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[Bd. 2 S. 192]
4. Kapitel: Innere Spannungen, Forderungen
der Militärkontrollkommission, Konferenz von Cannes.

Im Sommer des Jahres 1921 bot Deutschland und sein Volk bereits das vollkommene Bild innerer Zerrüttung. An der Spitze des Reiches stand eine Koalitionsregierung von der Demokratie über das Zentrum zur Sozialdemokratie, und ihr ausschlaggebender Faktor, der Reichskanzler Dr. Wirth, neigte stark als Angehöriger des linken Zentrums zur Sozialdemokratie. Dr. Wirth ging in der Folgezeit sehr oft mit den sozialdemokratischen Gewerkschaften zu Rate, so daß man förmlich von einer gewerkschaftlichen Nebenregierung sprach, während sich die Kluft zwischen ihm und den Rechtsparteien immer mehr vertiefte. Die Regierung hatte

Rechtsparteien
  und Kommunisten  
gegen Wirth

Völkerversöhnung und Weltfrieden unter der Bedingung restloser Erfüllung auf ihre Fahnen geschrieben und forderte auch damit den Widerspruch der Rechtsparteien und der Kommunisten heraus. Die Anhänger der nationalen Parteien erklärten die Annahme des Londoner Ultimatums nicht nur für baren Unsinn wegen seiner Unerfüllbarkeit, sondern geradezu als ein Verbrechen am Volke, da allein der Versuch seiner Erfüllung weite Kreise des Volkes unerhörter Verelendung preisgeben müßte. Die Auflösung der Selbstschutzorganisationen rief Widerspruch hervor, da man stets die drohende kommunistische Gefahr im Auge hatte. Die "Kriegsverbrecherprozesse" lösten einen wahren Sturm der Erbitterung aus, der vom Standpunkt der nationalen Ehre durchaus berechtigt war. Auch über die blutigen Wirren in Oberschlesien machte man der Regierung Vorwürfe und klagte sie ihrer Ohnmacht und Schwäche an, die nicht in der Lage sei, jene Katastrophen vom deutschen Lande abzuwenden. – Auch die Kommunisten, die im Juli 359 613 Mitglieder zählten, waren mit der Regierung Wirth unzufrieden. Durch ihren Erfüllungswillen leistete sie dem Ententekapitalismus und ‑imperialismus Vorspanndienste auf Kosten des deutschen Proletariats. Das deutsche Kapital werde durch eine solche Politik ebenfalls [193] nur gestärkt, und wahre Gesundung werde nur der Anschluß an Rußland bringen.

  Charakter der deutschen Regierungen:  
Landesregierungen in Preußen,
Bayern, Sachsen und Thüringen

Vielseitige politische Schattierung zeigten die Regierungen der Länder. Preußen, der größte Staat, wies eine Regierung auf, die etwa der Koalition im Reiche entsprach, mit vorherrschendem sozialistischen Element im Innenministerium. Demokratisierung der Verwaltung war das Hauptbestreben der preußischen Regierung, und alte, erfahrene Beamte machten neuen, ungeschulten, aber sozialdemokratisch zuverlässigen Kräften Platz. Der Verwaltungsapparat wurde schwerfällig, unbeholfen, kostspielig, da die verantwortlichen Männer in Ermangelung eigener Kenntnisse erfahrene Berater brauchten, bis sie die verwaltungsmäßige Routine besaßen. Angehörige vaterländischer Organisationen, besonders des "Stahlhelm", wurden nach Möglichkeit aus den Beamtenstellen entfernt, denn man fürchtete ihren Einfluß. Auf diese Weise trieb man die Mitglieder der Rechtsverbände in die Opposition, anstatt sie zu versöhnen.

Bayern war der Gegenspieler Preußens. Hier war seit dem Frühjahr 1920 eine ausgesprochen rechtsgerichtete Regierung am Ruder, und sie gewährte den Führern des Kapp-Putsches Zuflucht vor der Verfolgung durch das Reich und Preußen. Oberst Bauer, Kapitän Ehrhardt, General Ludendorff und mancher andere siedelte nach München über, und in Berlin wurden die abenteuerlichsten Märchen verbreitet: Bauer und Ehrhardt hätten sich in der Nähe der bayerischen Hauptstadt mit ihren Leuten verschanzt; sie würden von bayerischer Landespolizei scharf vor den Zugriffen der Preußen bewacht. Bayern konnte den Verlust seiner Sonderrechte durch die Reichsverfassung nicht verschmerzen, und es betrachtete Berlin, die Reichshauptstadt, die ihm gleichbedeutend mit Preußen war, als ihren offenen Feind. Die Forderung nach der Wiederherstellung der bayerischen Rechte verstummte nicht.

Ausgesprochen sozialistische Regierungen mit starkem unabhängigen Einschlag wiesen die beiden Mittelstaaten Sachsen und Thüringen auf. In Thüringen wurde der Landtag auf Antrag der Kommunisten aufgelöst, und als am 6. Oktober der neue Landtag zusammentrat, bildete sich mit achtund- [194] zwanzig gegen sechsundzwanzig Stimmen eine rein sozialistische Regierung. Das Innenministerium lag in den Händen eines unabhängigen Sozialdemokraten. Das Bürgertum war vogelfrei. Erdrückende Steuern wurden ihm aufgelegt, seine Versammlungen wurden gestört und seine Lebensführung unter dem Vorwand der Zwangswirtschaft kontrolliert. – Ebenso schlimm war es in Sachsen. Der unabhängige sozialdemokratische Minister Lipinski ernannte seinen Parteigenossen Ryssel zum Amtshauptmann von Leipzig. Dieser Mann, der keinerlei Sach- und Fachkenntnisse besaß, übernahm sein Amt am 1. August, an demselben Tage, da der unabhängige Sozialdemokrat Dr. Zeigner sein Amt als Justizminister antrat. Unter dem wohlwollenden Protektorate Lipinskis und Zeigners entwickelte sich Sachsen zu einem sozialistisch-kommunistischen Paradies, und der Aufruf der Exekutive der Komintern in Moskau vom 4. August: "Ihr Arbeiter, vereinigt Euch von unten zum Kampfe gegen die Bourgeoisie und Sozialrevolutionäre", fand in der Folgezeit in Sachsen seine energischste Befolgung. Dr. Zeigner gab seinem Amtsantritt eine besondere Weihe dadurch, daß er fast sämtliche von sächsischen Sondergerichten verurteilten Aufrührer und Mordbrenner begnadigte.

Auflösung der
  Selbstschutzorganisationen  

Die gewaltsame Auflösung der Selbstschutzorganisationen, die Heimatwehren und der Organisation Escherich mußte gerade in jenen Zeiten katastrophaler Außenpolitik und stark linksgerichteter Innenpolitik zu Komplikationen führen. Gewiß, dem Machtgebot der Entente und dem Befehl der Reichsregierung konnte man nicht trotzen: die gefährlichen Organisationen verschwanden. Es war aber nicht möglich, den Geist starken Nationalbewußtseins und kameradschaftlichen Zusammenschlusses, der in zahlreichen äußeren und inneren Kämpfen geschmiedet war, zu ertöten. Die aufgelösten Verbände bildeten sich unter anderem harmlosen Namen neu, und der dauernde Zwang, ihre Verbindung vor der Entente und den deutschen Regierungen geheimzuhalten, erzeugte allmählich eine Verzweiflungsstimmung, die sich in Katastrophen und Explosionen Luft machen mußte. Das nationale Gefühl dieser Organisationen überspannte sich, blind gegen alle [195] Gefahren und nüchternen Erwägungen der Zweckmäßigkeit, so wie etwa der Druck des Wassers mehr und mehr übersteigert wird, je länger es in einem geschlossenen Topfe über dem Feuer steht, bis eine gewaltsame Explosion die natürliche Reaktion herbeiführt.

  Geheimverbände  

Die Behauptung, die gern von den Linksparteien aufgestellt wurde, daß sich die Tätigkeit der Geheimverbände lediglich auf den Sturz der deutschen Regierungen richte, entsprach nicht ganz den Tatsachen. Wenn ein aggressiver Gedanke vorhanden war, so war es der Wille, den Versailler Vertrag und seinen Urheber Frankreich zu bekämpfen, allerdings im Anschluß daran auch in Deutschland alle diejenigen Stellen zu beseitigen, die den Bestrebungen der Alliierten Vorschub leisteten. Nach innen waren die Geheimverbände nur auf Abwehr kommunistisch-sozialistischer Bürgerkriege eingestellt. Es war natürlich von vornherein unklug gewesen von der Entente, die Auflösung der Selbstschutzorganisationen zu verlangen, denn nun tauchten diese in die unkontrollierbare Sphäre des bürgerlichen Lebens unter. Sie gaben gewissermaßen eine Schicht ab, in der militärische Einflüsse der Reichswehr und der Polizei ins Bodenlose versickerten. Es kam vor, daß Großgrundbesitzer Ostpreußens, Pommerns und der Mark Mitglieder solcher Verbände auf ihre Güter nahmen, wo sie die Arbeiten einfacher Landarbeiter verrichteten. Auch kam es vor, daß in Garnisonstädten zivile Vereinigungen den Anschluß an die Reichswehr suchten und dann als sogenannte "Schwarze Reichswehr" operierten, ohne daß die Bevölkerung hiervon etwas ahnte. Die meisten Organisationen jedoch blieben selbständig unter einem unauffälligen Namen als Sport- oder Gesellschaftsvereine bestehen und unterhielten durch ihre Mittelsmänner eine Verbindung mit Reichswehr oder Polizei aufrecht.

Einige Geheimverbände waren in München entstanden. Ihre Satzungen besagten folgendes:

      "Die Ziele unserer Partei ergeben sich aus der Lage: a) geistige Ziele – weiteste Pflege und Ausbreitung des nationalen Gedankens, Bekämpfung alles Anti- und Internationalen, des Judentums, der Sozialdemokratie und der linksradikalen Parteien, Bekämpfung der [196] antinationalen Weimarer Verfassung in Wort und Schrift, Aufklärung weiter Kreise über diese Verfassung und Propagierung einer für Deutschland allein möglichen Verfassung auf föderalistischer Grundlage; b) materielle Ziele – Sammlung von entschlossenen nationalen Männern zu dem Zwecke, die vollständige Revolutionierung Deutschlands zu verhindern und bei großen inneren Unruhen deren vollständige Niederringung zu erzwingen, ferner durch Einsetzen einer nationalen Regierung die durch den Versailler Vertrag angestrebte Entwaffnung und Entmannung des deutschen Volkes unmöglich zu machen und dem Volke seine Wehrhaftigkeit und seine Bewaffnung soweit wie irgend möglich zu erhalten."

