[Bd. 2 S. 235] 6. Kapitel: Innere und äußere Sorgen, Rathenaus Ermordung und ihre Folgen, Wirths Abgang. In Deutschland zeitigte der Rapallo-Vertrag zunächst sehr zweifelhafte Folgen. Hier betrachteten sich die Kommunisten als seine rechtmäßigen Nutznießer, und sie hielten es für selbstverständlich, daß dem ersten Schritte der zweite auf dem Fuße folgen müsse: die Bolschewisierung Deutschlands. Nur so schien den Linksradikalen ein wahrer Frieden mit dem Sowjetreiche gesichert. Durch ein gewaltsames Auftreten begannen die Kommunisten ganz Deutschland zu beunruhigen.
"erstens, aktiv in die vorbereitenden Kampfhandlungen [236] eingreifen durch Verhinderung der technischen Nachrichtenübermittelung des Gegners; Die Hoffnung auf den Bürgerkrieg war durch den diplomatischen Schritt in Rapallo wieder stark angewachsen, und die kommunistische Presse redete in herausfordernden Tönen. Interessant für die Stimmung ist folgende Stelle aus der Stettiner Kommunistenzeitung vom 8. Mai 1922:
"Genosse! Beachte folgendes und handle sofort danach:
"Das deutsche Volk leidet schwer in seiner Wirtschaft unter dem Versailler Vertrage, die Staatsregierung wird daher bemüht sein, bei der Reichsregierung dahin zu wirken, daß alles versucht werde, um die Schuldlüge abzutragen, zu erschüttern, zu vernichten. Ich richte von dieser Stelle aus die ernste Mahnung an das Land, daß man mit geräuschvollen militärischen Feiern und Veranstaltungen, in denen das ancien régime gefeiert wird, Zurückhaltung üben möge. Diese sind nicht dazu angetan, den Haß des Auslandes abzubauen. Unter diesem Haß muß die Bevölkerung im besetzten Gebiet, besonders auch im Saargebiet, [239] leiden." Die Dinge standen also so, daß weniger eine kommunistische Erhebung zu befürchten war, als vielmehr, daß eine große gemeinsame sozialistische Aktion gegen die Tätigkeit der "monarchistischen" Rechtsverbände einsetzte. Das war das Ergebnis von Wirths einjähriger Regierungsweise: sie hatte die nationalen Kreise zum Widerspruch gereizt, und dieser rief automatisch die sozialistisch-kommunistische Gegenbewegung hervor, welche dadurch stark war, weil sie einen gewissen Rückhalt an der Reichsregierung hatte.
Es würde zu weit führen, im einzelnen all die gestörten Feiern, Fackelzüge und Paraden aufzuführen. In Karlsruhe und Darmstadt paradierten die ehemaligen Garderegimenter vor ihren ehemaligen Großherzögen. In Eisleben fand ein viele Tausende zählender Aufmarsch des "Stahlhelms" vor dem Grafen Goltz statt, dem ehemaligen General der Baltikumtruppen. Dabei wurde ein kommunistischer Provokateur blutig geschlagen. In Belgard in Pommern nahmen Mackensen und Prinz Sigismund von Hohenzollern an Regimentsfeiern teil, wozu auch Reichswehr erschienen war. Zu einer Feier in Königsberg war der Generalfeldmarschall von Hindenburg eingeladen, und die Reichswehr beteiligte sich trotz eines Verbotes. Hier gab es Tote und Verwundete. Die Situation hatte sich seit Ende Mai noch dadurch verschärft, daß verschiedene Anschläge auf Persönlichkeiten und Zeitungen der Linksparteien versucht wurden. So wurde auf Scheidemann ein Blausäureattentat verübt, das jedoch keine Folgen hatte. In Hamburg wurden seit Ende Mai bis Mitte Juni fünf Bombenanschläge auf Arbeiterzeitungen und ‑führer unternommen. In München wurde die sozialdemokratische Münchener Post das Ziel eines Bombenanschlages. Die Flagge der Republik wurde heruntergeholt und verbrannt, vor dem Sitz der Interalliierten Kommission wurde demonstriert. [241] Das waren alles Dinge, die den Kommunisten sehr zustatten kamen. Sie wiesen in ihren Aufrufen auf die gefährliche Konterrevolution, auf die Gefahr des deutschen Faschismus hin. All dies offenbarte eine trostlose Zermürbung und Zerrissenheit des Volkes, ohne daß es den leitenden Stellen möglich gewesen wäre, die mehr und mehr fortschreitende Zersetzung zu verhindern. Mit Naturnotwendigkeit drängte die Gewitterstimmung zu einer Entladung, einer Katastrophe; und sie kam, wie ein Blitz aus heiterem Himmel.
