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[Bd. 1 S. 230]
8. Kapitel: Innere Entwicklung bis zum neuen Bürgerkriege.

Unmut über das
  Verhalten der Gegner  

Die inneren Zustände Deutschlands während der Zeit vom Sommer 1919 bis zum Frühjahr 1920 können keineswegs als ruhig und geordnet bezeichnet werden. Ganz im Gegenteil. Das deutsche Volk glich einem brodelnden Kessel, dessen sämtliche Ventile geschlossen waren. Die vernichtende Katastrophe von Versailles hatte bis weit in die Reihen der Sozialdemokratie hinein die Gemüter aufgewühlt; während die Unabhängigen und Kommunisten über die durch das Friedensdiktat bedingte Vernichtung des Militarismus und Kapitalismus frohlockten, griffen die Rechtsparteien im tiefen Groll über die Zerstörung der nationalen Macht die Reichsregierung aufs schroffste an. Die Heimbeförderung der deutschen Kriegsgefangenen aus den Ländern der Alliierten war eine gemeinsame Angelegenheit des ganzen deutschen Volkes, und die Parteien der Rechten und der Linken hatten das gleiche starke Interesse, ihre Angehörigen in Deutschland zu wissen, wie die Parteien der Mitte. Von allen Seiten wurde der Regierung scharf zugesetzt, die Befreiung der Kriegsgefangenen zu erwirken. Jedoch in der Frage, welche die Auslieferung der sogenannten "Kriegsverbrecher" betraf, gingen die Ansichten wieder auseinander. Es fehlte nicht an Stimmen von links, die dem feindlichen Verlangen beipflichteten und bereit gewesen wären, Hindenburg und Ludendorff den Alliierten zu überantworten. Aber die Mehrzahl des deutschen Volkes lehnte, aufs tiefste gekränkt, das Ansinnen der Feinde ab; gegen die Auslieferung des letzten Kaisers protestierten vor allem die Anhänger der Rechtsparteien, während es auf der linken Seite Leute gab, welche eine Aburteilung Wilhelms II. durch einen internationalen Gerichtshof als eine moralische Stärkung des republikanischen Gedankens begrüßt hätten.

  Beginnende Katastrophe  
der Mark

Das ganze öffentliche Leben Deutschlands stand im Banne der außenpolitischen Vorgänge, die so furchtbar waren, wie [231] man sie sich vorher niemals hätte träumen lassen. Gleichzeitig aber machte sich eine Erscheinung bemerkbar, welche bereits anfing, das wirtschaftliche Leben Europas und Deutschlands empfindlich zu beeinflussen: die deutsche Mark sank, das Leben wurde immer teurer, und man erhielt immer weniger für sein Geld. Die Geschichte der deutschen Mark ist aufs engste verknüpft mit der Geschichte der deutschen Politik, Wirtschaft und Kultur, so daß ein kurzer Abriß darüber hier am Platze ist.

Noch in der ersten Hälfte des Jahres 1918 hatte die Mark ohne nennenswerte Schwankungen eine Kaufkraft von 80 Pfennigen. Seit dem Juli aber, als es immer klarer wurde, daß Deutschland militärisch nicht siegen konnte, ging der Markwert fühlbar zurück und hatte Ende Oktober einen Stand von 64½ Pfennigen erreicht. Die Revolution und ihre Folgen brachten es dahin, daß Ende 1918 die deutsche Mark nur noch die halbe Kaufkraft besaß.

Die Währung der modernen Staaten ist von zwei Momenten abhängig: der Arbeit im Inlande und der Kreditwürdigkeit im Auslande. Beide Faktoren stehen in einem wechselseitigen Zusammenhange miteinander. Das Gleichgewicht wird nicht gestört, wenn es dem Volke gelingt, für seine Arbeitserzeugnisse Absatz zu finden und seine Arbeitskräfte im Verhältnis ihrer Leistungen zu bezahlen. In diesem Falle steigt die Kreditwürdigkeit im Auslande, und das Volk selbst wird reich. Das ist aber nur unter geordneten Verhältnissen möglich. Diese waren jedoch nicht vorhanden in dem stürmischen Jahr 1919, das zu seinem Beginn im Zeichen des Bürgerkrieges und bei seinem Ende im Zeichen des Versailler Vertrages stand. Die Steigerung der Löhne und Gehälter, die unsichere Aussicht, ob die Bestrebungen der Linken nach Sozialisierung Erfolg haben würden, die wachsenden Ausgaben für Erwerbslosenfürsorge, die ungezählten Streiktage, an denen Kapital und Arbeit brachlagen, führten dazu, daß die Ausgaben der Wirtschaft die Einnahmen überstiegen. Das deutsche Volk mußte seine Reserven, seinen Besitz angreifen und verzehren, indem es ihn auf Umwegen verringerte, d. h. indem es Papiergeld ausgab, mehr als die Deckung betrug. Dies Mißverhältnis zwischen [232] wenig Arbeit und viel Verbrauch erschütterte heftig die deutsche Kreditwürdigkeit im Auslande, und so sank der Kurs der Mark an den ausländischen Börsen.

Hierzu kam noch etwas anderes: Deutschland besaß kein ausländisches Absatzgebiet mehr. Um sich ernähren und kleiden zu können, mußte das deutsche Volk Waren unter den ungünstigen Verhältnissen einseitiger Meistbegünstigung vom Auslande beziehen; da aber seine eigene Wirtschaft im ehemaligen feindlichen Auslande boykottiert war, konnte es seine Produkte nur in geringem Umfange absetzen. Es mußte einführen, ohne ausführen zu können. Die Ausfuhr einschließlich der Wiedergutmachungsleistungen betrug 10 Milliarden Mark, dem stand eine Einfuhr von 32,3 Milliarden gegenüber. Es läßt sich auf den ersten Blick erkennen, daß Deutschland auf diese Weise 22 Milliarden seines Nationalvermögens verlor, da sich die Einfuhr nicht auf bleibende Werte, sondern auf Nahrungs- und Kleidungsmittel, also höchst vergängliche Objekte erstreckte. Die Lieferungen auf Grund der Waffenstillstandsbedingungen waren ihrem Wesen nach Kriegskontributionen, für die kein Gegenwert in Bezahlung erfolgte, und so war ein erheblicher Teil der Ausfuhr keine Einnahme, sondern mußte ebenfalls auf das Verlustkonto der deutschen Wirtschaft und des deutschen Besitzes gebucht werden.

  Das "Loch im Westen"  

Überdies litt das deutsche Außenhandelssystem seit der Rheinlandbesetzung an einem schweren Übelstande. Die militärischen Behörden des Rheinlandes hatten alle Zollbestimmungen, soweit sie die deutsche Wirtschaft schützten, aufgehoben, und der Warenverkehr war infolgedessen an der Westgrenze für das Reich unkontrollierbar. Durch dieses "Loch im Westen" strömten ununterbrochen die Waren des Auslandes nach Deutschland, die im allgemeinen überflüssigen Luxus darstellten und mit deutschem Gelde bezahlt werden mußten. Die Reichsregierung wies des öfteren auf diesen gefährlichen Zustand hin. Sie war bemüht, die Einfuhr lediglich auf lebensnotwendige Dinge, Nahrungsmittel und Kleider, einzustellen solange, bis die wiedergewonnenen Absatzgebiete auch die Einfuhr von Luxusgegenständen gestatteten. Der unbeaufsichtigte Warenverkehr über die westliche Grenze Deutschlands habe je- [233] doch zur Folge, daß unnötige Waren in großen Mengen gegen Zahlung in Mark in Deutschland eingeführt würden, während die unentbehrlichsten Bedürfnisse des deutschen Volkes an Lebensmitteln und Kleidung aus Mangel an Devisen nicht befriedigt werden könnten. Eine weitere Folge hiervon sei die Zerrüttung der deutschen Währung, die ihrerseits die Leistungsfähigkeit der arbeitenden Bevölkerung vermindere (28. Januar 1920). Durch das "Loch im Westen" war es zwar Engländern und Franzosen möglich, ihrem stockenden Absatz nach Deutschland ein Ventil zu öffnen, das deutsche Volk aber hatte unter diesem Zustande zu leiden, da es Waren kaufte, die es unter den damaligen Umständen nicht hätte kaufen dürfen. Auch dies ist einer der Gründe für die Zerstörung der deutschen Mark.

Hierzu kamen die ungeheueren Lasten der Rheinlandbesetzung. Bis zum Frühjahr 1920 hatte Deutschland rund zwei Milliarden Goldmark an Besatzungskosten zu zahlen. Der Reichsschatzminister sagte hierüber: "Was hätte mit diesen Mitteln Deutschlands geleistet werden können, wenn sie eine produktive Verwendung gefunden hätten! Der Wiederaufbau Nordfrankreichs hätte finanziert werden können, die wirtschaftliche und finanzielle Gesundung Deutschlands zum Nutzen seiner Reparationsfähigkeit, also zum Nutzen der Besatzungsmächte selbst, wäre gefördert worden." Wo aber sollte das deutsche Volk all das Geld und Gut hernehmen, das man von ihm forderte? Es besaß in der ganzen Welt keinen Freund, der ihm Kredit gewährt, Anleihen gegeben hätte. Deutschland stand ganz allein, Übermenschliches verlangte man von ihm. Es war gezwungen, seine aufgespeicherten Reserven, seinen Besitz, das von Generationen in vielen Jahrzehnten zusammengesparte Kapital der unersättlichen Gier der Feinde zu opfern. Die Regierung tat dies nicht auf dem unmittelbaren Wege der Enteignung, sie gab Papiergeld, Assignaten, aus und belastete mit jeder Emission aufs neue denselben Nationalbesitz. So blieb zwar der Wert des Besitzes unverändert, aber das auf ihn ausgegebene Geld verwässerte sich mit jeder neuen Milliarde mehr und mehr. Bei der Frage, welches von beiden man dem Feinde zum Opfer bringen sollte, zwanzig Millionen Deutsche [234] oder das Nationalvermögen, entschied sich das deutsche Volk für das letztere. Und so wurde die Mark geopfert.

Der ständig sinkende Wert der Mark trieb das deutsche Wirtschaftsleben in einen Strudel, der immer schneller zu kreiseln gezwungen war. Die Mark fiel, und am nächsten Tage verlangten Arbeiter, Angestellte und Beamte höhere Löhne und Gehälter, die Erwerbslosen, deren Zahl bei diesem Wirtschaftstiefdruck von Tag zu Tag stieg, forderten höhere Unterstützungen. Es wurde bewilligt und gewährt. Aber diejenigen, die kein Einkommen aus Arbeit bezogen, sondern gewohnt waren, von den Renten ihres Kapitals zu leben, sahen täglich mit wachsender Sorge den Wert ihres Geldbesitzes schwinden. Sie erhielten keine Zulagen und Erhöhungen, der innere Wert ihrer Zinsen wuchs nicht, sondern sank. Von Woche zu Woche, von Monat zu Monat waren sie gezwungen, ihr einst sorgloses Leben mehr und mehr einzuschränken. Ihre Vermögen schmolzen dahin wie der Schnee an der Sonne. Die Gruppe der Kapitalisten und Rentner, nach der man ehedem den Grad des Reichtums und Wohlstandes unseres Volkes bemaß, versank: das deutsche Volk befand sich auf dem Wege zu einer bitteren Armut, und der sinkende Wert des Geldes war der Wegweiser dahin. Im Januar 1919 galt die Mark noch 51 Pfennige, im Dezember war sie auf 10 Pfennige gesunken, und am 31. März 1920 war sie nur noch 5¾ Pfennige wert.

Gewiß, die Streiks, die Bürgerkriege, die Erwerbslosigkeit, die bolschewistischen Machenschaften trugen viel zu dieser unheilvollen Entwicklung bei. Jedoch eine furchtbare Ahnung noch viel größerer Katastrophen enthielten die drakonischen Bestimmungen des Versailler Vertrages. Aber hinter ihm stand das Problem der Erwerbslosigkeit in den Ententeländern, und die Sieger hielten es für richtig, daß das deutsche Volk außer seinen eigenen auch die Arbeitslosen und Kriegsbeschädigten Englands, Frankreichs, Italiens und Belgiens mit Hilfe der Reparationen bezahlte. Dieses europäische Gespenst der Arbeitslosigkeit war ein sehr gefährliches. Außer der wirtschaftlichen Erklärung aus der infolge des vierjährigen Krieges ins Stocken geratenen Produktion gab es dafür auch eine psychologische: [235] die Soldaten waren ans Nichtstun gewöhnt und wollten vielfach nicht mehr arbeiten. Verminderte Arbeitsleistung und verminderte Arbeitslust gingen Hand in Hand. Am 12. August 1919 veröffentlichten die Londoner Times eine Denkschrift Hoovers, in der er feststellte, daß in Europa fünfzehn Millionen Familien Arbeitslosenunterstützung erhielten. Sie wurde bezahlt durch eine künstliche dauernde Steigerung der Valuta. Deutschland, das besiegte Land, wurde hiervon am schwersten betroffen. –

  Die Erwerbslosigkeit  

Auch in Deutschland fehlte es nicht an Stimmen der Vernunft, die mit Sorge die Entwicklung der Arbeitslosigkeit verfolgten. Der sozialdemokratische Vorwärtsredakteur, Erwin Barth, gab 1919 unter dem Titel "Arbeitslosigkeit und Arbeitsnot" eine Broschüre heraus, worin er für die Arbeitslosigkeit zwei Gründe anführt, Rückgang industrieller Produktion infolge gänzlichen Mangels ausländischer Rohstoffeinfuhr und infolge sinnloser wilder Streiks und die rasche Demobilmachung der Armee. In kurzer Zeit seien Millionen von Menschen wieder in das bürgerliche Leben zurückgeführt worden, aber ihre Arbeitsstätten seien nicht mehr offen, weil der Rohstoffmangel ihre Beschäftigung nicht mehr zulasse, oder die Maschinen ständen still, weil es an Kohlen und Transportmitteln fehle. "In den großen Städten häufen sich die Arbeitslosen in beängstigendem Umfange. In Berlin sind Anfang Februar schon weit über 200 000 Arbeitslose gezählt worden, und es besteht gar keine Aussicht, diese Ziffern herabzusetzen. Im Gegenteil, jeder neue Militärzug führt neue Arbeitslose heran." Man solle die Arbeitslosen produktiver Arbeit zuführen, die "böswilligen Drückeberger" sollten aber in keiner Weise unterstützt werden. Nur Arbeit könne Deutschland retten. "Die Ursache unserer Not ist unsere wirtschaftliche Gesamtarmut. Dagegen kann man nicht ankämpfen, indem man vorübergehend zum Nachteile der anderen Volks- und Klassengenossen einen größeren Geldbetrag an sich reißt. Wir müssen vielmehr als große solidarische Gemeinschaft unsere derzeitige Not solidarisch tragen und durch das Gefühl der solidarischen Gesamtverantwortlichkeit gehoben, disziplinierte, intensive Arbeit [236] leisten, um das ganze Volk durch neue Werterzeugung aus seiner Entblößtheit von allen wirtschaftlichen Gütern herauszubringen. Nicht eine größere Anzahl von Papierscheinen tut uns not, sondern eine größere Menge von Gütern. Daran allein hängt die Zukunft unserer Industrie, unseres Volkes, unserer jetzt arbeitslosen Volksgenossen. Die blödsinnige Sucht nach Papierscheinen ist es auch, die jetzt noch große Massen von Arbeitslosen in den Industriestädten hält, obwohl auf dem flachen Lande ein für unsere nächste Ernte verhängnisvoller Arbeitermangel besteht." Noch aber war es viel zu früh, als daß diese Gedanken auf fruchtbaren Boden fielen.

