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[Bd. 1 S. 213]
7. Kapitel: Verwicklungen im Osten, Baltikum und Polen.

Zwei Ereignisse in Osteuropa hatten einen hervorragenden Einfluß auf die Entwicklung in Deutschland: die bolschewistische Revolution Rußlands im November 1917 und die Befreiung Polens durch die deutsche Revolution im November 1918.

Die Bolschewisten beendeten so schnell wie möglich den Krieg gegen Deutschland, den das imperialistische Zarenreich angezettelt hatte. Ja, als die Deutschen in Brest-Litowsk den Frieden diktierten, wurde dieser von Lenin und seinen Mitherrschern angenommen, weil sie die feste Hoffnung hegten, der Ausbruch der deutschen Revolution stehe im Frühjahr 1918 nahe bevor, und damit würde auch der Frieden von Brest-Litowsk fallen. Entweder komme bald die Weltrevolution und rette Sowjetrußland, oder es werde bald im ungleichen Kampfe untergehen. "Diese Auffassung der Bolschewiki entsprach der damaligen Lage", schreibt Radek.

Sowjetrußland
  und die "Randstaaten"  

Die Randgebiete Rußlands, Finnland, das Baltikum, Polen und die Ukraine traten nicht offen zum Bolschewismus über, weil sie von deutschen Heeren besetzt waren, die jede revolutionäre Bewegung unterdrückten. Einige zaristische Generale begaben sich mit ihren Armeen nach Nordrußland und dem Süden und nahmen von hier aus den Kampf gegen den Bolschewismus auf; es waren dies Denikin, Judenitsch und Koltschak. Im Sommer 1918 landeten die Engländer in Archangelsk und die Japaner in Wladiwostok, um mit den weißrussischen Generalen Fühlung zu gewinnen und die Bolschewisten zu bekämpfen. Auch die deutsche Regierung versuchte damals, aber vergeblich, über das gemeinsame Ziel der Bekämpfung Sowjetrußlands zur Verständigung mit seinen Feinden zu gelangen.

  Deutscher Vormarsch  
im Baltikum

Sowjetrußland befand sich zwar formell mit allen europäischen Staaten im Frieden, dennoch war es entschlossen, [214] über sämtliche Gebiete, die zum ehemaligen Zarenreiche gehörten, den Bolschewismus zu verbreiten. Da es aber bei diesem Vorhaben auf den Widerstand der deutschen Besatzungsarmee stieß, waren kriegerische Zusammenstöße unvermeidlich. Das deutsche Heer seinerseits rückte auch nach dem Frieden von Brest-Litowsk sowohl im Baltikum wie in der Ukraine weiter vor, weil die Bevölkerung dieser Gebiete, gequält von der Angst vor den bolschewistischen Untaten, die deutsche Hilfe anrief. Deutsche Truppen besetzen die Ukraine, die für die Ernährung der Mittelmächte große Bedeutung hatte. Odessa wurde am 13. März, Nikolajew am 17., Cherson am 20. März und Jekaterinoslaw am 3. April eingenommen. Die Besetzung der Krim schloß sich an, am 1. Mai fiel Sebastopol. Zum Schutze der Republik Georgien gegen die Bolschewisten wurde dorthin vom 7. Juni 1918 bis zum 5. Februar 1919 eine Expedition unternommen. –

  Die Ostseeprovinzen  

Die baltischen Provinzen, oder wie die Russen sie nannten, die "deutschen Ostseeprovinzen" Estland, Ingermanland, Livland und Kurland waren jener etwa 700 Kilometer lange und 300 Kilometer breite, eine Fläche von etwa 100 000 Kilometer umfassende Küstenstreifen an der Ostsee, der von Memel bis vor die Tore von Petersburg reichte. Seit dem 13. Jahrhundert siedelten sich in diesem Gebiet Deutsche an. Die Hanse beherrschte mit ihrem Handel die Häfen und Städte, Riga, Reval, Libau, Mitau, in denen sich deutsche Kaufleute niederließen und deutsche Kultur bis in die Tage des Weltkrieges blühte. Der Deutschritterorden zog deutschen Adel ins Land, und berühmte Geschlechter mit altem Namen besaßen noch während des Weltkrieges dort Güter von der Größe deutscher Fürstentümer. Als der Deutsche Orden verfiel, wurden die baltischen Gebiete von Polen, dann von Schweden in Besitz genommen, bis sie Peter der Große 1710 bis 1712 dem russischen Reiche zufügte. Während des Weltkrieges richtete die deutsche Regierung ihr Augenmerk auf die Eroberung der baltischen Provinzen, die sich ganz besonders nach dem Ausbruch der bolschewistischen Revolution verwirklichen zu lassen schien. Nach Deutschlands Zusammenbruch im November 1918 war hiervon keine Rede mehr, [215] aber in sehr vielen Deutschen, die zum Teil als Soldaten auf baltischen Boden standen und die durch den deutschen Charakter des Landes und die ungeahnten Siedlungsmöglichkeiten angeregt wurden, reifte der Entschluß, sich in jenen Gebieten niederzulassen und so die kolonisatorischen Traditionen der Hanse und der Deutschritter fortzuführen.