Die Kunde von diesem Morde löste Entsetzen und Entrüstung aus. Im Reichstag erhob sich ein gewaltiger Tumult. Als sich der deutschnationale Abgeordnete Helfferich auf seinen Platz begab, stießen die Unabhängigen und Kommunisten laute Verwünschungen gegen ihn aus und schrien: "Hinaus mit dem Mörder!" Nur mit Mühe konnte die Ordnung wiederhergestellt werden. Der Reichstagspräsident Löbe teilte den Meuchelmord an Rathenau mit.
"Die Täter haben Gehilfen, haben Spießgesellen gehabt, haben eine Organisation von Mördern gehabt, sie haben eine Organisation von Mördern hinter sich, die sie schützen und die sie für ihre Taten unterhalten. Anders wäre es nicht möglich gewesen. Das Blut des Ermordeten, es fällt auf die, die dazu anreizen, es fällt auf die, die frühere Anschläge, wenn sie [242] nicht gelangen, mit Spott und Hohn begleiteten, es fällt auf die, die nach den gelungenen Anschlägen noch das Andenken der Opfer zu besudeln wagten." Dies sei das Ergebnis der grenzenlosen und maßlosen Hetze gegen die Männer, die an der Spitze der Regierung stünden. Und nun machte er den Deutschnationalen und ihrer Presse schwere Vorwürfe:
"Wie hat eine gewisse Presse gehetzt und gehöhnt, als das Attentat auf Scheidemann mißlang, gehöhnt bis auf den letzten Augenblick, bis heute, wo es gelungen ist. Und es scheint keinen Schutz dagegen zu geben! Die Mörder hatten Helfer, die sie haben verschwinden lassen, sie haben Helfer, die sie immer wieder aufs neue beschützen. Und einer nach dem andern von uns erliegt der kaltblütigen Mörderhand! Neben uns sinkt ein Freund nach dem anderen dahin!" Als Löbe geendet hatte, rief der unabhängige Abgeordnete Wels: "Es lebe die Republik!" und die übergroße Mehrheit des Hauses stimmte brausend in den Ruf ein. Jetzt kam der Reichskanzler zu Worte. Wirth rühmte die Verdienste Rathenaus, um dann in die allgemeine Klage einzustimmen.
"Und von dem Tage an, wo wir unter den Fahnen der Republik aufrichtig diesem neuen Staatswesen dienen, wird ein Gift mit Millionengeldern in unser Volk hineingepumpt. Es bedroht von Königsberg bis Konstanz eine Mordhetze unser Vaterland, dem wir unter Aufgebot all unserer Kräfte aufrichtig dienen." Dann wandte auch er sich an die Rechtsparteien und erklärte: "Geehrte Herren von rechts! so wie es bisher gegangen ist, geht es nicht mehr in Deutschland." Am selben Tage erließ die Regierung einen Aufruf an das Volk: dem wachsenden Terror und Nihilismus, der sich vielfach unter dem Deckmantel nationaler Gesinnung verberge, dürfe nicht mehr mit Nachsicht begegnet werden. "Die Republik ist in Gefahr!" In jenen bitteren Tagen wurde das verhängnisvolle Wort geprägt, in dessen Zeichen die Regierung Wirth bis weit in den Kommunismus hinein ihre Anhänger um sich scharte: "Der Feind steht rechts!" Hergt, der Sprecher der Deutschnationalen, erklärte am folgenden Tage im Reichstag, daß seine Partei dem Morde [243] vollkommen fernstünde und ihn verabscheue. Sie müsse es aber als verfassungsmäßige Partei ablehnen, unter die beabsichtigte Verordnung zum Schutze der Republik gestellt zu werden.
Inzwischen hatte man den am Rathenaumord beteiligten Gymnasiasten Ernst Techow verhaftet, und seine Aussagen bewogen den Reichspräsidenten, die Verordnung zum Schutze der Republik am 29. Juni in wesentlich verschärfter Form zu verkünden. Der drakonische Artikel 1 lautete:
"Personen, die an einer Vereinigung teilnehmen, von der sie wissen, daß es zu ihren Zielen gehört, Mitglieder einer im Amt befindlichen oder einer früheren republikanischen Regierung des Reiches oder eines Landes durch den Tod zu beseitigen, [244] werden mit dem Tode oder lebenslänglichem Zuchthaus bestraft. Ebenso werden bestraft Personen, die eine solche Vereinigung wissentlich mit Geld unterstützen. Dritte Personen, die um das Dasein einer solchen Vereinigung wissen, werden mit Zuchthaus bestraft, wenn sie es unterlassen, von dem Bestehen der Vereinigung, den ihnen bekannten Mitgliedern oder deren Verbleib den Behörden oder der durch das Verbrechen bedrohten Person unverzüglich Kenntnis zu geben. Zuständig ist der auf Grund der Verordnung vom 26. Juni gebildete Staatsgerichtshof."