Es hieß ferner in den Satzungen: Die Organisation sei eine Geheimorganisation; sie verpflichte die Mitglieder untereinander zu einem Schutz- und Trutzbündnis, wodurch jeder Angehörige der weitestgehenden Hilfe aller Mitglieder sicher sein könne. Jedes Mitglied verpflichte sich zu unbedingtem Gehorsam gegenüber der Leitung der Organisation und deren Organen. Juden, überhaupt alle Fremdrassigen, seien von der Aufnahme ausgeschlossen. Die Mitgliedschaft sollte erlöschen entweder durch Tod, oder durch Ausweisung wegen unehrenhafter Handlung, oder bei Ungehorsam gegen Vorgesetzte, oder schließlich bei freiwilligem Austritt. In allen Fällen jedoch sollten Verräter, auch ausgeschiedene, der Feme verfallen. Die Verpflichtungsformel lautete:

      "Ich erkläre ehrenwörtlich, daß ich deutscher Abstammung bin und verpflichte mich, mich den Satzungen zu unterwerfen und nach ihnen zu handeln. Ich gelobe, dem obersten Leiter unbedingten Gehorsam zu leisten und über alle Angelegenheiten Stillschweigen zu bewahren, auch nach meinem Austritt."

Da es bei diesen Organisationen wesentlich mehr als bei anderen Verbänden auf die persönliche Fühlung zwischen Führung und Mitgliedern ankam, war die Mitgliederzahl naturgemäß beschränkt, was wiederum zur Folge hatte, daß sich eine ganze Anzahl solcher kleinen Geheimverbände bildete, die sich der Führung einer Organisation unterstellten, wie dies in München der Fall war.

Ähnliche Vorgänge hatten sich in Sachsen vollzogen. Am [197] 6. Juli hatte im "Hotel Hauffe" zu Leipzig die "Orgesch" ihre Auflösung beschlossen, aber in derselben Versammlung wurde der Bund der "Brüder vom Stein" gegründet. Mit diesem Bunde arbeiteten die "Liga zum Schutze der deutschen Kultur", der "Verein für Volksaufklärung" und andere Verbände zusammen. Die "Brüder vom Stein" hatten ihren Verein beim Amtsgericht Leipzig eintragen lassen, ohne daß das Polizeiamt dies beanstandet hätte. Daneben bestand ein Sportverein "Silbernes Schild", welcher eine Fortsetzung der militärischen Organe der Zeitfreiwilligen in Leipzig darstellte. Er gliederte sich in Wanderabteilungen, die unter militärischer Leitung standen, sogar ein Polizeihauptmann gehörte zu den Gruppenleitern. Die Mitglieder jedoch ließ man über den militärischen Charakter im unklaren. Im September 1921 beschloß das "Silberne Schild", sich geschlossen den "Brüdern vom Stein" anzugliedern. Die "Brüder vom Stein" hatten auch ihre Beziehungen nach Bautzen. Hier war der entlassene Major Schneider Leiter der Selbstschutzorganisation für Ostsachsen. Der Verband gliederte sich in zwei Polizeizüge, deren einen ein aktiver Oberleutnant der Landespolizei führte. – All diese Organisationen waren die Fortsetzungen der "Orgesch" und des "Bürgerbundes", und Gelder erhielten sie von den Finanzausschüssen der sächsischen Industrie. Auch die ehemalige Brigade Ehrhardt stand in Fühlung mit den "Brüdern vom Stein".

  Ermordung Erzbergers  

Man hätte vielleicht von diesen geheimen Organisationen kaum irgend etwas erfahren, wenn nicht ein Ereignis eingetreten wäre, das plötzlich alle deutschen Regierungsmänner erbeben ließ. Matthias Erzberger, der 1920 infolge seines Prozesses mit Helfferich aus dem Reichsdienst ausscheiden mußte, trug sich mit dem Gedanken, wieder aktiv in die Politik einzutreten. War doch die Regierung seines politischen Freundes Dr. Wirth so das rechte Fahrwasser, in dem er schwimmen konnte! Er hielt sich in Griesbach am Schwarzwald mit seinen Angehörigen zur Erholung auf und unternahm am sonnigen, warmen Nachmittag des 26. August mit Bekannten einen Waldspaziergang am Kniebis. Plötzlich sprangen zwei Männer aus dem Gebüsch hervor auf die [198] Landstraße, feuerten ihre Revolver auf den Exminister ab und verschwanden. Erzberger war ermordet, und Deutschland entsetzte sich. Von den beiden Tätern, den ehemaligen Offizieren Schulz und Tillessen, fand man keine Spur, und sie entkamen ins Ausland. Doch wurden zwei andere Männer verhaftet, Killinger und Müller, von denen man den ersten wegen Begünstigung anklagte, denn er hatte den einen Täter im Auto von München weggebracht, ehe er verhaftet werden konnte. Die beiden Verhafteten gehörten aber jener Münchener Geheimorganisation an, deren Mitglieder auch Schulz und Tillessen waren.

Empörung
  der Linksparteien  

Die Demokraten und Linksparteien erhoben ein Wutgeschrei gegen die Rechtsparteien, die den Mord Erzbergers verschuldet hätten. Man bezeichnete geradezu Helfferich als den geistigen Vater der Tat. In Wahrheit war davon keine Rede. Die Reichsregierung aber, Dr. Wirth, erließ am 29. August einen Aufruf gegen die politischen Unruhen. "Schon seit geraumer Zeit erfüllt es die Reichsregierung mit Besorgnis, daß die öffentlichen Sitten in Deutschland immer mehr in Verfall geraten und die Grundlagen von Reich und Staat zu erschüttern drohen." Zügellose Agitation untergrabe die politischen und staatlichen Fundamente, die Sprache der Presse werde von Tag zu Tag eindeutiger. Gewissenlose Elemente und Gruppen trügen sich mit dem Plane, den gewaltsamen Umsturz der verfassungsmäßigen Ordnung zu betreiben. Offen werde zu rohen Gewaltakten und Mord aufgefordert, indem man die Reichsregierung als einen "Klüngel unfähiger, schwächlicher und undeutscher Politiker" bezeichne, deren Beseitigung patriotische Pflicht sei. Dies entspringe dem Haß gegen die demokratisch-republikanische Staatsform, und daraus ergebe sich die Verachtung und Übertretung der Gesetze.

      "Die Reichsregierung ist deshalb entschlossen, das zu tun, was die Zeitumstände und die Provokationen der Gegner der Verfassung gebieterisch erheischen... Sie wird mit unerbittlicher Strenge gegen jede Auflehnung vorgehen und fordert alle Organe des Reiches und der Länder auf, in völliger Unparteilichkeit und ohne Ansehen der Person der Verordnung rücksichtslos Geltung zu verschaffen."

  Regierungsmaßnahmen  

[199] Diese Verordnung war die "Ausnahmeverordnung zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung" vom gleichen Tage. Hiernach sollten alle periodischen Druckschriften, die zum gewaltsamen Umsturz der republikanisch-demokratischen Staatsform aufforderten, verboten werden. Wer trotzdem eine solche Druckschrift herausgebe, würde mit einer Geldstrafe bis 500 000 Mark und Gefängnis bestraft werden. Auch Versammlungen, Vereinigungen, Aufzüge und Kundgebungen und ihre Teilnehmer sollten unter den gleichen Bedingungen verboten und bestraft werden.

Dieser Aufruf und diese Verordnung waren das Signal für die Angehörigen der sozialistischen und kommunistischen Parteien, gegen jedermann, der ihnen verdächtig war, einer Rechtspartei anzugehören, mit brutaler Gewalt vorzugehen. Harmlose Bürger wurden überfallen und mißhandelt, und die Proletarier, welche allein die Existenz nationaler Parteien als persönliche Beleidigung auffaßten, ächteten jeden Bourgeois; sogar vor der Reichswehr machte man nicht halt, stand sie doch, nach der Auffassung jener Leute, im engsten Zusammenhang mit den Verschwörern. Wo man einen einzelnen Soldaten erwischen konnte, schlugen ihn Arbeiterfäuste zu Boden, nahmen ihm die Waffe weg, zerrissen seine Uniform und mißhandelten ihn aufs schauderhafteste. Der Reichspräsident sah sich bereits am 5. September genötigt, eine Kundgebung für die Wehrmacht herauszugeben:

      "Die politische Erregung der letzten Zeit hat bedauerlicherweise dazu geführt, daß in verschiedenen Fällen Angehörige der Wehrmacht in den Straßen ohne Grund angegriffen, beleidigt und mißhandelt worden sind... Die Autorität des Staates macht es der Reichsregierung zur Pflicht, Ausschreitungen gegen die Wehrmacht des Reiches und Angriffe gegen ihre Angehörigen mit den ihr zu Gebote stehenden gesetzlichen Mitteln zu begegnen."

Trotzdem kamen immer neue Fälle von Mißhandlungen an Soldaten vor. Der ganze, Jahre hindurch zurückgedämmte Grimm des Proletariats gegen die Reichswehr, die einst erbarmungslos die kommunistischen Aufstände niedergeschlagen hatte, kam wieder zum Durchbruch.

Mit Eifer führten die Regierungsstellen im ganzen Reiche [200] die Untersuchung. Haussuchungen bei bekannten Führern der Rechtsparteien, bei Zeitungen wurden vorgenommen. Man verhaftete zahlreiche Menschen und ließ sie wieder laufen, und wirkliches Belastungsmaterial wurde nur in ganz verschwindenden Fällen gefördert, nämlich in bezug auf jene Geheimorganisationen in München und Leipzig und vielleicht in einigen anderen Orten. Unaufhörlich aber gossen die Sozialisten Öl ins Feuer. Der unabhängig-sozialdemokratische Abgeordnete Dittmann erklärte im Reichstag, in Bayern und in Salzburg sei das Zentrum der die Republik bedrohenden Elemente. Die Schandwirtschaft von Kahr, Roth und Pöhner trage die Schuld am Morde von Gareis (im Juni), sie treffe auch die Verantwortung für die Pressetreiberei des Miesbacher Anzeigers und deren Folge, die Ermordung Erzbergers. Ja, die Sozialdemokratie trat Anfang Oktober an die Unabhängigen mit dem brüderlich gemeinten Vorschlage heran, ob sich die Unabhängigen nicht an der Regierung Wirth beteiligen wollten, dies sei von größter Wichtigkeit "wegen der Steuerpolitik der nächsten Zukunft und der Durchführung der zur Sicherung der Republik notwendigen Maßnahmen". Doch die Unabhängigen antworteten ausweichend, man wisse nicht, wie sich die Demokraten und das Zentrum zu ihrem Eintritt in die Regierung stellen würden. Sie zogen es vor, freie Hand zu behalten, statt sich durch Teilnahme an der Regierung zu binden.

