[Bd. 2 S. 225] 5. Kapitel: Genua und Rapallo.
So blieb Europa unter sich, und der Beginn der ersten großen europäischen Wirtschaftskonferenz wurde auf den 10. April festgesetzt. In den ersten Tagen des April strömten in der seit alten Tagen berühmten Handelsstadt Italiens viele Hunderte von Fremden aus aller Herren Länder zusammen. Dreiunddreißig Völker entsandten ihre Minister, denen ein großer Stab ausführender Organe folgte, und ein Heer von Pressevertretern heftete sich an ihre Fersen. Es war ein Völkergemisch wie weiland beim Turmbau zu Babel, und ein phantastisches Sprachengewirr schlug dem Beobachter auf den Straßen und in den Hotels entgegen, und für die Gewerbetreibenden Genuas brach im wahrsten Sinne des Wortes eine goldene Zeit an. Heiter und blau, wie der Himmel des Südens, war die [226] Stimmung der Konferenzteilnehmer. War man doch zusammengekommen, um Europa den Frieden wiederzugeben und seine kranke Wirtschaft wiederaufzurichten. Auch Japan hatte sich zu diesem Zwecke eingefunden. Noch nie gesehene Gäste bei solchen europäischen Veranstaltungen waren die Sowjetrussen. Sie erschienen nicht in blauer Bluse und roter Krawatte, sondern in Zylinder, Frack und weißer Binde, als vollendete Männer von Welt. Der Führer der Sowjetdelegation war Tschitscherin, der einem alten russischen Adelsgeschlechte entstammte und aus der alten russischen Diplomatie hervorgegangen war. Der Ruf eines gewandten und gewiegten Staatsmannes war ihm vorausgeeilt. Von Deutschland waren der Reichskanzler Wirth und der Außenminister Rathenau erschienen. Mit einer feierlichen, vom Friedensgeiste getragenen Rede eröffnete der italienische Ministerpräsident de Facta als Vorsitzender die Versammlung. Hier gebe es weder Freunde noch Feinde, noch Sieger und Besiegte, sondern nur Menschen und Völker, die sich vereinigen wollten, um alles aufzubieten, was notwendig sei, um den Geist der Zusammenarbeit und Brüderlichkeit unter den Völkern zu erreichen. Dieser Geist sei das charakteristische Zeichen der Konferenz. Hier sei kein Platz für die Erinnerung an den Haß und für die Erinnerung an die Gefühle, die durch den Krieg entstanden seien. Lloyd George erging sich in den gleichen Gedanken. Europa brauche Ruhe und Frieden, man solle versuchen, das Gute zu schaffen, statt es zu bekämpfen. Doch schon etwas umwölkt war des Franzosen Barthou Stirne, als er, im Namen Frankreichs, erklärte, die Wiedergutmachungsfrage werde hier nicht erörtert werden. Die Konferenz von Genua sei somit nicht, könne und werde nicht sein eine Berufungsinstanz, wo die bestehenden Verträge zur Sprache gebracht, beurteilt und revidiert werden könnten. Der Krieg habe Frankreich zuviel gekostet, als daß es nicht Abscheu vor dem Kriege empfinden sollte, es sei in seiner Gesamtheit entschlossen pazifistisch. Der Deutsche Reichskanzler Wirth versuchte den Eindruck des negativen französischen Geistes etwas abzuschwächen, als er die Voraussetzung für einen wirklichen Erfolg nur in sachlicher [227] Zusammenarbeit und ernsten Willen sah. Er forderte deswegen Gleichberechtigung für alle Völker.
Verlegen lächelnd erhob sich Lloyd George, um in dem galligen Disput zwischen Frankreich und Rußland zu vermitteln. Nichts sei so mit Explosivstoffen geladen wie eine Friedenskonferenz. Wenn die Konferenz von Genua nicht zur Entwaffnung führe, werde sie ein Fehlschlag sein, aber ehe die Entwaffnung kommen könne, müsse eine Verständigung dasein. Das war wahrhaft diplomatisch ausgedrückt und gab beiden Parteien recht.
