[Bd. 1 S. 185] 6. Kapitel: Widerstände im Westen, Kriegsgefangene, "Kriegsverbrecher" und Rheinland. Zwar war am 12. Juli die Blockade gegen Deutschland aufgehoben worden, und die Lebensmittelzufuhr konnte ungehindert ins Reich stattfinden. Ein Wermutstropfen im Becher dieser Freude war allerdings, daß die Zwangswirtschaft auf vielen Gebieten noch aufrecht erhalten wurde, und daß das Geld nur noch ein Viertel seiner früheren Kaufkraft besaß. Politischen Wert besaß diese Maßnahme für die leitenden Stellen Deutschlands insofern, als die drohende Hungersnot, die für Volk und Regierung eine Katastrophe bedeutet hätte, abgewendet war und lediglich ein Zustand steigender Teuerung an ihre Stelle trat. Deren aber glaubte man durch Erhöhung der Löhne und Gehälter – "Anpassung an den Lebenshaltungsindex" nannte man es – und durch Verbilligungszuschüsse aus Reichsmitteln Herr zu werden. Zwar gab es viele, deren Geldbeutel es nicht mehr gestattete, ihre Lebensweise wie vor dem Kriege einzurichten, und sie waren unzufrieden. Aber eine psychologisch verständliche Beruhigung der Massen lag darin, daß durch das Erscheinen fremder Waren auf dem deutschen Markte sinnfällig demonstriert wurde, daß man nun alles wieder haben könne, "wie im Frieden". Nicht sosehr um der wirtschaftlichen Vorteile willen, als vielmehr ganz besonders wegen ihrer eigenen politischen Festigung und Beruhigung des Volkes, sehnte sich die deutsche Regierung nach Aufhebung der Blockade und begrüßte deshalb das Ereignis des 12. Juli mit Genugtuung.
Auch die Nationalversammlung konnte sich dem allgemeinen Volksverlangen nach der Heimkehr der Gefangenen nicht verschließen. Es war nicht nur eine Pflicht der Menschlichkeit, daß die Kriegsgegner die zurückgehaltenen Deutschen freigaben, nun, nachdem der Kriegszustand durch die Unterzeichnung in Versailles beendet war, sondern für Deutschland bedeutete dies geradezu eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Da der Friede mit seinen drakonischen Wirtschaftsbestimmungen angenommen war, konnte das Reich keine menschliche Arbeitskraft entbehren, mußte alle Kräfte aufs äußerste anspannen, um erfüllen zu können, wozu es sich verpflichtet hatte. Mit Nachdruck forderte deshalb die deutsche Nationalversammlung am 20. August in einer Entschließung die Freigabe der deutschen Kriegsgefangenen durch die Ententeregierungen. Der Oberste Rat der Verbandsmächte konnte sich dem deutschen Drängen nicht verschließen und veröffentlichte am 29. August folgende Note: "Um so rasch wie möglich die durch den Krieg verursachten Leiden zu mindern, haben die verbündeten und assoziierten Mächte beschlossen, den Zeitpunkt des Inkrafttretens des Friedensvertrages mit Deutschland, soweit er den Rücktransport der deutschen Kriegsgefangenen betrifft, vorzudatieren. Die Vorbereitungen zum Rücktransport werden sofort beginnen, und zwar durch eine interalliierte Kommission, der ein deutscher Vertreter angegliedert werden soll, sobald der Vertrag in Kraft getreten ist. Die verbündeten und assoziierten Mächte weisen aber ausdrücklich darauf hin, daß diese wohlwollende Haltung, von der die deutschen Soldaten so große Vorteile haben, nur dann von Dauer sein wird, wenn die deutsche Regierung und das deutsche Volk alle ihnen obliegenden Verpflichtungen erfüllen." Nur Frankreich zeigte sich unnachgiebig: es bestand auf seinem Schein, dem Artikel 214 des Versailler Vertrages, wonach es erst nach Inkrafttreten des Friedens zur Heimsendung der kriegsgefangenen Deutschen verpflichtet war.