  "Monarchisten"-Verfolgungen  
in Sachsen

Mit besonderem Eifer widmete sich Sachsen der Verfolgung der "Monarchisten". Das Gesamtministerium, sozialistisch mit stark unabhängiger Tendenz, hatte am 2. September erklärt, die Reichsregierung tatkräftig bei der Durchführung ihrer Ausnahmeverordnung unterstützen zu wollen. "In Form von militaristisch-nationalistischen Feiern wird die monarchistische Propaganda mit demonstrativer Hervorhebung des Schwarzweißrot im ganzen Reiche mehr oder weniger offen betrieben. Absichten und systematische Organisation dieser Treibereien sind unverkennbar." Den Beamten aber, die derartige Bewegungen nahestünden, werde ans Herz gelegt, die notwendigen Folgerungen zu ziehen. An den Ermittelungen und Untersuchungen beteiligte sich auch die Straße höchst intensiv, miß- [201] handelte verdächtige Einwohner, drang in Häuser ein, um auf eigene Faust Haussuchungen vorzunehmen, und beleidigte die Verhafteten, ohne daß man den Unberufenen dieses verwehrt hätte. Es gab zahllose Haussuchungen und Verhaftungen, die nur bei Anhängern rechtsgerichteter Verbände vorgenommen wurden, während man die Kommunisten bei ihren staatsgefährlichen Umtrieben nicht störte. Bildeten sie doch schon hier und da proletarische Selbstschutzorganisationen, da ihnen die Polizei nach den sich mehrenden Enthüllungen nicht mehr sicher genug für die Verteidigung der Republik erschien.

Die Deutsche Volkspartei Sachsens beklagte sich über die einseitige Durchführung der Ausnahmeverordnung und fragte die Regierung, ob sie bereit sei, eine gleichmäßige und gerechte Handhabung der Verordnung gegenüber den Parteien zuzusagen und dafür Sicherheiten zu geben, die friedlichen Versammlungen gegen den Terror der Straße zu schützen, das allgemeine Verbot der Regimentstage aufzuheben, und welche Maßnahmen sie auf Grund ihrer Erklärung vom 2. September gegen die Beamten beabsichtige? Die Regierung bejahte die ersten beiden Fragen, ohne die Angelegenheit der Sicherheit zu erörtern, die dritte verneinte sie zunächst, und auf die vierte gab sie keine Antwort. Im Laufe des September kam man in Leipzig und Bautzen auf die Spur der oben erwähnten Geheimbünde, die Mitglieder wurden zum Teil in Haft genommen, nachdem umfangreiche Haussuchungen bei Tag und Nacht durchgeführt worden waren, und der Fonds der "Brüder vom Stein" in Leipzig und Dresden in Höhe von 700 000 Mark wurde beschlagnahmt. Es kam in der Folgezeit bei den Untersuchungen nicht viel heraus, doch Anfang November rühmte sich der Innenminister Lipinski vor dem Landtage seiner Erfolge, worauf ihm von den Rechtsparteien entgegengehalten wurde, daß er durch seine "Enthüllungen" nur den grausamen Vernichtungswillen der Feinde gegen das deutsche Volk stärke. Daß diese Besorgnis nicht unbegründet war, sollte sich sofort zeigen.

Sorgen der
  Entwaffnungskommission  

Bereits im Juli wurde von der Interalliierten Marinekommission wieder die leidige Frage der Dieselmotoren angeschnitten. Die Firma Benz in Mannheim hatte drei solcher [202] Maschinen im Bau, und die Kommission sah in der Tatsache, daß es schnellaufende Motoren waren, ein Charakteristikum als Unterseeboot-Maschinen. Somit seien sie Kriegsmaterial, und ihre Fertigstellung wurde verboten. Die deutsche Regierung trat den umfangreichen Beweis an, daß die fraglichen Motoren kein Kriegsmaterial seien und daß bereits die Alliierten dem Bau von Dieselmotoren für industrielle Zwecke zugestimmt hätten, dennoch aber hielt die Kommission ihre Ansicht aufrecht und bezeichnete die Herstellung der Maschinen als eine Verletzung des Ultimatums.

Forderungen
der Interalliierten
  Kontrollkommissionen  

Die Interalliierte Militärkommission betrieb, trotzdem das Heer auf 100 000 Mann herabgesetzt, die Polizei dezentralisiert war, die Waffen abgeliefert und zerstört, die Selbstschutzverbände aufgelöst waren, mit allem Nachdruck und Eifer die "Entwaffnung" Deutschlands. Sie fand gute Unterstützung bei nichtswürdigen Subjekten, die gegen Geld falsche Angaben machten, dadurch aber die Stellung der Reichswehr den Alliierten gegenüber erschwerte. Gegen diese Hochverräter, meist Arbeiter und kleine Handelsleute, die aus gewinnsüchtigen Motiven handelten, wurden Prozesse geführt, so in Köthen und Leipzig, und die für schuldig Befundenen mit Festung bestraft. Der englische Oberst Repington schrieb hierüber (21. Januar 1923 im Daily Telegraph):

      "Die Deutschen erwiesen sich als unübertreffliche Angeber. Es ist hauptsächlich diesen Deutschen zu verdanken, daß verstecktes Kriegsmaterial gefunden wurde. Der Beweggrund dabei war vorherrschend Geld; an zweiter Stelle kamen Haß und Rachsucht; an dritter Stelle kam der Glaube einer gewissen Anzahl Deutscher, daß sie damit ehrlich deutschen Interessen dienen."

Diese schmutzige Angeberei war eine der verwerflichsten Erscheinungen jener düsteren Jahre. Sie war weiter verbreitet, als für die deutschen Gerichte die Möglichkeit bestand, sie zu verfolgen. Es blieb hierdurch also nicht aus, daß die Interalliierte Kommission bei all ihren Inspektionen durch Mißtrauen und Argwohn voreingenommen war und sich in dem Gefühle sonnte, sie werde von Deutschland hintergangen, und daraus das Recht zu scharfen Maßnahmen ableitete. Man entdeckte vertragswidrige schwere Kanonen in Festungen, man [203] hob gewaltige Waffenlager von zehn oder zwanzig Gewehren aus, die Deutschland versteckt hatte, um damit Frankreich zu überfallen, die Kadetten- und Unteroffiziersschulen bestanden unter zivilen Namen weiter, ohne daß der kriegerische Geist von ihnen gewichen war, die Herren vom Großen Generalstab und von den Generalkommandos versahen statt in Uniform als Pensionär in Gehröcken ihren Dienst weiter – und was derartige merkwürdige Auffassungen mehr waren. "In der Geschichte der Kommission hat es niemals einen Augenblick gegeben, in dem nicht ein jeder, von dem Wehrministerium und dem Chef der Heeresleitung bis zur untersten Stelle herunter, tätig gewesen wäre, nach einem sorgfältig ausgearbeiteten Plane die Kontrollarbeit zu vereiteln, bei scheinbarer Unterwerfung unter ihre Vorschriften", replizierte General Morgan, selbst ein Mitglied der Kommission. Die Einheitlichkeit der Armee bereitete schon Sorge genug. Früher gab es preußische, bayerische, sächsische usw. Truppen, jetzt gab es nur noch eine Reichswehr. Sie sei nicht eine Armee, sondern ein Kader von Instrukteuren. Die Rekruten würden nicht für zwölf Jahre angeworben, wie der Versailler Vertrag verlange, sondern nur kurze Zeit ausgebildet und dann wieder entlassen. Das war dann die sogenannte "Schwarze Reichswehr", ein "maskiertes Pensionssystem".

Nun kamen die vor breiter Öffentlichkeit mit beredten Worten gemachten Enthüllungen über die Geheimverbände. Die Interalliierte Kommission sah sich neuen Gefahren, neuen Tücken, neuer Arbeit gegenüber. Was hatte alle ihre Arbeit genützt, wenn man plötzlich derartige Erkenntnisse sammeln mußte? Es stand für die Engländer und Franzosen fest, daß der größte Teil Deutschlands einer unsichtbaren Armee angehörte, und ein neuer Feldzug gegen diesen heimlichen Feind begann. Wo Geheimverbände sind, sind auch geheime Waffen, schlußfolgerte die Kommission, und man begann auf pommerschen Rittergütern die Misthaufen umzugraben, ohne die erwarteten Gewehre, Maschinengewehre und Kanonen zutage zu fördern. Bei Dresden mußten Gebäudeteile einer Fabrik gesprengt werden, um festzustellen, daß kein Kriegsmaterial eingemauert sei. In Kruppschen Werken mußten Maschinen [204] zerstört werden, die lediglich friedlich-wirtschaftlichen Zwecken dienten. In den chemischen Fabriken witterte man die Herstellung giftiger Gase. Ganz besonders hatte man es jetzt aber auf die "Deutschen "Werke" abgesehen.