  Zwangswirtschaft  

Um die Versorgung des Volkes mit den Bedürfnissen des täglichen Lebens nicht zu gefährden, hielt die Regierung das System der Zwangswirtschaft, welches man im Kriege eingeführt hatte, aufrecht. Der Verkauf von Nahrungsmitteln, Kleidern und Kohlen stand unter der Aufsicht der Behörden und wurde in bestimmten vorgeschriebenen Mengen pro Kopf zu erschwinglichen Preisen durchgeführt. Trotzdem die Blockade aufgehoben war, hielt man an dieser Art der Versorgung zum Schutze der Stadtbevölkerung fest. Denn bei einem plötzlichen Übergang zur freien Wirtschaft hätte ein wucherischer Zwischenhandel seine verderbliche Tätigkeit entfaltet und die Preise in wahnsinnige Höhen getrieben. Daraus hätte sich ein plötzlicher Zusammenbruch der Währung, blutiger Bürgerkrieg und Bolschewismus entwickelt. Als man im Herbst 1919 die Zwangswirtschaft für Leder aufhob, stellte sich sofort eine starke Preissteigerung ein. Die Zuteilung von Amts wegen litt nicht am Überfluß, aber sie ermöglichte dem größten Teile des Volkes die weitere Fristung der Existenz.

Der Bauer war der geachtete, geliebte, umworbene Mann. Er, auf den der Städter vor dem Kriege mit einer gewissen Geringschätzung herabgeblickt hatte, kam plötzlich während des Krieges zu Ehren und Ansehen. Verwandte in der Stadt, die sich seit Jahren nicht um ihn gekümmert hatten, erinnerten sich seiner und fuhren hinaus ins Dorf, ihn zu besuchen. Die Damen, die gewohnt waren, in seidenrauschenden Kleidern, von einer Duftwolke umgeben, in den Theaterlogen zu sitzen, schwärmten plötzlich für die Poesie des Kuhstalles und aßen [237] von irdenen Tellern Wellfleisch und Sauerkraut. Die Herren, die bisher nur ihre Aufmerksamkeit dem Börsen-Kurszettel gewidmet hatten, begannen sich für die ertragreichsten Kartoffelsorten zu interessieren. Trotz scharfer Kontrolle auf Straßen und Bahnhöfen blühte der Schleichhandel mit Lebensmitteln, aber er war verhältnismäßig ungefährlich, da er sich im Rahmen der "Selbstversorgung" hielt und infolge der Aufsicht nicht allgemein in wucherischen Zwischenhandel ausarten konnte.

  Kohlenmangel  

Der Kohlenmangel führte dazu, daß auf der Eisenbahn vielfach der Betrieb der Personenzüge eingestellt werden mußte. Der Personenverkehr wurde aufs äußerste eingeschränkt, und wer mit der Eisenbahn fahren wollte, mußte einen zwingenden Grund hierfür nachweisen können, z. B. das Begräbnis eines Verwandten. Die geringen Steinkohlenmengen, die dem deutschen Volke nach der Ablieferung der Kohlen verblieben (allein der Verlust des Saargebiets bedeutete einen Ausfall von jährlich mehr als 13 Millionen Tonnen), mußten dazu verwandt werden, die nötigen Lebensmittel in die Städte zu befördern. So wurde am 4. November 1919 der Personenverkehr auf der Eisenbahn für elf Tage vollständig unterbrochen, um Kartoffeln und Kohlen zu befördern. Hungrig und frierend ertrug das deutsche Volk, dessen Bevölkerungszahl am 8. Oktober 60 898 554 Seelen betrug, den Winter von 1919 zu 1920, der sich von der Kriegszeit in nichts unterschied. –

  Wohnungsnot  

Eine besonders schlimme Folgeerscheinung des Krieges war die Wohnungsnot. Durch die Wohnungszwangswirtschaft war zwar das Recht, bewohnbare Räume zu vermieten, dem Hausbesitzer genommen und auf die Gemeinde übertragen worden, weil man dadurch eine planvollere und ergiebigere Ausnutzung zu erzielen hoffte. Anderseits aber wurde den Hausbesitzern vorgeschrieben, in welcher Weise sie die Miete zu erhöhen hätten. Dieses System der Wohnungswirtschaft, das gesamte Volk teils als Mieter, teils als Hausbesitzer treffend, führte zu mancherlei Unzuträglichkeiten. Der Hausbesitzer stand seinem aufgezwungenen Mieter nicht sehr freundlich gegenüber. Die gesetzliche Regelung der Miete sollte einen sozialen Schutz der unbemittelten Mieterschaft bilden gegen eine befürchtete [238] Ausbeutung durch die Besitzer, aber da die vom Staate festgesetzten Mietsätze keineswegs der zunehmenden Markentwertung entsprachen, wurde dem Besitzer nicht nur die angemessene Verzinsung seines Anlagekapitals, sondern auch die Möglichkeit genommen, die notwendigen Reparaturen an seinem Hause vorzunehmen. Von Staats wegen wurden besondere Ämter zum Schutze der Mieter eingesetzt, Mieteinigungsämter; wenn ein Hausbesitzer einem Mieter kündigen wollte, so mußte die Angelegenheit vor den ordentlichen Gerichten ausgetragen werden, und oft war es schwer, da andere Wohnungen nicht zur Verfügung standen, die streitenden Parteien ihrem Wunsche gemäß zu trennen. Es war nur zu natürlich, daß sich aus diesem Zustande zahlreiche Gewalttaten, eine Art Faustrecht, entwickelten, die häufig mit Verbrechen, ja mit Totschlag endeten.

Wohnungsnot: Exmittierte Mieter wohnen auf dem Treppenflur.
[Bd. 2 S. 176b]      Wohnungsnot:
Exmittierte Mieter wohnen auf
dem Treppenflur.
      Photo Scherl.
Am schwersten drückte die Wohnungsnot auf die Städte, und in ihnen waren ja zwei Drittel des deutschen Volkes vereinigt. Infolge des Krieges waren keine neuen Häuser gebaut worden, dagegen hatte die Zahl der Eheschließungen, der "Kriegstrauungen", erheblich zugenommen, und die Zahl der Familien, welche Anspruch auf eine Wohnung erhoben, stieg im umgekehrten Verhältnis zu der sinkenden Zahl der verfügbaren Wohnungen. Luftige Dachkammern wurden notdürftig ausgebaut, und kalte, dumpfe, modrige Keller wurden in Wohnräume umgewandelt. Die Luxuswohnungen und Villen der ersten Gesellschaftsklassen wurden mit kinderreichen Familien belegt, und fünf, sechs, sieben und noch mehr Köpfe wurden in zwei oder drei Räumen zusammengepfercht.

Oft wurde die Sittlichkeit des Volkes aufs schwerste gefährdet. Jungverheiratete Ehepaare, die gezwungen waren, bei ihren Eltern zu wohnen, gingen auseinander und ließen sich schließlich scheiden, weil das Zusammenleben mit den Alten ihre Ehe zerrüttet hatte. Häufig schliefen Menschen beiderlei Geschlechtes, besonders in den Kreisen der Arbeiter, in einer Kammer, ja in einem Bett zusammen, und Blutschande zwischen Vater und Tochter, Bruder und Schwester gehörte nicht zu den Seltenheiten. Mancher, der noch über Vermögen verfügte, war in der Lage, sich eine Wohnung zu "kaufen", [239] wiewohl dies eine ungesetzliche Handlung war und beide Parteien empfindlichen Strafen aussetzte, und Beamtenbestechung war das Mittel, um die unangenehmen Folgen zu vermeiden. Ja, es gab Leute, die in vollständiger Resignation sich auf Feldern Unterstände bauten oder natürliche Höhlen bewohnten und so das im Kriege geübte Leben fortsetzten. – So wurde eines der primitivsten Bedürfnisse des Kulturmenschen, anständig zu wohnen, zu einer unversiegbaren Quelle von Not und Qual.

  Kulturbedürfnis  

Trotz der schweren politischen und wirtschaftlichen Not war das Kulturbedürfnis der Nation sehr rege. Die Arbeiterschaft, welche durch die Revolution ihren Anteil an der Bestimmung der Wirtschaft und Politik errungen hatte, forderte, daß ihr im gleichen Umfange Bildung, Wissenschaft und Kultur zugänglich gemacht wurden. Und Preußen ging in diesen Fragen voran. Zwar war hier ein Mann während der Novemberwirren an die Spitze des Kultusministeriums geraten, der durch seine sonderbaren pädagogischen Ansichten das Bildungswesen zur Zielscheibe des Spottes und der Lächerlichkeit zu machen drohte: der Unabhängige Adolf Hoffmann. Ein Anhänger Liebknechts, zeichnete er sich ebensosehr durch Unwissenheit wie durch sozialistischen Fanatismus aus. Der Kirche und dem Religionsunterricht sagte er rücksichtslosen Kampf an. Die göttliche Heilslehre war für ihn nichts weiter als ein Werkzeug zur "Verdummung der Massen", sie diene dazu, die Kinder zu Knechten der Monarchie zu erziehen und die Arbeiterschaft mit der Verheißung eines glücklicheren Jenseits zu willenlosen Sklaven des brutalen Kapitalismus zu machen. Dieser bis zur Gotteslästerung gesteigerte, scharfe, antiklerikale Geist fand seinen Niederschlag in den "Hoffmannschen Verordnungen" vom 29. November 1918, worin das Schulgebet und der Religionsunterricht verboten und die Religion von der Liste der Examenfächer gestrichen wurde.

Da es Hoffmann gar zu arg trieb, wurde er im Frühjahr 1919 abgesetzt, und der Sozialdemokrat Hänisch wurde sein Nachfolger. Er bekämpfte nicht die Religion als den Feind der Jugend, sondern den Militarismus. Er predigte den Geist der Völkerversöhnung und verlangte, daß dieser in den [240] Schulen gelehrt werde. Er wollte den entschiedenen Bruch mit der Vergangenheit und ordnete an, daß in den Schulen die Hohenzollernbilder von den Wänden entfernt wurden. Sachsen folgte diesem Beispiel. Hänisch wollte das Unterrichtwesen, besonders in der Geschichte, von Grund aus umgestalten. Er ließ die Schulbibliothek revidieren und alle Bücher ausmerzen, in denen das Heer und die Kriege Deutschlands verherrlicht wurden. Die Jugend sollte nichts hören vom Siebenjährigen Kriege und von den Freiheitskriegen oder den deutschen Einigungskriegen. Die Feier des Sedantages wurde als unzeitgemäß beseitigt. Im Dezember 1919 gab er einen Erlaß heraus, worin die Neubearbeitung der Lehrbücher für Geschichte verlangt wurde. Der Heroenkult sollte abgeschafft werden, das heranwachsende Geschlecht sollte nichts von Friedrich dem Großen oder Bismarck erfahren, sondern in den Ideen des historischen Materialismus erzogen werden: aller Fortschritt in der Weltgeschichte werde durch den Drang der Massen bestimmt. Auch das Niveau der Volksschule suchte Hänisch zu heben, indem er am 19. September 1919 ein Gesetz erließ, wonach die Volksschullehrer zum Universitätsstudium zuzulassen seien. In Köln war am 12. Juni 1919 die Universität neu eröffnet worden.

Hänisch hatte mit starken Widerständen zu kämpfen. Die politische Erregung war auch auf die Schulen übergesprungen, und während die Universitäten und höheren Schulen sich der Reform des Unterrichtswesens widersetzten, waren den Volksschulen die Bestrebungen Hänischs noch nicht entschieden genug, sie forderten Beseitigung des Religions- und Geschichtsunterrichts. Da der Autoritätsglaube stark erschüttert war, erlebte Deutschland das groteske Schauspiel, daß auch die Schüler streikten, wenn sie sich in Obstruktion gegen ihre Lehrer befanden. Die Gymnasiasten blieben dem Unterricht fern, wenn ein Lehrer ihrer Ansicht nach allzu revolutionär war, die Hosenmätze der Volksschulen zogen mit roten Fahnen durch die Straßen und protestierten gegen die Lehrer, wenn sie Religionsunterricht erteilten oder den Rohrstock handhabten, ja, sie verlangten, ihre Lehrer selbst wählen zu dürfen!