Da geschah etwas Unerwartetes. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel wirkte die Nachricht, daß Rathenau und Tschitscherin in Rapallo, einem kleinen Ausflugsort in der Umgebung Genuas, einen Vertrag abgeschlossen hätten, der ganz außerhalb der Kontrolle der Alliierten lag. Mit Eifer und Eile hatte Rathenau darauf gedrängt, daß Sowjetrußland in engere Beziehungen zu Deutschland trat. Drei Gründe waren für den deutschen Außenminister maßgebend: nach der Aufhebung des Brest-Litowsker Vertrages bestand zwischen Deutschland und Rußland weder ein formeller noch ein materieller Friedenszustand, und dieses unklare Verhältnis mußte beendet werden, besonders, da ja Deutschland die Sowjetrepublik in aller Form anerkannt hatte. Dann aber noch etwas anderes: die Alliierten waren nach Genua gegangen, um Rußlands Verpflichtungen zu regeln. Die Sowjetrepublik sollte dazu gebracht werden, die Schulden des Zarenreiches anzuerkennen, wofür sie sich dann an Deutschland hätte schadlos halten können, gemäß dem letzten Absatz des Artikels 116 im Versailler Vertrag, welcher lautete: "Die verbündeten und assoziierten Mächte behalten Rußland ausdrücklich die Rechte auf alle Wiederherstellungen und Genugtuungen vor, die auf den Grundsätzen des gegenwärtigen Vertrages beruhen." Jetzt hatte Rathenau meisterhaft das Prävenire gespielt, und Deutschland hatte Rückendeckung gegen [229] etwaige Überfälle Frankreichs, die es von Rußland aus vornehmen konnte, indem es die Sowjets unter Hinweis auf Artikel 116 zur Anerkennung der Vorkriegsschulden zu bewegen versuchte. Schließlich wollte der deutsche Außenminister verhindern, daß bei einer etwaigen Wirtschaftsverständigung zwischen England und Rußland Deutschland beiseitegeschoben würde.
"Die deutsche Regierung, vertreten durch Dr. Rathenau, und die Regierung der Russischen Sozialistischen Republik, vertreten durch Tschitscherin, sind über die nachfolgenden Bestimmungen übereingekommen:Der deutsch-russische Vertrag enthielt, soweit er die Vergangenheit betraf, einen Frieden unter Verzicht auf Annexionen und Entschädigungen, wie ihn die deutsche Demokratie seit 1917 forderte, und war, soweit er die Zukunft betraf, ein Wirtschaftsvertrag, der beiden Ländern gewaltige Entwicklungsmöglichkeiten bot. Daran aber hatten beide Völker ein großes Interesse, Rußland, das seine ruinierte Wirtschaft wiederherzustellen hoffte, Deutschland, das durch eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik einigermaßen die Verluste durch die Wiedergutmachungen auszugleichen hoffte. So fanden sich zwei Völker in ihrer höchsten Not zusammen. Ein halbes Jahr später, am 5. November, wurde der Vertrag auf sämtliche anderen mit Rußland verbündeten Sowjetrepubliken ausgedehnt.
Den Eindruck, den die Veröffentlichung des Vertrages auf die Mitglieder der Konferenz, machte, schilderte der Pressevertreter der Baseler Nachrichten folgendermaßen:
"Der deutsch-russische Vertrag hat wie eine Bombe gewirkt. Man hört von einer zweiten Schlacht an der Marne sprechen. Lloyd Georges persönliches Prestige wäre aufs höchste erschüttert, wenn die Franzosen jetzt die Konferenz sprengten. [232] Deshalb läßt er zur Beruhigung der Franzosen seine Pressestellen gegen die Deutschen toben, sucht aber zu leimen, was noch zu leimen ist."