Streit um die
  "Deutschen Werke"  

Die "Deutschen Werke" waren während des Krieges Heereswerkstätten gewesen, nach der Revolution aber sogleich auf Friedensproduktion umgestellt worden. Die deutsche Regierung hatte am 10. Februar 1920 von der Botschafterkonferenz das ausdrückliche Einverständnis zum Fortbestehen der Reichswerke nach ihrer Umstellung erbeten und erhalten. Nun aber, im September 1921, forderte die Militärkontrollkommission Zerstörung, Umbau und Entfernung von "Spezialmaschinen zur Herstellung von Kriegsmaterial", Vernichtung von Eisenbahnen, Loren und anderem Gerät, Umbau von Gebäuden, ja, für das Wolfgangwerk bei Hanau wurde Zerstörung sämtlicher Gebäude bis auf den Grund verlangt, auch bei Werken bei Erfurt und Spandau-Haselhorst sollten sehr beträchtliche Einschränkungen vorgenommen werden. Ferner wurde eine Menge von Rohmaterialien der Werke beschlagnahmt. Die deutsche Regierung protestierte gegen die Forderungen unter Hinweis darauf, daß die Schließung der "Deutschen Werke" viele Tausende von Arbeitern und Angestellten brotlos machen und dadurch die Not in Deutschland erheblich vermehren würde. Sie legte dar, was in den einzelnen Werken hergestellt würde: in Erfurt und Spandau Schußwaffen für Sport und Munition, in Hanau Kollodium und Nitrozellulose zur Herstellung von Filmwolle und Kunstleder, Schmirgelpapier, Wagen- und Lokomotivenreparaturen usw., die Hüttenwerke Spandau sollten zu einem Walzwerk ausgebaut werden usw. Ferner ersuchte die Regierung, für die trotz Nachprüfung und Beschränkung noch zerstörungspflichtig bleibenden Maschinen eine Verkaufsfrist zu gewähren, die den Bedingungen geordneter und rentabler Geschäftsführung Sorge trage.

Anfang Januar 1922 antwortete dann die Botschafterkonferenz, die Kommission sei ermächtigt, zur Durchführung der Umstellungen, die sie für erforderlich erachten werde, Fristen zu bewilligen, die ausreichen würden, um die besonderen Interessen der Arbeiter vollständig zu wahren. [205] Bedingung hierfür sei, daß die Umstellungen bis spätestens zum Zeitpunkte des Aufhörens jeder effektiven Kontrolle durch die Alliierten vollständig beendigt seien. Einen Monat später gab Nollet die näheren Anweisungen heraus, in welcher Weise bei den "Deutschen Werken" Betriebsänderungen vorzunehmen seien. Vor allem wurde die Herstellung von Waffen und Munition, sowie von Nitrozellulose für die Zukunft verboten, denn dies waren kriegerische Produkte, deren Herstellung man nicht gern beim deutschen Volke sah, das zum Frieden erzogen werden mußte. –

Eine neue
  Wirth-Regierung  

Die Hauptsorge galt aber nach wie vor der unseligen Reparationsfrage. Die Regierung Wirth war anläßlich der oberschlesischen Entscheidung am 22. Oktober zurückgetreten. Der Reichspräsident Ebert jedoch beauftragte schon nach drei Tagen den zurückgetretenen Reichskanzler aufs neue mit der Regierungsbildung. "Die Tatsache, daß Sie bereits einmal in schwerster Bedrängnis sich dem Vaterlande zur Verfügung gestellt haben, gibt mir die Hoffnung, daß Sie auch dieses Mal dieses Opfer bringen werden." Und Wirth brachte das Opfer. Am 26. Oktober stellte er dem Reichstag seine neue Regierung vor, die sich aus vier Sozialdemokraten, vier Zentrumsanhängern und zwei Demokraten zusammensetzte, und er erklärte, daß die neue Regierung die Entscheidung des Rates des Völkerbundes über Oberschlesien als gegen Vertrag und Recht verstoßend erachte und daß sie Deutschlands Rechte auf das entrissene Land in keiner Weise als beeinträchtigt erachten könne durch einen Zustand, der durch Gewalt geschaffen werden solle.

Die Regierung Wirth hatte seit dem Londoner Ultimatum keinen leichten Stand in Deutschland. Die stärksten Stützen des Kabinetts waren die Sozialdemokratie und ihre Gewerkschaften. Diese Tatsache mußte ganz naturgemäß den Widerstand des Kapitals, besonders der Schwerindustrie, wecken, die in dieser offensichtlichen Rückkehr zu Zuständen des Jahres 1919 eine Herausforderung erblickte, besonders, da ja das Kabinett Fehrenbach sich ernstlich bemüht hatte, dem Privatkapital wieder Einfluß und Geltung zu verschaffen. Stinnes stand grollend beiseite, und hinter ihm stand die [206] deutsche Schwerindustrie. Deutschlands Schicksal könne sich nur durch Arbeit, schwere, rastlose und ungestörte Arbeit zum Besseren wenden, das war die Ansicht des deutschen Kapitals, und mit unverhohlenem Mißfallen verfolgte es den "guten Willen" der Regierung Wirth, "bis zur Grenze der Leistungsmöglichkeit" zu erfüllen. Dieser "gute Wille" der Regierung Wirth ging sogar so weit, daß sie hemmungslos, ohne Rücksicht auf das Volk, seit Mai 1921 die deutsche Währung verkaufte, nur um erfüllen zu können. Die Folge davon war, daß die Mark unaufhaltsam sank, daß die Geldentwertung, die Inflation, sich zu einer ernsten Gefahr entwickelte. Stinnes sagte einmal zu Rathenau: "Sie werden mit Ihrer Erfüllungspolitik denselben Schaden stiften, wie eine Anzahl Vertreter in Spa, die aus einer fremdvölkischen Psyche heraus den deutschen Widerstand gegen unwürdige Zumutungen gebrochen haben." Es kam so weit, daß industrielle Blätter eine Lanze für Steuerflucht und Kapitalflucht brachen. So schrieb die Bergisch-Märkische Zeitung im Juli 1921, Steuerflucht sei "heute jedenfalls nicht so unmoralisch wie unter den früheren schöneren Verhältnissen", und schwerwiegende volkswirtschaftliche Gründe ließen sogar eine Kapitalflucht unter Umständen nützlich erscheinen. Und die Rheinisch-Westfälische Zeitung meinte, wenn das Kapital durch konfiskatorische Steuern und eine chaotische Verwaltung bedroht werde, dann gehe es ins Ausland; mit einem Federstriche oder einer Umbuchung könne man das Kapital von einem Ende der Welt zum andern übertragen. Der Kampf zwischen Regierung und Industrie war derart scharf, daß Loucheur im November im Französischen Senat äußerte, es habe den Anschein, als ob die deutschen Kapitalisten und Industriellen den Zusammenbruch Deutschlands beschleunigen wollten.

Reparationssorgen
  der Regierung Wirth  

Aber mit der Bundesgenossenschaft der Sozialdemokratie und des Proletariats konnte die Regierung Wirth auf die Dauer doch nicht regieren, denn zur Erfüllung der Reparationen brauchte sie das Kapital, und dies ließ sich nicht diktatorisch zwingen, wenn man nicht seine Freundschaft suchte. Dies zu tun, wurde Wirth durch den Wiedergutmachungsausschuß nahegelegt, der Anfang Oktober nach Berlin gekommen war, [207] um die Frage zu prüfen, in welcher Weise die nächsten Zahlungen aus dem Londoner Ultimatum bewirkt werden könnten. Die Gläubiger forderten, nötigenfalls ausländische Kredite in Anspruch zu nehmen. Das aber war wiederum nur möglich mit Hilfe der deutschen Industrie und Banken, das heißt also: durch Belastung des Besitzes.

Groll der Industrie
  und ihre Forderungen  

Die Reichsregierung berief also Anfang November Vertreter der Industrie, des Handels und der Banken nach Berlin und besprach mit ihnen die weiteren Maßnahmen der Politik. Es kam der Regierung vor allem auf Kredithilfe an, um ihre Wiedergutmachungsverpflichtungen im Januar und Februar erfüllen zu können. Das Kapital stellte seine Bedingungen. Zunächst wurde Bruch mit der Sozialisierungspolitik verlangt, die in der öffentlichen Hand befindlichen Betriebe sollten in Privatbetriebe umgewandelt werden. Mit der Eisenbahn sollte der Anfang gemacht werden, sie sollte auf Grund eines Ermächtigungsgesetzes an ein Privatkonsortium verkauft werden. Das Reich solle eine sparsame Finanzwirtschaft treiben: Beamtenabbau. Und dann: die Sanierung der Finanzen sei natürlich nur möglich, wenn das Problem der Verpflichtungen aus dem Londoner Ultimatum in anderer Weise gelöst würde. Das waren die Forderungen des Kapitals. Dafür wollten sich Industrie und Banken um Beschaffung derjenigen Kredite bemühen, die das Reich brauche, um seinen finanziellen Verpflichtungen nachzukommen, sowie die Entwicklungsmöglichkeit der angestrebten Neuorganisationen in den Reichsbetrieben zeitlich und sachlich sicherzustellen. Die Industrie trat für langfristige Kredite ein und schlug vor, diese beim Ausland zu beschaffen. Doch solle die Reichsregierung nur im Einverständnis mit Industrie und Banken dahingehende Verhandlungen führen. Selbstverständlich müsse, wenn sich die deutsche Volkswirtschaft und damit der deutsche Staat aus den jetzigen Verhältnissen herausarbeiten wolle, die Volksgesamtheit, das heißt der Staat, denjenigen, die heute diesen freiwillig übernommenen Kredit zur Verfügung stellen, das heißt dem deutschen Kapital, in zu vereinbarender Weise entsprechende Entlastung gewähren. Man hatte dabei Abbau der Steuern und der sozialen Fürsorge im Auge.

[208] Der Anfang war gemacht. Die Regierung hatte in der Verzweiflung über die durch ihre bisherige Erfüllungspolitik hervorgerufene wirtschaftliche Zerrüttung mit dem Kapital Waffenstillstand geschlossen und schöpfte neue Hoffnung. So konnte sie eine Woche später dem Wiedergutmachungsausschuß noch vor seiner Abreise aus Berlin mitteilen, daß sie zwar davon ausgehe, daß es an und für sich nicht den Bestimmungen des Londoner Zahlungsplanes entspräche, zur Aufbringung der Jahresleistungen zum Mittel des Kredites zu greifen, sie sei aber, um ihren guten Willen zu beweisen, bereit, eine solche Kreditoperation vorzunehmen. Für die Frage der Bedingungen des Kredites komme es in erster Linie auf die Vorschläge des Geldverleihers an. Die deutsche Regierung sei bereit und habe auch Schritte getan, um einen Kredit zu erhalten, und bitte den Wiedergutmachungsausschuß um seine Unterstützung hierbei. Jedoch müsse sie schon jetzt darauf aufmerksam machen, daß für die Zeit der Rückzahlung der Kredite eine außerordentlich schwierige Lage mit Rücksicht auf die sonstigen Verpflichtungen des Reiches entstehen werde, und sie erwarte von der Reparationskommission, daß sie dieser besonderen Lage Rechnung tragen werde.