Das Ministerium wandte sich entschieden gegen diese [241] Auswüchse und erließ Verordnungen, wonach das Schulleben von politischen Streitigkeiten frei zu halten sei und streikende Schüler gemaßregelt werden sollten. Am bedeutsamsten war Hänischs Verordnung über die Bildung von Elternbeiräten vom 11. November 1919. Diese Elternbeiräte waren ihrem Wesen nach ähnliche vermittelnde Instanzen zwischen Schule und Familie wie die Betriebsräte zwischen Kapital und Arbeit. Ihre Aufgabe bestand darin, zwischen Eltern und Lehrern zu vermitteln und auf diese Weise unnötige Reibereien und Gegensätze zu beseitigen, und mit Eifer und Erfolg unterzogen sich diese neuen Stellen ihrer Aufgabe. Denn auch das Schulleben litt unter der allgemeinen wirtschaftlichen Depression jener Zeit: die Lehrer wurden durch wirtschaftliche Sorgen bedrückt, hervorgerufen durch das Sinken der Mark, und die Kinder aller Stände waren durch die Kriegszeit unterernährt, im Wachstum zurückgeblieben und tuberkulös. Sehr viele dieser armseligen kleinen Wesen kamen ohne Frühstück zur Schule und waren in ihrer Aufnahmefähigkeit stark beeinträchtigt. Aus Kohlen- und Lichtmangel mußte häufig der Unterricht ausfallen.

  Volkshochschulen  

Das Wichtigste leistete Hänisch durch die Begründung der Volkshochschulen, womit er im Frühjahr 1919 begann. Arbeiterbildungskurse gab es auch früher in Deutschland, die von der im Jahre 1871 gegründeten "Gesellschaft zur Verbreitung von Volksbildung" abgehalten wurden. Jetzt aber forderte die Arbeiterschaft Gleichberechtigung auch in der Erwerbung der hohen Wissenschaft, wie sie solche in der Politik errungen hatte und in der Wirtschaft verlangte. Die Verordnung Hänischs im Februar 1919 für Preußen war bahnbrechend für ganz Deutschland.

      "Das Kultusministerium wünscht den Volkshochschulen zu helfen, doch sie wünschen nicht vom Staat beherrscht zu werden, und sie sollen das auch nicht. Aber der Staat will und sollte ihre Förderung als eine seiner wesentlichen Pflichten betrachten. Das Ministerium wird daher die Tore aller öffentlichen Schulgebäude, Universitäten usw. so weit öffnen, als dies möglich ist, ohne die ordnungsmäßige Arbeit zu stören."

Über das Wesen und den Zweck der Volkshochschulen wurde gesagt:

      "Den Vorlesungen müssen sich [242] Diskussionen anschließen, die den Weg bahnen für die wesentliche Basis aller Arbeit, nämlich persönlichen Kontakt und nähere Verbindung aller Beteiligten. Hierin stellt die Volkshochschule eine Arbeitsgemeinschaft dar, in der sich Handarbeiter und akademisch geschulte Arbeiter vereinigen. Die Gefahr, wertloses und sogar verderbliches Halbwissen zu verbreiten, muß peinlich vermieden werden. Sie ist keine Fortbildungsschule, auch keine Berufsschule, noch auch sieht sie die erholende oder populäre Form des Unterrichts vor, die bisher verfolgt wurde. Ihr Ziel ist nicht die Verbreitung von Wissen oder unverdautes Lernen, sondern die Entwicklung der Kräfte des Denkens und des Scharfsinns. Es gibt keine Examina. Die Volkshochschule bietet Bildung um ihrer selbst willen."

Im Preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung wurde eine besondere Abteilung für die Bildung der Erwachsenen begründet, und Ausschüsse an den Universitäten und Technischen Hochschulen vermittelten die Verbindung mit der akademischen Welt. Der Besuch der Volkshochschule stand jedermann frei, dem Arbeiter, Angestellten und Beamten, und war von Anfang an sehr rege. Die segensreiche Einrichtung verbreitete sich bald über ganz Deutschland, nach Braunschweig, Sachsen, Württemberg und Thüringen. –

Die Reichsverfassung selbst sah eine grundsätzliche Änderung des Schulwesens vor. Die allgemeine Schulpflicht und der damit verbundene Schulbesuch wurde auch für die Eltern der mittleren und oberen Schichten festgesetzt, die bisher das Recht hatten, ihre Kinder zu Hause oder in privaten Vorschulen unterrichten zu lassen.

      "Private Vorschulen sind aufzuheben. Es besteht allgemeine Schulpflicht. Ihrer Erfüllung dient grundsätzlich die Volksschule mit mindestens acht Schuljahren und die anschließende Fortbildungsschule bis zum vollendeten achtzehnten Lebensjahre. Auf einer für alle gemeinsamen Grundschule baut sich das mittlere und höhere Schulwesen auf."

Das waren die Leitsätze der neuen Verfassung. "Unterricht und Lernmittel in Volks- und Fortbildungsschulen sind kostenlos." Für den Zugang Minderbemittelter zu den mittleren und höheren Schulen sollten Reich, Länder und Gemeinden [243] öffentliche Mittel bereitstellen, insbesondere Erziehungsbeihilfen für die Eltern von Kindern, die zur Ausbildung auf mittleren und höheren Schulen für geeignet erachtet würden, bis zur Beendigung der Ausbildung.

  Grundschule  

Von diesen Erwägungen geleitet, verabschiedete die Nationalversammlung am 19. April 1920 das Gesetz über die Grundschule. Jedes Kind sollte ausnahmslos vier Jahre lang die Grundschule (Volksschule) besuchen, dann sollte entschieden werden, ob das Kind die Fähigkeiten besitze, in eine mittlere oder höhere Schule überzugehen. Dieses Gesetz wurde vielfach angefeindet, aber es ist der nachhaltige Ausdruck der neuen Zeitrichtung, welche das kostbare Gut der Wissenschaft als Gemeingut einer großen Kulturnation betrachtete und jedem einzelnen ohne Unterschied des Standes das Recht zusprach, sich nach den Fälligkeiten seines Geistes und Verstandes den Besitz dieses Gutes zu verschaffen. Auch wurde die Religion als ordentliches Lehrfach beibehalten, aber weder die Lehrer konnten gezwungen werden, ihren Unterricht zu erteilen, noch die Eltern, ihre Kinder daran teilnehmen zu lassen. Man schuf einen Ausweg zwischen den bewußt christlichen Tendenzen der Rechtsparteien und den weltlichen Linken, und schon dieser Kompromiß bedeutete eine Rückkehr zum früheren System.

  Geistiges Leben  

Das geistige Leben Deutschlands nahm, vorläufig unberührt von wirtschaftlicher und politischer Not, seinen Fortgang. Bemerkenswert ist die starke idealistische Tendenz in jener Epoche trostloser politischer Verwirrung. In Jena verkündete der 73jährige Eucken, der Gegner Häckels, die Lehre des modernen Idealismus, eine freie, christliche Religiosität. "Wir verwerfen alle

  Eucken  

Versuche, geistiges Leben von der bloßen Daseinswelt abzuleiten." "Wir sehen im Menschen nicht nur ein natürliches, sondern auch ein übernatürliches Wesen." Mit Entschiedenheit wandte er sich gegen den verflachenden Materialismus. "Die Hauptursache der traurigen gegenwärtigen Lage Deutschlands ist die Mißachtung der inneren Lebenskräfte, die Gleichgültigkeit gegenüber der Seele, die Äußerlichkeit der Auffassung, die alle Schichten der Gesellschaft durchdringt. Demgegenüber brauchen wir einen standhaften Glauben. [244] Die Christen der alten Zeit nannten sich gern die Krieger Gottes. So müssen auch wir das Gefühl haben, daß wir Krieger sind, die für die Welt des Geistes und für die Sache Gottes kämpfen." Trotzdem ihm das Christentum die höchste Stufe der Religion darstellte, erwartete er von den christlichen Kirchen nicht viel. Schon 1911 forderte er die Trennung der Kirche vom Staat. Er veröffentlichte 1919: Deutsche Freiheit, ein Weckruf und 1921: Der Sozialismus und seine Lebensgestaltung. 1920 wurde der Eucken-Bund gegründet, der über 50 Ortsgruppen in Deutschland bilden konnte und eine Monatsschrift: Der Eucken-Bund, Organ für ethischen Aktivismus ins Leben rief.

  Keyserling  

Graf Keyserling entstammte einer alten deutschbaltischen Familie Livlands und wurde 1880 in Kowno geboren. Auch seine Grundlinie ist der Idealismus. Von Chamberlain ursprünglich ausgehend, betont er den irrationalen Charakter der Welt und vertritt eine pragmatische Auffassung des Denkens und des Wahrheitsbegriffes. Er hatte ein Werk über die Unsterblichkeit der Seele geschrieben. 1919 gab er sein Reisetagebuch eines Philosophen vollständig heraus, dessen Leitwort ist: "Der kürzeste Weg zu sich selber führt um die Welt herum." Er genießt die Reize und den Zauber des Ostens, erkennt aber die abendländische Kultur als die höhere: "Das Wesen der abendländischen Kultur ist die Erkenntnis, daß nichts unveränderlich ist. Wir halten uns für fähig, die Welt von Grund aus zu ändern. Dieser Geist der Kampflust, des Muts und des Optimismus ist dem Osten fremd, der einen bescheidenen Begriff von menschlicher Macht hat. Ich erkenne jetzt, daß die praktische Überlegenheit des Christentums der Ausdruck eines metaphysischen Wertes ist: es verkörpert, wie keine andere Religion, den Geist der Freiheit. Wir vernehmen den Ruf zur Tat. Wir sind die Hände Gottes." Das westliche Denken soll durch die Geistigkeit des Orients neu belebt werden. Eine bewußte Persönlichkeitsgestaltung soll durch freies, schöpferisches Tun vom Geist aus herbeigeführt werden. 1920 veröffentlichte er seine Philosophie als Kunst. Schon 1919 gründete er die "Gesellschaft für freie Philosophie" oder "Schule der Weisheit" in Darmstadt. Der frühere Groß- [245] herzog von Hessen stellte dafür ein Haus zur Verfügung. Die große äußere Not Deutschlands rief in breiten Schichten des Volkes eine Reaktion gegen die materialistische Weltanschauung hervor, und so kam es, daß Keyserling ebenso wie Eucken über einen ausgedehnten Kreis von Anhängern und Verehrern verfügte.

  Steiner  

Rudolf Steiner, in Österreich geboren, Direktor der Waldorfschule in Stuttgart und Gründer der Anthroposophischen Gesellschaft, verkündete seine Anthroposophie "als ein lebendiges Zeichen für die Tatsache, daß die Menschheit reif ist für erneutes Wissen um geistige Welten. Es ist eine Wissenschaft auf der Grundlage nicht nur der Beobachtung menschlicher Sinne und menschlichen Intellekts, sondern auch der höheren Fähigkeiten des Wissens, die durch geistiges Training und wahrhafte Initiative angefacht worden sind. Die Anthroposophische Gesellschaft sucht das geistige Leben des Individuums wie der Gemeinschaft auf der Basis eines wirklichen Verstehens der geistigen und physischen Entwicklung zu begründen". Die physische Entwicklung werde durch die Eurhythmie gefördert, die geistige durch die geistigen Übungen des Orients. Als Naturwissenschaftler gab er Goethes wissenschaftliche Werke neu heraus, daneben veröffentlichte er eine Anzahl philosophischer Schriften über die Erkenntnistheorie, die Philosophie der Freiheit, Nietzsche und die deutschen Mystiker. 1919 erschien sein Werk: Die Dreigliederung des Organismus. Hier zerlegte er die Grundkräfte der Gesellschaft in wirtschaftliche, politische und geistige und untersuchte die Probleme von Erziehung, Kapital und Arbeit und internationalen Zusammenhängen.

  Spengler  

Oswald Spengler gab ein Werk heraus, dem eine geradezu hypnotische Kraft innewohnte: Der Untergang des Abendlandes 1919. Das Buch wurde in der Zeit von 1912 bis 1917 geschrieben und stellt eine Philosophie der Geschichte dar. "Sein engeres Thema ist eine Analyse des Unterganges der westlichen Kultur; aber das Ziel ist nichts Geringeres als das Problem der Zivilisation." Spengler will zum ersten Male den Versuch machen, Geschichte im voraus zu bestimmen, das Schicksal der Zivilisation Europas durch die Abschnitte hin [246] verfolgen, die es noch zu durchlaufen habe. Er zwingt die Geschichte in ein logisches Gesetz, das als Periodizität bezeichnet wird. Alle Kulturen sind Kreisläufe, die sich nicht nur nacheinander, sondern auch nebeneinander vollenden, teils kürzer, teils länger, die kürzeren ablösend. Wie der Untergang der Antike, ist auch der Untergang des Abendlandes ein zeitlich und räumlich begrenztes Ereignis. Aber man muß sich freimachen von der äußerlich-schematischen Einteilung der Geschichte in Altertum, Mittelalter und Neuzeit. Spengler will vier Kulturkreise anerkennen: den indischen (1800 bis 900 v. Chr.), das Altertum (bis Chr. Geburt), den arabischen (bis 900 n. Chr. Geburt), den abendländischen darauf folgend. Jeder dieser vier Kreise wird in Frühling, Sommer, Herbst und Winter eingeteilt. Die geistreichen, aber stark schematischen Ausführungen konnten keineswegs als eine Bereicherung unserer Geschichtswissenschaft gelten, um so mehr aber wirkten sie durch ihren starken Pessimismus auf die Katastrophenpsychose weiter Kreise des gebildeten Bürgertums nach der militärischen und politischen Niederlage. Spengler sagt nämlich, die abendländische, faustische Seele der Sehnsucht, im Mittelalter erwacht, habe aufgehört, schöpferisch zu sein und sei im Begriff, durch eine Periode des Ausruhens dem Erlöschen entgegenzugehen. Diesen Augenblick des Erlöschens hielten seine Leser 1919 für gekommen. – Spengler wehrte sich allerdings dagegen, als Pessimist bezeichnet zu werden.

