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[Bd. 2 S. 225]
5. Kapitel: Genua und Rapallo.

  Eröffnung der Konferenz  
von Genua

Ursprünglich hatte man in Cannes beschlossen, die Konferenz von Genua am 8. März [1922] zu eröffnen. Doch plötzlich tauchten Hindernisse auf, die niemand vorausgesehen hatte. Briand mußte, nach seiner Rückkehr von Cannes, von seinem Posten als Ministerpräsident zurücktreten, und der unversöhnliche, von einem an Wahnsinn grenzenden Deutschenhaß besessene Poincaré war an seine Stelle getreten. Diesem neuen Manne Frankreichs war der englische Konferenzgedanke wenig sympathisch, denn er fürchtete, je mehr man über die Wiedergutmachungen verhandelte – wer konnte wissen, ob dies nicht trotz des Verbotes geschehen würde? –, um so mehr würde Deutschland versuchen, abzuhandeln. Nach langem Hin und Her hatte endlich Lloyd George dem französischen Ministerpräsidenten Ende Februar in Boulogne feierlich erklärt, daß in Genua mit keinem Worte die Wiedergutmachungs- und die Abrüstungsfrage erörtert werden solle. Damit waren nun wieder die Vereinigten Staaten nicht einverstanden, und sie erklärten am 9. März, daß es ihnen unmöglich sei, in Genua zu erscheinen, wenn man nicht über die beiden wichtigsten Fragen sprechen wolle.

So blieb Europa unter sich, und der Beginn der ersten großen europäischen Wirtschaftskonferenz wurde auf den 10. April festgesetzt. In den ersten Tagen des April strömten in der seit alten Tagen berühmten Handelsstadt Italiens viele Hunderte von Fremden aus aller Herren Länder zusammen. Dreiunddreißig Völker entsandten ihre Minister, denen ein großer Stab ausführender Organe folgte, und ein Heer von Pressevertretern heftete sich an ihre Fersen. Es war ein Völkergemisch wie weiland beim Turmbau zu Babel, und ein phantastisches Sprachengewirr schlug dem Beobachter auf den Straßen und in den Hotels entgegen, und für die Gewerbetreibenden Genuas brach im wahrsten Sinne des Wortes eine goldene Zeit an.

Heiter und blau, wie der Himmel des Südens, war die [226] Stimmung der Konferenzteilnehmer. War man doch zusammengekommen, um Europa den Frieden wiederzugeben und seine kranke Wirtschaft wiederaufzurichten. Auch Japan hatte sich zu diesem Zwecke eingefunden. Noch nie gesehene Gäste bei solchen europäischen Veranstaltungen waren die Sowjetrussen. Sie erschienen nicht in blauer Bluse und roter Krawatte, sondern in Zylinder, Frack und weißer Binde, als vollendete Männer von Welt. Der Führer der Sowjetdelegation war Tschitscherin, der einem alten russischen Adelsgeschlechte entstammte und aus der alten russischen Diplomatie hervorgegangen war. Der Ruf eines gewandten und gewiegten Staatsmannes war ihm vorausgeeilt. Von Deutschland waren der Reichskanzler Wirth und der Außenminister Rathenau erschienen.