Mit besonderem Eifer nahm sich Sachsen, wie schon im Vorjahre, der Sache der Republik an. Bei der Eröffnung der Landtagssitzung am 28. Juni kam es zu erregten Auftritten, weil die Kommunisten und beiden sozialistischen Parteien verlangten, daß der deutschnationale Vizepräsident Dr. Wagner seinen Platz verlasse. Der aber weigerte sich, und nun verließ die gesamte Linke unter Protestrufen den Saal. Der Innenminister Lipinski erklärte, die Regierung werde alles tun, um die Verordnung zum Schutze der Republik mit allem Nachdruck in Sachsen durchzuführen. Die Regierung habe aber noch ein weiteres getan: sie habe in einer Protestnote an die Reichsregierung darauf hingewiesen, daß die Reichswehr die monarchistisch-nationalistische Agitation durch Stellung von geschlossenen Formationen zu Regimentsfeiern usw. begünstigt habe und dies vom Reichswehrministerium angeordnet sei, ohne der sächsischen Regierung hiervon Kenntnis zu geben. Sie habe darauf aufmerksam gemacht, daß die Reichswehr trotz des Mordes keine Vorbeugungsmaßnahmen [245] getroffen habe, und verlange, daß Demonstrationen der Reichswehr bei Regimentsfeiern und die Agitation für letztere verboten würde. Am Schlusse der Note heiße es: "Die sächsische Regierung hält es für geboten, durch einen Wechsel in der Person des Reichswehrministers die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß die Reichswehr ein Mittel zum Schutze der Republik wird." Man müsse Vorsorge treffen, indem man die Ordnungspolizei zeitweise durch die republikanisch gesinnte Bevölkerung verstärke. Wenn alle überzeugten Republikaner und Sozialisten zusammenstünden, dann werde die Lust zu monarchischen Erhebungen bald vergehen. Durch die sozialistische Regierung Sachsens habe ja das werktätige Volk die Regierung übernommen. Lipinski schloß:
"Wir rufen die republikanisch gesinnte Bevölkerung auf, zusammenzustehen in der Abwehr der Feinde der Republik und der Regierung und ihren Organen zu helfen, die Begünstiger und Förderer der Meuchelmörder aus ihren Schlupfwinkeln herauszuholen, damit sie zur Verantwortung gezogen werden können. Sie erwartet insbesondere von der Arbeiterklasse als der treuesten Stütze der Republik, daß sie allen Feinden zum Trotz die Republik verteidigt und erhält. Es lebe die Republik!" Lipinski ließ keinen Zweifel darüber, daß er alle Beamten, die den vaterländischen Verbänden nahestanden, entfernen würde. Auch deutete er bereits die Bewaffnung der Arbeiterschaft an, eine Maßnahme, die später in die Tat umgesetzt wurde und zur Bildung der Roten Hundertschaften führte. Auch in Baden versprach man, tatkräftig die Republik zu schützen, und Thüringen stand an Sachsens Seite in dem Gelöbnis, die "Monarchisten" auszurotten. Der unabhängige Sozialist Herrmann, welcher thüringischer Innenminister war, verkündete scharfe Maßregeln zur Säuberung der Verwaltungsorganisationen von monarchistischen und antisemitischen Beamten. Man werde den "Völkischen Schutz- und Trutzbund", den "Stahlhelm", den "Nationalen Pfadfinderbund" und andere ähnliche Organisationen auflösen.
Rücksichtslos wurde die Meinungsfreiheit Andersgesinnter geknebelt, wie ein wenige Tage später vom Betriebsrat der Deutschen Werke in Kiel an die Direktion gerichteter [247] "Erlaß" bewies. Dieser hatte folgenden Wortlaut:
"In der heute morgen um acht Uhr unter dem Vorsitz von Elm stattgefundenen Versammlung der Betriebsobleute wurden folgende Beschlüsse gefaßt: Die Arbeit wird am Dienstag um 12½ Uhr niedergelegt, und die gesamte Belegschaft verläßt die Werke geschlossen. Um 1 Uhr werden aus jeder Werkstelle fünf Mann als Sperrkommando vor dem Werfttore Aufstellung nehmen und die Zugangsstraßen absperren, so daß ein Entweichen von Arbeitern und Angestellten unmöglich ist. Der Zug soll die ganze Breite der Straße umfassen und sollen alle ihm etwa Entgegenkommenden, gleichviel ob Beteiligte oder nicht, gezwungen werden, an demselben teilzunehmen. Aus jeder Werkstelle sollen Abordnungen durch die Büros und Betriebe gehen, um sich zu überzeugen, daß die Betriebe geräumt sind und alles an dem Zuge teilnimmt. Etwa Angetroffene sollen gegebenenfalls mit Gewalt entfernt werden. Die Nebentore Ellerbecker, Julien- und Agnethabadtor sollen gleichfalls geschlossen werden, damit durch diese Tore niemand entweichen kann. Sollten sich die Pförtner einer Einmischung entgegenstellen, sollen sie mit Gewalt entfernt werden. Bezüglich der Probefahrt des 'Wilhelm Hemsoth' ist mit allen gegen zwei Stimmen beschlossen worden, dieselbe nicht stattfinden zu lassen, da sie als Notstandsarbeit nicht angesehen wird." Wenn auch die nichtsozialistischen Angestellten dem angekündigten Terror dadurch auswichen, daß sie an dem betreffenden Tage nicht zum Dienst erschienen, so zeigte sich doch, wie sehr die Leidenschaften aufgepeitscht waren und welche Rechte sich einige Teile des Volkes anmaßten, um die Republik zu schützen.