  Literatur  

In der Literatur behaupteten Gerhart Hauptmann und Sudermann ihren Platz. Die Lyrik erlitt durch den Tod Dehmels einen schweren Verlust. Die Ereignisse der Revolution gaben der Clara Viebig (Das rote Meer), Bernhard Kellermann (Der neunte November) und Karl Rosner (Der König) Stoff zu Romanen. Walter von Molo dagegen rief dem Volke seine große Vergangenheit ins Gedächtnis zurück (Fridericus, Luise, Das Volk wacht auf). Auf dem Gebiete des zu subjektiven Extravaganzen neigenden Expressionismus tat sich besonders der Kommunist Ernst Toller (geboren 1893) hervor, der infolge seiner Teilnahme an der Münchener Räteregierung zu Festung verurteilt worden war und in seiner [247] Zelle Herbst 1919 das Drama "Masse-Mensch" verfaßte. Das expressionistische Drama kennt nur Typen, und Toller verwendet als solche den Offizier, den Bankier und den Priester, denen der "Namenlose", Masse-Mensch, gegenübersteht. Das Stück behandelt die Revolution des Volkes gegen das Kapital, wobei schließlich das letztere siegt. Der "Namenlose" fragt: "Und wer oder was ist heilig?" Die Antwort lautet: "Eines Tages wird es das freie Volk sein, verbunden zu gemeinsamer Aufgabe." Tollers zweites Drama "Die Maschinenstürmer" behandelt den Aufruhr der Ludditen in Nottingham 1816 und gipfelt in den Worten: "Wir müssen alle einander helfen und gütig sein." Es ist merkwürdig, wie eng theoretische Menschenliebe und praktischer Blutrausch verbunden sind in diesem Manne! Ein ähnliches Thema wie "Masse-Mensch" behandelt Georg Kaiser in seinem Drama "Gas". Auch hier sehnen sich namenlose Helden nach einer glücklicheren Welt. Das Stück endet mit einer vernichtenden Explosion; die Menschheit wird durch die Technik, die sie geschaffen, überwunden und vor ihr zu Boden geschmettert. –

Dieser kurze Überblick über die Literatur und die geistigen Strömungen Deutschlands unmittelbar nach dem Zusammenbruch möge zeigen, wie vielseitig sich das deutsche Geistesleben über die Katastrophe hinwegzuhelfen suchte. Es lag in der Natur der Sache, daß der Zug der Resignation, der Entsagung und der Entbehrung vorherrschte. Vor den großen Enttäuschungen dieser Welt flüchtete der Geist in das Übersinnliche, eine neue Welt zu ergründen und zu schaffen. An seinem Leibe bis auf den Tod verwundet, stieg das Volk hinab zu den Gründen seiner Seele, von hier aus neue Werte an die Oberfläche zu schaffen. Aus der Erkenntnis, daß alles Irdische wandelbar und letzten Endes nicht Endzweck des Lebens ist, erstand der deutsche Geist neu, in sich vertieft, mit einer Kraft zu neuem, harten Leben ausgestattet aus den kläglichen Trümmern einer einst so stolzen Politik. Unberührt von dem Gären und Brodeln wirrer Ideale, die auch die ganze tausendjährige Kultur zertrümmern wollten, bahnte sich die deutsche Seele einen Weg zu neuem Aufstieg. Im Jahre 1919 produzierte Deutschland 22 300 Bücher, und diese Zahl war [248] nur um 5800 geringer als im Jahre 1913. Schon 1920 wurde die Friedensproduktion annähernd erreicht, sie blieb nur um 400 hinter 1913 zurück. –

  Politische Spannungen:  
Nationalversammlung
als Reichstag

Nach dieser Abschweifung in die Wirtschafts- und Kulturverhältnisse des neuen Deutschlands kehren wir zu den politischen Ereignissen zurück. Am 30. September 1919 siedelte die Nationalversammlung nach Berlin über und tagte im Reichstagsgebäude weiter, damit zum Ausdruck bringend, daß nun der verfassungsmäßige Reichstag an die Stelle der Nationalversammlung trete. Es waren wichtige Aufgaben zu lösen. Das Reich mußte nach seiner aus der Reichsverfassung sich herleitenden neuen Stellung und nach den Verpflichtungen des Versailler Vertrages mit den nötigen Geld- und Steuerquellen ausgestattet werden. Auch waren wirtschaftspolitische Gesetze zu schaffen. Zwar war angesichts der erdrückenden Wirtschaftslasten des Friedensdiktates an eine Sozialisierung nicht mehr zu denken; aber es mußte ein Betriebsrätegesetz in irgendeiner Form zustande kommen, das verlangte die Stimmung der Massen. Schließlich verlangten auch noch einige andere Punkte, die sich aus dem Friedensvertrag und der Wirtschaftslage ergaben, gesetzliche Regelung.

Die Rechtsparteien waren allerdings nicht so ohne weiteres damit einverstanden, daß die Nationalversammlung nun, als wäre es die selbstverständlichste Sache von der Welt, sich die Rolle des Reichstages aneignete. Sie wiesen darauf hin, daß die Nationalversammlung ihr Recht lediglich aus der Zeit des Überganges herleite und ihre Aufgabe, dem Volke eine Verfassung zu geben, sei erfüllt. Sie habe abzutreten, da ja jetzt die Staatsordnung hergestellt sei, und das Volk habe nach der Verfassung das Recht, einen Reichstag zu wählen und gemäß seiner Zusammensetzung zu bestimmen, wie es regiert werden wolle. Auch verlange das Volk gemäß der nun gültigen Reichsverfassung das Recht, seinen Reichspräsidenten selbst zu wählen.

Doch die Regierung war taub gegen derartige Vorstellungen, und zwar mit gutem Grunde. Sie fürchtete nämlich nicht unrichtig, daß die Annahme des Friedensvertrages den Rechts- [249] parteien günstiges Agitationsmaterial liefere und daß infolgedessen diese bei einer kommenden Wahl erheblich mehr Vertreter in den Reichstag senden würden. Die Regierung wollte aber ihre überwältigende Majorität in der Nationalversammlung nicht eher aus der Hand geben, bis das demokratische Regiment fest im Sattel saß. Sie lehnte also die Forderung der Rechtsparteien mit der Begründung ab, es seien noch in Ausführung der Reichsverfassung wichtige Gesetze zu schaffen, und man dürfe diese Arbeit, wenn man sie nicht ganz in Frage stellen wolle, nicht dadurch stören, daß man das Volk aufs neue in die Aufregung und den Trubel eines Wahlkampfes stürze. Am 3. Oktober traten die Demokraten wieder in die Regierung ein, und damit war der Zustand wiederhergestellt, der vor dem 21. Juni bestand. –

Der Nationalversammlung wurde am 18. August der Entwurf eines Ausführungsgesetzes zum Friedensvertrage vorgelegt. Hierin wurde verlangt, daß Zahlungen oder Zahlungsannahme feindlicher Forderungen und Schulden verboten würde. Ferner wurde eine gesetzliche Frist zur Erhaltung oder Begründung gewerblicher Schutzrechte gefordert, soweit sie innerhalb der Kriegszeit entstanden seien, bis zum Ablauf eines Jahres nach Inkrafttreten des Friedensvertrages. Vereine und Privatunterrichtsanstalten, die den Bestimmungen des Friedenvertrages zuwiderhandelten – hier war vor allem an militärische Übungen gedacht –, wurden mit Auflösung bedroht. Auf die Herstellung von Kriegsmaterial wurde eine Strafe von 100 000 Mark gesetzt. Der Reichsfinanzminister sollte ermächtigt werden, Schuldverschreibungen oder Schatzanweisungen auf den Inhaber auszugeben in Höhe von 20 und 40 Milliarden Mark und die Verpflichtung zur Ausgabe von weiteren 40 Milliarden in derselben Weise einzugehen. – Der Gesetzentwurf wurde in der Rechtspresse stark kritisiert, aber er war nur die Folge des angenommenen Knebelvertrages.

Drei Tage später begann die erste Beratung über das Betriebsrätegesetz. Aber die Aussprache trat zunächst in den Hintergrund, da man durch die Erörterung über diese kritische Angelegenheit nicht den Gang der Finanzberatungen beeinträchtigen wollte, die am 13. August begonnen hatten und [250] zu denen man die Mithilfe der Rechtsparteien erwartete. Diese hätten aber durch das Betriebsrätegesetz vorzeitig verärgert werden können. Das Sinken der Mark hatte eine neue Erscheinung hervorgerufen, die Kapitalflucht ins Ausland. Privatpersonen und Unternehmungen glaubten ihr Vermögen dadurch vor Entwertung zu schützen, daß sie es, soweit es flüssige Gelder waren, auf ausländische Banken, vor allem in Holland und der Schweiz deponierten. Die deutschen Guthaben im Auslande wurden Ende 1923 auf sieben bis acht Milliarden Goldmark geschätzt, und es ließ sich ohne Mühe die wirtschaftliche Schädigung des Reiches aus dieser Entziehung des deutschen Nationalvermögens errechnen. Das Gesetz gegen die Kapitalflucht drohte schwere Strafen an und verlangte Zurückführung der ausländischen Guthaben ins Reich.

Erzbergers
  Steuerprogramm  

Erzberger, der Reichsfinanzminister, legte der Nationalversammlung ein reichhaltiges Steuerprogramm vor, das rücksichtslos die Besitzenden belastete. Es wurde zunächst vom Besitz eine allgemeine Vermögensabgabe unter dem Namen Reichsnotopfer gefordert. Dazu kam eine außerordentliche Kriegsabgabe vom Mehreinkommen 1919 und eine Kriegsabgabe vom Vermögenszuwachs, die besonders die Kriegslieferanten traf. Außer diesen einmaligen Besitzabgaben, die je nach der Höhe des Besitzes gestaffelt werden sollten, verlangte das Reich für sich das Recht, eine Anzahl direkter und indirekter Steuern allein erheben zu dürfen. Diese Steuerzentralisation in den Händen des Reichs war etwas vollkommen Neues, im Kaiserreich Unbekanntes, aber sie war die Folge der neuen Stellung des Reiches in der Verfassung den Ländern gegenüber. Die Einkünfte des kaiserlichen Reiches wurden lediglich von den Ländern aufgebracht, und es war klar, daß Erzberger mit seinem kühnen neuen System auf starken Widerstand stoßen mußte. Aber die Aufgaben, die das Reich übernehmen sollte, und die Erfüllung des Friedensvertrages zwangen dazu.

Das Reich beanspruchte für sich an direkten Steuern diejenigen vom Vermögen, Vermögenszuwachs und vom Einkommen, d. h. die Vermögenssteuer, Vermögenszuwachssteuer, Kapitalertragssteuer, Körperschafts- und Erbschaftssteuer und [251] die Grunderwerbssteuer. Hinzu kamen an indirekten Steuern die vom Umsatz, Luxus, Verbrauch, die Kohlen- und Verkehrssteuer, Stempel und Zölle. Alle diese Steuerquellen wurden den Ländern, die sie bisher innehatten, entzogen und zum Monopol des Reiches gemacht. Erzberger errechnete, daß das Reich im Jahre 1920 insgesamt 26 Milliarden Steuern aufbringen müsse, wovon 15 durch die direkten, 11 durch die indirekten gedeckt werden müßten.

Den Ländern überließ man die selbständige Besteuerung des Grundbesitzes, der Gewerbebetriebe und der Vergnügungsveranstaltungen.

Die Länder und Gemeinden protestierten gegen diese Regelung. Ihre ergiebigsten Steuerquellen vom Besitz und Einkommen waren ihnen genommen, nicht einmal Zuschläge durften sie dazu erheben, um nicht die Einnahmen des Reiches zu schmälern. Das Reich versprach zwar, den Ländern einen bestimmten Prozentsatz seiner Steuern zur Verfügung zu stellen, die dann ihrerseits sich mit den Gemeinden auseinandersetzen sollten.

Staatssekretär Dr. Helfferich.
[Bd. 1 S. 192b]    Staatssekretär Dr. Helfferich,
der erbitterte Feind Erzbergers.
    Photo Scherl.
Aber man brachte diesem Vorschlage starkes Mißtrauen entgegen. Am heftigsten protestierten die Besitzenden, deren Wortführer die beiden Rechtsparteien waren. Scharf und rücksichtslos griff Helfferich die Steuerreform Erzbergers an, und er führte gewichtige Argumente an. Die einmaligen Vermögensabgaben ließ man sich allenfalls gefallen, denn jeder Einsichtige sagte sich, daß der verlorene Krieg große Opfer verlange. Daß man aber den Ländern ihre Einkommenquellen wegnehme, müsse zu den schwersten Bedenken Anlaß geben. Der Verwaltungsapparat der Länder sei nicht geringer geworden, im Gegenteil, durch die vielen Neueinrichtungen sei er noch gewachsen. Wovon sollten die Beamten und die Verwaltungsunkosten bezahlt werden? Die Länder seien ja gezwungen, Grund- und Gewerbesteuern ins Unerträgliche zu steigern und neue Steuern zu schaffen, die nur auf die Besitzenden abgewälzt würden, da ja die ergiebige Einkommensteuer der Erwerbstätigen lediglich dem Reiche zufalle. Die Reichssteuern seien nicht nur gegenüber der Vorkriegszeit aus erklärlichen Gründen erheblich gewachsen, sondern auch der Steuerbedarf der Länder übersteige in großem [252] Maße den der sparsamen Verwaltung der Monarchie. Diese Steuerpolitik müsse zum Ruin aller Besitzenden führen, sie käme einer indirekten Sozialisierung gleich, deren Opfer vor allem die Landwirtschaft sein würde. Erzberger sparte ebenfalls nicht mit Vorwürfen und ließ sich dazu hinreißen, das deutsche Kapital als den einzig Schuldigen an dem verlorenen Krieg hinzustellen. Die besitzenden Klassen Deutschlands seien es gewesen, die den Krieg verlängert hätten, weil er ihnen Vorteile brachte. Sie wollten sich jetzt beklagen? Sie müßten die Verantwortung tragen für ihre verfehlte Politik, und es sei recht und billig, daß der Besitz stärker als alle anderen Schichten der Bevölkerung zur Bezahlung der Wiedergutmachungen herangezogen würde! Helfferich jedoch wehrte sich bis aufs äußerste gegen die Angriffe Erzbergers. Er warf ihm Unredlichkeit und nicht einwandfreie Führung der Geschäfte vor, nannte ihn einen Reichsverderber, Kriegsgewinnler und Spekulanten. Daraufhin ließ Erzberger die Beleidigungsklage gegen Helfferich einleiten, deren Erfolg war, daß Erzberger am 12. März 1920 sein Amt als Reichsfinanzminister niederlegte, nachdem er durch ein Attentat in Berlin am 27. Januar leicht verletzt worden war.

Es nützte den Rechtsparteien aller Widerstand nichts. Sie waren zahlenmäßig in der Minderheit, und über ihre Köpfe hinweg nahm die Nationalversammlung Anfang Dezember 1919 die Erzbergerschen Steuergesetze an, welche die Opfer des Krieges und des Friedensschlusses fast ausschließlich auf die Stände des Besitzes abwälzte. Sie mußten sich unter das Kaudinische Joch beugen, zur Genugtuung und zur Freude aller Sozialisierungsfreunde. Neue Behörden wurden eingerichtet, denen es oblag, die Steuergesetze durchzuführen: die Finanzämter.