Livland und Estland waren im Februar 1918 besetzt worden, kurz vor dem Friedensschluß von Brest-Litowsk am 3. März. Finnland hatte sich am 19. Juli 1917 als unabhängige Republik von Rußland getrennt, wurde aber von den Bolschewisten nicht anerkannt. Da sich die finnischen Sozialdemokraten mit den Sowjets verbündeten, entbrannte ein Bürgerkrieg. Die weißen Garden wurden von General Mannerheim geführt; die roten Garden aber eroberten Helsingfors. Mannerheim bat Schweden um Hilfe; doch dies lehnte ab. Dagegen waren die Deutschen zur Unterstützung gegen die Bolschewisten bereit. Admiral Meurer besetzte am 3. März 1918 mit einem Geschwader die Aalandsinseln. Am 14. April fiel Helsingfors in seine Gewalt, am nächsten Tage Lowisa. Zu Lande rückte General Graf von der Goltz mit einem Hilfskorps heran und besiegte die Rote Armee in der fünftägigen Schlacht zwischen Lathi und Tavastehus (29. April bis 3. Mai). Der deutsche General wurde von den Finnländern als der Befreier ihres Vaterlandes gefeiert.

Als am 9. November 1918 die deutsche Front im Westen zusammenbrach, verspürten auch die Truppen im Baltikum den starken Wunsch, so bald wie möglich in die Heimat zurückzukehren. Durch das Andrängen der Bolschewisten wurde jedoch die Bildung einer Nachhutarmee nötig. In der zurückflutenden deutschen Armee fanden Werbungen von Freiwilligen für das Baltikumheer statt. Da diese zunächst ergebnislos verliefen, verhandelten die Führer der baltischen Truppen mit den Bolschewisten, und diese erklärten sich bereit, die Deutschen ungehindert abziehen zu lassen. Die Rote Armee kehrte sich aber nicht an diese Vereinbarungen.

Die Westmächte erkannten die schwere Gefahr, welche im Vordringen des Bolschewismus lag, und es kam ihnen deshalb sehr gelegen, daß die deutschen Truppen den Vormarsch und [216] das Erstarken der Roten Armee verhinderten. Die Alliierten behielten sich freie Hand im Waffenstillstand vor, von sich aus den Zeitpunkt der Räumung ehemals russischer Gebiete durch die deutschen Truppen zu bestimmen. Der zweite Absatz des zwölften Artikels lautete: "Alle deutschen Truppen, welche sich augenblicklich auf den vor dem Kriege zu Rußland gehörigen Gebieten befinden, müssen ebenfalls hinter die wie oben angegebenen deutschen Grenzen (vom August 1914) zurückgehen, sobald die Alliierten, unter Berücksichtigung der inneren Lage dieser Gebiete, den Augenblick für gekommen erachten." Für die Gebiete aber, für welche keine unmittelbare Gefahr durch den Bolschewismus bestand, setzte der dreizehnte Artikel fest: "Die Abbeförderung der deutschen Truppen und die Rückberufung sämtlicher deutscher Instrukteure, Gefangenen, Zivil- und Militäragenten vom russischen Gebiet (nach den Grenzen vom 1. August 1914) ist sofort in Angriff zu nehmen." Diese Bestimmung bezog sich vor allem auf die Ukraine, welche die Alliierten durch weißrussische Regimenter für genügend geschützt hielten.

  Deutsche Soldaten in Lettland  

Ließen es sich also Franzosen, Engländer und Amerikaner gefallen, daß deutsche Soldaten weiterhin ihr Leben im Kampfe gegen Rot-Rußland aufs Spiel setzten, so wünschten sie nicht, daß sich die Deutschen in die Staatsangelegenheiten Lettlands mischten. Dieses Land hatte sich am 19. November 1918 als selbständige Republik konstituiert, und die Minister der vorläufigen Regierung Ulmanis und Walter bestürmten täglich, da die lettländischen Truppen allein viel zu schwach waren, den deutschen Reichskommissar Winnig mit Bitten, das Land durch deutsche Soldaten gegen die Bolschewisten zu schützen, denn Schrecken ging den roten Heeren voran, Tod und Schande folgte ihnen. Schon standen die Sowjetsoldaten vor Riga, da bildete sich, unabhängig von der lettländischen Regierung, aus deutschen Soldaten die Freiwilligentruppe "Baltische Landeswehr" und wurde mit deutschen Waffen ausgerüstet und durch Freiwillige ergänzt und vermehrt, die im Reichsgebiet angeworben wurden. In diesen Tagen höchster Not erklärte die lettländische Regierung ihre Bereitwilligkeit, allen deutschen Soldaten, die noch weiter für [217] den Schutz des Landes kämpfen würden, das Einbürgerungsrecht zu verleihen; am 29. Dezember 1918 kam folgender Vertrag in Riga zustande:

Vertrag
§ 1
      Die provisorische lettländische Regierung erklärt sich bereit, allen fremdstaatlichen Heeresangehörigen, die mindestens vier Wochen im Verbande von Freiwilligenformationen beim Kampfe für die Befreiung des Gebietes des lettländischen Staates von den Bolschewiki tätig gewesen sind, auf ihren Antrag das volle Staatsbürgerrecht des lettischen Staates zu gewähren.

§ 2
      Die deutschbaltischen Angehörigen des lettländischen Staates erhalten das Recht, in die reichsdeutschen Freiwilligenverbände einzutreten. Anderseits bestehen für die Dauer des Feldzuges keine Bedenken gegen Verwendung reichsdeutscher Offiziere und Unteroffiziere im Verbande der deutschbaltischen Kompanien der Landeswehr als Instrukteure.