"Wenn ein Deutschnationaler sein verlogenes Maul [248] auftut, muß er niedergeknüppelt werden. Jede öffentliche Feier der Deutschnationalen muß mit Gewalt gesprengt werden. Das deutschnationale Mördergesindel muß fortan vogelfrei sein. Durch Gesetze und Verordnungen dürfen wir uns daran nicht mehr hindern lassen. Das Maß ist voll. Wir rufen zur brutalen Gewalt auf gegen jeden deutschnationalen, deutschvölkischen oder nationalistischen Rummel. Man kann diesen vertierten Kerlen nur imponieren, indem man sie zusammenhaut. Helfen wir uns nicht dazu auf, die deutschnationale Mörderclique niederzuknüppeln, so verdienen wir es, wenn das Ausland das deutsche Volk für eine Gesellschaft verkommener Hunde hält! Wir sagen das alles im vollen Bewußtsein der Folgen, die daraus entstehen können. Wir wollen diese Folgen. Folgt daraus der Bürgerkrieg, so müssen wir ihn eben durchfechten." Die Rote Fahne stimmte diesen sozialdemokratischen Ausführungen bei und forderte die zentralen Instanzen der beiden sozialistischen Parteien auf, nicht länger vor Handlungen zurückzuschrecken, sondern dem Zaudern ein Ende zu machen. Die Kommunisten forderten Auflösung des Reichstages und Neuwahlen unter der Losung: Arbeiterregierung. Ernster, schlimmer als in vergangenen Jahren drohte der Bürgerkrieg, hatten sich doch Sozialdemokraten und Kommunisten zu gemeinsamer Front verbunden, deren Kühnheit noch dadurch wuchs, daß die Reichsregierung selbst stark mit ihnen sympathisierte. Nur die rapid fortschreitende wirtschaftliche Zerrüttung verhinderte, daß die Massen sich wie in den vorhergehenden Jahren zusammenschlossen und den Bürgerkrieg eröffneten. Die Not um das tägliche Brot fesselte die politische Aktionskraft.
Doch genug der schaurigen Blütenlese! So also sah die Selbsthilfe aus, zu der die sozialistischen und kommunistischen Zeitungen zum Schutze der Republik aufriefen. In allen Teilen des Reiches wurden roheste Schandtaten begangen gegen Deutsche, die den Mut hatten, ihre auf alte Ideale gegründeten, von der herrschenden Ansicht abweichenden Meinungen zu vertreten. In der Tat waren die Angehörigen der Rechtsparteien vogelfrei. Die Polizei und der Staat gewährte ihnen ungenügenden oder gar keinen Schutz, hatte doch der Reichskanzler Wirth selbst durch sein Wort "der Feind steht rechts!" die nationalgesinnten Kreise außerhalb des Gesetzes gestellt. Ein wüstes Chaos entfesselter Leidenschaften zerrüttete das Volk und verschlang viele unschuldige Opfer. Es dauerte einen ganzen Monat, bis sich der Sturm legte, der durch die Ermordung Rathenaus das deutsche Volk aufwühlte. Es war der Polizei nicht gelungen, die beiden Haupttäter, Fischer und Kern, zu verhaften. Wie ein gehetztes Wild flohen die beiden durch Deutschland, und als ein Entweichen vor den Beamten der Gerechtigkeit nicht mehr [251] möglich war, erschossen sie sich am 18. Juli auf Burg Saaleck in der Nähe der Rudelsburg. Fünf Tage später verkündete die Reichsregierung auf Grund der Juniverordnungen das Gesetz zum Schutze der Republik, dem die Deutschnationalen ihre Zustimmung versagten. Die bayerische Regierung jedoch weigerte sich, das Gesetz in ihrem Machtbereich durchzuführen und erließ statt seiner am folgenden Tage eine landesrechtliche Verordnung. Dagegen protestierte die Reichsregierung. "Zum erstenmal seit der Gründung des Reiches ist damit der Zustand eingetreten, daß eine Landesregierung einem verfassungmäßig zustande gekommenen Reichsgesetz für ihr Gebiet die Geltung verweigert." So wurde der Rathenaumord noch zur Quelle eines ernsten Verfassungskonfliktes zwischen dem Reich und Bayern, der auch in den folgenden Jahren nicht behoben wurde.