Um sich von dem Los der Unglücklichen einen Begriff zu machen, soll der Ausschnitt aus einer deutschen Note vom 7. Januar 1920 an die Schweizerische Gesandtschaft in Berlin wiedergegeben werden. Hierin heißt es:
"Nach hier vorliegenden Nachrichten aus zuverlässiger Quelle herrschen in dem französischen Kriegsgefangenenlager Château Landon, achtzig Kilometer südöstlich von Paris, folgende Mißstände: die Kriegsgefangenen sind ohne Rücksicht auf ihren Dienstgrad in Holzbaracken zu hundert Mann untergebracht. Die Baracken sind kalt und undicht und bieten keinen Schutz gegen die Witterung, insbesondere dringt Regen ein. Heizvorrichtungen sind nicht vorhanden, ebensowenig Waschgefäße und Handtücher. Das Lagerstroh ist in neun Monaten einmal erneuert worden. Die Latrinen sind gesundheitsschädlich; nachts werden stinkende, undichte Holzkisten in jede Baracke gesetzt. Es herrscht Mangel an Kleidungsstücken und Wäsche. Alle vier Wochen wird ein ungenügendes, viel zu kleines Stück Seife ausgegeben. Infolgedessen werden die Kriegsgefangenen stark von Ungeziefer geplagt, zumal da keine Entlausung stattfindet und die Badegelegenheit unzureichend ist. Arzneimittel fehlen. Die Ernährung ist ungenügend: dreihundert Gramm meist verschimmeltes Brot täglich, dazu dreimal eine dünne, mit ganz wenig Speckwürfeln versehene Suppe aus madigen Bohnen. Durch einen vom Deutschenhaß beseelten Posten sind ein Kriegsgefangener [188] erschossen und zwei erheblich verletzt worden, als sie zur Latrine gehen wollten." Besonders schmachvoll war es, daß aus englischen und französischen Lagern gefangene Deutsche in die Kohlengruben Nordfrankreichs verschleppt wurden und dort nicht nur Arbeiten leisten mußten, die über ihre Kräfte gingen, sondern die geradezu lebensgefährlich waren. Ebenso unwürdig behandelte Polen die kriegsgefangenen Deutschen. Bei ihrer Gefangennahme wurden sie gänzlich ausgeplündert: Hemden, Strümpfe, Handtücher, Hosen, Stiefel, Kämme, Seife nahm man ihnen. In engen, eiskalten unterirdischen Kellern wurden sie eingesperrt. Keine Decken, kein Eßgeschirr, keine Waschschüssel wurde ihnen gegeben. Die Nahrung war vollkommen ungenügend und bestand zum Teil aus verdorbenem Fleisch. Die geringsten Vergehen wurden mit entehrender Prügelstrafe geahndet. Die deutsche Regierung suchte zwar durch Vermittlung des Schweizer Roten Kreuzes eine bessere Behandlung der Kriegsgefangenen zu erreichen; aber diese Schritte linderten die Leiden der Unglücklichen nur in geringem Maße! Die von frenetischem Siegestaumel berauschte französische Volksseele befand sich in einem Zustande schrankenloser Entfesselung. Das französische Volk hatte in den gefangenen Deutschen nie etwas anderes gesehen als untergeordnete Geschöpfe, als Tiere, und jetzt mehr denn je. Widerstrebend und ungenügend schützten die französischen Wachsoldaten die wehrlosen Deutschen vor den Beleidigungen und Beschimpfungen, vor den Steinwürfen und Bedrohungen des französischen Pöbels, ja es kam vor, daß sich die Wachsoldaten selbst daran beteiligten. Sollte das deutsche Volk diese Behandlung seiner Söhne, die mit Ehren gestritten hatten, ruhig hinnehmen?
Unbarmherzig und grausam lehnte Clemenceau am 15. November mit höhnischen Worten das deutsche Ersuchen ab:
"Angesichts der planmäßigen Verwüstung aller von den Deutschen besetzten Gebiete Nordfrankreichs darf die französische Regierung einer Abweichung vom Vertrage zugunsten der deutschen Gefangenen in Frankreich nicht zustimmen. [190] Die Gefangenen werden augenblicklich gerade dazu verwendet, mit der Wiedergutmachung dieser abscheulichen Taten zu beginnen. Die wüste Behandlung der Bewohner der besetzten Gebiete und die schrecklichen Kränkungen, die den in deutsche Hand gefallenen unglücklichen französischen Familien zugefügt wurden, können nicht so bald der Vergessenheit überantwortet werden. Die tiefsten Gefühle des menschlichen Herzens sind so grausam verletzt worden, als daß eine Vergünstigung wie die von Ihnen erbetene von der französischen öffentlichen Meinung zugestanden werden könnte... Wenn unsere Verbündeten schon im Monat September mit der Heimschaffung der Gefangenen begonnen haben, so ist dies geschehen, weil die französische Regierung geglaubt hat, dem nicht widersprechen zu sollen. Keiner unserer Verbündeten ist in seinen Gefühlen und Interessen so tief verletzt worden, wie die Bewohner von Nordfrankreich. Wie würden diese Bewohner, die in tragischer Not zwischen den Trümmern ihrer Heimstätten umherirren, es aufnehmen, wenn die zu den ersten dringenden Arbeiten herangezogenen, übrigens materiell wie moralisch durchaus gut behandelten deutschen Gefangenen vor dem im Versailler Vertrage festgesetzten Zeitpunkt, nämlich vor der endgültigen Ratifikation, d. h. dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Vertrages, Frankreich verließen?... Wir schulden Deutschland nichts als die genauen Erfüllungen des Vertrages, den es am Ende des erbarmungslosen Krieges angenommen hat, – eines Krieges, den Deutschland den zivilisierten Völkern aufgezwungen hat." Und in der Tat gab Frankreich die deutschen Kriegsgefangenen erst frei, nachdem am 10. Januar 1920 das Protokoll über die Hinterlegung der Ratifikationsurkunden unterzeichnet worden war. Am Abend dieses Tages wurde der Befehl zur Heimbeförderung der kriegsgefangenen Deutschen unterzeichnet, und bis zum März kehrten diese, mit Ausnahme der Strafgefangenen in Avignon, nach Deutschland zurück.