Mit einer feierlichen, vom Friedensgeiste getragenen Rede eröffnete der italienische Ministerpräsident de Facta als Vorsitzender die Versammlung. Hier gebe es weder Freunde noch Feinde, noch Sieger und Besiegte, sondern nur Menschen und Völker, die sich vereinigen wollten, um alles aufzubieten, was notwendig sei, um den Geist der Zusammenarbeit und Brüderlichkeit unter den Völkern zu erreichen. Dieser Geist sei das charakteristische Zeichen der Konferenz. Hier sei kein Platz für die Erinnerung an den Haß und für die Erinnerung an die Gefühle, die durch den Krieg entstanden seien. Lloyd George erging sich in den gleichen Gedanken. Europa brauche Ruhe und Frieden, man solle versuchen, das Gute zu schaffen, statt es zu bekämpfen. Doch schon etwas umwölkt war des Franzosen Barthou Stirne, als er, im Namen Frankreichs, erklärte, die Wiedergutmachungsfrage werde hier nicht erörtert werden. Die Konferenz von Genua sei somit nicht, könne und werde nicht sein eine Berufungsinstanz, wo die bestehenden Verträge zur Sprache gebracht, beurteilt und revidiert werden könnten. Der Krieg habe Frankreich zuviel gekostet, als daß es nicht Abscheu vor dem Kriege empfinden sollte, es sei in seiner Gesamtheit entschlossen pazifistisch. Der Deutsche Reichskanzler Wirth versuchte den Eindruck des negativen französischen Geistes etwas abzuschwächen, als er die Voraussetzung für einen wirklichen Erfolg nur in sachlicher [227] Zusammenarbeit und ernsten Willen sah. Er forderte deswegen Gleichberechtigung für alle Völker.

Tschitscherin, Sowjet-Rußlands Außenkommissar.
[Bd. 4 S. 176b]      Tschitscherin,
Sowjet-Rußlands Außenkommissar.

Photo Scherl.

  Tschitscherin  

Alles war gespannt, als Tschitscherin zu sprechen begann. Er begrüßte mit Befriedigung die Auffassung derjenigen, die den Frieden wünschten. Er sähe in einer wirtschaftlichen Erneuerung Rußlands überhaupt die Vorbedingung für eine wirtschaftliche Erneuerung der Welt. Man müsse unter allen Umständen die Rüstungen und den Militarismus einschränken. Im übrigen sei dies die erste europäische Konferenz, der, wie er dem Programm entnehme, in periodischer Folge ähnliche Kongresse folgen sollten. Es wäre dann zu wünschen, daß sich auch die Arbeiterorganisationen der einzelnen Länder daran beteiligen würden.

  Französisch-russische  
Differenzen

Dies konnte Barthou nicht ruhig hinnehmen. Er erinnerte sich an die vielen monatelangen, vergeblichen Versuche Frankreichs, Sowjetrußland mit Güte und mit Drohungen zur Anerkennung der zaristischen Schulden zu bewegen. Nun mußte dieser Russe von Entwaffnung und periodischen Kongressen sprechen! Er erwiderte also, die Entwaffnungsfrage stünde überhaupt nicht auf dem Programm, und wenn Frankreich etwa erfahren sollte, daß man jetzt ähnliche periodische Konferenzen beabsichtige, würde es sich überhaupt nicht daran beteiligen. Tschitscherin dagegen ließ sich nicht belehren, und eine Gewitterwolke stand bereits am Friedenshimmel von Genua.

Verlegen lächelnd erhob sich Lloyd George, um in dem galligen Disput zwischen Frankreich und Rußland zu vermitteln. Nichts sei so mit Explosivstoffen geladen wie eine Friedenskonferenz. Wenn die Konferenz von Genua nicht zur Entwaffnung führe, werde sie ein Fehlschlag sein, aber ehe die Entwaffnung kommen könne, müsse eine Verständigung dasein. Das war wahrhaft diplomatisch ausgedrückt und gab beiden Parteien recht.

  Ausschüsse  

Um das gewaltige Programm bewältigen zu können, wurden sieben Ausschüsse gebildet, von denen sich die wichtigsten mit den Finanzen, mit Wirtschaft und Handel, mit Verkehrswesen, Redaktion, Rechtsfragen und Prüfung der Vollmachten zu beschäftigen hatten. Im Mittelpunkt des [228] Interesse stand des russische Problem, und so wurde hierfür ein besonderer Ausschuss gebildet. Die Grundlage der gesamten Verhandlungen bildete die Denkschrift der Verbandsmächte von der Londoner Konferenz, deren erster Teil den Wiederaufbau Rußlands behandelte, während man im zweiten sich dem gesamteuropäischen Problem widmete, der Wiederherstellung der Währung, der Wiederbelebung des Handels und der Organisierung des Verkehrs. Jedoch die Verhandlungen waren schleppend und verworren, da zunächst keine volle Klarheit darüber zu erlangen war, ob lediglich die Maßregeln zum wirtschaftlichen und finanziellen Wiederaufbau besprochen werden sollten, oder ob auch die Erörterung der bestehenden Friedensverträge und ihre Abänderung zulässig sein soll.