Deutschland setzte sich unverzüglich mit den Magnaten der Londoner Börse in Verbindung, und der Wiedergutmachungsausschuß beflügelte diese Aktion. Anfang Dezember teilte er der deutschen Regierung mit, sie solle all ihre Aufmerksamkeit unverzüglich den erforderlichen Maßregeln schenken, um die fälligen Zahlungen am 15. Januar und 15. Februar sicherzustellen. Sie möge die schweren Folgen bedenken, die notwendigerweise für Deutschland entstehen, wenn es am Fälligkeitstage seine Zahlungen nicht erfülle. Man fordere die deutsche Regierung dringend auf, entweder bei den Staatsbürgern, die notorisch Besitz im Auslande hätten, oder bei den ausländischen Geldverleihern alle Anstrengungen zu machen, um die erforderliche Ergänzung ausländischer Devisen zu erhalten. Man sei überzeugt, daß die deutschen Schwierigkeiten aufs engste mit der neuerlichen Baisse des Kurswertes der Mark verknüpft seien und mehr einen finanziellen als wirtschaftlichen Charakter hätten. Sie [209] seien vor allem durch das Versäumnis der deutschen Regierung hervorgerufen, rechtzeitig den Haushalt dergestalt ins Gleichgewicht zu bringen, daß die öffentlichen Ausgaben nicht in einem immer größer werdenden Maße durch die der Regierung von der Reichsbank gewährten Kredite und durch die Vermehrung des Papiergeldumlaufs als Folge dieser Kredite gedeckt werden.

Erfolglose
  Anleiheverhandlungen  
in London

Inzwischen waren die deutschen Vertreter nach London gefahren und verhandelten. Die Herrscher des Geldes hörten sich die Wünsche der Bittsteller an, knöpften ihre Taschen zu und schüttelten lächelnd ihre Köpfe. Nein, man werde Deutschland keinen Pfennig geben, man habe kein Vertrauen zu ihm, besonders, solange die Bedingungen des Londoner Ultimatums gelten, welche Deutschlands Zahlungsverpflichtungen für die nächsten Jahre bestimmten. Man würde weder eine langfristige Anleihe noch einen kurzfristigen Bankkredit gewähren. Ehe die zweite Woche des Dezember verstrichen war, hatte die City das Urteil gesprochen, und der deutschen Regierung blieb nur noch übrig, dem Wiedergutmachungsausschuß mitzuteilen, daß auf Grund des negativen Ergebnisses der Anleiheverhandlungen die beiden Raten im Januar und Februar nicht voll bezahlt werden könnten. Sie beantragte für den nicht erfüllbaren Restbetrag Zahlungsaufschub. Die französische Presse fand für diesen Schritt weiter keine Erklärung, als daß sie sagte, der deutschen Regierung fehle es am "guten Willen".

Es war vorauszusehen, daß der Wiedergutmachungsausschuß ohne weiteres die deutsche Mitteilung nicht entgegennehmen würde. Er wollte wissen, wie hoch die Zahlungen zu den fälligen Terminen sein würden und bis wann man den Zahlungsaufschub wünsche; die Lage zwischen Deutschland und den Alliierten war wieder aufs äußerste gespannt. Nach den amtlichen Mitteilungen des Wiedergutmachungsausschusses betrugen Deutschlands Zahlungen bis zum 31. Dezember 1921 in bar 1 184 171 000 Goldmark [eine Milliarde einhundertundvierundachtzig Millionen einhunderteinundsiebzigtausend], die erst nach Annahme des Londoner Ultimatums gezahlt waren, da ja die Regierung Fehrenbach vor Festsetzung der Gesamtsumme [210] keine Barbeträge abgeführt habe. Die Sachlieferungen wurden mit zwei Milliarden achthundert Millionen Goldmark, das Staatsvermögen in den abgetretenen Gebieten mit 2½ Milliarde eingeschätzt. Damit hatte Deutschland bis Ende 1921 insgesamt 6½ Milliarden Wiedergutmachungen geleistet. Nicht enthalten waren hierin die Kosten für Besatzung, für Ausschüsse und Zurückvergütung weggenommener Gegenstände. Für den Wiederherstellungs- und den Garantieausschuß wurde ein Jahresaufwand von 13 Millionen Goldmark angenommen!

  Frankreichs Drohungen  

Frankreich war unerbittlich. Es tobte über den säumigen Schuldner und verlangte schärfste Maßnahmen: Ruhrbesetzung. Anders England, das unter einer erdrückenden Arbeitslosigkeit litt. Lloyd George war von Sorge erfüllt, daß eines Tages das ganze europäische Wirtschaftsleben zusammenbrechen könne, wenn man nicht bald auf Mittel und Wege sinne, um das kranke Mittel- und Osteuropa wiederherzustellen. Auf englische Veranlassung war es zurückzuführen, daß am vorletzten Dezembertage englische, französische und italienische Finanzsachverständige in Paris zusammenkamen und die Gründung einer "Financial Corporation" mit dem Sitz in England und einem Aktienkapital von 20 Millionen Pfund Sterling beschlossen, um das europäische Wirtschaftsleben wieder in Gang zu bringen. Es waren lediglich Vorbesprechungen, die auf einer großen, noch zu berufenden europäischen Konferenz behandelt werden sollten. Um aber das Programm dieser Konferenz festzulegen, beschloß man möglichst bald im Januar in Cannes zusammenzukommen.

  Konferenz von Cannes  

Am Tage der Heiligen Drei Könige, dem 6. Januar 1922, versammelten sich die Vertreter der alliierten Mächte in Cannes, dem paradiesischen Badeorte der französischen Riviera. Ein ewig heiterer, blauer Himmel lachte über den Palmen und Oliven, und die Sonne spendete schon sommerliche Wärme, während im mittleren Europa der Winter sein eisiges Regiment führte. Im "Nautischen Club" tagte die Konferenz, deren Vorsitz Briand führte. Er führte aus, man wolle über die allgemeine Wirtschaftslage Europas und das Problem der Wiederherstellung sprechen. Deshalb wurden [211] zwei Ausschüsse gebildet, welche sich mit Entschädigungsfragen und dem Wiederaufbau Europas zu beschäftigen hatten. Lloyd George erklärte, wenn England Mäßigung Deutschland gegenüber zeige, so dürfe man ihm keineswegs vorwerfen, daß es deutschfreundlich sei, sondern diese Haltung entspreche den allgemeinen und großen Interessen Europas und der Welt. Was habe man davon, wenn Deutschland in das gleiche Chaos gestürzt würde, in dem sich Rußland befinde? Dies müsse man auf alle Fälle vermeiden, denn Deutschland könne in diesem Falle wesentlich gefährlicher werden als Rußland. Darum rate England zu Vorsicht und Mäßigung. Er schlage eine Wirtschaftskonferenz vor, zu der auch Deutschland und Rußland eingeladen werden sollten.

Auch der Italiener Bonomi unterstützte diesen Vorschlag, und so beschloß man denn, am 8. März in Genua eine europäische Konferenz abzuhalten, wozu die Minister möglichst aller europäischen Länder erscheinen sollten. Frankreich jedoch machte zwei Vorbehalte, daß nämlich keine innenpolitischen und propagandistischen Fragen erörtert werden sollten und daß alle wirtschaftlichen Fragen ehrlich geregelt werden sollten, indem die Schuldner ihre Verpflichtungen anerkennen, das heißt die Reparationsfrage sollte nicht erörtert werden. Der erste Vorbehalt war gegen Rußland gerichtet, dessen Propagandafreudigkeit in sowjetistischen Dingen genugsam bekannt war, und der zweite Vorbehalt betraf Rußland und Deutschland, den Vorkriegs- und den Nachkriegsschuldner Frankreichs.

Lloyd George wußte, daß er zur Durchführung seiner Pläne Frankreichs Zustimmung erkaufen mußte. Deshalb unterbreitete er Briand am 11. Januar eine Denkschrift, worin er wohlwollend alle Sorgen Frankreichs aus der Welt zu schaffen versprach. "In Cannes müsse auf alle Fälle ein Ergebnis erzielt werden", hieß es darin. "Frankreich habe vor allem zwei Sorgen: die Wiedergutmachungen und seine Sicherheit. Aber Englands Handel sei ebenso schrecklich ruiniert wie der französische Boden." Zählte man damals in England doch etwa zwei Millionen Erwerbslose! In Italien und Belgien sei die Erwerbslosigkeit ernst. Jedes der beiden [212] Länder müsse 120 000 Arbeitslose erhalten. Mittel- und Südeuropa ständen vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch. "Selbst die Inflation, die den arbeitenden Klassen Arbeit und gute Löhne gegeben hat, kann nur eine zeitweise Erleichterung bringen, wird aber sicher eine Reaktion auslösen, so daß schon rechtzeitig Maßregeln ergriffen werden müssen. Die Menschen, die nur über eine kleine Rente verfügen, leiden noch mehr." Rußland müsse man aus wirtschaftlichen und humanitären Gründen unterstützen. England sei jedoch bereit, zugunsten Frankreichs an den getroffenen Reparationsvereinbarungen festzuhalten, die für Frankreich beträchtliche Vorteile, für England beträchtliche Opfer bedeuteten. Auch sei England bereit, das seiner Menschenzahl nach schwächere Frankreich gegenüber einem etwaigen nicht herausgeforderten Angriff des stärkeren Deutschland durch einen Vertrag auf Grundlage des Abkommens von 1904 zu sichern, – jenes Abkommens, das den Franzosen die englische Unterstützung im Kriege versprach. Es handle sich dabei aber nur um einen Defensivvertrag mit zehnjähriger Gültigkeitsdauer.