In Sachsen hatte ein am 12. Juli statt gefundenes Volksbegehren ergeben, daß 80 Prozent von einer Million nichtsozialistischer Stimmen die Auflösung des Landtages wünschten. Es dauerte zwei Monate, bis der Landtag zu dem Beschluß kam, dem Volksbegehren stattzugeben und sich sofort aufzulösen. 53 Stimmen der Deutschnationalen, Deutschen Volkspartei, Demokraten, Zentrum und Kommunisten stimmten für die Auflösung gegen 39 sozialistische Stimmen. Wieder zwei Monate später, am 5. November, fanden die Neuwahlen statt. Die Bürgerlichen verloren einen Sitz, sie erhielten nur noch 46, die Sozialdemokraten behaupteten sich auf 40, während die Kommunisten ein Mandat gewannen und jetzt zehn Vertreter in den Landtag sandten. Die sächsische Sozialdemokratie war über dieses Ergebnis hochbefriedigt und [253] forderte am 11. November die Kommunisten auf, in die Regierung mit einzutreten. Diese waren nicht abgeneigt und stellten schon nach drei Tagen die Bedingungen für ihre Regierungsteilnahme: erstens, Versorgung der Arbeiter mit verbilligten Lebensmitteln, Brot, Kartoffeln, Kohlen, zweitens, Beschaffung der notwendigen Geldmittel hierfür durch sofortige Einziehung der Steuern von den Besitzenden und Ausschreibung einer Zwangsanleihe in Höhe von 30 Prozent des Besitzes, drittens, Beschaffung ausreichender Wohnungen durch Beschlagnahme der Luxuswohnungen, viertens, verschärfte gesetzliche Bestimmungen zur Sicherung des Achtstundentages und Produktionssteigerung durch Einführung der allgemeinen Arbeitspflicht von 18 bis 58 Jahren, fünftens, sofortiger Erlaß einer Amnestie für politische und aus Not begangene Delikte und Abtreibungsprozesse unter Ausschluß der Konterrevolutionäre, sechstens, Verbot des Einsetzens der Teno [Scriptorium merkt an: Technische Nothilfe], siebentes, Ergänzung der Polizei und ihrer Verwaltung aus freigewerkschaftlichen, organisierten Arbeitern und Angestellten und Bildung von Arbeiterwehren, achtens, sofortiges Verbot und strenge Bestrafung aller monarchischen und antirepublikanischen Agitation, Auflösung der monarchischen Verbände, rücksichtslose Entfernung aller reaktionären Beamten in Justiz, Polizei und Verwaltung, neuntens, Unterbreitung aller für proletarische Interessen wichtigen Gesetzesvorlagen der Vollversammlung der Betriebsräte und dem Landesbetriebsrätekongreß durch die Regierung, und zehntens schließlich wurde verlangt, im Reich die Massen gegen die Koalitionsregierung zu mobilisieren und für eine Arbeiterregierung zu wirken. Der kommunistische Parteitag, der am 25. und 26. November in Dresden tagte, bezeichnete diese zehn Forderungen als Mindestforderungen für den Eintritt in die Regierung, an denen unbedingt festzuhalten sei. In der Tat waren diese "Mindestforderungen" höchst bedenklicher Natur und konnten, wenn sie von der Sozialdemokratie angenommen wurden, die öffentliche Ruhe und Ordnung aufs schwerste gefährden. Nachdem am 18. November in Dresden bereits kommunistisch-syndikalistische Erwerbslosenkrawalle stattgefunden [254] hatten, kamen am 28. November die Vertreter der Sozialisten und Kommunisten zusammen, um die Regierungsverhandlungen zu beenden. Die Sozialisten brachten ein Programm mit, wonach sie versprachen: Schutz der Republik mit allen gesetzlichen Mitteln, besonders in Beamtenschaft und Polizei, Gemeindegesetze auf der Grundlage freiester Selbstverwaltung, Amnestie, wie sie die Kommunisten verlangten, Arbeitnehmerkammern als Kontrollbehörden, steuerliche Entlastung der Arbeiter unter gleichzeitiger Belastung der Besitzenden, Förderung der Sozialisierung, des Wohnungsbaues, Bekämpfung des Wuchers, Sicherstellung der Ernährung, beschleunigte Trennung von Staat und Kirche und Reform des gesamten Schulwesens. Die Kommunisten beharrten jedoch auf ihren zehn Forderungen und erklärten, daß sie mit ein oder zwei Ministersitzen nicht zufrieden seien. Als die Sozialdemokraten die Unnachgiebigkeit der Radikalen erkannt hatten, brachen sie die Verhandlungen als aussichtslos ab. So wurde Sachsen zunächst vor dem Schicksal einer kommunistischen Herrschaft bewahrt. Damit hatten allerdings die Gewaltmaßnahmen der sozialdemokratischen Machthaber keine Linderung erfahren. Es wurden nach wie vor unbequeme Beamte beseitigt und die Mitglieder der nationalen Parteien und Verbände bedrängt und bedrückt. Das Proletariat hatte die Macht, und der Besitzende galt jedem Proletarier als Monarchist, als Reaktionär, als Feind der proletarischen Republik.