"Bei Verbrechen oder Vergehen, die ein Deutscher im In- oder Auslande während des Krieges bis zum 28. Juni 1919 gegen feindliche Staatsangehörige oder feindliches Vermögen begangen hat, ist das Reichsgericht für die Untersuchung und Entscheidung in erster und letzter Instanz ausschließlich zuständig. Der Oberreichsanwalt ist verpflichtet, nach deutschem Rechte strafbare Handlungen auch dann zu verfolgen, wenn die Tat im Ausland begangen und durch die Gesetze des Ortes, wo sie begangen ist, mit Strafe bedroht ist." Nichtsdestoweniger bestanden die Gegner auf Erfüllung des Artikels 228, wonach Deutschland zur Auslieferung der "Kriegsverbrecher" an die Gerichte der Entente verpflichtet war. Am 25. Januar 1920 erklärte die deutsche Regierung, sie sei außerstande, diese Forderung zu erfüllen. Sie wolle vor dem Reichsgericht in Leipzig das Strafverfahren einleiten "gegen alle Deutschen, deren Auslieferung die Mächte zu verlangen beabsichtigen". Ja, Deutschland kam den Verbündeten noch weiter entgegen und schlug die Mitwirkung von Amtspersonen der betreffenden Ententestaaten vor. Am 3. Februar übergab der französische Ministerpräsident Millerand dem Führer der Deutschen Friedenskommission in Paris, Baron von Lersner, die Auslieferungsliste. Dieser verweigerte die Annahme, und nun wurde das Dokument an die französische Botschaft in Berlin geschickt mit der Weisung, es an die [192] deutsche Regierung weiterzuleiten. Am 7. Februar wurde der deutschen Regierung dies Schriftstück überreicht. Dies war rechtlich und den Tatsachen nach sehr mangelhaft zusammengestellt und enthielt 895 Namen, worunter sich mehrere deutsche Fürsten, der frühere Reichskanzler Bethmann Hollweg, fast alle großen Heerführer, Hindenburg, Ludendorff, Tirpitz, ferner U-Bootsführer, Offiziere, Beamte, Unteroffiziere und Mannschaften befanden. Als die Liste bekannt wurde, brauste ein Sturm der Empörung durch Deutschland. Die deutsche Regierung erklärte, schon der Versuch der Festnahme von Nationalhelden würde ihren Sturz herbeiführen. Die eindringlichen Vorstellungen Deutschlands bewogen schließlich eine in London für diesen Zweck tagende Konferenz zum Nachgeben. Die Alliierten erklärten sich am 13. Februar mit der Einleitung der Strafverfahren beim Reichsgericht einverstanden, lehnten aber die Mitwirkung von Ententevertretern ab und behielten sich das Recht vor, gegebenenfalls auf das Recht des Friedensvertrages zurückzugreifen und Auslieferung zur Aburteilung vor Ententegerichten zu fordern, wenn man mit der deutschen Rechtsprechung nicht zufrieden sei. In Ergänzung des Gesetzes vom 18. Dezember nahm die Nationalversammlung am 5. März 1920 ein weiteres Gesetz auf Drängen des Feindbundes an, worin bestimmt wurde, daß auf Verlangen der Entente auch in Fällen bereits erfolgter rechtskräftiger Entscheidung ein neues Verfahren vor dem Reichsgericht eingeleitet werden könne.
Die Angelegenheit ruhte, bis am 15. Januar an die holländische Regierung das förmliche Ersuchen um Auslieferung erging, da man den Kaiser aburteilen wolle. Ein Verzeichnis seiner "Verbrechen" wurde beigefügt. Die Niederlande dagegen lehnten das Gesuch ab und erklärten, sie seien nicht an den Versailler Vertrag gebunden, da sie nicht an seiner Abfassung mitgewirkt hätten. Außerdem wurde darauf hingewiesen, daß eine Auslieferung weder den Staatsgesetzen noch der jahrhundertealten Überlieferung der Niederlande entsprechen würde. Einen Monat später, am 14. Februar, wiederholten die Alliierten ihre Forderung, hinter der "sechsundzwanzig gemeinsame Beauftragte des größten Teils der gesitteten Welt" ständen; mit ihrer Weigerung würden sich die Niederlande "außerhalb der Gemeinschaft der Welt" stellen. Ob denn die Bewachung sicher und zuverlässig sei? Es müßte mit aller Entschiedenheit verlangt werden, daß der Kaiser weiter "vom Schauplatze seiner Verbrechen" entfernt würde. Die Königliche Regierung der Niederlande wies daraufhin den Kaiser nach Amerongen in der Provinz Utrecht und den Kronprinzen auf die Insel Wieringen. Den Alliierten aber antwortete sie standhaft am 5. März, daß die Auslieferung dem "Recht und der Gerechtigkeit widerspräche" und durch die nationale Ehre verboten würde. Darauf erwiderten die [194] Alliierten, daß die niederländische Regierung ganz allein die Verantwortung für ihre Handlungen tragen müßte. Der Standhaftigkeit der niederländischen Regierung war es zu danken, daß der Welt das schmachvolle Schauspiel der Auslieferung und Verurteilung des letzten deutschen Kaisers erspart blieb. Ein Aufatmen der Erleichterung ging durch Deutschland. Hatte der Kaiser auch beim größten Teile des Volkes alle Sympathien eingebüßt, so wurde doch in der Auslieferungsfrage durch sein Schicksal das deutsche Ehrgefühl berührt.