  Das Betriebsrätegesetz  

Wurde der deutsche Besitz durch die Steuergesetzgebung aufs ärgste enttäuscht, so wurde es das Proletariat nicht minder durch das Betriebsrätegesetz. Denn dies war das Nächste, das auf Erledigung drängte. Wir sahen schon, daß es bereits im Frühjahr um die Betriebsräte zu schweren Konflikten gekommen war, die durch Noske mit der Besiegung des Proletariats endeten. Wer aber glaubte, daß die Angelegenheit [253] damit erledigt sei, befand sich in einem großen Irrtum. Die Unabhängigen und Kommunisten verlangten nach wie vor, daß auch in Deutschland Betriebsräte nach russischem Vorbild eingeführt würden. Das bedeutete aber nichts anderes als eine regelrechte Sozialisierung, denn das letzte Ziel dieser Bestrebungen war, die Aufsicht und Leitung des gesamten Betriebskapitals in die Hände der Arbeiterschaft zu legen. Ausschaltung der Kapitalisten, Betriebsführung durch das Proletariat war die Losung, und mit dem festen Vorsatz, die gesamte Wirtschaftsführung an sich zu reißen, ging die radikale Linke in den parlamentarischen Kampf.

Eine rührige und geschickte Propaganda der Unabhängigen und Kommunisten hatte dafür gesorgt, daß das Proletariat in Deutschland einen günstigen Resonanzboden für die Anträge im Parlament abgab. Es wurde eine "Zentralstelle für Betriebsräte" begründet, die besonders im Rheinland eine intensive Tätigkeit entfaltete und im Herbst 1919 folgende Grundsätze in Halle aufstellte: Umbau der Gewerkschaften zu großen Industrieorganisationen; Ablehnung jeder Arbeitsgemeinschaft mit dem Unternehmertum, Anerkennung des Rätesystems als Grundlage der Sozialisierung; Aufgabe der bisherigen politischen Neutralität; Anerkennung der Massenstreiks als wirtschaftliches und politisches Kampfmittel; grundsätzliche Änderung der Unterstützungseinrichtungen; alleiniges Bestimmungsrecht der Gewerkschaftsmitglieder in Betrieben und Berufen. – Planmäßig und mit allen Mitteln der Gewalt wollte man die Einrichtung Räterußlands auf Deutschland übertragen.

Doch dabei stießen die Kommunisten im Parlament auf den Widerstand der anderen Parteien. Diese waren gar nicht gewillt, nachdem ihnen die drakonischen Steuergesetze auferlegt waren, noch durch bolschewistische Experimente ruiniert zu werden. Heftig platzten die Gemüter aufeinander, und die Unabhängigen glaubten ihren Worten den gehörigen Nachdruck zu verleihen, indem sie im Lande Demonstrationen und Versammlungen veranstalten ließen und die Regierung energisch auf "die Stimme des Volkes" hinwiesen. Und in der Tat setzte sich damals in manchem Gehirn die Meinung fest, [254] daß nun nicht mehr die Zeit fern sei, da der Arbeiter die Wirtschaft leite und der Kapitalist nur noch das Vorrecht habe, immer neue Geldmittel zu beschaffen.

Durch den beharrlichen Widerstand der Nationalversammlung gegen ihre Forderungen gerieten die Sowjetanhänger in begreifliche Erregung, und als diese ihren Siedepunkt erreicht hatte, wagten die Spartakisten eine Tat. Schon seit Anfang Januar ließen sich radikale Umtriebe in Magdeburg und Leipzig erkennen, aber die Regierung verhängte den Belagerungszustand, und so kam es nicht zu Gewalttätigkeiten. Anders lagen die Dinge im Ruhrgebiet. Die Reichswehr durfte nach den Bestimmungen des Friedensvertrages nicht in die neutrale Fünfzig-Kilometer-Zone einrücken, und die dunklen Gewalten hatten hierdurch leichtes Spiel. Am 12. Januar brachen in Hamborn Unruhen aus, der revolutionäre Pöbel plünderte die Läden und erstürmte das Rathaus. Der Verkehr wurde gänzlich unterbunden, denn die Eisenbahner traten in den Generalstreik. 25 große Fernsprech- und Telegraphenleitungen wurden zerstört, indem man die Drähte zerschnitt und die Masten zerhackte. Die bürgerliche Presse war stillgelegt und die Einwohner seufzten unter dem roten Terror. Auch in Schlesien war der Generalstreik ausgebrochen. Doch der Hauptschlag sollte nach dem Plane der Kommunisten in Berlin fallen: die Nationalversammlung sollte gezwungen werden, das kommunistische Betriebsrätegesetz anzunehmen, oder man wollte sie kurzerhand sprengen.

  Sturm auf den Reichstag  

Am 13. Januar mittags um 12 Uhr durchzogen große Züge mit vielen roten Fahnen und Plakaten die Straßen der Reichshauptstadt, auch Frauen beteiligten sich hieran. Man marschierte ohne große Umschweife zum Reichstagsgebäude. Während die Nationalversammlung über das Betriebsrätegesetz beriet, erreichten die Aufrührer mittags um ½1 Uhr das Parlamentsgebäude. Sie verlangten Eintritt in das Haus, um ein Schreiben der revolutionären Arbeiter und Angestellten zu überreichen, das einen Protest gegen das von der Nationalversammlung geplante, ihrer Meinung nach vollkommen unzulängliche Betriebsrätegesetz darstellte. Doch die Sicherheitspolizei hatte die Eingänge besetzt und verwehrte den Zutritt. [255] Die Polizeibeamten forderten vergeblich die Menge auf, sich zu zerstreuen. Drei Stunden wogte die Masse unter wüsten Lärm vor dem Reichstagsgebäude auf und ab. Es wurden Flugblätter gegen die Regierung, gegen Ebert, Noske und Scheidemann verteilt: "Macht euch bereit! Nieder mit der Militärmonarchie! Es lebe die Proletarierdiktatur! Es lebe die Räterepublik!" Den "Bittstellern" schwoll der Mut in der Hoffnung auf ein Rätedeutschland, und sie waren fest entschlossen, die Regierung zu stürzen und die Nationalversammlung auseinanderzujagen, wenn sie wagen sollten, sich den Wünschen der Demonstranten zu widersetzen. Um 3 Uhr 35 Minuten ging der undisziplinierte Haufen von der Seite des Bismarckdenkmals aus zum Angriff über. Die Polizeibeamten gaben Schreckschüsse ab, doch einige von ihnen wurden entwaffnet, ihre Waffen zerbrochen, sie selbst nach unmenschlichen Mißhandlungen zu Boden getreten. Die Menge begann die Rampe zu stürmen, unter Führung von Männern in Matrosenuniform. Jetzt schoß die Polizei scharf, und ihre Schüsse wurden von den Demonstranten erwidert, denn Waffen waren bei solchen Gelegenheiten plötzlich und ausreichend vorhanden, sie wurden unter dem Rocke verborgen und kamen im geeigneten Augenblick zum Vorschein. Als aber nun gar Maschinengewehre und Flammenwerfer in den Fenstern des Reichstages in Stellung gebracht wurden und das Tacken von Maschinengewehrsalven gehört wurde, wich der Menschenknäuel, Männer und Frauen, doch zurück. Lange verharrten noch die aufrührerischen Menschenansammlungen vor dem Gebäude, und erst in den Abendstunden zogen sich die Demonstranten unter dem Druck der Polizei ruhig und ohne Zwischenfälle in ihre Quartiere im Norden und Osten zurück. Der Kampf hatte 31 Tote und über 100 Verwundete gekostet. Mehrere Frauen befanden sich darunter. –

Die Kraftprobe war mißlungen, und damit brach auch die Bewegung im Reiche zusammen. Leipzig wurde am gleichen Tage militärisch besetzt, und schon tags darauf erreichte der Eisenbahnerstreik an der Ruhr sein Ende. Das Schicksal des Betriebsrätegesetzes war entschieden: es fiel nicht nach dem Wunsch der Kommunisten aus. Am 19. Januar 1920 nahm [256] es die Nationalversammlung mit 213 gegen 64 Stimmen an, "zur Wahrnehmung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber gegenüber und zur Unterstützung des Arbeitgebers in der Erfüllung der Betriebszwecke". Am 4. Februar wurde es verkündet. Es wurde bestimmt, daß in allen Betrieben, die mindestens zwanzig Arbeiter beschäftigten, ein Betriebsrat zu wählen sei, der, je nach der Arbeitnehmerzahl, aus drei bis dreißig Mitgliedern bestehen solle und in unmittelbarer, geheimer Verhältniswahl auf ein Jahr gewählt werde. Wahlberechtigt sollten alle mindestens Achtzehnjährigen, wählbar jeder mindestens 24 Jahre alte Arbeitnehmer sein. Große Betriebsräte sollten außerdem zur Erledigung der laufenden Geschäfte einen Betriebsausschuß bilden.

Die Aufgaben des Betriebsrates waren folgende: Durch Beratung an der Betriebsleitung mitzuarbeiten an der Erreichung der höchsten Leistungsfähigkeit des Betriebes; die Einführung neuer Arbeitsmethoden zu fördern; Streitigkeiten innerhalb des Betriebes zu schlichten; die Durchführung anerkannter Schiedssprüche herbeizuführen; mit dem Arbeitgeber eine Arbeitsordnung zu vereinbaren; die Koalitionsfreiheit der Arbeitnehmer zu schützen; Beschwerdeursachen zu beseitigen; die Bekämpfung der Unfall- und Gesundheitsgefahr im Betriebe zu unterstützen und schließlich an der Verwaltung der Pensionskassen, Werkswohnungen und Wohlfahrtseinrichtungen mitzuwirken. Das Gesetz sah also in den Betriebsräten lediglich beratende und beaufsichtigende Instanzen auf dem Gebiete des Arbeiterschutzes, aber keineswegs maßgebende wirtschaftliche Faktoren. Insofern handelte es sich nur um eine Fortführung und einen Ausbau der Arbeiterschutzgesetzgebung, die seit den 1890er Jahren eingeschlagen worden war, aber nicht um eine Umwälzung des Wirtschaftssystems. Erst ein Nachtrag vom 15. Februar 1929 bestimmte, daß der Betriebsrat Mitglieder mit Sitz und Stimme in den Aufsichtsrat entsenden könne, weniger aber, um dort Sozialisierungstendenzen zum Ausdruck zu bringen, als vielmehr deshalb, daß auch die Arbeitnehmer einen Einblick in den Wirtschaftsgang erhielten und aus eigenem Urteil feststellen konnten, [257] wieweit ihre Interessen und Forderungen mit den wirtschaftlichen Fähigkeiten des Betriebes in Einklang zu bringen seien.

  Groll der Rechtsparteien  

Die Rechtsparteien nahmen das Betriebsrätegesetz mit gemischten Gefühlen auf. Es kam dem Unternehmertum, das bisher absolutistisch regiert hatte, schwer an, Teile seiner Macht zu opfern. Aber der Gedanke des Betriebsrätegesetzes war nichts absolut Neues, und es gab bereits Verordnungen aus den Jahren 1891, 1905 und 1916, in denen die Bildung von Arbeiterausschüssen mit allerdings beschränkteren Befugnissen vorgesehen wurden. So war also das Gesetz vom Jahre 1920 nur die Fortführung einer bereits unter dem Kaiserreich begonnenen Arbeiterpolitik, wobei den Arbeitern erheblich mehr Rechte zugestanden wurden als früher. Die Unternehmer wurden zwar nicht abgesetzt, aber sie mußten in ihrem Reiche, soweit Arbeiterangelegenheiten in Frage standen, eine konstitutionelle Verfassung einführen, die ihnen unter Umständen allerlei Unbehagen verursachen konnte. Gänzlich unbefriedigt waren jedoch die Kommunisten. Sie wollten gar keine beratenden Betriebsräte, sie wollten herrschen, sie wollten die Kapitalisten entthront, an eine untergeordnete Stelle im Produktionsprozeß gesetzt sehen. Damit aber war es jetzt vorbei und nur ein gewaltsamer Umsturz hätte dieses Ziel erreichen können. Von den ganzen Sozialisierungsbestrebungen, die bereits im März 1919 als abgetan gelten konnten, blieb allein das Betriebsrätegesetz übrig. Es war ein Kompromiß der großen Mitte, wie die Weimarer Verfassung; es gefiel weder der Rechten noch der Linken, aber es entsprach dem politischen Zustande Deutschlands.

Durch die Zustände in Deutschland entwickelte sich ein steigender Groll in den Reihen der Rechtsparteien. Man fragte: Wie kommt diese verfassungswidrige Nationalversammlung dazu, das Volk durch verderbliche Gesetze zu beunruhigen? Fort mit ihr! Die Abgeordneten der Deutschnationalen und der Deutschen Volkspartei brachten Anträge in der Nationalversammlung ein, sie möge sich auflösen und dem zu wählenden verfassungsmäßigen Reichstage Platz machen. Ihre Stimmen verhallten ungehört. Allenfalls ließ man sich bereit finden, frühestens im Herbst den neuen Reichstag wählen zu lassen. [258] Auch die Frage der Reichspräsidentenwahl wurde aufgeworfen. Nach der Verfassung sei das Reichsoberhaupt durch das ganze Volk zu wählen. Das sei noch nicht geschehen, und man dränge darauf, daß die Verfassung, nachdem sie nun einmal angenommen sei, auch ausgeführt und nicht gebrochen werde. Aber die demokratischen Parteien hielten den gegenwärtigen Zustand für gut. Sie fürchteten, daß Hindenburg, dessen Name als künftiger Reichspräsident genannt wurde, über Ebert den Sieg davontragen würde, und man brauchte Ebert, um den demokratischen Einrichtungen nach innen und außen Geltung zu verschaffen.