Die allgemeine Teuerung wurde noch dadurch verschärft, daß die Landwirtschaft nicht in der Lage gewesen war, ihre Betriebe voll auszunutzen. Die hohen Kosten für künstlichen Dünger machten es unmöglich, solchen einzukaufen. So war in Preußen die Anbaufläche um etwa 400 000 Morgen zurückgegangen, was einen Ausfall von rund 6 000 000 Zentner Brotgetreide bedingte. Der Ernteausfall betrug mehr als ein Fünftel gegen das vergangene Jahr. Nur für die Ausländer mit vollwertigem Gelde entwickelte sich Deutschland zu einem Paradies. Sie überfluteten das geplagte Land in hellen Haufen und kauften für billiges Geld große Schätze zusammen. Für die Wissenschaft wurde die Not zu einer qualvollen Drosselschlinge. Die Privatdozenten der Hochschulen verrichteten in ihren Mußestunden Schreiberdienste, um die nötigsten Mittel zum Lebensunterhalte zu erwerben. Wissenschaftliche Laboratorien mußten den Betrieb einstellen, weil sie keine Anschaffungen mehr machen konnten. Verleger lehnten es ab, große Werke zu übernehmen. Unter staatlichem Schutz hatte sich eine Notgemeinschaft der Wissenschaft organisiert, die auf der Grundlage der Selbstverwaltung beruhte und den hungernden Gelehrten kleine Beihilfen verschaffte. Das Reich selbst hatte 20 Millionen zur Verfügung gestellt und verdoppelte schon in Kürze den Betrag, indem es versprach, bald weitere 40 Millionen zu beschaffen. All diese Maßnahmen waren aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein, da schon der nächste Tag eine gespendete Summe zum größten Teile entwertet hatte. Noch schlimmer stand es um die Künstler.
Nun entwickelten die Gewerkschaften ihr Programm: die Einfuhr müsse bis zum äußersten eingeschränkt werden, besonders die Einfuhr von Luxusartikeln müsse durch Verbot oder scharfe Anspannung der Zölle verringert werden. Als solche Luxusartikel wurden bezeichnet Zigarren, Zigaretten, Tabak, Bier, Tee, Schokolade, Pelze, Seide; die Ausfuhrabgabe sollte erhöht werden; der Devisenhandel müsse kontrolliert werden, jede Devisenspekulation sei zu verbieten und alle darin erzielten Gewinne müßten beschlagnahmt werden; eine innere Goldanleihe müsse unter Heranziehung der Sachwerte aufgelegt werden; ferner [258] solle man die Mark stabilisieren und die Einkommensteuer einziehen, ehe sie entwertet sei; die Kartoffelversorgung müßte sichergestellt und Viehhandel und Fleischexport aufs schärfste überwacht werden; Trinkbranntwein dürfe nicht von Kartoffeln, Getreide, Reis oder Mais hergestellt werden; auch die Bierbrauerei sei einzuschränken, Zuckerrüben dürften nicht dazu verwandt werden; die Wiedereinführung der Zuckerzwangswirtschaft wurde verlangt und zugleich ein Verbot für Herstellung der Schokolade und anderer Luxusartikel gefordert; auch der Milchverbrauch und Milchpreis sollte gesetzlich geregelt werden; das Brotgetreide sollte stärker ausgemahlen und die Seefische dem Volke in größerem Umfange zugeführt werden; in den Gast- und Speisestätten, Bars, Dielen, Kabaretts und Konzertcafés sollten Aufwand und Luxus eingeschränkt werden; auf dem Gebiete des Bau- und Wohnungswesens seien durchgreifende Maßnahmen erforderlich; Wucher sei streng zu bestrafen, insbesondere müsse gegen die Zurückhaltung von Waren in gewinnsüchtiger Absicht eingeschritten werden; schließlich sollten Speise- und Wärmeanstalten für Arbeitslose, Sozialrentner, verarmte Kleinrentner, rentenlose Erwerbsunfähige und Empfänger von Armenunterstützungen vermehrt und vergrößert werden. – Beredter als jedes andere Dokument legt dieses Zeugnis ab von der gewaltigen Not, die sich über dem deutschen Volke zusammenzog. Die Reichsregierung hatte den besten Willen, zu helfen, nachdem sie, allerdings zu spät, erkannt hatte, wohin sie es durch ihren bedingungslosen Erfüllungswillen gebracht hatte. Sie gab den Regierungen der Länder entsprechende Weisungen. Die Ernährungsminister der einzelnen Staaten kamen im September zusammen und berieten sich über die Maßnahmen, die zu ergreifen seien. Der Getreideverbrauch für Bierherstellung und der Zuckerverbrauch in der Likör- und Schokoladenindustrie müßten eingeschränkt werden. Auf die Verfütterung von Brotgetreide sollten schwere Strafen gesetzt werden. Da die Lebensmittel 300mal so teuer wie im Frieden seien, sollten namhafte Beiträge zur Unterstützung der Sozial- und Kleinrentner gegeben werden, die öffentlichen und [259] Kinderspeisungen sollten ausgestaltet und an besonders Bedürftige Lebensmittel zu billigen Preisen abgegeben werden. Die Regierungen des Reiches und der Länder hatten wohl den Willen, aber nicht mehr die Macht, dem Volke zu helfen. Offen und geheim wurden ihre Gesetze umgangen und verhöhnt, und wie eine elementare Naturgewalt schlug die stürzende Mark alles, was in Deutschland Wohlfahrt und Wirtschaft und Anstand hieß, in Trümmer. Die Gründe des Unheils aber lagen nicht nur bei der Regierung Wirth, sondern auch in dem unerbittlichen Vernichtungswillen Frankreichs, und wir müssen uns nun der weiteren Entwicklung der Wiedergutmachungsfrage seit der Konferenz von Genua zuwenden.