§ 3
      Das im Vertrage vom Dezember den deutschen Balten zugestandene Recht zur Bildung von sieben nationalen Kompanien und zwei Batterien im Verbande der Landeswehr wird seitens der provisorischen Regierung ausdrücklich garantiert, auch wenn § 2 der vorliegenden Abmachungen zur vorübergehenden Auflösung der deutschbaltischen Verbände führen sollte. Bei einer Erhöhung der Zahl der lettischen Kompanien der Landeswehr tritt eine entsprechende Erhöhung der Zahl der deutschen Kompanien ein.

§ 4
      Die in Ausführung von § 1 notwendigen Listen über Zu- und Abgänge von Freiwilligen werden der provisorischen Regierung mindestens einmal wöchentlich übersandt. Es wird auf Grund dieser Listen zwischen den Vertragschließenden [218] festgesetzt werden, welche deutschen Staatsangehörigen sich das Staatsbürgerrecht gemäß § 1 erworben haben.

gez. August Winnig, deutscher Gesandter in Riga
K. Ulmanis, Ministerpräsident, Fr. Paegel, J. Saulits.

In diesem Vertrage war lediglich von der Erwerbung des Staatsbürgerrechtes die Rede, dagegen wurde nichts über die Ansiedlung deutscher Soldaten durch die lettische Regierung gesagt. Die Deutschen bekamen nur das Recht, unter den gleichen Bedingungen wie die Einheimischen Grund und Boden käuflich zu erwerben.

Anfang 1919 fiel Riga in die Hände der Bolschewisten. Die lettländische Regierung floh nach Libau, die deutschen Truppen zogen sich ebenfalls dorthin zurück. Die Regierung Lettlands war jetzt im Ernste bereit, mit Winnig über die Ansiedlung deutscher Soldaten zu verhandeln. Aber infolge alliierter Gegenströmungen kamen die diesbezüglichen Verhandlungen in Mitau zu keinem Abschluß. Es wurde nur eine "Anwerbestelle Baltenland" gegründet, die in verschiedenen deutschen Städten Büros eröffnete und entgegen den ihr erteilten striktesten Anweisungen des öfteren Siedlungsland versprach. Die maßgebenden Stellen wiesen wiederholt darauf hin, daß die lettländische Regierung sich nicht verpflichtet hatte, Land kostenlos zu Siedlungszwecken abzugeben, sondern nur das Recht gewährte, Landbesitz nicht unter schwereren Bedingungen als die Einheimischen durch deutsche Soldaten erwerben zu lassen.

Es gab vier Strömungen in Lettland, welche sich die Bekämpfung des Bolschewismus zur Aufgabe machten: zunächst die lettische, an sich die schwächste, dann eine alliierte, die sich als Schiedsrichter aufspielte, ferner die deutsche, die von den Letten und Alliierten für jeden Erfolg der Bolschewisten verantwortlich gemacht wurde, selbst aber unter schwersten Opfern das meiste leistete, schließlich die russische des Generals Awalow-Bermondt, der mit General Judenitsch in Hader war. Es war kein Wunder, daß infolge der inneren Uneinigkeit dieser vier Strömungen die Bolschewisten dauernd Fortschritte machten. Anfang Februar besetzten diese Windau. Die Lage [219] der deutschen Truppen im Baltikum war an und für sich nicht rosig, auch nicht ihre Stimmung. Beides verschlechterte sich von Tag zu Tag. Die deutsche Regierung machte die Alliierten darauf aufmerksam, daß die Erfolge der Bolschewisten durch den Mangel an antibolschewistischen Seestreitkräften herbeigeführt würden. Da Deutschland selbst keine Kriegsschiffe ausrüsten dürfe, sollten die Alliierten solche nach Libau senden. Doch nichts geschah. Und als tatsächlich im April die lettische Regierung in Libau durch einen bolschewistischen Staatsstreich gestürzt wurde, schoben die Engländer die Schuld daran auf die Deutschen ab. Die deutsche Regierung erklärte daraufhin, sie wolle ihre Truppen aus dem Baltikum zurückziehen.

  Eroberung Rigas  
durch die Deutschen

Am 22. Mai hatten die Deutschen Riga den Bolschewisten durch einen mutigen Handstreich abgenommen. Dies war nicht nur eine kühne, sondern auch eine politisch bedeutende Tat des Baltischen Sturmbataillons und der Abteilung von Medem. Mit verhängten Zügeln, im wilden Galopp jagte die von Schlageter geführte Batterie durch die toten Straßen der Mitauer Vorstadt. Jenseits der großen Dünabrücke tauchten dunkelgraue Infanteriemassen auf, über denen die blutigen Sowjetbanner wehten. Im Nu prasseln die Kartätschen in die dichten Kolonnen, die in verwirrter Flucht durcheinanderstürmen. Die roten Fahnen sinken, ein Wall von Toten staut sich am Ende der Dünabrücke. Die Bolschewisten ziehen sich zurück, ein Strom von Blut kennzeichnet ihren Weg. Besonders unter den gefangenen

Befreiung Rigas von den Bolschewisten.
[Bd. 1 S. 224a]      Befreiung Rigas von den
Bolschewisten, 22. Mai 1919.
      Photo Scherl.