Da geschah etwas Unerwartetes. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel wirkte die Nachricht, daß Rathenau und Tschitscherin in Rapallo, einem kleinen Ausflugsort in der Umgebung Genuas, einen Vertrag abgeschlossen hätten, der ganz außerhalb der Kontrolle der Alliierten lag. Mit Eifer und Eile hatte Rathenau darauf gedrängt, daß Sowjetrußland in engere Beziehungen zu Deutschland trat. Drei Gründe waren für den deutschen Außenminister maßgebend: nach der Aufhebung des Brest-Litowsker Vertrages bestand zwischen Deutschland und Rußland weder ein formeller noch ein materieller Friedenszustand, und dieses unklare Verhältnis mußte beendet werden, besonders, da ja Deutschland die Sowjetrepublik in aller Form anerkannt hatte. Dann aber noch etwas anderes: die Alliierten waren nach Genua gegangen, um Rußlands Verpflichtungen zu regeln. Die Sowjetrepublik sollte dazu gebracht werden, die Schulden des Zarenreiches anzuerkennen, wofür sie sich dann an Deutschland hätte schadlos halten können, gemäß dem letzten Absatz des Artikels 116 im Versailler Vertrag, welcher lautete: "Die verbündeten und assoziierten Mächte behalten Rußland ausdrücklich die Rechte auf alle Wiederherstellungen und Genugtuungen vor, die auf den Grundsätzen des gegenwärtigen Vertrages beruhen." Jetzt hatte Rathenau meisterhaft das Prävenire gespielt, und Deutschland hatte Rückendeckung gegen [229] etwaige Überfälle Frankreichs, die es von Rußland aus vornehmen konnte, indem es die Sowjets unter Hinweis auf Artikel 116 zur Anerkennung der Vorkriegsschulden zu bewegen versuchte. Schließlich wollte der deutsche Außenminister verhindern, daß bei einer etwaigen Wirtschaftsverständigung zwischen England und Rußland Deutschland beiseitegeschoben würde.

  Vertrag von Rapallo  

Der wichtige Vertrag von Rapallo besagt folgendes:

