke, Deutschland vor inneren Erschütterungen zu schützen. Sie verschwand – und den Schutz der Einwohnerschaft übernahm nur noch die dezentralisierte Schutzpolizei, die aus der blauen Polizei der Vorkriegszeit hervorgegangen war. Auch die Luftpolizei mußte aufgelöst werden. Die Befestigungen an der Nordseeküste wurden geschleift, und ein Gesetz vom 12. März 1921 verfügte die Auflösung der Selbstschutzorganisationen, trotz des bayerischen Widerspruchs mußte sich auch die Selbstschutzorganisation des Forstrats Escherich, die Orgesch, in den nächsten Monaten auflösen lassen. Trotz all dieser Beweise des guten Willens fürchtete die Entente dennoch, Deutschland umgehe die Entwaffnungsbestimmungen des Versailler Vertrages. Mitte März verlangte die Interalliierte Militärkommission, daß die Hälfte aller auslaufenden deutschen Schiffsladungen auf Waffen untersucht werden sollte!
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