Im Baltikum.
[Bd. 1 S. 224a]      Baltikum: Major Fletcher
und Baron Manteuffel vor dem Angriff
auf Riga.
      Photo Scherl.
deutschbaltischen Pastoren richten sie, bevor sie die Stadt verlassen, ein grausames Blutbad an. Deutsche Soldaten finden die Leiche des Pastors Eckhardt vom Rigaer Dom. Seiner Rocktasche entnimmt man einen Abschiedsbrief an seine Gemeinde: "Sollte ich um meines Zeugnisses willen in Gefangenschaft und Tod kommen, so helfe mir Gott, daß ich auch in solchen Zeiten nicht schwach werde." –

Die tatarischen Blutsäuferhorden Sowjetrußlands standen vor den Toren Europas. Bis dicht an die ostpreußische Grenze war die rote Sturmflut gerollt und war bemüht, mit den deutschen Spartakisten, die um jene Zeit blutige Aufstände entfesselten, [220] sich zu vereinen. Da war die bolschewistische Katastrophe in Riga eine entscheidende, hochbedeutsame Tat. In Riga fielen die Würfel über das Schicksal Europas: die Bolschewisten mußten hinter die Grenzen Lettlands zurück. Ihrem Vordringen nach Europa war durch Deutsche ein Damm entgegengesetzt worden. Deutsche Soldaten waren es, die mit der Waffe in der Hand auf baltischem Gebiete Deutschlands große Aufgabe erfüllten, ein Hort gegen die rote Unkultur zu sein. Graf von der Goltz, Major Bischoff, die Freiherrn von Medem und von Manteuffel, Schlageter, Brandis, Thöne waren die Tapferen, die ihre Pflichterfüllung zum Teil mit ihrem Leben bezahlten. Die Engländer, die mit ihren Schiffen in der Dünamündung lagen, rührten keinen Finger, um die bolschewistischen Greuel in Riga zu beenden. Kein französisches und kein englisches Bataillon war imstande gewesen, mit den Bolschewisten fertig zu werden, das zu vollbringen, was die mit deutschen Freikorps vereinigte Baltische Landeswehr geleistet hatte. Wider den Willen der deutschen Regierung bestimmten daher am 30. Mai die Alliierten: "Die deutschen Streitkräfte sind in den baltischen Provinzen zu belassen."

Nun waren sich aber Engländer und Franzosen darüber klar, daß der deutsche Einfluß im Baltikum im Laufe der Zeit doch erstarken könne, und das lag absolut nicht im Interesse der alliierten Politik. Die Lettländer selbst empfanden die deutsche Hilfe als drückende Fremdherrschaft und strebten nach nationaler Unabhängigkeit in jeder Richtung, sowohl nach der russischen wie nach der deutschen. Vor einem Sieg des Bolschewismus fürchteten sie sich, und einen Sieg des Zarismus wünschten sie nicht. Es ging den Lettländern wie den Angehörigen aller jungen Staaten: sie litten an einem Übermaß von Nationalismus. Es lag ihnen keineswegs daran, den deutschen Einfluß im Lande zu stärken, sie wollten ihn vielmehr schwächen. Die Zustände fingen an, auch für die deutsche Regierung ungemütlich zu werden. Am 10. Juni teilte sie

  Alliierter Rückzugsbefehl  

den Alliierten mit, sie sei ganz und gar nicht verpflichtet, ihre Truppen in Lettland zu belassen, sondern habe das Recht, sie zurückzurufen. Und plötzlich, ohne daß man etwas Derartiges erwartet hatte, erging am 18. Juni von [221] Paris aus die Aufforderung an Deutschland, das Baltikum zu räumen. England hatte nämlich im Frühjahr in Moskau sondiert, und es hatte sich als Grundlage für kommende Verhandlungen ein Kompromiß gezeigt, auf Grund dessen die Alliierten Sowjetrußland anerkennen wollten, dieses aber die Randstaaten anerkennen sollte. Zwar war Sowjetrußland nicht willens, auf dieser Grundlage in Verhandlungen einzutreten. England jedoch hoffte auf die immer größer werdende russische Hungersnot und glaubte, daß die Sowjets durch die Blockade bald mürbe gemacht seien. Außerdem schien jetzt die unmittelbare Gefahr militärischer Bedrohung beseitigt, so daß man nicht mehr auf die Deutschen angewiesen zu sein glaubte.

Am 3. Juli räumten die deutschen Truppen die wieder besetzten Städte Riga und Libau nach Abschluß eines Waffenstillstandes mit den Bolschewisten. Aber die Deutschen dachten nicht daran, Lettland zu verlassen. Sie pochten auf ihr vermeintliches Ansiedlungsrecht. Von Mitte Juli ab verhandelte der Graf von der Goltz mit der englischen Militärmission darüber, daß die lettländische Regierung den deutschen Soldaten das Bürgerrecht versprochen habe und daß infolgedessen die Deutschen im Lande bleiben würden. Die Engländer dagegen verwiesen auf die Artikel 292 und 293 des Versailler Vertrages. Hier wurde bestimmt, daß sämtliche Verträge, die Deutschland oder Deutsche mit Rußland oder Teilgebieten des Zarenreiches seit dem 1. August 1914 bis zum Inkrafttreten des Versailler Friedens abgeschlossen hätten, aufgehoben seien. Also, meinte England, sei auch der Vertrag vom 29. Dezember 1918 hinfällig. Durch diese englisch-deutschen Zwistigkeiten ermutigt, bedrängten die Bolschewisten in ihrer Offensive vom 2. August aufs neue heftig das lettische Staatsgebiet. Da erhob die lettische Regierung unter Führung von Meyerowitz schwere Anklagen gegen die deutschen Truppen und machte sie allein für das Unglück verantwortlich. Eine Deputation, die im Namen von 10 000 deutschen Soldaten sprach, forderte von der Regierung Einlösung ihres Versprechens in bezug auf Einbürgerung und Ansiedlung. Meyerowitz bestritt, daß Lettlands Regierung je ein derartiges Versprechen gegeben habe.