      "Die deutsche Regierung, vertreten durch Dr. Rathenau, und die Regierung der Russischen Sozialistischen Republik, vertreten durch Tschitscherin, sind über die nachfolgenden Bestimmungen übereingekommen:
      Artikel 1. Beide Regierungen sind darüber einig, daß die Auseinandersetzung zwischen Deutschland und Rußland aus der Zeit des Kriegszustandes auf folgenden Grundlagen geregelt ist:
      a) Das Deutsche Reich und die Russische Sowjet-Republik verzichten gegenseitig auf den Ersatz der Kriegskosten sowie auf den Ersatz der Kriegsschäden, das heißt derjenigen Schäden, die ihnen und ihren Staatsangehörigen im Kriegsgebiet durch militärische Maßnahmen einschließlich aller in Feindesland vorgenommenen Requisitionen entstanden sind. Desgleichen verzichten beide Teile auf den Ersatz der zivilen Schäden, die Angehörigen des einen Teiles durch sogenannte Kriegsausnahmegesetze oder durch Gewaltmaßnahmen staatlicher Organe des anderen Teiles verursacht worden sind.
      b) Die durch den Kriegszustand getroffenen öffentlichen und privaten Rechtsbeziehungen einschließlich der Frage der Behandlung der in die Gewalt des andern Teiles geratenen Handelsschiffe werden nach dem Grundsatz der Gegenseitigkeit geregelt werden.
      c) Deutschland und Rußland verzichten gegenseitig auf die Erstattung der beiderseitigen Aufwendungen für Kriegsgefangene, ebenso verzichtet die deutsche Regierung auf die Erstattung der von ihr für die in Deutschland internierten Angehörigen der Roten Armee gemachten Aufwendungen. Die russische Regierung verzichtet ihrerseits auf die Erstattung des Erlöses aus den von Deutschland vorgenommenen Verkäufen [230] des von diesem requirierten und nach Deutschland gebrachten Heeresgutes.
      Artikel 2. Deutschland verzichtet auf die Ansprüche, die aus der bisherigen Anwendung der Gesetze und Maßnahmen der Sowjetrepublik auf deutsche Reichsangehörige oder auf ihre Privatrechte, sowie auf die Rechte des Deutschen Reiches und der Länder gegen Rußland, sowie sie sich aus den von der Sowjetregierung oder ihren Organen gegen deutsche Reichsangehörige oder ihre privaten Rechte getroffenen Maßnahmen ergeben, vorausgesetzt, daß die Regierung der Sowjetrepublik auch ähnliche Ansprüche dritten Staaten nicht bewilligt.
      Artikel 3. Die beiden Regierungen sind ferner auch darüber einig, daß die Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetrepublik sogleich wieder aufgenommen werden. Die Zulassung der beiderseitigen Konsulate wird durch ein besonderes Abkommen geregelt werden.
      Artikel 4. Die beiden Regierungen sind ferner auch darüber einig, daß für die allgemeine Rechtsstellung des einen Teiles im Gebiete des anderen Teiles wie für die allgemeine Regelung der beiderseitigen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen der Grundsatz der Meistbegünstigung gilt. Der Grundsatz erstreckt sich nicht auf Vorrechte oder Erleichterungen, die die Sowjetregierung einer andern Sowjetrepublik oder einem ähnlichen Staate gewährt, der früher ein Bestandteil des ehemaligen russischen Reiches war.
      Artikel 5. Die beiden Regierungen werden dem wirtschaftlichen Bedürfnis der beiden Länder in wohlwollendem Geiste entgegenkommen. Bei einer grundsätzlichen Regelung der Fragen auf internationaler Basis werden sie in einen vorherigen Gedankenaustausch eintreten. Die deutsche Regierung erklärt sich bereit, in der Sowjetrepublik von Privatfirmen beabsichtigte Unternehmungen nach Möglichkeit zu unterstützen und ihre Durchführung zu erleichtern.
      Artikel 6. Die Artikel 1 b) und 4. dieses Vertrages treten mit der Ratifizierung, die übrigen Bestimmungen sofort in Kraft.
[231]     Ausgefertigt in doppelter Urschrift in Rapallo am 16. April 1922."
Der deutsch-russische Vertrag enthielt, soweit er die Vergangenheit betraf, einen Frieden unter Verzicht auf Annexionen und Entschädigungen, wie ihn die deutsche Demokratie seit 1917 forderte, und war, soweit er die Zukunft betraf, ein Wirtschaftsvertrag, der beiden Ländern gewaltige Entwicklungsmöglichkeiten bot. Daran aber hatten beide Völker ein großes Interesse, Rußland, das seine ruinierte Wirtschaft wiederherzustellen hoffte, Deutschland, das durch eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik einigermaßen die Verluste durch die Wiedergutmachungen auszugleichen hoffte. So fanden sich zwei Völker in ihrer höchsten Not zusammen. Ein halbes Jahr später, am 5. November, wurde der Vertrag auf sämtliche anderen mit Rußland verbündeten Sowjetrepubliken ausgedehnt.