"Wenn Deutschland die Bedingungen der Reparationskommission nicht erfüllt, und wenn die Kommission erklärt, daß ein Verschulden vorliegt, werden die Alliierten das Recht und daher die Pflicht haben, ihre Interessen durch Maßnahmen zu schützen, deren gemeinsame Anwendung unendlich wünschenswert sein würde, die jedoch, falls notwendig, von jeder beteiligten Nation einzeln ergriffen werden können. Es ist unser heißer Wunsch, die Eintracht unter den Alliierten zu erhalten; doch werden wir die französische Sache in voller Unabhängigkeit verteidigen und keine einzige von den Waffen, die uns der Vertrag bietet, vernachlässigen. Wir werden nicht dulden, daß unser unglückliches Land unter der Last des Wiederaufbaus zusammenbricht in der unmittelbaren Nachbarschaft eines Deutschland, das sich weigert, die nötigen Anstrengungen zur Bezahlung seiner Schulden zu machen." [260] Solche Worte mußten den maßvollen Lloyd George, der sich gerade bemühte, in Genua den europäischen Frieden herzustellen, bedenklich stimmen, und sie ließen ahnen, daß Frankreich seinen Herzenswunsch, ins Ruhrgebiet einzufallen, noch nicht aufgegeben hatte. Im Rheinland mußten vier Eisenbahnlinien zum Teil wieder zerstört werden, nachdem sie erst aus wirtschaftlichen Gründen gebaut worden waren. Der Wiedergutmachungsausschuß zeigte sich gekränkt, daß er von Deutschland nicht vorher über den Abschluß des Rapallo-Vertrages unterrichtet worden sei. Er hoffe, daß dem Reiche daraus keine Belastungen erwachsen, z. B. in bezug auf Entschädigungen für enteignete Deutsche. Er behalte sich das Recht vor, von Zeit zu Zeit die Auswirkungen des Vertrages zu prüfen und gegebenenfalls durch Maßnahmen seine Vorrechte gegenüber dem Rapallo-Vertrage zu schützen. Immerhin gelang es den Vertretern der deutschen Regierung in Paris, eine Verlängerung des Zahlungsaufschubes zu erreichen. So entschied der Ausschuß am letzten Tage des Mai, er erkenne "in Berücksichtigung der von der deutschen Regierung gegebenen Erklärungen an, daß das, was die deutsche Regierung bereits getan hat, und die neuen Maßregeln, zu deren Ergreifung sie sich verpflichtet, eine ernstliche Anstrengung bilden, um den Forderungen der Kommission zu entsprechen. Infolgedessen beschließt sie, den am 21. März bewilligten vorläufigen Aufschub auf einen Teil der während des Jahres 1922 in Ausführung des Zahlungsplanes zu bewirkenden Zahlungen zu bestätigen. Dieser Aufschub für das Jahr 1922 wird also mit dem 1. Juni endgültig". Zur gleichen Zeit regte Deutschland wieder beim Wiederherstellungsausschuß an, er möge sich für das Zustandekommen einer Auslandsanleihe einsetzen. Dies war eine Initiative der Regierung, ohne daß sie darüber den Reichstag befragt hätte. Die Deutschnationalen warfen der Reichsregierung vor, sie habe nicht den Mut, den Reichstag über die Anleiheverhandlungen zu unterrichten und lasse ihn deshalb im unklaren. Unter diesen Umständen brachten die Deutschnationalen einen Antrag ein mit folgendem Wortlaut:
"Der Reichstag mißbilligt, daß die Regierung bei den Verhandlungen über die Repa- [261] rationsfrage in einer Weise verfährt, die mit den Rechten und der Verantwortlichkeit des Reichstages nicht vereinbar ist. Unter diesen Umständen versagt der Reichstag der Regierung das nach der Verfassung erforderliche Vertrauen." Die Partei stand aber, wie schon einmal im Januar, mit ihrem Mißtrauensantrag allein, so daß er ohne Folgen blieb.