Poincarés
  Quertreibereien  

In Paris verfolgte man mit Unbehagen die Verhandlungen von Cannes, und man war vollends erbittert, als man erfuhr, daß der Wiederherstellungsausschuß bereit sei, auf englische Initiative den Deutschen einen Zahlungsaufschub zu bewilligen. Auch fürchtete man, Briand werde nicht tatkräftig genug den französischen Antrag vertreten, daß auf der beschlossenen europäischen Konferenz mit keinem Worte an den Wiedergutmachungsbestimmungen gerührt werden dürfe. Schließlich wollte man den von Lloyd George vorgeschlagenen Defensivpakt auch auf Polen ausgedehnt und auf 30 Jahre verlängert wissen. Mit einem Worte: die nationalistische Gruppe, deren Seele Poincaré war, hatte kein Vertrauen zu dem "allzu nachgiebigen" Briand. Es gelang dem intransigenten Poincaré, die politische Meinung zu beeinflussen, und im Namen des Senats telegraphierte er am 11. Januar an Briand:

      "Der Senatsausschuß für auswärtige Angelegenheiten hat auf Verlangen einer großen Anzahl seiner Mitglieder und mit Rücksicht auf das allgemeine Gefühl, das sich gestern in den [213] Gruppen des Senats geltend gemacht hat, mich beauftragt, Ihnen eiligst Kenntnis zu geben von der Tagesordnung, die angenommen worden ist. Der Ausschuß ist der Ansicht: 1. daß der wirtschaftliche und finanzielle Wiederaufbau Frankreichs eine wesentliche Bedingung des Wiederaufbaues Europas ist; 2. daß die Reparationen, auf die Frankreich Anspruch hat, unantastbar bleiben, daß also weder eine neue Reduktion noch eine Abänderung des Zahlungsplanes vom 15. Mai 1921 angenommen werden kann; es ist unzulässig, die belgische Priorität im mindesten zu erschüttern; 3. Frankreich kann sich zu der geplanten internationalen Wirtschaftskonferenz nur begeben, wenn es im voraus die effektive Versicherung erhält, daß alle seine Rechte respektiert werden; 4. der zwischen Frankreich und England diskutierte Pakt muß vor allem die Garantien der Ausführungsmittel und die Pfänder, die Frankreich aus dem Vertrage zu empfangen hat, bestätigen und ihm für Gegenwart und Zukunft sichern. Der Ausschuß ist infolgedessen der Ansicht, daß nichts wirksam werden kann ohne die Mitarbeit des Parlaments."

Damit war der unversöhnliche Standpunkt des hartnäckigen, in jeder Weise eifersüchtig sein Prestige wahrenden Frankreich festgelegt, und Briand waren die Hände gebunden: er bedurfte zu seinen Abmachungen der "Mitarbeit des Parlamentes"!

  Rathenau in Cannes  

Inzwischen war Rathenau, der Vertreter der deutschen Regierung, in Cannes eingetroffen. Am 12. Januar sprach er vor dem Wiederherstellungsausschuß im "Nautischen Club" über Deutschlands Lage. In bewegten Worten schilderte er die Not der deutschen Regierung und des deutschen Volkes. Deutschland sei fest entschlossen, mit seinen Leistungen bis an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit zu gehen, aber äußere Leistung und innere finanzielle Sanierung seien unvereinbar. Deutschland sei ein Land der Lohnarbeit: Rohstoffe müsse es einkaufen, Fertigfabrikate verkaufe es. Es müßte also nomalerweise eine aktive Handelsbilanz haben, aber tatsächlich stände einer Einfuhr von 6 Milliarden eine Ausfuhr von 4 Milliarden gegenüber. Damit sei die deutsche Wirtschaft schon vor jeder Reparationszahlung um 2 Milliarden vorbelastet. Nun gebe es drei Möglichkeiten, um diesen Verlust [214] zu decken: entweder den Ausverkauf der Landessubstanz, der tatsächlich auch leider nicht verhindert werden könne, denn Grundstücke, Unternehmungen, Obligationen, Aktien, ja sogar Hausrat werde in großen Mengen vom Ausland unter Wert gekauft, oder Durchführung einer Auslandsanleihe; aber ein Versuch in dieser Richtung sei fehlgeschlagen, da nach Ansicht der City die Deutschland auferlegten Lasten zu groß seien, oder schließlich Verkauf der Landeswährung, dadurch werde die deutsche Mark internationales Spekulationsobjekt. Zwar sei der Prozeß des Ausverkaufs des deutschen Geldes ohne panikartige Folgen bis Mitte 1921 fortgeführt worden, dann aber hätten plötzlich die Markkäufer gestreikt.

      "In dem Augenblick, wo man sah, daß wir gezwungen waren, in kurzer Frist eine Goldmilliarde zu beschaffen (bis 31. August 1921), mithin 30 Papiermilliarden zu verkaufen, steckten die Markkäufer die Hände in die Taschen und warteten. So trat der Marksturz ein, und der Dollarkurs stieg zeitweise von 55 auf 300."

Dieser Marksturz sei also nicht nur die Folge des Gebrauchs der Notenpresse. Als die ersten Nachrichten über die ersten britisch-französischen Besprechungen wegen der Regelung der deutschen Verbindlichkeiten für 1922 bekannt wurden, habe sich die Mark wieder erholt. Aber:

      "Solange die Währung eines Staates auf dem internationalen Markte aus dem Gleichgewicht gekommen ist, ist es unmöglich, irgendein Budget auf bestimmte Zeit in Sicherheit zu bringen. Denn jeder neue Sturz des Kurses hat eine Erhöhung der Ausgaben für Gehälter, Löhne und Rohstoffe zur Folge. Ein Staatsbudget setzt sich aber nur aus diesen drei Posten zusammen."

Wenn die Reparationen erträglicher würden, könne die Mark steigen, und dementsprechend sinke das Maß der Staatsausgaben in Papiermark.

Als Mittel für die Gesundung der Mark komme folgendes in Frage: die Hebung der Produktion, um die Ausfuhr zu vermehren. Dies sei jedoch durch den Widerstand des Auslandes gegen die Einfuhr deutscher Waren außerordentlich schwierig. Man könne also nur die landwirtschaftliche Produktion heben, dazu sei aber jetzt Zeit nötig. An eine [215] Einschränkung des Verbrauches sei nicht zu denken, denn die deutsche Lebenshaltung sei bereits auf die Hälfte der Vorkriegszeit zurückgegangen. Der Staatshaushalt für 1922 betrage ausschließlich der Reparationen 85 Milliarden; man habe die Steuerlasten verdoppeln müssen, und der Deutsche trage in dieser Hinsicht eine schwerere Bürde als der Engländer und der Franzose. Die Eisenbahn, Post und Telegraphie müsse man ins Gleichgewicht bringen, ja man müsse auch die öffentlichen Unterstützungen zur Verbilligung der Lebensmittel und zur sozialen Fürsorge abbauen. Wenn man noch die Reparationen hinzurechne, müsse das deutsche Volk im neuen Jahre 218½ Milliarden Papiermark, das heißt bei einem Kurs von 1 : 50, 4⅓ Milliarden Goldmark aufbringen. Man könne dies entweder durch eine Verdoppelung oder Verdreifachung der Steuern oder aber durch eine Riesenanleihe bewerkstelligen. Wie aber solle die Anleihe zustande kommen? Der Versuch im Ausland sei gescheitert, und für eine innere Anleihe bestehe wenig Hoffnung, denn statt der nationalen Ersparnisse der Vorkriegszeit habe das deutsche Volk jährlich 2 Milliarden Goldmark Verlust, es lebe von der Substanz. Gewiß, Deutschland leide zwar nicht an einer offensichtlichen, aber an einer versteckten Arbeitslosigkeit, denn ein Fünftel aller Arbeitnehmer, 4 Millionen, müßten gegenwärtig Arbeit leisten, die vor dem Kriege nicht nötig war. Deutschland sei bereit zu stabilisieren und wolle auch eine innere Anleihe in Erwägung ziehen. Es sei bereit, mitzuarbeiten am Wiederaufbau Europas, besonders in Rußland, da es dort mit den technischen und wirtschaftlichen Bedingungen vertraut sei. Ein internationales Privatsyndikat scheine sich am besten für diesen geplanten, mit deutscher Hilfe durchzuführenden Aufbau Rußlands zu eignen. –

Dem Eindruck der klaren und überzeugenden Worte Rathenaus vermochten sich die Mitglieder des Wiedergutmachungsausschusses nicht zu entziehen, jedoch ihre Wirkung war abgeschwächt, da Briand auf Grund des oben besprochenen Pariser Telegrammes abgereist war. Dies war die Absicht Poincarés gewesen, und es war ihm gelungen, [216] so die Konferenz von Cannes zu sprengen, ehe seiner Ansicht nach weiteres Unheil angerichtet wurde. Lloyd George sah sich gezwungen, die Konferenz zu vertagen.

Am folgenden Tage, dem 13. Januar, wurde die deutsche Abordnung zu einer gemeinsamen Sitzung des Obersten Rates und des Wiedergutmachungsausschusses in dem "Nautischen Club" eingeladen. Lloyd George eröffnete, in Briands Abwesenheit könne man die Verhandlungen nicht fortsetzen, man habe aber beschlossen, eine Wirtschaftskonferenz nach Genua einzuberufen und auch Deutschland hierzu einzuladen. Mit Befriedigung habe er von Rathenau vernommen, daß Deutschland sich am Wiederaufbau Mittel- und Osteuropas beteiligen wolle. Die Entschädigungsfrage müsse man aber wegen Briands Abreise vertagen.

  Teilmoratorium  

Nun kam der Vorsitzende des Wiederherstellungsausschusses, Dubois, zu Wort. Die Entscheidung, die er der deutschen Delegation mitteilte, ließ erkennen, daß Rathenaus zweistündige Rede vom vorigen Tage nicht vergeblich gewesen war:

      "Der Wiederherstellungsausschuß beschließt, der deutschen Regierung eine vorläufige Verzugsfrist für die am 15. Januar und 15. Februar fälligen Zahlungen zu gewähren, soweit diese Zahlungsverpflichtungen durch geleistete oder noch zu leistende Barzahlungen und durch Sachlieferungen oder Einnahmen aus der Recovery-Act, die schon eingegangen sind oder bis zu den obengenannten Tagen eingehen werden, nicht schon gedeckt sind."

Allerdings wurde das vorläufige Teilmoratorium für Deutschland von folgenden Bedingungen abhängig gemacht: es sollten, beginnend am 18. Januar, alle zehn Tage 31 Millionen in zugelassenen Devisen gezahlt werden, und innerhalb vierzehn Tagen solle die deutsche Regierung dem Ausschuß einen angemessenen Reform- und Garantieplan für den deutschen Staatshaushalt und Papiergeldumlauf, sowie ein vollständiges Programm für die Barzahlungen und Sachlieferungen im Jahre 1922 übergeben. Das Moratorium sei zu Ende, sobald der Ausschuß oder die Alliierten eine Entscheidung über den von Deutschland eingereichten Plan getroffen hätten.