Beurteilung des
  Rapallo-Vertrages  
im Ausland

In Deutschland wurde der Vertrag von Rapallo mit allgemeiner Freude begrüßt. Man erörterte seine wirtschaftlichen Aussichten und pries ihn als das erste Zeichen eines Willens zu aktiver Politik. In Frankreich dagegen war man empört. Besonders der unnachgiebige Poincaré sah seine Felle insofern davonschwimmen, daß nach der durch den Vertrag geschaffenen Sachlage an eine Anerkennung der zaristischen Schulden durch die Sowjets nun vorläufig erst recht nicht mehr zu denken war. England beschwerte sich über Deutschlands illoyales Verhalten, und auch die bürgerliche Presse Italiens fand sehr unfreundliche Töne. In Wien dagegen rühmte man den großen Fortschritt in der Richtung des Friedens und der Verständigung, während die Amerikaner allgemein behaupteten, sie hätten das unvermeidliche Zusammenrücken Deutschlands und Rußlands vorausgesehen.

Den Eindruck, den die Veröffentlichung des Vertrages auf die Mitglieder der Konferenz, machte, schilderte der Pressevertreter der Baseler Nachrichten folgendermaßen:

      "Der deutsch-russische Vertrag hat wie eine Bombe gewirkt. Man hört von einer zweiten Schlacht an der Marne sprechen. Lloyd Georges persönliches Prestige wäre aufs höchste erschüttert, wenn die Franzosen jetzt die Konferenz sprengten. [232] Deshalb läßt er zur Beruhigung der Franzosen seine Pressestellen gegen die Deutschen toben, sucht aber zu leimen, was noch zu leimen ist."

  Mißstimmung in Genua  

Mit der Friedensstimmung in Genua war es ein für allemal vorbei. Die Konferenz spaltete sich in zwei Lager, die offen gegeneinander einen erbitterten Kampf der Worte und Meinungen führten. Auf der einen Seite standen die Verbandsmächte, von Frankreich geführt, auf der anderen Rußland, das von Deutschland unterstützt wurde. Die Alliierten, England, Frankreich, Italien, Belgien, Rumänien, Tschechoslowakei und Japan, machten den Deutschen Vorwürfe, daß sie heimlich mit Rußland verhandelt hätten, ohne die anderen vertretenen Staaten davon zu unterrichten. Der Abschluß des Abkommens während der Konferenz stelle eine Verletzung der Bedingungen dar, die Deutschland einzuhalten sich verpflichtet habe, als es nach Genua ging. Es sei nicht recht und billig, wenn Deutschland nun noch an der Erörterung eines Abkommens zwischen den Verbandsmächten und Rußland teilnähme, und man nähme an, daß Deutschland auch sein Ausscheiden aus dieser Diskussion beabsichtigt habe, als es den Vertrag schloß.

Hierauf erwiderten die Deutschen, daß die seit mehreren Wochen mit Rußland geführten Verhandlungen bereits vor dem Abschluß gestanden hätten. Die russische Verständigung sei für Deutschland deshalb so wichtig gewesen, weil die Möglichkeit bestand, mit einem der großen am Kriege beteiligten Staaten zu einem Friedenszustand zu gelangen, der alle dauernde Schuldnerschaft ausschließe und von Grund auf erneute, durch die Vergangenheit nicht belastete freundschaftliche Beziehungen ermögliche. Die Vorschläge des Londoner Programms hätten die deutschen Interessen außer acht gelassen, und ihre Unterzeichnung hätte dazu geführt, daß die Folgen der zaristischen Kriegsgesetze Deutschland allein zur Last gefallen wären. Außerdem hätten ja die Alliierten auch hinter dem Rücken Deutschlands mit den Russen verhandelt, was der deutschen Abordnung wohl bekannt sei. Mitteilungen über diese Verhandlungen hätten darauf schließen lassen, daß eine Verständigung binnen kurzem bevorstände, daß aber [233] die Berücksichtigung der gerechten deutschen Wünsche nicht in Aussicht genommen sei. Um nicht vor einen ungünstigen, von der Mehrheit der Kommission bereits genehmigten Entwurf gestellt zu werden, sei die deutsche Abordnung zum Handeln gezwungen gewesen. Der Vertrag greife in das Verhältnis dritter Staaten in keiner Weise ein.