Die Regierung hatte guten Grund, eine Neuwahl zu verzögern, die allem Anschein nach den nationalen Einfluß im Parlament stärken würde. Nicht nur die letzten Gesetze der Nationalversammlung riefen eine Erbitterung der nationalen Kreise wach, sondern noch vielmehr die beginnende Ausführung des Friedensvertrages. Eine Schar französischer und englischer Kommissionen drang in Deutschland ein, um Deutschlands Maßnahmen, besonders die der Entwaffnung, zu überwachen. Die Rechtsparteien traten beim "Erscheinen dieser Horde von ausländischen Amtspersonen" für passiven, stellenweise für aktiven Widerstand ein. Es kam vor, daß die Kraftwagen der Alliierten mit Steinen beworfen, daß die Kommissionsmitglieder tätlich angegriffen und verletzt wurden, im Hotel, auf der Straße, bei Ausübung ihrer Befugnis. Besonders unwürdig zeigten sich die Unabhängigen und Kommunisten, welche den Engländern und Franzosen Spitzeldienste leisteten, Geheimnisse verrieten, die gar nicht bestanden, und dadurch nicht nur dem nationalen Teil der Bevölkerung, sondern auch der Reichsregierung Unannehmlichkeiten bereiteten. Diese Leute glaubten, durch ihre Handlungsweise die Erfüllungspolitik zu beschleuigen und damit auch um so eher den Zusammenbruch des kapitalistischen Systems herbeizuführen, nachdem die linksradikalen Putschversuche mißglückt waren.

Die nationalen Kreise barsten vor Grimm. Wie ist es möglich, daß eine Reichsregierung das Treiben der schamlosen Vaterlandsverräter zuläßt, daß sie kein Mittel ergreift, um [259] diesem unwürdigen Zustande ein Ende zu bereiten? Und eine neue Flut von Vorwürfen ergoß sich über die Regierung, deren prominenter Vertreter, Erzberger, sich gerade um diese Zeit vor Gericht von Helfferich sagen lassen mußte, er sei ein Reichsverderber, ein Kriegsgewinnler, ein Spekulant. Mit Fingern wies die Rechtspresse täglich auf Erzberger, wie Keulenschläge sauste es herab auf ihn, der in Wahrheit Deutschlands Geschick seit 1917 bestimmt hatte: er hat durch die Friedensresolutionen den deutschen Kampfwillen gebrochen, er hat den entwürdigenden Waffenstillstand angenommen, er hat zur Unterzeichnung des furchtbaren Friedens gedrängt, er hat dem deutschen Besitz seine Steuergesetze aufgezwungen, er hat 60 Millionen Menschen auf Jahrzehnte hinaus in Not und Elend gestürzt – aber er hat es verstanden, durch Krieg und Revolution sich selbst zu bereichern! Er, der Reichsverderber – ein Kriegsgewinnler und Spekulant! Und solch ein Mann führte das Reich!

Über die Steuergesetze waren die Besitzenden ergrimmt; die Entwaffnungskommissionen erfüllten jeden national denkenden Menschen mit Zorn; der Erzberger-Prozeß mußte die Autorität der Regierung und den Glauben an die Demokratie erschüttern; die durch den Versailler Vertrag geforderte Herabsetzung des Heeres erweckte bei vielen aktiven Offizieren und Mannschaften Besorgnis um ihre Zukunft, ihren Lebensunterhalt; die Kommunisten aber standen abseits und fischten im trüben, indem sie den Alliierten Helfersdienste leisteten. Die Zustände in Deutschland drängten nach einer neuen Entladung.

  Die Reichswehr  

Die Reichswehr, die durch ihre Kämpfe mit den Kommunisten zu einer selbstbewußten, tapferen und energischen Truppe geworden war, verurteilte die Erfüllungspolitik, die Heeresverminderung und die Aburteilung der sogenannten "Kriegsverbrecher". Die Reichswehr war nicht monarchisch, aber sie empfand national. Auch wirkten in ihr verschiedene Strömungen, eine mehr nach innen gerichtete, die den Schutz der Regierung vor dem Bolschewismus als ihre Aufgabe erkannte, und das war die größere, stärkere Strömung, und eine schwächere, welche sich vor allem den Schutz der nationalen Würde nach [260] außen zum Ziele setzte und gegen die Regierung eingestellt war. Es waren dies vor allem auch die ehemaligen Baltikumkämpfer, die sich von der Regierung aufs schnödeste betrogen glaubten. Dieser merkwürdige Zwiespalt im Heere trat uns bereits bei der Debatte über die Annahme des Versailler Diktates entgegen. Damals waren die Generale Groener und Maercker die Vertreter dieser beiden Richtungen.

Zu dieser zweiten kleineren, mehr außenpolitisch eingestellten Gruppe gehörte auch der General von Lüttwitz, der Kommandeur der Reichswehr, um den sich verschiedene andere Kreise scharten, die das Hindernis für die Befreiung Deutschlands von äußeren und inneren Feinden lediglich in der gegenwärtigen Regierung erblickten. Man meinte, die Achtung der Feinde zu erzwingen, wenn erst eine entschlossene nationale Regierung am Ruder säße. Man wollte Bismarcksche Ideen unter zweifelhaften Verhältnissen praktisch betätigen. Die treibende Kraft war Wolfgang Kapp, Generaldirektor der ostpreußischen Landschaft.

  Kapp-Putsch  

Wolfgang Kapp war am 23. Juli 1858 in Neuyork geboren und trat 1886 in den preußischen Staatsdienst ein. 1900 wurde er Vortragender Rat im Ministerium für Landwirtschaft, Domänen und Forsten und war seit 1906 Generallandschaftsdirektor in Ostpreußen. Er gehörte zu den extrem Konservativen und war ein erbitterter Gegner Bethmann-Hollwegs und Erzbergers. Mit Tirpitz begründete er die Vaterlandspartei und war vom Februar 1918 bis zum November 1918 Mitglied des Reichstages. – Ostpreußen, eine vorwiegend landwirtschaftliche Provinz, war ein guter Boden für die Reaktion. Die Ostpreußen waren aus ganz besonderen Gründen mit der Berliner Regierung unzufrieden. Sie beklagten sich über die Trennung vom Reiche, da ja Westpreußen an die Polen ausgeliefert worden war, und befürchteten, einem bevorstehenden Angriff der Bolschewisten schutzlos preisgegeben zu sein. Sie mißbilligten die Reichsverfassung und empörten sich über die Steuergesetze. Hier also konnten die Pläne und Entschlüsse einer Selbsthilfe reifen, und Ostpreußen bildete die seelische Basis für Kapps Plan, dem Reiche die Gesundung und Erneuerung zu bringen.

Landschaftsdirektor Kapp aus Ostpreußen.
[Bd. 2 S. 112a]      Landschaftsdirektor Kapp
aus Ostpreußen.
      Photo Scherl.
Kapp-Putsch: Paßkontrolle im Regierungsviertel.
[Bd. 2 S. 112a]      Kapp-Putsch: Paßkontrolle
im Regierungsviertel.
      Photo Scherl.

[261] Durch den Austritt des schwer belasteten Erzberger aus der Reichsregierung am 12. März 1920 kam der Stein ins Rollen. Die Bresche in die Regierung war geschlagen, ihre treibende Kraft gefallen. Zweifellos hatte das moralische Barometer der Reichsregierung in diesem Augenblick einen Tiefstand erreicht. Es galt, den Augenblick auszunutzen. Besonders entschlossen waren die verärgerten Baltikumkämpfer, die im Dezember 1919 nach Deutschland zurückgekehrt und in Auflösungslager überführt worden waren. Sie waren der Sturmtrupp Kapps und seiner Anhänger. In der Nacht zum 13. März marschierten die Marinebrigade Ehrhardt und die Brigade Löwenfeld, die in Döberitz lagen und sich beharrlich weigerten, aufgelöst zu werden, nach Berlin, nachdem die Regierung ihre weitere Besoldung und Unterhaltung endgültig abgelehnt hatte. Ohne Kampf wurde morgens um 6 Uhr die Wilhelmstraße besetzt. Ebert und sein Ministerium flohen nach Dresden, wo sie im Laufe des Vormittags eintrafen.

Kapp-Putsch: Lagernde Truppe der Brigade Ehrhardt.
[Bd. 2 S. 96a]   Kapp-Putsch: Lagernde Truppe
der Brigade Ehrhardt.
      Photo Sennecke.
Kapp-Putsch: Heerlager auf dem Wilhelmsplatz.
[Bd. 2 S. 96a]      Kapp-Putsch: Heerlager
auf dem Wilhelmsplatz.
      Photo Scherl.

Kapp-Putsch März 1920: Potsdamer Platz in Berlin.
[Bd. 2 S. 64b]      Kapp-Putsch März 1920: Potsdamer Platz in Berlin.      Photo Scherl.

Der Handstreich war im Augenblick geglückt, und Kapp erklärte die Ebert-Regierung für abgesetzt. Außerdem sprach er die Auflösung der Nationalversammlung und der preußischen Landesversammlung aus. Es wurde eine "neue Regierung der Ordnung, der Freiheit und der Tat" gebildet, in die Kapp als Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident eintrat, Lüttwitz Verteidigungsminister, der ehemalige Berliner Polizeipräsident von Jagow Innenminister und der Pfarrer Traub, Mitglied der Nationalversammlung, Kultusminister wurde. Oberst Bauer nahm aktiven Anteil an der Neuordnung, und Ludendorff ging im Reichskanzlerpalais ein und aus. Schiffer, der Vizekanzler der Ebert-Regierung, war in Berlin geblieben, vorübergehend verhaftet aber bald wieder freigelassen worden. Kapp entwickelte ein Regierungsprogramm, das auf innerer Ordnung und Arbeit und nach außen hin auf tatkräftige Vertretung der Interessen Deutschlands abzielte.

Kapp-Putsch: Soldaten Kapps verteilen Flugblätter.
[Bd. 2 S. 80a]      Kapp-Putsch: Soldaten Kapps
verteilen Flugblätter.
      Photo Scherl.
Kapp-Putsch: Anrückende Reichswehr.
[Bd. 2 S. 80a]      Kapp-Putsch:
Anrückende Reichswehr.
      Photo Scherl.

Jedoch der Regierung Kapp gelang es nicht, aus Gründen, die wir sogleich kennenlernen werden, ihren Machtbereich über Berlin auszudehnen. In Berlin aber beherrschte sie die Lage. Zu den einigen tausend Ehrhardtsoldaten waren Teile der Reichswehr übergegangen, und die irregulären Truppen machten [262] einen vorzüglichen, disziplinierten Eindruck. Ein Patrouillendienst sorgte für Ruhe, und zu Fuß oder auf Lastkraftwagen zogen die uniformierten und bewaffneten Trupps mit schwarzweißroten Fahnen und hakenkreuzverziertem Stahlhelm durch die Straßen. Das Lager von Döberitz war nach Berlin übergesiedelt, und die Reichshauptstadt hallte wider von dem damals bekanntgewordenen und später von den Linksparteien parodierten Ehrhardtlied:

"Hat man uns auch verraten,
Trieb mit uns Schindluderei,
Wir wußten, was wir taten,
Blieben dem Vaterland treu.
Hakenkreuz am Stahlhelm,
Schwarzweißrotes Band,
Die Brigade Ehrhardt
Werden wir genannt."

Die Regierung Ebert hatte sich von Dresden nach Stuttgart begeben und proklamierte den Generalstreik. Alle Eisenbahnen standen still, und Berlin war von Deutschland abgeschnitten. Die Nationalversammlung wurde für den 17. März nach Stuttgart berufen. Da sich der Unterstaatssekretär im Reichsfinanzministerium weigerte, den neuen Herren Gelder auszuzahlen – "er wisse nichts von einem Reichskanzler Kapp", sagte er –, befand sich die Militärregierung bald in Geldnöten. Die Generale der Reichswehr, welche der innenpolitischen, gegen den Bolschewismus gerichteten Strömung angehörten, auch der Reichswehrminister Noske befand sich auf dieser Seite, hielten sich abseits und unternahmen nichts, was die Maßnahmen Kapps fördern konnte. Sie verboten in ihren Wehrkreisen die Verbreitung Berliner Nachrichten. Auch die obersten Reichsbehörden, die Beamten der Ministerien und Verwaltung, verharrten im ablehnenden Streik. Die nationale Bevölkerung draußen im Lande nahm das Ereignis mit gemischten Gefühlen auf. Trotzdem Kapp sofortige Reichstagswahlen und Reichspräsidentenwahl ankündigte und eine einheitliche Regierung in Reich und Preußen in Aussicht stellte, wurde sein Vorgehen vielfach getadelt, da es ungenügend vorbereitet, überstürzt ein- [263] geleitet und verfrüht sei. Man kam bald zu der Ansicht, daß die Erhebung aussichtslos enden müsse.

Vor dem übermäßigen und vereinten Widerstande kapitulierte die Kapp-Regierung denn auch bereits nach vier Tagen, am 17. März. Kapp floh nach Schweden, von wo aus er sich erst 1922 nach Leipzig in die Untersuchungshaft begab, in der er im gleichen Jahre gestorben ist. Ludendorff reiste nach Bayern. Bis zur Rückkehr der Ebert-Regierung übernahm Vizekanzler Schiffer die Führung. Lüttwitz, Kapp, Ehrhardt, Jagow, Falkenhausen wurden des Hochverrats angeklagt, und soweit man ihrer habhaft werden konnte, nach Leipzig gebracht. Die Baltikumtruppen Ehrhardts und Löwenfelds zogen aus Berlin ab, wurden entwaffnet und aufgelöst. Beim Abzug kam es noch zu Blutvergießen. So wurden am 20. März in Adlershof bei Berlin Offiziere der Zeitfreiwilligen getötet und aufs schwerste verstümmelt: ihnen wurden Ohren und Nasen abgeschnitten und die Augen ausgestochen.

Kapp-Putsch: Kapitän Ehrhardt.
[Bd. 2 S. 80b]      Kapp-Putsch:
Kapitän Ehrhardt.
      Photo Sennecke.
Kapp-Putsch: Berlin, Potsdamer Platz.
[Bd. 2 S. 80b]      Kapp-Putsch:
Berlin, Potsdamer Platz.
      Atlantic-Photo.