Die Konferenz von Cannes war hiermit zu Ende, und [217] Rathenau kehrte nach Deutschland zurück. Er hatte ohne jeden Zweifel Deutschlands Sache äußerst gewandt vertreten und war dabei nicht erfolglos gewesen, soweit es sich im Rahmen der gegebenen Tatsachen um das Mögliche und Erreichbare handelte. Von seiten der Besitzenden wurde ihm die Betonung des deutschen Erfüllungswillens vorgeworfen, denn für jeden einsichtigen Politiker bedeute der Erfüllungswille eine Absurdität, und insofern betrachtete man den Rathenauschen Erfolg eines Teilmoratoriums nicht als ein Mittel zur Gesundung Deutschlands, sondern als ein Palliativmittel für augenblickliche Schmerzbetäubung. Die Reichsregierung übertrug Rathenau jetzt das Außenministerium, und in dieser Eigenschaft war ihm der Weg geebnet zu engeren und konkreteren Verhandlungen mit Rußland. Rathenau richtete sein Augenmerk nach dem europäischen Osten, dem er schon seit Jahren mit Vorliebe seine Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Jetzt war er in die Lage versetzt worden, hier praktische Politik zu treiben, besonders, da er die ungeahnten Wirtschaftsmöglichkeiten Rußlands kannte und bei ihrer Ausnutzung nicht den Engländern den Vorrang lassen wollte, dann aber auch, da er den Plan Frankreichs durchkreuzen wollte, sich mit Rußland über die Anerkennung der zaristischen Schulden auf Deutschlands Kosten zu einigen. Andeutungen, die Rathenau in Cannes gemacht hatte, setzte er nach seiner Rückkehr in positive Politik um, und in den nächsten Monaten galt seine Hauptsorge den deutsch-russischen Beziehungen.

Reformplan
  der Regierung Wirth

Inzwischen hatte die deutsche Regierung den verlangten Reformplan ausgearbeitet und am 28. Januar dem Wiederherstellungsausschuß überreicht. Das Schriftstück atmete geradezu den Mut der Verzweiflung. Um eine Vermehrung der Einnahmen zu erzielen, wollte man die Besitzsteuern, Vermögens-, Vermögenszuwachs-, Kapitalverkehrs- und Körperschaftssteuer erhöhen. Man sah voraus, daß infolge dieser Maßnahme das Vermögen selbst, die Substanz des Besitzes, angegriffen werden müsse, was logischerweise auch einen Rückgang des Verbrauchs zur Folge haben würde, deswegen müßten auch die Verbrauchssteuern gesteigert werden! Das Bankgeheimnis [218] sollte aufgehoben werden, den Wertpapierbesitz bei den Banken sollte die Steuerbehörde überwachen, und gegen Kapitalflucht seien strenge Gesetze in Vorbereitung. Der Eisenbahnpersonenverkehr sollte auf das 15- bis 19fache, der Güterverkehr auf das 32fache, der Post- und Telegraphenverkehr auf das 21fache gegenüber der Vorkriegszeit gesteigert werden. Die Ausgaben sollten durch Verringerung der Beamtenstellen herabgemindert werden, auch sollten die Zuschüsse zur Lebensmittelverbilligung, die 1921 noch rund 22½ Milliarden betragen hätten, bis auf eine Milliarde herabgedrückt werden, wodurch der Brotpreis um 75 Prozent erhöht werde. Die Erwerbslosenunterstützung aus öffentlichen Mitteln sollte durch eine Arbeitslosenversicherung ersetzt werden, wodurch diese Lasten auf Arbeitgeber und Arbeitnehmer abgewälzt würden. Post und Eisenbahn sollten sich künftig selbst erhalten, oder unter Umständen Überschüsse erzielen. Man rechne mit 103 Milliarden Einnahmen und etwa 87 Milliarden Ausgaben, somit könne man etwa 16½ Milliarden für Reparationen erübrigen. Um die schwebende Schuld und den Notenumlauf einzuschränken, wurde eine Zwangsanleihe beschlossen. Dann sprach der Plan vom Programm der Leistungen. Deutschlands Handelsbilanz sei um zwei Goldmilliarden passiv, und deshalb seien sichere Angaben über Wiedergutmachungsleistungen unmöglich. Deutschland werde jedoch sein möglichstes tun. Monatlich oder vierteljährlich wiederkehrende Reparationszahlungen in fremder Währung müßten Deutschland verhindern, seine Finanzen in Ordnung zu bringen. Große Kreditoperationen seien zwar nötig, aber weder das Inland noch das Ausland habe Vertrauen zu Deutschland. Das Vertrauen der Welt in Deutschlands Zahlungsfähigkeit wiederherzustellen, sei die Vorbedingung für eine befriedigende Lösung des Problems. Zu guter Letzt wurde eine Art Vertrag mit dem Ausland vorgeschlagen, wonach die ausländischen Behörden verpflichtet sein sollten, der deutschen Regierung genaue Mitteilungen über das deutsche Kapital im Ausland zu machen, damit man dies erfassen könne.

  Kritik des Reichstags  

[219] In aller Stille wurde dem Wiedergutmachungsausschuß das Dokument überreicht. Als dann Wirth im Reichstag über die Verhandlungen von Cannes und den Reformplan der Regierung sprach, war man höchst erstaunt. Es war eine trostlose Zukunft, in welche der Erfüllungswille der Regierung das deutsche Volk hineintrieb. Die Deutschnationalen geißelten mit erbitterten Worten die Handlungsweise des Kabinetts. Es sei doch nach der Verfassung notwendig, daß erst der Reichstag befragt werden müsse, ehe sich die Regierung auf derartig folgenschwere Entschlüsse festlege, wie sie solche dem Wiedergutmachungsausschuß in ihrem Reformplan vorgelegt habe. Sie habe doch kein Ermächtigungsgesetz in Händen. Die Regierung treibe mit ihrer Politik Deutschland in den Untergang. Wirth aber erkannte, daß nun alle Brücken zum deutschen Kapital abgebrochen waren. Selbst Scheidemann, der Sozialdemokrat, wurde von der katastrophalen Stimmung mit fortgerissen, indem er sagte: "Wir sind ein Volk von Bettlern geworden, wir hungern und frieren. Eine allgemeine Achtung vor der deutschen Republik besteht noch nicht. Viele Beamte schmähen die Republik, stecken aber ihr Geld ruhig ein." Wie ein Verhängnis stand es über dem Volke: der unbarmherzige Sieger wollte seine Vernichtung. Was nützte jeder Widerspruch? Die Mehrheit des Reichstages ergab sich in ihr Geschick. Man nahm die Regierungsvorlage, den Steuerkompromiß, an und klügelte neue Steuern aus. Der ungedeckte Betrag von 183 Milliarden sollte durch eine drei Jahre hindurch unverzinsliche Zwangsanleihe gedeckt werden. Dumpfe Resignation bemächtigte sich des ganzen Volkes, die Warnungen der Rechtsparteien verhallten ungehört, viele erwarteten den Untergang, den Zusammenbruch des Reiches, den Bolschewismus.

  Eisenbahnerstreik  

Um diese Zeit, Ende Januar und Anfang Februar, erschütterte ein großer Eisenbahnerstreik die innere Ruhe, an dem sich auch die Beamten beteiligten. Es sollte das neue Arbeitszeitgesetz geschaffen werden, welches den achtstündigen Arbeitstag festlegte, jedoch sollte das Eisenbahnpersonal hiervon ausgenommen sein. Die Regierung erließ ein Streikverbot, welches die Streikenden aufs höchste erbitterte. Sie [220] wiesen darauf hin, daß der Streik ein anerkanntes Wirtschaftskampfmittel sei, da ja Ebert selbst während des Kapp-Putsches zum Generalstreik aufgerufen habe. In seiner Reichstagsrede vom 10. Februar erhob der Unabhängige Dittmann schwere Anschuldigungen gegen den Reichspräsidenten. Dazu kamen die fortgesetzten Drangsale der Interalliierten Kommissionen. Weshalb soll ich diese alle im einzelnen aufführen? Sie würden den Leser nur ermüden. Nollets ewige Forderungen wegen Neuorganisation der Polizei wiederholten sich in bestimmten Zeitabständen. Nichtswürdige Subjekte hatten ihm angezeigt, daß bei zahlreichen Bürgermeistereien doch militärische Stammrollen vorhanden seien, also forderte er deren Verbrennung in Gegenwart von Ententeoffizieren.

Ende Februar schloß Bemelmans, der Vertreter des Wiedergutmachungsausschusses, mit der deutschen Regierung ein Sachlieferungsabkommen, das sich im wesentlichen auf den Wiesbadener Beschlüssen aufbaute. Zwei Wochen später kamen in Paris die Finanzminister Frankreichs, Englands und Italiens zusammen, um die deutschen Tribute zu verteilen. Den Franzosen wurden 65 Prozent aller deutschen Sachleistungen zugesprochen. Auch wurde das Wiesbadener Abkommen für die Dauer von drei Jahren angenommen, jedoch sollten dabei die deutschen Sachleistungen 1922 nicht 350, die beiden folgenden Jahre nicht je 750 Millionen übersteigen, das waren die Forderungen der französischen Industrie.

Forderungen des
  Wiedergutmachungsausschusses  

Am 21. März endlich äußerte sich der Wiedergutmachungsausschuß über den deutschen Plan vom 28. Januar. Er genüge keineswegs den Verpflichtungen Deutschlands und den ihm gegebenen Möglichkeiten. Die deutsche Regierung werde darauf hingewiesen, daß man von ihr "eine anders vertiefte Reform der Reichsfinanzen und die endgültige Aufgabe der bis zum heutigen Tage begangenen Irrtümer zu erlangen gedenke". Es wurde eine Vermehrung der Steuern um weitere 60 Milliarden bis zum 1. Mai verlangt, und man behalte sich das Recht der Überwachung vor. Die Barleistungen Deutschlands wurden für den Rest des Jahres 1922 mit 438 Millionen festgesetzt, von denen am [221] 15. April 18 Millionen, vom Mai bis Oktober an jedem 15. d. M. je 50 Millionen, am 15. November und 15. Dezember je 60 Millionen gezahlt werden sollten. An Sachleistungen sollten 950 Millionen an Frankreich, 500 Millionen an die andern Alliierten erstattet werden.