[222] Die Spannung zwischen Lettland und den deutschen Truppen wurde immer stärker, es kam zu Plänkeleien zwischen Deutschen und Letten, und die Entente sah sich veranlaßt, von Deutschland die Abberufung des Grafen von der Goltz zu fordern. Goltz wurde nicht abberufen, sondern ihm wurden lediglich einige Beschränkungen seiner Bewegungsfreiheit auferlegt. Doch begann jetzt der Abmarsch der Deutschen: nach drei Tagen, am 11. August, war Nordkurland geräumt. Auch im südlich benachbarten Litauen setzte der Rückzug der Deutschen ein: am 14. August wurde mit dem Abtransport der Reichswehrbrigade No. 28 südlich des Njemen in Wilkowischki begonnen.

  Weigerung der deutschen Soldaten  

Als die im lettischen Kurland stehenden Soldaten erkannten, daß der Rückzug nach Deutschland unvermeidlich war, wurden sie aufsässig und verweigerten den Gehorsam. Am 24. August faßten sie durch ihre Vertreter folgenden Beschluß: "Wir sämtliche in Kurland stehenden Truppen sind fest entschlossen, unter allen Umständen unsere mit unserem Blute wohlerworbenen, durch Vertrag verbrieften Rechte auf Bürgerrecht und Siedlung in Lettland aufrechtzuerhalten. Im felsenfesten Vertrauen zu unseren Führern bitten wir diese, mit uns auszuharren und nicht zuzulassen, daß wir um unsere Zukunft betrogen werden. Wir bitten einstimmig Herrn Major Bischoff, diese unsere Bitte unserm Oberbefehlshaber Grafen von der Goltz vorzutragen." Im gleichen Sinne wurde an den ostpreußischen Oberpräsidenten Winnig, der als Reichskommissar in Riga verhandelte, telegraphiert, ferner an die Nationalversammlung, an Ebert und Noske. Auch die Führer baten ihre vorgesetzten Dienststellen, die Stimmung der Truppe zu achten und auf Erfüllung ihrer Forderungen zu bestehen.

Major Bischoff führte die "Eiserne Division". Die Soldaten dieses Truppenteiles hatten vor allem ihre wirtschaftlichen Vorteile und Hoffnungen im Auge, auf die sie sich bei ihren Protesten stützten. Die anderen Freikorps im Baltikum verfolgten mehr ideale Ziele, sie sahen im Sieg des Bolschewismus den Tod jeder europäischen Kultur. Sie betrachteten sich als den Vortrupp gegen den Bolschewismus im Baltenlande und litten unter der schweren Sorge, daß nach der Räumung Lettlands Ostpreußen und Deutschland unmittelbar von der roten [223] Gefahr bedroht werde. Immerhin geriet durch die Weigerung der Truppen die Räumung ins Stocken.

Die Mißstimmung der Freiwilligen, die sich lediglich anwerben ließen, weil sie Ansiedlung im Baltikum erhofften und sich nun in dieser Hoffnung betrogen sahen, führte zu Gewalttaten. Am Abend des 25. August durchzogen etwa zweihundert Deutsche und in russischen Diensten stehende deutsche Soldaten plündernd Mitau, stürmten die lettische Kaserne, entwaffneten zwei lettische Kompanien, plünderten das Haus der englischen Militärmission und versuchten auch die lettische Bank auszurauben. Graf von der Goltz begab sich sofort trotz des ihm auferlegten Verbotes nach Mitau und schritt mit aller Strenge gegen die Aufrührer ein.

Die deutsche Regierung war machtlos. Sie war aber unbedingt verpflichtet, den Friedensvertrag zu erfüllen und die Räumung des Baltikums so schnell wie möglich durchzuführen. Am 5. September besprach das Reichskabinett die Lage und kam zu dem Schlusse, daß die Forderungen der baltischen Truppen zum größten Teile unerfüllbar seien. Man erwog, den sich weigernden Truppenteilen Löhnung und Verpflegung zu sperren und die Schuldigen strafrechtlich zu verfolgen. Aber man kam nicht vorwärts. Die Soldaten fanden einen Ausweg: einzelne von ihnen traten in die Armee des russischen Genrals Judenitsch über. Als darauf am 10. September der englische General Burt den Grafen Goltz aufforderte, ihm die Namen der Übergetretenen zur Bestrafung mitzuteilen, wies der deutsche General dies Ansinnen als Ehrenkränkung schroff zurück. Nun beschloß die Konferenz der Verbündeten am 19. September, Deutschland kategorisch aufzufordern, das Baltikum auf schnellstem Wege zu räumen.