Mitteldeutscher
  Kommunistenaufstand  

Der Zusammenbruch des Kapp-Abenteuers entfesselte einen neuen kommunistischen Aufstand. Die Kommunisten ergriffen die günstige Gelegenheit, einen neuen Bürgerkrieg zu entfachen und sich mit Waffengewalt das zu holen, was die Nationalversammlung versagt hatte: das Sowjetgesetz. Der Aufstand war zwar nur auf Mitteldeutschland und das Ruhrgebiet beschränkt, nicht so umfangreich wie im Vorjahre, aber an innerer Wucht und Kraft um so stärker. Unter der Parole, die Republik gegen die militärische Reaktion schützen zu müssen, erhob sich diesmal nicht nur das städtische Proletariat, sondern auch die Landarbeiterschaft. Während es in Magdeburg, Genthin und Aschersleben ruhig blieb, wurden von Staßfurt nach dem Mansfeldischen und nach Halle hinüber bis nach Thüringen, Osterfeld hin, blutige Greuel verübt. Auf dem Marktplatz in Halle wurden Drahtverhaue errichtet, die Straßen der Vorstädte durch Barrikaden versperrt. Die Druckereien der bürgerlichen Zeitungen wurden stillgelegt, und vierzehn Tage lang erfuhr die Stadt nichts von den Vorgängen in Deutschland, denn die Telegraphenleitungen waren zerstört und der Eisenbahnverkehr ruhte. Am 17. März war Halle ohne Licht, Wasser und Gas, doch das mutige Eingreifen der Technischen [264] Nothilfe ließ bald wieder die Versorgung der Einwohner mit diesen notwendigsten Bedürfnissen des Lebens zu. Einem schwachen Detachement Reichswehr, den Zeitfreiwilligenverbänden und der Einwohnerwehr gelang es, im Stadtzentrum die Ordnung aufrechtzuerhalten, während die Vorstädte von den roten Truppen besetzt waren.

Kapp-Putsch: Appell der Wache der Technischen Nothilfe.
[Bd. 2 S. 96b]      Kapp-Putsch:
Appell der Wache der Technischen Nothilfe.

Photo Scherl.
Generalstreik März 1920: Technische Nothilfe, Schüler und Studenten im Gaswerk.
[Bd. 2 S. 96b]      Generalstreik März 1920:
Technische Nothilfe, Schüler und Studenten
im Gaswerk.
      Atlantic-Photo.

Zu Tausenden strömten die bewaffneten Berg- und Landarbeiter zusammen, um Halle zu erobern und zum Mittelpunkt einer mitteldeutschen Räterepublik zu machen. Sie trugen alte, zerrissene Uniformen und verfügten über gute Waffen, Gewehre, Maschinengewehre, ja auch Minenwerfer und Handgranaten. Sie vergewaltigten schwangere Frauen und meuchelten hinterrücks Bauern und Gutsbesitzer. In einem Dorfe der Elsteraue wurde ein unschuldiger Pfarrer verhaftet und von einigen verrohten Burschen in den nahen Wald geführt. Als er niederkniete, um sein letztes "Vaterunser" zu beten, wurde ihm meuchlings mit dem Gewehrkolben das Gehirn zertrümmert! Scheunen und Ställe wurden geplündert, die Besitzer mit Geldpressungen drangsaliert. Während die Aufrührer in der Stadt die Entwaffnung der Einwohnerwehr forderten (am 19. März), strömten unter dem Schutze der Nacht immer neue Massen heran, Halle gänzlich umzingelnd. Da die roten Truppen nicht über die genügende Anzahl technisch gebildeter Führer verfügten, zwangen sie die Gutsbesitzer der Dörfer, welche Offiziere gewesen waren, unter der Aufsicht der Soldatenräte die Führung zu übernehmen.

Am Nachmittag des 19. März begannen die Straßenkämpfe, und die Revolutionäre rückten gegen das Stadtinnere vor. Mit unerhörter Grausamkeit mißhandelten sie die Gefangenen und töteten sie teilweise. Erst als in den Augenblicken höchster Not militärische Unterstützung heranrückte, gelang es, die roten Truppen zurückzudrängen. Es wurde mit grenzenloser Erbitterung gekämpft, unter Einsatz von Minenwerfern und Geschützen. Die Brennpunkte der Gefechte waren der Bahnhof, die Mansfelder Straße, Trotha, der Rosengarten und Ammendorf, wo sich das rote Hauptquartier befand. Hartnäckigen Widerstand leisteten die kommunistischen Abteilungen, die sich in Trotha, auf dem Galgenberg, in den Anlagen und in den Gebäuden [265] des Stadtgutes Gimritz festgesetzt hatten. Diese Kämpfe kosteten Hunderte von Toten und Verwundeten. Das Vordringen der Truppen wurde sehr erschwert, da sie aus Kellerfenstern und von den Dächern durch Scharfschützen mit Gewehren und Maschinengewehren beschossen wurden. Doch ein großer Kampfwert wohnte den Verbänden der Aufständischen nicht inne, da sie meist aus jungen, ungeschulten und unzuverlässigen Leuten bestanden. Die roten Truppen nahmen schließlich, im ahnungsvollen Vorgefühl ihrer Niederlage, den angebotenen Waffenstillstand an und zogen sich in ihre Heimatdörfer zurück. Schwierig gestaltete sich die Entwaffnung, da im ganzen Aufstandsgebiet, besonders in den Kohlenrevieren Mansfeld, des Geiseltales, von Zeitz und Bitterfeld, jedes Haus einzeln durchsucht werden mußte, wobei dennoch eine erhebliche Anzahl Waffen verborgen blieb. Am 26. März war der Generalstreik beendet und der Aufstand niedergeschlagen.

  Kommunistenaufstand  
im Ruhrgebiet

Schlimmer noch gestaltete sich die Lage des Ruhrgebietes, da dieses infolge der Bestimmungen des Friedensvertrages von Reichswehr nicht betreten werden durfte. Hier konnte der Aufstand in aller Ruhe ungestört und planmäßig vorbereitet werden, die schwachen Polizeikräfte wurden ohne Schwierigkeiten entwaffnet. Das industriereiche Ruhrgebiet wurde recht eigentlich die Hoffnung der Kommunisten. Das Militär rückte bis an die Grenze der Fünfzig-Kilometer-Zone vor und forderte die roten Truppen auf,

Rote Armee im Ruhrgebiet.
[Bd. 1 S. 224b]    Rote Armee im Ruhrgebiet:
Kommunistischer Posten vor Hauptpost
in Dortmund, 20. April 1920.
    Photo Scherl.
die Feindseligkeiten einzustellen und die Waffen abzuliefern. Aber die Kommunisten sammelten sich in breiter Linie von Wesel bis Hamm und zogen der Reichswehr entgegen. Schützengräben wurden ausgeworfen, Kanonen und Minenwerfer wurden in Stellung gebracht. Die roten Truppen waren hier wesentlich kriegstüchtiger als in Mitteldeutschland. Viele Tausende junger Arbeiter in strammer Haltung und kriegsmäßiger Disziplin hatten sich zusammengefunden, und ihre Bataillone verteilten sich auf die Front. Ein Däne, der das Schlachtfeld bereiste, nannte das Ruhrgebiet ein "umgewandeltes Stückchen Rußland". Wofür diese Truppen in den Kampf zogen, wußten die meisten nicht, sie alle aber waren beseelt von einem geradezu [266] fanatischen Haß gegen die "Noske-Garde", die Reichswehr. Das Bürgertum seufzte unter den Gewalttaten und dem rücksichtslosen Terror. Überall kam es zu Plünderungen, Erpressungen, Ermordungen, Zerstörungen von Fabriken und Häusern.

Kämpfe der Rote Armee vor Wesel, April 1920.
[Bd. 1 S. 256b]      Kämpfe der Rote Armee
vor Wesel, April 1920.
      Photo Scherl.
Soldaten der Roten Armee vor Wesel, April 1920.
[Bd. 1 S. 256b]      Soldaten der Roten Armee
gehen an die Front vor Wesel, April 1920.

Photo Scherl.

1920: Rote Armee im Ruhrgebiet: Rote Verkehrspatrouille in Dortmund.
[Bd. 2 S. 112b]      1920: Rote Armee
im Ruhrgebiet: Rote Verkehrspatrouille
in Dortmund.
      Photo Sennecke.
1920: Rote Armee im Ruhrgebiet: Auf Lastautos an die Front.
[Bd. 2 S. 112b]      1920: Rote Armee
im Ruhrgebiet: Auf Lastautos an die Front.

Photo Scherl.

1920: Rote Armee im Ruhrgebiet auf dem Marsche.
[Bd. 2 S. 128a]      1920: Rote Armee
im Ruhrgebiet auf dem Marsche.

Photo Sennecke.
1920: Gewehrappell bei der Roten Armee im Industriegebiet des Westens.
[Bd. 2 S. 128a]      1920: Gewehrappell
bei der Roten Armee im Industriegebiet
des Westens.
      Photo Scherl.

Der preußische Innenminister Severing führte mit den Aufständischen in Münster und Bielefeld Verhandlungen über Einstellung der Kämpfe und Ablieferung der Waffen. Ende März wurde in Bielefeld ein Abkommen geschlossen, wonach die Waffen bis zum 3. April abzuliefern seien. Dadurch wurde die Reichswehr in ihren Maßnahmen gehemmt. Die Roten hatten es verstanden, die Termine für die Waffenablieferung hinauszuschieben (ursprünglich hatte die Regierung den 31. März dafür in Aussicht genommen), um Zeit für militärische Operationen zu gewinnen, die in den ersten Apriltagen erfolgen mußten und auf die man die

  Kämpfe in Westfalen  

letzten Hoffnungen setzte. Am 31. März verlief die rote Front noch in folgender Richtung: von Wesel ab der Lippelinie über Dorsten, Haltern, Lünen und Hamm folgend, jedoch so, daß die roten Hauptkräfte im Westen lagen, während die Front nach Osten hin schwächer wurde, genau, wie es dem Aufmarsch der Reichswehr entsprach. Es war nämlich eine eigentümliche Erscheinung, daß die Rote Armee glänzend über die Standorte der Reichswehr unterrichtet war. Da General Watter alle zwei Stunden von Severing aus Berlin angerufen wurde, ob und in welcher Richtung die Truppen marschierten, kam man bald auf den Gedanken, daß der Minister in seiner Umgebung Leute hatte, die mit den Aufständischen sympathisierten. Vielleicht mag auch eine gewisse Unvorsichtigkeit das Abhören der Gespräche ermöglicht haben.

Trotz der vereinbarten Waffenruhe griffen also die Roten an. Sie wollten die gewonnenen drei Tage auf alle Fälle dazu benutzen, um einen militärischen Vorteil, vielleicht auch einen unbestrittenen Sieg zu erlangen. Am 31. März wagten sie einen Angriff an der Straße Dinslaken – Friedrichsfeld, wurden aber unter schweren Verlusten zurückgeworfen. Ebenso mißglückte ein neuer Versuch zwei Tage später. Die Reichswehr drang bis Walsum, Holten, Schmachtendorf und Königshard vor. Dinslaken hatte durch planmäßige Plünderungen schwer [267|] gelitten und wurde am Mittag des 2. April von roter Artillerie beschossen. Den erbitterten Widerstand der Aufständischen am "Waldschlößchen" bei Walsum mußte die Reichswehr durch Artilleriefeuer brechen. Hier verloren die Roten etwa 200 Tote. Die Reichswehr konnte große Munitionsvorräte erfassen, allein 1200 Artilleriegeschosse in Dinslaken. Zudem erbeutete sie ein schweres Geschütz, mehrere schwere Minenwerfer und zahlreiche Maschinengewehre. Am 1. April hatten die Roten auch Dorsten mit 60 Granaten beschossen, die auf dem Marktplatz und in der Nähe der Eisenbahnbrücke einschlugen. Auch bei Hamm wurde die Reichswehr beschossen, während am gleichen Tage Schloß Kappenberg nördlich Lünen von den Kommunisten beschossen wurde und eine Bande von etwa 150 Mann in die Bauernschaft Übbenhagen nördlich des Schlosses eindrang und sie plünderte. Durch Flieger stellte die Reichswehr rote Truppenbewegungen in Richtung Hamborn – Sterkrade, Polsum – Marl, Haltern, Bork, Lünen und Hamm fest.

Bei Dorsten und Hamm stieß die Reichswehr auf die dringenden Bitten des Bürgermeisters und Landrates vor. Die Roten flüchteten in Richtung auf Recklinghausen zurück, sprengten bei Brassert einige Straßen, versuchten, doch vergeblich, auch Gleise zu zerstören, plünderten die Bauerngehöfte, schlachteten das Vieh und zwangen die Bauern, Fuhrwerke zu stellen. In Recklinghausen wurde am 1. April das Postamt gestürmt und durch Handgranaten verwüstet. In der Nacht verließen die Roten die Stadt, unternahmen aber am folgenden Tage aus der Richtung von Herne einen neuen Angriff. Sie drangen in das Postamt ein und zogen sich, nachdem sie acht Geiseln verhaftet hatten, wieder zurück. Vorher zwangen sie noch einen Stadtrat, bei drei Banken 50 000 Mark abzuheben. Kleidungsstücke und Benzin wurden verteilt, die kommunistischen Krankenschwestern erhielten für 600 Mark Schuhe. In der Nacht vom 1. zum 2. April versuchten die Roten, die Lippebrücke vor Haltern zu sprengen. Hier kam es zu heftigen Kämpfen, in deren Verlauf die Aufrührer außer 80 Toten viele Waffen und Munition einbüßten.

[268] Das Reichswehrkommando wurde mit zahlreichen Bitten von Städten und Verbänden, hauptsächlich auch aus Duisburg bestürmt, und so entschloß sich General Watter zum Vormarsch. Nach heftigem Kampfe zog die Reichswehr am 2. April abends neun Uhr in Recklinghausen ein. Die beiden Hauptführer der Bewegung, der Unabhängige Hülsenbusch und Markuse, eine erprobte Kraft aus der Münchener Spartakuszeit, hatten den Tod gefunden. Dieser letzte hatte noch gedroht: er habe die Kämpfe in Rußland und in München mitgemacht und werde dafür sorgen, daß in Recklinghausen kein Stein auf dem andern bleibe.