Es war vorauszusehen, daß die Alliierten diesen Artikel nicht ungestraft hingehen lassen würden. Am Tage der Überreichung der Friedensbedingungen an Deutsch-Österreich in Saint-Germain, dem 2. September, forderten sie Deutschland auf, den Artikel 61 der Reichsverfassung abzuändern. Es nutzte nichts, daß die deutsche Regierung auf das doch von den Gegnern selbst so eifrig befürwortete nationale Selbstbestimmungsrecht hinwies, es nutzte nichts, daß die Deutsch- [195] Österreichische Nationalversammlung bei Annahme des Friedens am 6. September gegen die Verletzung des Selbstbestimmungsrechts der deutschen Nation protestierte. Am 22. September mußte die Deutsche Friedenskommission in Versailles ein Protokoll unterzeichnen, worin Artikel 61 Absatz 2 der Deutschen Reichsverfassung für ungültig erklärt wurde. Die Gegner Deutschlands nutzten ihre Macht dazu aus, auch in die inneren Angelegenheiten Deutschlands, in das Recht seiner nationalen Selbstbestimmung, das man jedem kleinen und kleinsten Volkssplitter zuerkannte, hindernd einzugreifen. Deutschland mußte fühlen, daß es unfrei war. Ihm wurde die letzte Möglichkeit genommen, aus dem allgemeinen Zusammenbruch noch ein großes Ziel seiner Zukunft zu retten: die Vereinigung mit Deutsch-Österreich. Für England und Frankreich war es selbstverständlich, daß die Tat von Scapa Flow gesühnt werden mußte. So begeistert sie von dem national empfindenden Teile des deutschen Volkes begrüßt worden war, so willkommen war sie den Alliierten, die Erfüllung neuer Forderungen von Deutschland zu erpressen. Am 1. November forderte die Entente die Auslieferung deutscher Schwimmdocks in Höhe von 400 000 Tonnen als Strafe für die Versenkung der deutschen Schiffe in Scapa Flow. So sollte der Wiederaufbau der deutschen Handelsflotte, die ja bereits zum allergrößten Teile abgeliefert worden war, verhindert werden. Vergebens wehrte sich die deutsche Regierung, vergebens wies sie auf die Unmöglichkeit der Durchführung hin. Clemenceau erpreßte die "Zustimmung", die am 14. Dezember erfolgte, indem er von der Erfüllung die Freilassung der deutschen Kriegsgefangenen abhängig machte! Aber er ließ mit sich reden und "ermäßigte" die Forderung in der Weise, daß sofort 180 000 Tonnen auszuliefern waren, der Rest aber auf dreißig Monate verteilt werden sollte. –
Besonders hart wurde Deutschland, wenn auch in seiner Gesamtheit nicht unmittelbar, so doch aber sieben Millionen seiner Bewohner, durch die Besetzung des Rheinlandes betroffen. Diese Besetzung sollte eine "Sicherheitsmaßnahme" dafür sein, daß Deutschland die Friedensbedingungen erfüllte, es hieß im Artikel 428 des Versailler Vertrages: "Als Sicherheit für die [196] Ausführung des vorliegenden Friedens durch Deutschland werden die deutschen Gebiete westlich des Rheins einschließlich der Brückenköpfe durch die Truppen der alliierten und assoziierten Mächte während eines Zeitraumes von fünfzehn Jahren, der mit dem Inkrafttreten des gegenwärtigen Friedens beginnt, besetzt." Und bei getreulicher Erfüllung der Deutschland auferlegten Bedingungen sollte die Räumung in folgender Weise geschehen: Die Kölner Zone nach fünf Jahren, die Koblenzer Zone nach zehn Jahren, die Mainzer Zone und Kehl nach fünfzehn Jahren. Jedoch sind die Alliierten zur Verlängerung der Besetzung berechtigt, wenn ihrer Ansicht nach die Gefahr für einen unprovozierten Angriff Deutschlands nicht beseitigt ist. Auch kann die Besetzung erneuert werden, wenn Deutschland gar nicht oder nur teilweise seinen Wiedergutmachungsverpflichtungen nachgekommen ist. Wenn dagegen Deutschland vor dem Ablauf von fünfzehn Jahren alle Verpflichtungen erfüllt habe, sollten die Besatzungstruppen sofort zurückgezogen werden (Artikel 431). Die Heere der Alliierten waren bereits, wie wir sahen, Ende 1918 in diese Gebiete eingerückt. Die Engländer besetzten die Kölner Zone bis Bonn, die Amerikaner die Koblenzer Zone, und die Franzosen stürzten sich auf den Mainzer Brückenkopf und das Saargebiet. Nachdem sich die anfängliche und durchaus erklärliche feindselige Spannung gelegt hatte, bahnten sich zwischen den Rheinländern einerseits und den Amerikanern und Engländern anderseits ein erträgliches Verhältnis an, indem sich beide Teile bemühten, dem anderen möglichst wenig Grund zu Reibereien zu geben. War doch Wilson von vornherein ein Gegner der Besetzung gewesen, und Lloyd George hatte nur gezwungenermaßen seine Einwilligung gegeben.