Inzwischen hatte die Eiserne Division mit dem russischen General Awalow-Bermondt verhandelt wegen Übertritt in diese Truppe. Ende September unterstellte sich die Eiserne Division dem russischen Oberbefehlshaber und erklärte, sie habe nur ein Ziel: den Bolschewismus niederzuwerfen und die Staatsordnung wiederherzustellen. Darüber gerieten die Franzosen in sichtliche Erregung. Trotzdem die Reichsregierung den sich weigernden Truppen die Löhnung sperrte, ließ ihr General [224] Nudant im Auftrage Fochs eine Note zugehen, worin mit neuer Blockade der Lebensmittel und Rohstoffe, mit der Sperrung der Kredite, dem Vormarsch ins Ruhrgebiet und der Besetzung Frankfurts gedroht wurde, falls nicht baldigst Ordnung im Baltikum geschaffen würde. Als Termin für den Vormarsch nahmen die Franzosen den 20. Oktober, für die neue Blockade den 1. November in Aussicht. Die Sache fing an, für das ganze deutsche Volk eine gefährliche Wendung zu nehmen, zumal die Linksparteien und ihre Presse sich auf den Standpunkt der Alliierten stellten. General von der Goltz wurde abberufen und durch den General von Eberhardt ersetzt.

Die Situation wurde ohne Zweifel kritisch. Die Reichsregierung beschwor am 3. Oktober die aufsässigen Freikorps im Baltikum, zum Gehorsam zurückzukehren. Sie zeigte, welche Gefahren für das gesamte Volk aus dem Verhalten der Soldaten erwachsen konnten, und wälzte alle Verantwortung dafür auf die Truppen, welche die Rückkehr verweigerten. Aber die Soldaten blieben taub, sie wollten in Lettland bleiben und ließen sich in ihrer kriegerischen Tätigkeit nicht stören. Schon am folgenden Tage eroberte die baltische Landeswehr Lievenhof, und Awalow-Bermondt, dem sich inzwischen die Eiserne Division unterstellt hatte, übernahm den Schutz Lettlands. Doch die lettische Regierung und die Esten standen dem russischen Obersten feindselig gegenüber, und außerdem lebte er im Streit mit General Judenitsch. Er war also ganz auf sich angewiesen. Erobernd und mit lettischen Truppen kämpfend durchzog er Lettland und brachte am 9. Oktober Riga in seine Gewalt. Da aber auch die Alliierten Awalow entgegentraten, unterstellte er sich mit deren Zustimmung dem deutschen General von Eberhardt. Als nun am 19. Oktober schließlich der regelmäßige

  Rückzug der Deutschen  

Abtransport der deutschen Streitkräfte aus Kurland beginnen sollte, verweigerten die Soldaten nach wie vor hartnäckig den Gehorsam. Nun war es mit der Geduld der Regierung zu Ende. Am 31. Oktober teilte sie den Freiwilligenkorps in scharfen Worten mit, wer noch weiterhin sich widersetze, werde strafrechtlich verfolgt werden und habe keine Gnade zu erwarten, außerdem verliere er sämtliche Versorgungsansprüche an das Reich, er werde [225] keine Unterstützungen, keine Invalidenrente empfangen, ohne Rücksicht auf die Familienangehörigen. Eine interalliierte Kommission reiste hin, um an Ort und Stelle die unerquicklichen Vorgänge zu betrachten und ihnen ein Ende zu bereiten. Auch Winnig erließ am 5. November einen Aufruf, durch den er die Truppen auf die schweren Gefahren ihrer Handlungsweise aufmerksam machte. Jetzt endlich fügten sich, wenn auch widerstrebend, die deutschen Soldaten dem Rückzugsbefehl.

Am 12. November war der Abtransport aus Kurland beendet. Die Entente vermittelte am 27. und 28. November zu Janischki zwischen General von Eberhardt und den Letten einen Waffenstillstand. Der lettische Oberbefehlshaber war der General Ballod. Die interalliierte Kommission verpflichtete sich, dafür zu sorgen, daß der deutsche Abmarsch bis einschließlich 13. Dezember nicht von lettischer Seite gestört werde. Die Bedingungen für die Deutschen waren folgende: bis zum 28. November müsse die Eiserne Division restlos Lettland verlassen haben; bis zum 1. Dezember müssen die deutschen Truppen längs der Bahn Murajewo–Schaulen versammelt sein; der Bahnhof Murajewo sei nur zum Abtransport der russischen Truppen Bermondts zu benutzen; das Verladen der deutschen Truppen müsse am 1. Dezember beginnen und der Abtransport etwa bis zum 5. Dezember durchgeführt sein.