Die deutsche Regierung mußte sich wohl oder übel mit den Vorschlägen einverstanden erklären. Durch das Autonomiegesetz gab sie der Reichsbank die vom Wiedergutmachungsausschuß geforderte Selbständigkeit und verzichtete in weitgehendem Maße auf ihren Einfluß bei diesem Institut. Auch die Finanzkontrolle durch das Garantiekomitee wurde angenommen mit der Einschränkung, daß die Souveränität Deutschlands nicht angetastet werden sollte. Das Garantiekomitee sollte eine beobachtende und beratende, keine bestimmende Instanz sein.

  Wachsende Wirtschaftsnot  
in Deutschland

Deutschland hatte bereits vom 18. Januar bis zum 18. März in sieben Dekaden 282 Millionen Goldmark gezahlt. Unter diesen ungeheuerlichen Erpressungen nahm die Not des deutschen Volkes immer schärfere Formen an. Der Dollarkurs stieg über 300, und eine Goldmark mußte mit 75 bis 80 Papiermark bezahlt werden. Von Woche zu Woche nahm die Teuerung furchtbarere Formen an. Viele unentbehrliche Lebensmittel, so das Fleisch, waren schon 60- bis 70mal so teuer wie vor dem Kriege. Der Brotpreis, der durch Reichszuschüsse und Zwangswirtschaft künstlich niedergehalten wurde, hatte schon den 25fachen Betrag der Vorkriegszeit erreicht. Man mußte 15 Mark anwenden, um einen Laib Brot zu erstehen. Die Kohle, die Ende Januar den 35fachen Friedenspreis kostete, war unter den Einwirkungen der erhöhten Kohlensteuer und der erhöhten Löhne bis zum März auf das 60fache gestiegen: der Zentner kostete 40 Mark. Die Baumwolle gar schnellte in zwei Monaten vom 65fachen auf den 95fachen Friedenspreis empor. Auch Möbel, Wäsche, Hausrat usw. hatten im Frühjahr ihre Preise gegenüber dem Januar verdoppelt.

Teuerungsunruhen: Massenkundgebung Erwerbsloser vor dem Rathaus zu Berlin.
[Bd. 2 S. 176a]      Teuerungsunruhen: Massenkundgebung Erwerbsloser
vor dem Rathaus zu Berlin.
      Photo Scherl.

Verarmung
  der Besitzenden  

Papiergeld des Nationalsozialistischen Arbeitervereins in München.
[Bd. 2 S. 176b]      Papiergeld des National-
sozialistischen Arbeitervereins in München:
"Streiter der Wahrheit tötet die Lüge".

Photo Sennecke.
Den Arbeitern, Angestellten und Beamten war es immerhin [222] möglich, durch Ansteigen ihrer Löhne und Gehälter einigermaßen Schritt zu halten mit der Verteuerung des Lebens. Aber auch sie spürten von Woche zu Woche die zunehmende Not und waren gezwungen, sich einzuschränken. Ganz besonders aber litt der deutsche Mittelstand unter den Verhältnissen, die freien Berufe der Wissenschaft, des Handels und Gewerbes. Angstvoll verfolgten sie die Katastrophe, die ihnen ihr Lebenswerk, ihre Ersparnisse zu vernichten drohte. Sie hatten schon längst auf die Ansprüche des Wohllebens verzichtet, jetzt sahen sie voll Verzweiflung, daß auch die Grundlagen ihrer Existenz, die ihnen das notdürftigste Leben gewähren sollten, erschüttert wurden. Menschen, die meist zu den Begüterten und Reichen zählten, zeigten sich in abgeschabten und geflickten Kleidern, sie hungerten und wohnten in ungewärmten Räumen und sparten des Abends das Licht. Manche schon sahen sich gezwungen, ihre Kostbarkeiten und Kleinode zu verkaufen, um ein ärmliches Leben fristen zu können. Verzweifelte begingen Selbstmord, da sie den Aufregungen und Sorgen nicht mehr gewachsen waren, und besonders die Älteren, die nicht mehr die Kraft zur Arbeit besaßen, befanden sich in erbarmungswürdiger Not. Immer weiter streckte das greifende Elend seine Krallen aus und verbreitete einen Geist dumpfer Hoffnungslosigkeit, dem sich immer weitere Kreise des deutschen Volkes ergaben. Viele Deutschen hatten den Glauben an die Gerechtigkeit und Menschenwürde verloren, und wo sie nicht zu Verbrechern wurden, wurden sie zu Feinden des Staates, ja des Vaterlandes.

Bedrückung
  des Hausbesitzes  

Zwar war die Regierung Wirth bemüht, durch eine umfassende Gesetzgebung die allgemeine Not etwas zu lindern. Aber gerade diese legislatorische Tätigkeit, die den Besitzlosen zugute kommen sollte, richtete sich gegen die schwächste Gruppe der Besitzenden, indem ihnen ein viel schlimmeres Los bereitet wurde als manchem Arbeiter – sie richtete sich gegen die Besitzer der Mietshäuser. Es war gewiß berechtigt, von vornherein jeden Wucher bei dem elementarsten Lebensbedürfnis des Wohnens auszuschalten, und er war auf diesem Gebiete besonders begünstigt nicht nur durch die hereinbrechende allgemeine Not, sondern vor allem auch durch den [223] großen Wohnungsmangel. Um diesem abzuhelfen, hatte die Regierung Wirth bereits am 16. Juni 1921 ein Hauszinssteuergesetz verkündet, welches die Länder verpflichtete, von den Wohnungsinhabern der vor dem 1. Juli 1918 fertiggestellten Wohnungen eine Abgabe zu erheben. Die Gemeinden sollten hierzu Zuschläge erheben, und die Einkünfte dieser Steuer, die deswegen auch Wohnungsbauabgabe genannt wurde, sollten zum Bau neuer Wohnhäuser verwandt werden. Wohl seufzte das Volk über diese neue Last, die ihm auferlegt wurde, aber man nahm sie hin und trug sie in dem Bewußtsein, daß die Wohnungsbauabgabe gerecht verteilt sei auf Mieter und Vermieter, auf Besitzlose und Besitzende, je nach dem Maßstabe ihres Mietzinses. Eine ungerechtfertigte Härte für den Hausbesitzer und Sparer jedoch stellte das Reichsmietengesetz vom 24. März 1922 dar. Das Reich wollte hierin den Mieter gegen jede ungerechtfertigte Steigerung der Miete schützen, ein Verfahren, das anerkennenswert war. Aber indem sich die Fürsorge des Staates nur auf die Mieter erstreckte, wurde der Hausbesitzer durch das künstliche Niederdrücken seiner Einkünfte anderen Erwerbsständen gegenüber stark benachteiligt. Die zur Erhaltung seines Hauses notwendigen Mittel wurden ihm gewährt, aber jegliche Grundrente blieb ihm versagt, sie blieb in Papiermark nach dem Friedensstande nominell berechnet, ohne nach Recht und Billigkeit durch irgendwelche Zuschläge der Markverschlechterung entsprechend erhöht zu werden. Während der Hausbesitzer für seine Lebensbedürfnisse fast das 100fache der Vorkriegspreise bezahlen mußte, war die Kaufkraft seiner Hausrente auf den 50sten Teil ihres früheren Wertes gesunken!

Not der
  Hypothekengläubiger  

Diese Maßnahmen waren natürlich nur dadurch möglich, daß auch die Hypothekengelder entwertet wurden, indem man ihren nominellen Goldmarkwert einfach demselben Nominalwert in Papiermark gleichsetzte. Die Gläubiger, die vielfach die Ersparnisse ihres ganzen Lebens auf städtischen Grundbesitz festgelegt hatten, erhielten Zinsen, deren Wert kaum mehr genügte, um den notdürftigsten Lebensbedarf einiger Tage zu decken. Ja, diese von Staats wegen drakonisch betriebene Entwertung des Kapitalbesitzes machte es den [224] Schuldnern leicht, ihre in Goldmark empfangenen Darlehen in leicht wiegender Papiermark zurückzuzahlen. Tausende von Familien, die sich ehrlich durch ihrer Hände Arbeit durchs Leben gebracht hatten und auf einen versorgten Lebensabend hofften, wurden einem grausamen Untergange geweiht. In jenem schwarzen Frühjahr 1922 hob der Siegeszug des Todes und der Vernichtung an, der sich an die Fersen der Inflation heftete und das deutsche Volk seelisch und leiblich fast zugrunde gerichtet hätte. Der Reichstag setzte in bestimmten Abständen die Grenzen der Sozialversicherung herauf, die Landtage zeterten über Teuerung, Not und Armut. Es war aber keinem Menschen die Macht gegeben, den Strom des Unheils, der sich heranwälzte, zu bannen.

  Kulturelle Not  

Auch die kulturelle Not des deutschen Volkes war groß. Den Leidensweg, den die deutsche akademische Jugend ging, werde ich in einem späteren Kapitel beschreiben. Aber auch der Beruf der seminaristisch gebildeten Lehrer war beängstigend überfüllt. Im März 1922 waren für 21 000 Lehrerstellen, die Preußen überhaupt zu vergeben hatte, 30 000 Bewerber vorhanden, also auf jede vierte Stelle wartete ein Kandidat! Es konnte aber nur der kleinere Teil (46 Prozent) im Schuldienst beschäftigt werden, während die überwältigende Mehrzahl brotlos war. Allerdings zeigte sich, daß die Lehrerschaft wieder mehr und mehr zur christlichen Weltanschauung zurückkehrte. Weigerten sich 1921 663 Lehrer, Religionsunterricht zu erteilen, so war bereits im Frühjahr 1922 deren Zahl um 38 zurückgegangen, ein Zeichen dafür, daß die deutsche Kultur stark genug war, die ungesunden Auswüchse der Revolution zu überwinden. Dagegen hatte sich die Zahl der vom Religionsunterricht befreiten Kinder mehr als verdoppelt, sie war auf 118 000, über 2 Prozent, angestiegen, – eine Folge kommunistischer und sozialistischer Arbeit. Der sozialdemokratisch-unabhängigen Regierung Sachsens war es sogar geglückt, am 5. April im Landtag mit 49 Stimmen der Linken gegen 45 Bürgerliche ein Gesetz über Anerkennung des 1. Mai und des 9. November als gesetzliche Feiertage durchzubringen.



Geschichte unserer Zeit
Dr. Karl Siegmar Baron von Galéra