Mit der Rachsucht der Erinnyen ergriff die unbarmherzige französische Militärjustiz besonders solche Rheinländer, die durch ihre nationale Gesinnung auffielen. Da die Eisenbahner gegen die Ausrufung der rheinischen Republik durch Dorten Anfang Juni 1919 durch einen Proteststreik demonstriert hatten, verurteilte das französische Kriegsgericht von Mainz am 6. Juni 22 Eisenbahnarbeiter zu einer Gefängnis- [198] strafe von insgesamt 33 Jahren 7 Monaten, worunter sich Einzelstrafen von einem halben Monat bis zu fünf Jahren befanden. Bei der Behandlung in französischen Gefängnissen bedeutete dies aber nichts anderes als ein langsames Zutodequälen. Es war ein stilles Heldentum, ohne Prunk und Schall, das diejenigen Unglücklichen trugen, die um ihrer Vaterlandsliebe willen die Wut der Franzosen auf sich lenkten. Für die deutschen Frauen begann unter der Herrschaft der "ritterlichen Nation" eine Schreckenszeit. Die Neigung zum Sexualverbrechen ist für den Franzosen typisch, und um die Stimmung der Sieger auf diesem Gebiete zu charakterisieren, sei es erlaubt, die Übersetzung eines Gedichtes wiederzugeben, das in der Kriegszeitung des 75. französischen Infanterieregiments vom 31. März 1915 abgedruckt war:
Deutsche, wir werden eure Töchter besitzen! Entfesselte Negerinstinkte primitivster Art, im vierjährigen Kampfe vom deutschen Volke ferngehalten, stürzten sich auf das Rheinland als eine willkommene Beute. Nicht nur, daß allerorts Bordelle für die Besatzungstruppen von den deutschen Behörden errichtet werden mußten, daß befohlen wurde, deutsche Frauen sollten den Franzosen dienen, überfielen die Soldaten auf der Straße, in den Anlagen und Parks der Städte deutsche Mädchen und vergewaltigten sie. Die Braut wurde von der Seite ihres Verlobten gerissen und ins Gebüsch verschleppt, während man den Mann mit Kolbenstößen und Fußtritten bis zur Ohnmacht mißhandelte. Viele Hunderte von Unzuchtsverbrechen haben sich auf diese Weise ereignet, Tausende von Deutschen wurden in dauerndes Unglück gestürzt.
Diese Horden verübten tagtäglich alle nur irgend möglichen Schandtaten, die ein Menschenhirn nur ersinnen kann: Körperverletzungen, Mord, Tötung, Notzucht, Päderastie, Raub und Straßenraub. Nitti konnte mit Recht behaupten: "Zum Zwecke der äußersten Beschimpfung der Besiegten sind in dem Besatzungsheer die Vertreter der niedrigsten Rassen. So waren und sind die gebildetsten Städte Europas unter der Negergewalt, die die größten Verbrechen begangen hat; und die deutsche Bevölkerung ist ohne Not, nur aus Lust an Beschimpfung, körperlichen und moralischen Quälereien unterworfen, die seit Jahrhunderten in den zivilisierten Ländern unbekannt sind." Aber es war nach dem ganzen Vorhaben Frankreichs nicht nur eine militärische Besetzung, die sich im Rheinland ausbreitete, es war mehr: eine Invasion, eine Völkerwanderung. Die französischen Offiziere, Unteroffiziere und Soldaten kamen mit Kind und Kegel, mit Mann und Maus, mit einem Troß von Gouvernanten, Groß- und Schwiegermüttern, Tanten und Mätressen, die alle von dem festen und unumstößlichen Willen beseelt waren, auf Deutschlands Kosten ein Herrenleben zu führen. Denn Deutschland hatte fürstliche Löhnungen zu zahlen. Ein einfacher Soldat, seines Zeichens Pferdeknecht oder Straßenkehrer, bekam einen Jahressold von rund 15 000 Goldmark, das war fast anderthalbmal soviel wie das Gehalt des höchsten deutschen Reichsbeamten, des Reichskanzlers, und fast doppelt soviel als das Gehalt eines deutschen Kommandierenden Generals! Welch fürstliche Dotationen aber erhielten erst die Generale! Ein französischer Besatzungsgeneral bekam jährlich an die 75 000 Goldmark, ein Engländer durfte den doppelten Betrag in Empfang nehmen! Die Zeiten von 1807 waren wiedergekehrt, da Napoleon mit vollen [201] Händen deutsche Güter an seine Generale verschenkte. Darum hungerte und darbte das deutsche Volk, damit seine Herren und Unterdrücker ihre Tage in Wohlleben und Überfluß verprassen konnten. Es ist selbstverständlich, daß dieser Familienanhang die zahlenmäßige Stärke der Besatzungstruppen noch wesentlich erhöhte. Ungefähr rund 150 000 reguläre Soldaten der Alliierten hatten das Rheinland überflutet und 220 Orte besetzt, während vor dem Kriege das Deutsche Reich in diesem Gebiet 70 000 Mann in 28 Garnisonen untergebracht hatte. Frankreich allein war mit etwa 110 000 Mann, von denen mehr als ein Viertel Schwarze waren, in 134 Orte eingefallen. Berücksichtigt man den Familienanhang, dann kam in dem von den Franzosen besetzten Gebiet auf 15 Deutsche 1 Franzose. Daß zu der Unterbringung derartiger Massen die Kasernen nicht ausreichten, war klar. Als Massenquartiere wurden Schulgebäude bevorzugt, um den deutschen Unterricht unmöglich zu machen. Die Offiziere wurden in herrschaftliche Wohnungen gelegt, welche mit fürstlichem Pomp ausgestattet werden mußten. Während die Deutschen wegen der Wohnungsnot in elende Löcher gepfercht wurden und hungerten, feierten die Sieger Orgien in Palästen.