Es gab keine Schwierigkeiten mehr. Allerdings belästigten auf litauischem Gebiete irreguläre litauische und lettische Banden die Deutschen. Fortwährende Gefechte und Scharmützel waren die Folge. Am 13. Dezember überschritt die Deutsche Legion die ostpreußische Grenze. Zwei Tage später betrat die Eiserne Division das Reichsgebiet. Am folgenden Tage erreichte die letzte deutsche Truppe, das Detachement Roßbach, den Boden Deutschlands. – Der baltische Traum, der sich an den großen kolonisatorischen Taten des Deutschen Ordens im Mittelalter entzündet hatte, war ausgeträumt. Es fehlte ihm zum Teil die Rechtsgrundlage, vor allem aber die Macht, ihn auszuführen. Deutschland war ein besiegtes Land. Auch im Baltikum hatte es letzten Endes eine entscheidende Niederlage erlitten. Die Alliierten zerstörten in den Gebieten [226] Estlands, Lettlands und Litauens planmäßig die Achtung und den Einfluß des deutschen Namens, weil sie selbst hier herrschen wollten, und die Esten, Letten und Litauer haßten die deutsche Kultur, weil sie ihre Überlegenheit verspürten. Die baltische Tragödie war der letzte Nachklang des Weltkrieges: Unbesiegt auf dem Schlachtfelde, waren die deutschen Truppen ein Opfer deutscher Ohnmacht. Die Bolschewistengefahr war vorüber, die Deutschen brauchten nicht mehr ihr Blut in vorderster Front zu verspritzen, der deutsche Mohr hatte seine Schuldigkeit getan, er konnte gehen, ohne Anspruch auf Dank und Lohn. –

Auch aus dem Süden Rußlands waren noch zahlreiche deutsche Truppen in die Heimat zu bringen. Der Marsch durch ukrainisches und polnisches Gebiet war ein Leidensweg. Unter ständigen Bedrohungen und Beschimpfungen, hungernd und frierend, in abgerissenen Uniformen schlugen sich die Soldaten mühsam durch feindliche und unwirtsame Gegenden. Die Einwohner nahmen den Deutschen die Waffen weg und richteten sie gegen diese selbst. Ja, noch mehr, die Entente verlangte, daß die zurückkehrenden Regimenter unterwegs entwaffnet würden. Es bedeutete dies nicht nur eine militärische Demütigung, sondern vor allem auch eine schutzlose Auslieferung an die Gefahr. Viele Wochen dauerte dieser Zug der Demütigungen, Entbehrungen und Gefahren. Seelisch und körperlich gebrochen, kamen die Truppen im Sommer 1919 in ihr Vaterland zurück. –

  Polens Feindseligkeiten  

Das junge Polen war am 1. Juli von den Ententestaaten und von Dänemark als Staat anerkannt worden. Gleichzeitig verpflichtete es sich den Verbandsmächten gegenüber, die nationalen Minderheiten zu schützen und gemeinsam mit der deutschen Bevölkerung seines Gebietes, die den Frieden wollte, am Ausbau seiner Staatseinrichtungen zu arbeiten. Aber mit einem gewaltigen Ungestüm, das von Frankreich geschürt und gestärkt wurde, ging Polen an die Aufrichtung seines Staatsgebietes und ließ sich, immer von Frankreich beschützt, zu Gewalttaten gegen Deutschland hinreißen, indem es mehr verlangte, als der Versailler Vertrag ihm zubilligte. Und so kam es, daß die Polen gegen die deutsche Bevölkerung Westpreußens, Posens und Oberschlesiens dasselbe System und dieselbe [227] Methode anwandten wie die Franzosen in Elsaß-Lothringen, im Gebiete der Saar und des Rheins.

An der polnischen Front in der Provinz Posen trat niemals richtige Ruhe ein. Dauernd kam es zu Zwischenfällen und Gefechten, da die polnischen Truppen die im Februar festgelegte Demarkationslinie nicht respektierten und außerdem irreguläre bewaffnete Banden die deutschen Soldaten überfielen, sie entwaffneten und gefangennahmen, wenn sie in der Überzahl kamen. Da Ende Juni in Versailles die Würfel über das Schicksal Westpreußens und Posens gefallen waren, begann bereits im Juli die planmäßige militärische Räumung der an Polen abzutretenden Gebiete von seiten Deutschlands.

Das Los Oberschlesiens war noch unbestimmt. Auf Drängen Lloyd Georges war es von einer Volksabstimmung abhängig gemacht, die erst nach Monaten stattfinden konnte. Die Polen griffen hier zu Gewalttaten, um sich das gequälte Volk für die kommende Abstimmung gefügig zu machen. Ihr Ziel war es, in Oberschlesien die Stützen des Deutschtums auszurotten und die öffentliche Meinung zu beherrschen. Am 15. August brach in Kattowitz und Beuthen ein polnischer Aufstand aus, dessen Wucht durch einen gleichzeitig entfachten spartakistischen Bergarbeiterstreik verstärkt wurde. Doch die polnisch-kommunistische Verbrüderung erlitt eine schwere Schlappe. Die deutsche Reichswehr schlug die Aufrührer am 18. August bei Kattowitz, Beuthen und Myslowitz. Bis zum 21. August war der Aufstand im allgemeinen niedergeschlagen, nur im Kreise Pleß verzögerte sich die Bezwingung infolge besonderer Hartnäckigkeit um einige Tage. Eine interalliierte Militärkommission, bestehend aus vier Generalen, begab sich ins Aufstandsgebiet und stellte fest, daß das Verhalten der Deutschen keinerlei Veranlassung zum Eingreifen gebe, daß aber die Polen allerorten Streit suchten. Die deutsche Regierung protestierte am 7. September in Paris gegen die polnischen Übergriffe in Oberschlesien, besonders gegen die wüste Deutschenhetze in Wort und Schrift, in Versammlungen und Presse und die polnischen Bandenüberfälle auf deutsche Truppen. Ein Zustand der Beunruhigung und Unsicherheit war eingetreten, der schwer auf den deutschen Oberschlesiern lastete.