Am erbittertsten waren die Franzosen. Seydoux erklärte, nicht mehr an den Sitzungen teilnehmen zu können, bis er Instruktionen aus Paris erhalten habe. Barthou, der Vorsitzende der französischen Abordnung, sprach sogar von "lügenhaften Behauptungen der Deutschen", worauf der Deutsche Reichskanzler scharf entgegnete.

Rußland aber hatte gewonnenes Spiel. Es wolle mit sich reden lassen, wenn es finanzielle Hilfe erhalte. Im übrigen könne die Sowjetregierung keinerlei Verpflichtungen ihrer Vorgängerin übernehmen, solange sie nicht offiziell de jure von allen interessierten Mächten anerkannt sei. Die nationalisierten Unternehmungen der Ausländer würde man nicht zurückgeben, man wolle den ehemaligen Eigentümern höchstens eine Vorzugsstellung einräumen. Dem polnischen Außenminister Skirmunt warf Tschitscherin eine "grobe Verletzung des Friedensvertrages von Riga vom 8. März 1921" vor, die dadurch begangen sei, daß Polen, das die Sowjetregierung ohne Vorbehalte de jure anerkannt habe, sich auf die Seite der Verbandsmächte stelle und gegen den Vertrag von Rapallo protestiere.

Lloyd George war von schwerer Sorge erfüllt. Gegen Ende April gaben die amerikanischen und englischen Journalisten ihm zu Ehren ein Essen, wo er erklärte, nur ein Blinder könne sich einbilden, daß durch irgendeine Kombination zwei große Völker, die zwei Drittel von Europa repräsentieren, niedergehalten werden könnten. "Ich bin erschrocken über das Sturmwetter, das sich am Horizont zusammenzieht und am europäischen Himmel höher und höher steigt." Am folgenden Tage, dem 27. April, wurden die Deutschen von den Russen zu einem Abendessen eingeladen. Bei auserlesenen Speisen und Weinen wurde die neue Freundschaft gefeiert. Tschitscherin begrüßte Deutschland, das erste große Land, das mit der [234] Sowjetrepublik in normale Beziehungen getreten sei, und zwar auf der Basis friedlicher Zusammenarbeit. Eine große Perspektive auf eine künftige, wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern eröffne sich.

Seit dem Tage von Rapallo war die Tätigkeit der Konferenz in Genua gelähmt. Eigentlich war ihre Tätigkeit zwecklos geworden, denn die Lösung des russischen Problems im Sinne der Alliierten war nun unmöglich geworden. Trotzdem wurde den Russen am 29. April ein Schreiben der Kommission übergeben, worin England, Italien, Japan und Belgien den Russen hinreichende Kredite versprachen. Sobald die russischen Schulden anerkannt wären, könne die Ausfuhr von Waren nach Rußland beginnen. Wenn man aber glaubte, daß Rußland unter dem Drucke seiner Not allmählich doch nachgeben werde, irrte man sich sehr. Drei Wochen lang waren alle Bemühungen umsonst, von dem nach dem Rapallo-Vertrage nun erst recht unzugänglichen Tschitscherin Zugeständnisse zu erhalten. Am 19. Mai fand die letzte Sitzung der Konferenz statt. Rathenau wies in seiner Ansprache darauf hin, daß die Welt Frieden haben wolle. Barthou erwiderte, Frankreich liebe den Frieden und sei durchaus pazifistisch gesinnt. –

Unbefriedigt gingen die Staatsmänner der Alliierten auseinander. Das Ergebnis ihrer Arbeit war, daß sie nichts erreicht hatten. Lloyd George, der als Apostel des Friedens und der Versöhnung gekommen war, kehrte bitter enttäuscht heim. Nur Deutschland und Rußland hatten einen moralischen Erfolg zu verzeichnen: sie hatten bewiesen, daß Tyrannenmacht eine Grenze auch bei geschlagenen Völkern hat. Rathenaus Vorgehen hatte die ganzen Pläne der Alliierten umgestoßen.



Geschichte unserer Zeit
Dr. Karl Siegmar Baron von Galéra