General von Epp, Kommandeur einer bayrischen Schützenbrigade, gab am 1. April den Befehl, aus der Gegend von Hamm gegen den roten Stützpunkt Pelkum vorzustoßen. Hier hatten sich etwa 500 Aufrührer unter Führung eines Matrosen, mit vielen Maschinengewehren ausgerüstet, in einem System von Schützenlinien eingenistet und beunruhigten Hamm. Lebensmittel und Wertsachen wurden geraubt und jeder Widerstand mit Waffengewalt gebrochen. Eine zwangsweise Aushebung zur Roten Armee war vorgenommen worden, mit vorgehaltenem Revolver drang man in die Häuser ein. Dauernd wurde heftiges Maschinengewehrfeuer in Richtung Hamm gegeben, die Brückenköpfe beim Bahnhof wurden gesprengt. Den Bauern nahm man Vieh und Wagen und "requirierte" in großzügigster Weise. Mit Artillerie ging jetzt die Reichswehr zum Angriff gegen dieses Nest vor. Erbitterte Straßenkämpfe tobten, wobei die Soldaten vielfach aus dem Hinterhalt beschossen wurden. Nachmittags gegen 5 Uhr war der Kampf mit der Einnahme des Friedhofes von Pelkum entschieden. In regelloser Flucht stürmten die Roten in der Richtung Lerche – Kamen davon. Die Reichswehr hatte drei Tote und neun Verwundete, der Gegner etwa 200 Tote und ebensoviel Verwundete. Unter ihnen befanden sich viele bekannte schwere Verbrecher, einige von ihnen hatten größere Geldsummen bei sich. Bis zum 18. April ließ die Brigade Epp noch vier standrechtliche Urteile nach Recht und Gesetz vollstrecken.

1920: Verhaftung des Spartakistenführers Fuldzennek im Ruhrgebiet.
[Bd. 2 S. 128b]      1920: Verhaftung des Spartakistenführers Fuldzennek im Ruhrgebiet.
Photo Sennecke.
Ruhrgebiet 1920: Gefangene Spartakisten werden abgeführt.
[Bd. 2 S. 128b]      Ruhrgebiet 1920:
Gefangene Spartakisten werden abgeführt.

Photo Sennecke.

1. Juni 1920: Dortmunder Stadthaus nach Vertreibung der Roten Armee.
[Bd. 2 S. 144a]      1. Juni 1920: Dortmunder
Stadthaus nach Vertreibung der Roten Armee.

Photo Scherl.
1920: Bottrops Befreiung von der Roten Armee durch Reichswehr.
[Bd. 2 S. 144a]      1920: Bottrops Befreiung
von der Roten Armee durch Reichswehr.

Photo Sennecke.

In den vernichtenden Niederlagen bei Recklinghausen und [269] Hamm war der Aufstand der Roten zusammengebrochen. Ihre Streitkräfte befanden sich auf der Flucht und in heilloser Verwirrung. Sie konnten nicht mehr an die Aufnahme der Feindseligkeiten denken. Die Bevölkerung atmete auf, sie pries den General von Watter als den Befreier aus blutiger Not, von Gewalttat, Raub und Plünderung. Heißer Dank gebühre den Truppen, welche das Volk vom Terror befreit hätten. Die kommunistische Presse jedoch schrieb, ganz gegen die Wahrheit, über die Kämpfe bei Hamm und Pelkum: "Erst gegen die Arbeiterschaft, die ihre Waffen gemäß dem Abkommen von Bielefeld bereits abgelegt hatte, schwoll der Soldateska die Heldenbrust. Die, die wehrlos geworden, wurden angegriffen und in Hamm allein mehrere Hundert standrechtlich erschossen, darunter die Vollzugsräte, die dem Bielefelder Abkommen zugestimmt und seine Durchführung übernommen hatten."

Die Entwaffnung und Zerstreuung der Aufständischen gestaltete sich in dem stark bevölkerten Industriegebiet ebenfalls sehr schwierig und ging langsam vonstatten. Erst gegen Ende April konnte man von einem Zustande des Friedens an der Ruhr sprechen.

Auch auf Bayern hatte der Kapp-Putsch gewirkt, aber nicht durch Entfachung eines kommunistischen Aufstandes. Die Regierung Hoffmann wurde gestürzt und durch ein Ministerium der Rechten ersetzt. Hier konsolidierten sich die Verhältnisse am ehesten von ganz Deutschland, da Bayern nicht derartig übervölkerte Industriezentren aufzuweisen hat wie Preußen.

  Innerpolitischer Parteihader  

Nachdem sich der Sturm der ersten Frühjahrswochen gelegt hatte, hub in Deutschland das bekannte Parteigezänk an. Die Kommunisten waren verbittert, weil sie die Schlacht verloren hatten, und klagten die nationalen Kreise des Blutvergießens an, weil sie diese mit Kapp und seinen Anhängern identifizierten. Die Linksradikalen gossen überdies eine Flut von Schmähungen über die Sozialdemokratie aus, welche die monarchisch-militaristische Reaktion begünstige, und insbesondere über Noske, den "Arbeitermörder", der durch sein Verhalten erst diese Zustände ermöglicht hätte. Mit entschiedenem Nachdruck [270] müsse man jetzt erst recht restlose Sozialisierung und allmächtige Betriebräte fordern. Am liebsten wäre den Kommunisten die Ausrottung der ganzen nationalgesinnten Bevölkerung gewesen. Der nichtsahnende Noske war erschrocken und dankte ab. Die Rechtsparteien erhoben Vorwürfe gegen die Regierung, die durch ihr verfassungswidriges Verhalten erst das Volk herausgefordert hätte. Die Regierung löste jetzt endlich die Nationalversammlung auf und schrieb die Wahlen zum ersten Reichstag aus. Es hatte viele Werte an Menschenleben und Gütern gekostet, um dieses Ziel zu erreichen.

Vor allem aber setzte nun eine "Säuberung" unter Beamten und Soldaten ein. Jeder Beamte, Offizier und Soldat, der nicht demokratisch oder sozialdemokratisch zuverlässig war, wurde, wenn es irgend ging, entlassen. Die Anhänger der Rechtsparteien waren geächtet. Wo sie an verantwortungsvollen Posten standen, besonders als Landräte, und irgendwie während der Kapp-Ära Zweifel an ihrer Staatsgesinnung hatten aufkommen lassen, mußten sie Anhängern der Linkspartei weichen. Die Sozialdemokratie, die noch nicht über die notwendige akademisch geschulte Verwaltungsintelligenz verfügte, stellte Parteifunktionäre in die vakant gewordenen Stellen, die zu ihrer Amtsführung noch besondere juristische Beiräte brauchten. Wiewohl die Rechtsparteien in keinem Zusammenhang mit dem Unternehmen Kapps standen, wurden sie von den Maßnahmen der Regierung am schwersten betroffen.

Die Reichsregierung, zu der das Vertrauen durch die Märzvorgänge stark erschüttert worden war, wurde am 27. März umgebildet. Der bisherige sozialdemokratische Außenminister Hermann Müller übernahm das Reichskanzleramt und das Auswärtige, erst am 14. April wurde der Sozialdemokrat Dr. Köster Außenminister. Der bayrische Demokrat Dr. Geßler folgte dem sozialdemokratischen Noske als Reichswehrminister. Dr. Wirth, der dem linken Zentrumsflügel angehörte, übernahm als Nachfolger Erzbergers das Reichsfinanzministerium. Das Prinzip der Koalitionsregierung Demokratie – Zentrum – Sozialdemokratie war unberührt geblieben, es war lediglich ein Personalwechsel eingetreten. In [271] Preußen bildete der Sozialdemokrat Braun eine Regierung, in welcher Severing das Innere übernahm. Er war entschlossen, die monarchische Gefahr von der Republik abzuwenden, und begann mit der Ersetzung aller rechtsgesinnten Beamten durch Sozialdemokraten und Republikaner. Dadurch wurden die inneren Gegensätze nicht verringert, sondern verschärft.

Von den Taten der Nationalversammlung bliebe nur noch zu erwähnen, daß der Übergang der Staatsbahnen auf das Reich, der sich am 1. April vollzog, am 30. April gesetzlich genehmigt wurde. So wurde die Eisenbahn zur "Reichsbahn", damit war eine weitere wesentliche Forderung der Reichsverfassung (Artikel 89–94) erfüllt worden. – Über das am 19. April angenommene Grundschulgesetz ist bereits oben gesprochen worden.

Die wettinisch-ernestinischen Splitterstaaten schlossen sich am 30. April zu einem neuen Lande "Thüringen" zusammen. Nur Koburg entschied sich für den Anschluß an Bayern. Es entstand ein neuer Bundesstaat, der einen Umfang von 11 757 Quadratkilometern und etwa 1½ Millionen Einwohner zählte. Sein Wappen führt sieben silberne Sterne im roten Felde. Die Hauptstadt des neuen Landes wurde Weimar.

  Die Reichstagswahl  

Am 6. Juni 1920 fanden die Wahlen zum ersten Reichstag statt. Sie waren gewissermaßen die Bilanz der verflossenen achtzehn Monate und brachten unter dem Druck von außen und der Spannung von innen eine Stärkung des rechten und linken Flügels auf Kosten der demokratischen Mitte. Die beiden Rechtsparteien erhielten unerwarteterweise trotz des Kapp-Putsches zusammen fast acht Millionen Stimmen, fast das Doppelte der am 6. Februar 1919 erreichten Stimmenzahl, und im Reichstag zogen 66 Deutschnationale und 65 Vertreter der Deutschen Volkspartei ein. Die Unabhängigen wuchsen von 22 auf 81, während die Sozialdemokraten von 163 auf 108, die Demokraten von 75 auf 49 Sitze zurückgingen und das Zentrum sich ungefähr behauptete. Das prozentual stärkste Wachstum wies der linke Flügel auf, da er sich durch die unzufriedenen Elemente der Sozialdemokratie um etwa das Dreifache vergrößert hatte. Zahlenmäßig den Linken überlegen waren die Rechtsparteien, die mit Einschluß der Bayrischen [272] Volkspartei etwa 160 Sitze innehatten. Die bisherigen Regierungsparteien verfügten über knapp die Hälfte der Mandate. Es hatte sich in Deutschland eine erste sichtbare Wendung vollzogen von der Arbeiterrepublik zur Bürgerrepublik, und die historische Bedeutung der Wahlen vom 6. Juni beruht darin, daß trotz der weiter fortschreitenden Radikalisierung der Linken für die überwältigende Mehrheit des deutschen Volkes die Ära der Revolution als seelisch und geistig abgeschlossen gelten sollte.

Bildung einer
  neuen Regierung  

Schwierig war jedoch die Frage der Regierungsbildung. Die deutsche Republik hatte bis jetzt vier Regierungen gehabt, von denen die erste der Übergangszeit, der Rat der Volksbeauftragten (11. November 1918 bis 13. Februar 1919) nur aus Sozialdemokraten bestand, während die drei anderen Koalitionsregierungen aus Demokraten, Zentrum und Mehrheitssozialisten gebildet waren: Regierung Scheidemann: 13. Februar bis 21. Juni 1919; Regierung Bauer: 21. Juni bis 27. März 1920; Regierung Hermann Müller: 27. März bis 24. Juni 1920. Vorübergehend, vom 21. Juni bis 3. Oktober 1919, bildeten nach Ausscheiden der Demokraten nur Zentrum und Mehrheitssozialisten die Regierung. Das Übergewicht der Sozialdemokratie, deren eigentliches Werk die staatliche Umwälzung war, wurde dadurch gekennzeichnet, daß diese Partei in allen Regierungen den Ministerpräsidenten und Reichskanzler stellte. Jetzt änderte sich das Bild. Es war nach dem Ausfall der Wahlen unmöglich, bei der neuen Regierung, die notgedrungen ebenfalls ein Koalitionskabinett darstellen mußte, die Rechtsparteien unberücksichtigt zu lassen. Die Deutsche Volkspartei wenigstens, wenn auch noch gefühlsmäßig monarchisch eingestellt, mußte zur Teilnahme herangezogen werden. Bei dem wichtigen Problem der Reparationsleistungen, das zu lösen war, konnte sie nicht übergangen werden, da sie die Vertreterin des Industriekapitals war, und dieses brauchte man, wollte man das Versailler Diktat erfüllen. Die Sozialdemokratie befand sich im Zweifel, was sie tun sollte. Sie hätte am liebsten als Bollwerk gegen eine Erschütterung von rechts und als Gegengewicht der Deutschen Volkspartei ebenfalls maßgebenden Einfluß in der neuen [273] Regierung beansprucht. Aber die Lehren der Wahl konnte sie nicht unberücksichtigt lassen. Drei Millionen Stimmen hatte sie verloren, weil sie "die Revolution verraten" und sich mit dem Bürgertum eingelassen hatte, sollte sie ihren Anhängern noch mehr Grund zu dem Vorwurf der "Verbürgerlichung" geben? Die Sozialdemokraten entschuldigten sich also mit dem Erfurter Programm und lehnten zu ihrem Bedauern die Mitarbeit in einer Regierung ab, an welcher die Deutsche Volkspartei teilhätte.

Die Sozialdemokratie hatte eine Niederlage erlitten, die Regierungskoalition verschob sich nach rechts. Nach langen und schwierigen Verhandlungen kam am 24. Juni 1920 Deutschlands fünfte Reichsregierung zustande. Kein Sozialdemokrat, sondern das Zentrumsmitglied Fehrenbach wurde Reichskanzler, das Zentrum stellte außerdem drei, die Deutsche Volkspartei drei, die Demokraten zwei Minister. Als "Fachminister" übernahmen Simons das Auswärtige und Groener den Verkehr. Die neue Regierung stand nicht auf der breiten Basis ihrer Vorgängerinnen, die sich auf drei Fünftel der Wählerschaft stützten. Die Regierung Fehrenbach hatte bestenfalls zwei Fünftel der Wähler hinter sich. Aber ihre Versuche in der Folgezeit, die kleine Koalition durch Hinzuziehung der Sozialdemokratie zu erweitern, schlugen fehl. Fast ein Jahr jedoch war es möglich, das Reich ohne Sozialdemokraten zu regieren. Erst die schweren Differenzen mit den Alliierten 1921 stürzten die Regierung Fehrenbach und verhalfen nach Ausscheiden der Deutschen Volkspartei der Koalition der Mitte wieder ans Ruder.



Geschichte unserer Zeit
Dr. Karl Siegmar Baron von Galéra