Deutsch-polnisches
  Wirtschaftsabkommen  

[228] Im Laufe des Oktobers wurden zwischen Deutschland und Polen verschiedene Verträge abgeschlossen. Das erste Abkommen vom 1. Oktober betraf die Entlassung von Festgehaltenen und Kriegsgefangenen, ferner Amnestie für militärische, politische und nationale Vergehen und die unbehelligte Rückkehr der Amnestierten. Zehn Tage später begann Polen mit dem Austausch der Gefangenen. Am 22. Oktober kam ein deutsch-polnisches Wirtschaftsabkommen zustande. Polen sollte monatlich 75 000 Tonnen Kohle sowie 20 Prozent einer etwaigen Mehrproduktion, außerdem noch eine Gesamtmenge von 50 000 Tonnen erhalten. Dafür sollte es 3 Millionen Zentner Kartoffeln liefern, deren größter Teil noch 1919 fällig sein sollte. Außerdem wurde zu Deutschlands Gunsten freier Durchgangsverkehr durch den Korridor nach Ostpreußen und freie Schiffahrt auf der Weichsel und den Hauptkanälen vereinbart. Zwei Tage später wurde in Berlin ein deutsch-polnisches Abkommen über die militärische Räumung der abzutretenden Gebiete geschlossen. Der polnische Vormarsch solle am siebenten Tage nach der Friedensratifikation beginnen, Thorn werde am Mittag des zweiten Tages von den Deutschen gänzlich geräumt sein, Kulm sollte am sechsten, Graudenz am siebenten Tage von den Polen besetzt werden. Bis zum neunzehnten Tage sollte sich ganz Westpreußen bis zum Meere im Besitze der Polen befinden. – Doch schon am 25. Oktober 1919 zog neben dem deutschen Militär eine polnische Besatzung in Thorn ein. Die Stadt wurde zum Sitz der Wojewodschaft "Pommerellen" erklärt.

Es lag im Interesse Deutschlands, seine Beamten in den an Polen fallenden Gebieten zu schützen. Die Polen ihrerseits waren auf die Mitarbeit der deutschen Beamten angewiesen, wenn nicht die ganze Staatsmaschine plötzlich stillstehen und aus der Ordnung kommen sollte. So wurde am 9. November 1919 in Berlin zwischen Deutschland und Polen ein Vertrag geschlossen, worin die Rechte der deutschen Beamten in den fraglichen Gebieten auf mindestens zwei Monate nach Inkrafttreten des Versailles Vertrages sichergestellt und von der polnischen Regierung geschützt wurden. –

  Verlust Westpreußens  
und Posens

Nachdem der Versailler Vertrag am 10. Januar 1920 [229] ratifiziert und in Kraft getreten war, ergriffen die Polen nach dem im Oktober festgesetzten Plane von den ihnen zugesprochenen posen-westpreußischen Gebieten Besitz. Mit tiefer Trauer sahen die zurückbleibenden Deutschen schon seit Monaten den Rückzug der deutschen Truppen sich vollziehen. Jetzt bekamen die neuen Herren das Regiment in die Hand, und im Überschwange ihres nationalen Stolzes ließen sie sich zu zahlreichen gewalttätigen Bedrückungen der Deutschen hinreißen. Die deutschen Namen verschwanden augenblicklich und polnische traten an ihre Stelle. Als Amts- und Verkehrssprache war nur das Polnische zugelassen. Besonders in den Dörfern entfalteten chauvinistisch-polnische Ortsbehörden ein System rücksichtsloser Unterdrückung der Deutschen. Die Güter der deutschen Besitzer wurden mit polnischen Dragonaden belegt, und den Deutschen wurden viele Kränkungen und Beleidigungen zugefügt. Sie wurden wie ehrlose Verbrecher von militärischen Posten beaufsichtigt, ihr Eigentum wurde geplündert und gestohlen, ihre Lebensmittel weggenommen. Sie mußten in kalten Stallgebäuden schlafen, während die polnischen Soldaten die Betten mit Beschlag belegten. Die deutschen Schulen wurden geschlossen. Jeder neue Tag brachte neue Sorgen, neue Schikanen. Der Deutsche war vogelfrei, ein untergeordnetes Geschöpf, und die Polen waren die gelehrigen Schüler der Franzosen in ihren Methoden, Deutsche zu quälen und zu demütigen. –

Wie hatten sich die Zeiten geändert! Es war wenig mehr denn ein Jahr verflossen, als der eherne Wall deutscher Regimenter alle Schmach und Grausamkeit entfesselter feindlicher Leidenschaft von deutschem Boden, deutschen Frauen und deutscher Heimat fernhielt. Der Wall war zusammengebrochen, und rings an den Grenzen des Reiches, an Rhein und Weichsel erhoben sich aus Millionen gequälter deutscher Herzen die Klage- und Weheschreie, während viele andere in stummer Ergriffenheit das unvermeidliche Schicksal trugen. Der Deutsche, gefürchtet im Besitze seiner Waffen, war, jetzt wehrlos, ein Gegenstand des Spottes und der Beschimpfung, und das Reich besaß keine Gewalt, die Freveltaten übermütiger Sieger zu verhindern. –



Geschichte unserer Zeit
Dr. Karl Siegmar Baron von Galéra