Hierauf erwiderten die Deutschen, daß die seit mehreren Wochen mit Rußland geführten Verhandlungen bereits vor dem Abschluß gestanden hätten. Die russische Verständigung sei für Deutschland deshalb so wichtig gewesen, weil die Möglichkeit bestand, mit einem der großen am Kriege beteiligten Staaten zu einem Friedenszustand zu gelangen, der alle dauernde Schuldnerschaft ausschließe und von Grund auf erneute, durch die Vergangenheit nicht belastete freundschaftliche Beziehungen ermögliche. Die Vorschläge des Londoner Programms hätten die deutschen Interessen außer acht gelassen, und ihre Unterzeichnung hätte dazu geführt, daß die Folgen der zaristischen Kriegsgesetze Deutschland allein zur Last gefallen wären. Außerdem hätten ja die Alliierten auch hinter dem Rücken Deutschlands mit den Russen verhandelt, was der deutschen Abordnung wohl bekannt sei. Mitteilungen über diese Verhandlungen hätten darauf schließen lassen, daß eine Verständigung binnen kurzem bevorstände, daß aber [233] die Berücksichtigung der gerechten deutschen Wünsche nicht in Aussicht genommen sei. Um nicht vor einen ungünstigen, von der Mehrheit der Kommission bereits genehmigten Entwurf gestellt zu werden, sei die deutsche Abordnung zum Handeln gezwungen gewesen. Der Vertrag greife in das Verhältnis dritter Staaten in keiner Weise ein. Am erbittertsten waren die Franzosen. Seydoux erklärte, nicht mehr an den Sitzungen teilnehmen zu können, bis er Instruktionen aus Paris erhalten habe. Barthou, der Vorsitzende der französischen Abordnung, sprach sogar von "lügenhaften Behauptungen der Deutschen", worauf der Deutsche Reichskanzler scharf entgegnete. Rußland aber hatte gewonnenes Spiel. Es wolle mit sich reden lassen, wenn es finanzielle Hilfe erhalte. Im übrigen könne die Sowjetregierung keinerlei Verpflichtungen ihrer Vorgängerin übernehmen, solange sie nicht offiziell de jure von allen interessierten Mächten anerkannt sei. Die nationalisierten Unternehmungen der Ausländer würde man nicht zurückgeben, man wolle den ehemaligen Eigentümern höchstens eine Vorzugsstellung einräumen. Dem polnischen Außenminister Skirmunt warf Tschitscherin eine "grobe Verletzung des Friedensvertrages von Riga vom 8. März 1921" vor, die dadurch begangen sei, daß Polen, das die Sowjetregierung ohne Vorbehalte de jure anerkannt habe, sich auf die Seite der Verbandsmächte stelle und gegen den Vertrag von Rapallo protestiere. Lloyd George war von schwerer Sorge erfüllt. Gegen Ende April gaben die amerikanischen und englischen Journalisten ihm zu Ehren ein Essen, wo er erklärte, nur ein Blinder könne sich einbilden, daß durch irgendeine Kombination zwei große Völker, die zwei Drittel von Europa repräsentieren, niedergehalten werden könnten. "Ich bin erschrocken über das Sturmwetter, das sich am Horizont zusammenzieht und am europäischen Himmel höher und höher steigt." Am folgenden Tage, dem 27. April, wurden die Deutschen von den Russen zu einem Abendessen eingeladen. Bei auserlesenen Speisen und Weinen wurde die neue Freundschaft gefeiert. Tschitscherin begrüßte Deutschland, das erste große Land, das mit der [234] Sowjetrepublik in normale Beziehungen getreten sei, und zwar auf der Basis friedlicher Zusammenarbeit. Eine große Perspektive auf eine künftige, wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern eröffne sich. Seit dem Tage von Rapallo war die Tätigkeit der Konferenz in Genua gelähmt. Eigentlich war ihre Tätigkeit zwecklos geworden, denn die Lösung des russischen Problems im Sinne der Alliierten war nun unmöglich geworden. Trotzdem wurde den Russen am 29. April ein Schreiben der Kommission übergeben, worin England, Italien, Japan und Belgien den Russen hinreichende Kredite versprachen. Sobald die russischen Schulden anerkannt wären, könne die Ausfuhr von Waren nach Rußland beginnen. Wenn man aber glaubte, daß Rußland unter dem Drucke seiner Not allmählich doch nachgeben werde, irrte man sich sehr. Drei Wochen lang waren alle Bemühungen umsonst, von dem nach dem Rapallo-Vertrage nun erst recht unzugänglichen Tschitscherin Zugeständnisse zu erhalten. Am 19. Mai fand die letzte Sitzung der Konferenz statt. Rathenau wies in seiner Ansprache darauf hin, daß die Welt Frieden haben wolle. Barthou erwiderte, Frankreich liebe den Frieden und sei durchaus pazifistisch gesinnt. –
Unbefriedigt gingen die Staatsmänner der Alliierten auseinander. Das Ergebnis ihrer Arbeit war, daß sie nichts erreicht hatten. Lloyd George, der als Apostel des Friedens und der Versöhnung gekommen war, kehrte bitter enttäuscht heim. Nur Deutschland und Rußland hatten einen moralischen Erfolg zu verzeichnen: sie hatten bewiesen, daß Tyrannenmacht eine Grenze auch bei geschlagenen Völkern hat. Rathenaus Vorgehen hatte die ganzen Pläne der Alliierten umgestoßen. |