Französische Schulen wurden eingerichtet, unter dem Vorwande, den Kindern der Franzosen Unterricht zu erteilen, man wünschte, man forderte, daß auch die deutschen Kinder diese Schulen besuchten, um der Segnungen der französischen [202] Kultur teilhaft zu werden. Man predigte unablässig den Rheinländern, wie gut sie es erst hätten, wenn sie sich von Deutschland gelöst und dem französischen Staate angeschlossen hätten. Dies zu erreichen, war ja der letzte Zweck der französischen Besatzung. Deshalb unterstützte das feindliche Oberkommando direkt und indirekt die deutschen Separatisten, Dorten und seine Anhänger. Nicht weniger gewalttätig gebärdete sich die belgische Besatzung, die in allen ein gelehriger Schüler der Franzosen war. Die Belgier hatten den Westen des englischen und amerikanischen Abschnitts okkupiert und waren in einer Stärke von etwa 20 000 Mann erschienen. Auch sie kannten keine Rücksicht, keine Schonung. Sie befleißigten sich, den Deutschen mit Zins und Zinseszins heimzuzahlen, was diese während der Besetzung Belgiens gesündigt haben sollten. Sie vergaßen, daß in Wahrheit der Krieg zu Ende war, und traten Menschenrechte und Menschenwürde mit Füßen. Es würde nur eine Wiederholung der von den Franzosen berichteten Taten sein, wollte man all die Demütigungen und Beschimpfungen Deutscher erzählen, die sich die Belgier zuschulden kommen ließen. Auch sie scheuten nicht davor zurück, kaltblütig brutaler, entehrender Gewalttat feigen Mord an unschuldigen, wehrlosen Rheinländern folgen zu lassen. –
Die deutsche Regierung erkannte das wahre Wesen des Abkommens und sprach in zwei Denkschriften vom 12. Juli ihre schweren Bedenken aus, ob auch das Rheinlandabkommen geeignet sei, dem Deutschen Reiche und Volke die völkerrechtlichen Voraussetzungen der Besetzung zu gewährleisten. Darauf anworteten die Alliierten am 29. Juli, daß die Bestimmungen des Abkommens in versöhnlichem Geiste gehandhabt werden sollten und die Besetzung so wenig drückend als möglich für [204] die Bevölkerung gestaltet werden solle, vorausgesetzt, daß Deutschland gewissenhaft den Friedensvertrag erfülle. Es wurde noch einmal betont, daß die deutsche Gesetzgebung nicht eingeschränkt werde, es sei denn, daß "die Sicherheit und die Bedürfnisse der alliierten Streitkräfte" dies verlangen würden, und die Verordnungen der Irko sollten nur die militärischen Interessen wahrnehmen. Es wurde sogar im vierten Paragraphen wörtlich gesagt: "Unbedenklich kann anerkannt werden, daß mit obigem Vorbehalt (Sicherheit der alliierten Streitkräfte) die Bevölkerung freie Ausübung ihrer persönlichen und staatsbürgerlichen Rechte, religiöse Freiheit, Freiheit der Presse, der Wahlen und Versammlungen genießen wird, und daß die politischen, rechtlichen, administrativen und wirtschaftlichen Beziehungen der besetzten Gebiete mit dem unbesetzten Deutschland nicht gehemmt sein werden, ebensowenig wie die Verkehrsfreiheit zwischen dem besetzten und unbesetzten Deutschland." Über die Stärke der Besatzungsarmeen wurde nur ganz unbestimmt gesagt, daß sich die Alliierten vorbehielten, die Effektivstärke der im besetzten Gebiete zu unterhaltenden Truppen noch mitzuteilen. Der Gerichtsstand der Besatzungssoldaten solle nicht an deutsche Staatsbürger gegeben werden, auch wenn Verbrechen der Soldaten gegen Deutsche vorliegen sollten. In Privatklagesachen sollten die deutschen Gerichte nach wie vor zuständig sein. Es bestehe nicht die Absicht, die politische und verwaltungsrechtliche Einteilung abzuändern. Die Finanzhoheit des Reiches und der Bundesstaaten werde man nicht antasten, bei Unterbringung von Truppen und Dienststellen werde man angesichts der Wohnungsnot "in versöhnlichem Geiste" vorgehen. Die Zensur der Presse, Briefe, Post und Telegraphie werde abgeschafft und die Agenten zur Beaufsichtigung deutscher Behörden würden nach Inkrafttreten des Friedensvertrages beseitigt werden. Die Rückkehrgesuche der Ausgewiesenen wolle man von Fall zu Fall in versöhnlichem Geiste prüfen. Beitreibungen (Requisitionen) würden nur in besonders begründeten Fällen stattfinden auf Grund eines Reglements, das "im Geiste der Billigkeit und Versöhnung" gehalten sei. Der öffentliche Unterricht bleibe Angelegenheit der deutschen Zivilverwaltung, und [205] keinesfalls würde auf Anordnung der Besatzungsmächte fremdsprachiger Unterricht eingeführt werden. –
"Es wird hierdurch bekanntgegeben, daß, solange die britische Militärbehörde die Kontrolle über das von den britischen Truppen besetzte Gebiet ausübt, keine Änderung in der deutschen Verfassung dieses Gebietes erlaubt wird und daß keine neue Autorität ohne vorherige Genehmigung der britischen Militärbehörde anerkannt wird. Jede Person, die gegen diese Bekanntmachung verstößt oder einer solchen Handlung Hilfe leistet, setzt sich der Gefängnisstrafe oder der Ausweisung aus dem besetzten Gebiete oder beiden Strafen aus." Um so rühriger und ungestörter konnten die Sonderbündler im südlichen Rheinland und in der Pfalz arbeiten. Am 29. August rief Haas in Ludwigshafen die freie pfälzische Republik aus, hatte aber ebensowenig Erfolg wie einige Wochen vorher. Auch im Rheinland setzte die Bevölkerung separatistischen Umtrieben geschlossenen Widerstand entgegen, so daß ein Führer der rheinischen Bewegung, der unabhängige Sozialdemokrat Smeets, sich am 24. September mit hochtönenden Worten schriftlich an die Regierungen der Alliierten wandte und sie bat, sie möchten die Loslösung der Rheinlande von Preußen herbeiführen. Trotzdem auch diese Bitte an taube Ohren gelangte, da ja England ein entschiedener Gegner war und jeden offiziellen Schritt Frankreichs zugunsten des Separatismus aufs nachdrücklichste gemißbilligt hätte, verfolgten die Sonderbündler zäh ihr Ziel weiter. Am 13. Oktober wandten sich die Ausschüsse für Errichtung einer rheinischen Republik an den Völkerbund und die Reichsregierung. Aber der Völkerbund unternahm nichts in der Angelegenheit, und die Reichsregierung vertagte die Prüfung [206] des Falles ad calendas graecas, d. h. bis zur Räumung des Rheinlandes durch die Besatzungstruppen, um jede eventuelle Beeinflussung von dieser Seite auszuschalten. Es gelang also der rheinischen Republik nicht, im Jahre 1919 geboren zu werden. Die Rührigkeit der Sonderbündler, die mit den Franzosen im Bunde waren, scheiterte am Widerstande der Rheinländer und der englischen Besatzung. – Am Tage der Friedensratifikation, dem 10. Januar 1920, trat auch das Rheinlandabkommen in Kraft. Die Interalliierte Rheinlandkommission erließ einen Aufruf an die Bevölkerung, der seinem ganzen Inhalt nach einen Hohn darstellte auf die im Rheinland eingerissenen Zustände. Die Rheinlandkommission verbürgte sich gegenüber der rheinischen Bevölkerung dafür, daß das Rheinlandabkommen, "dessen besonders freiheitlicher Inhalt ohne Beispiel in der Geschichte ist", seinem Geist und seinem Wortlaut nach durchgeführt werde. Von den Gewalttätigkeiten der schwarzen und weißen Truppen rühmte der Aufruf: "Diese Truppen trugen über sich selbst den höchsten Sieg davon, indem sie seit mehr als zwölf Monaten der rheinischen Bevölkerung die Wohltaten der Ordnung, ihre Hilfe bei der Ernährung und das Beispiel ihrer Dienstzucht angedeihen ließen!" In ihrer Verantwortung für die öffentliche Ordnung, deren Aufrechterhaltung letzten Endes den Besatzungstruppen obliege, beabsichtige die Rheinlandkommission, der Bevölkerung die Gerechtigkeit, die Ausübung ihrer öffentlichen und privaten Freiheiten und die Entwicklung ihrer berechtigten Wünsche und ihres Wohlergehens zu gewährleisten.
Kein Einwand, keine Widerrede half. Im Banne Clemenceaus, der immer mit dem Argument der zerstörten nordfranzösischen Bergwerke arbeitete, stimmten auch Wilson und Lloyd George schließlich zu, daß die Saarbergwerke "als Ersatz für die Zerstörung der Kohlengruben in Nordfrankreich als vollständiges und unbeschränktes Eigentum an Frankreich abzutreten seien". Frei von allen Schulden und [209] Lasten, sowie mit dem ausschließlichen Ausbeutungsrecht, sollte das Eigentum an Frankreich übergehen. Das Saargebiet wurde politisch von Deutschland getrennt, ohne mit Frankreich vereinigt zu werden. Die Regierung des Landes wurde dem Völkerbund übertragen. Dieser ernannte eine Regierungskommission, gewissermaßen ein Direktorium, das aus fünf Mitgliedern bestand. Nur ein Mitglied durfte Deutscher sein, während das Übergewicht und der Vorsitz in den Händen Frankreichs lag. Eine Volksvertretung mit legislativen Rechten wurde nicht gebildet, so daß die Saarregierung absolute Herrscherin wurde – ein Ereignis, das in der neueren europäischen Geschichte einzig dasteht. Die Bevölkerung war politisch rechtlos und befand sich in einem Zustande des Helotentums. Das Recht wurde im Namen der Regierungskommission gesprochen, ein von ihr ernannter Gerichtshof hatte über Berufungen zu entscheiden. Erst fünfzehn Jahre nach Inkrafttreten des Versailler Vertrages sollte die deutsche Bevölkerung durch Volksabstimmung entscheiden, ob sie deutsch bleiben oder französisch werden wolle. Nichtsdestoweniger begannen die Franzosen sofort, mit grausamem Despotismus das Volk zu quälen und ihm französische Einrichtungen aufzuzwingen. Zölle wurden erhoben, die Kohlenpreise willkürlich festgesetzt, französische Schulen, Kranken- und Arbeiterkassen und Wohlfahrtseinrichtungen gegründet, französisches Geld wurde eingeführt, der Frank verdrängte die Mark. Arbeiter und Beamte, die sich weigerten, ihre Kinder in französische Schulen zu schicken, wurden drangsaliert, entlassen, dem Hunger preisgegeben. Zehntausend schwarze und weiße Franzosen überschwemmten das kleine Land und quälten und schändeten das Volk mit ihren bestialischen Gelüsten. Menschenleben galten nichts, Unschuldige fielen, hinterrücks von Franzosen ermordet. Werber für die französische Fremdenlegion verschleppten mit Genehmigung der französischen Behörde nichtsahnende Opfer in die Hölle Afrikas. Französische Lebensmittelschieber verkauften der Bevölkerung ihre Nahrungsbedürfnisse zu unverschämten Wucherpreisen und wurden durch Frankreich darin noch unterstützt, da der Markkurs willkürlich festgesetzt wurde. Und [210] von Anfang an erklärten die Franzosen zynisch, sie würden kein Mittel unversucht lassen, um die Saarländer mürbe zu machen, sie für "die Angliederung an Frankreich reif zu machen"; Hervé schrieb in seiner Victoire: "Fünfzehn Jahre lang werden wir die Saarländer bearbeiten, ihnen in jeder Richtung zusetzen, bis wir ihnen eine Liebeserklärung abzwingen." Ein tiefer Groll zehrte an den Saardeutschen, aber sie waren außerstande, sich gegen das Gewaltregiment zu wehren. Doch es gärte und rumorte. Der Lebensmittelwucher, die Warenverschiebungen, die Willkürherrschaft, der Kohlenmangel, die Beschimpfungen wirkten zusammen, daß seit Ende September 1919 Unruhen im Saargebiet ausbrachen, die durch einen Metallarbeiterstreik eingeleitet wurden. Am 8. Oktober kam es zu größeren Streikunruhen in Saarbrücken, in deren Verlauf die Bevölkerung am folgenden Tage einen großen Protest gegen die Franzosen losließ. Es wurde unter anderem gefordert: Ausschaltung der Regierungsgewalt der französischen Militärbehörde, Rückgängigmachung der erfolgten Ausweisungen, Wiederherstellung der Meinungsfreiheit in Presse und Versammlungen, Entfernung der Kolonialtruppen, Verlegung der Truppen in Kasernen, Aufhebung der Grußpflicht, Beseitigung der Zwangseinquartierung französischer Offiziere und Soldaten, Schaffung billiger Lebensmittel und strengste Bestrafung der Wucherer, billige Kohlenlieferungen, Aufhebung der willkürlichen Festsetzung des Markkurses und Schutz vor den Gewalttaten der Soldaten. Aber ungehört verhallte der Notschrei. Unter den drakonischen Maßnahmen der Franzosen sank jedes Aufbäumen in sich zusammen. Streikende Arbeiter wurden entlassen und durch Hunger zahm gemacht. Streikende Eisenbahner wurden bestraft, Versammlungen mit Waffengewalt auseinandergesprengt. Die Franzosen scheuten nicht davor zurück, einflußreiche Persönlichkeiten auszuweisen, ohne Grund, nur weil sie den Absichten der Sieger im Wege standen, und es war leicht, sie zu beschuldigen, daß sie zum Ungehorsam gegen die Franzosen aufreizten. So wurden an einem dunklen, kalten Dezembermorgen der Saarbrücker Verwaltungspräsident von Halfern und sein Regierungsassessor von Salmuth um [211] fünf Uhr aus dem Bett geholt und kurzerhand über die Grenze des Saargebietes abgeschoben. Sieben Wochen nach der Unterzeichnung des Friedensprotokolls, am 28. Februar 1920, zog die "Völkerbundskommission" im Saargebiet ein. Frankreich ging sofort daran, unverhohlen seine Annexionspolitik zu beginnen. Die deutsche Verwaltung wurde für fünfzehn Jahre ausgeschaltet. Man beanspruchte das Recht, die deutschen Gesetze nach dem Bedürfnis der fremden Herren abändern zu dürfen. Das Saargebiet wurde von Deutschland isoliert und unter französischen Einfluß gebracht. Französische Schulen wurden errichtet, der französische Sprachunterricht in den deutschen Schulen eingeführt. An die Stelle der Mark trat der Frank. Die "Union française" entfaltete eine Riesenpropaganda. Jede nationaldeutsche Regung war verboten und wurde bestraft. Die Bevölkerung wurde nicht mehr als deutsche, sondern als "Saareinwohner" bezeichnet. Die Kulturzusammenhänge der rein deutschen Einwohner wurden mit dem Mutterlande unterbrochen und aufs engste mit Frankreich verknüpft. Die französische Staatsverwaltung der Saarbergwerke entwickelte sich zu einer Propagandazentrale großen Stiles. Frankreich ließ von Anfang an alle Kräfte wirken, um die Abstimmung nach fünfzehn Jahren in seinem Sinne zu beeinflussen. –
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