"Die Bedingungen, nach welchen die deutsche Regierung unter Berücksichtigung ihrer Verpflichtungen auf Grund des Versailler Vertrages und insbesondere des Zahlungsplanes vom 5. Mai 1921 auswärtige Anleihen zur Verwendung zur Ablösung eines Teiles des Kapitals der Wiedergutmachungsschuld aufnehmen könnte." Es sollten die Bedingungen und Höhe der Anleihe, sowie ihre Sicherstellung und die Überwachung der Sicherheiten beraten werden. Dieses Bankier-Komitee bestand aus je einem Engländer, Amerikaner, Deutschen, Holländer, Italiener, Belgier und Franzosen. Als Bedingungen für eine Anleihe wurden zunächst gefordert Stabilisierung der deutschen Währung, Beseitigung der Unsicherheit in den deutschen Wiedergutmachungsverpflichtungen und Beteiligung sämtlicher verbündeter Nationen an der Unterbringung der Anleihe. Jedoch die Beratungen der Sachverständigen, die sich länger als zwei Wochen hinzogen, kamen zu einem negativen Ergebnis. Erstens habe Deutschland im Auslande wegen der Inflation überhaupt keinen Kredit. Zweitens wären die Kapitalisten von vornherein einer Anleihe abgeneigt, die nicht eine endgültige Regelung des Reparationsproblems herbeiführe. Eine solche Anleihe sei höchstens eine kurze Atempause; wenn sie verbraucht sei, würde sich Deutschland seinen unverminderten Reparationsleistungen gegenübersehen mit dem weiteren Hindernis, daß seine besten Sicherheiten bereits für den Dienst der Anleihe verpfändet wären. Schließlich aber hätten die Kapitalisten der neutralen Länder ernstlich unter der Entwertung der Mark zu leiden, da sie hohe Beträge [262] darin investiert hätten, auch sei die deutsche Außenhandelskonkurrenz für die Neutralen infolge der Inflation zu groß. Interesse für eine Anleihe, welche für den Aufbau der deutschen Finanzen auf stabilisierter Grundlage keine Aussicht biete, sei nicht vorhanden. Infolge dieser drei gewichtigen Gründe kam der Ausschuß "zu der Erkenntnis und zu dem Schluß, daß eine auswärtige Anleihe nicht durchführbar ist". Der Franzose Sergent im besonderen konnte sich nicht damit einverstanden erklären, daß Deutschlands Wiedergutmachungsverpflichtungen, insonderheit gegen Frankreich, unter Umständen herabgesetzt werden sollten, um Deutschland eine Auslandsanleihe zu verschaffen. "In Übereinstimmung mit den französischen Delegierten der Reparationskommission ist er (Sergent) der Meinung, daß es nicht zur Zuständigkeit des Bankier-Komitees gehörte, die Frage von Abänderungen der deutschen Verpflichtungen, so wie sie im Vertrage von Versailles und insbesondere im Zahlungsplan vom 5. Mai bestimmt sind, zu untersuchen." So war zum zweitenmal der Versuch, Deutschlands Mark durch eine Auslandsanleihe zu retten, fehlgeschlagen. Im Dezember 1921 beschäftigte sich die deutsche Industrie erfolglos mit dem Problem. Diesmal hatte der Wiedergutmachungsausschuß selbst kein Ziel erreicht. Es blieb also alles beim alten: Deutschland mußte, um seine Ausgleichszahlungen in bar zu beschaffen, weiter die deutsche Mark zum Ankauf von Devisen verwenden. Ein neuer Sturz der deutschen Währung war die Folge. Mitte Juli sah sich die Regierung Wirth durch die immer groteskere Formen annehmende deutsche Not gezwungen, bei den Verbandsmächten eine Herabsetzung der in Cannes beschlossenen monatlichen Zahlungen von zwei Millionen Pfund Sterling oder 40 Millionen Goldmark auf eine halbe Million Pfund Sterling oder zehn Millionen Goldmark zu beantragen und um Befreiung von einem Teile der Entschädigungsleistungen (Artikel 297e des Versailler Vertrages) zu bitten. Die Mark falle sehr schnell, und eine finanzielle Katastrophe sei unvermeidlich, wenn Deutschland weiterhin gezwungen sei, umfangreiche Devisenkäufe abzuschließen. [263] Während England den deutschen Vorschlag nicht ohne weiteres ablehnte, verlangte Poincaré unerbittlich die festgesetzte volle Summe, Deutschland solle bis zum 5. August mittags erklären, daß am 15. August die fällige Summe gezahlt werde. Wirth wies darauf hin, daß eine Goldmark bereits 160 Papiermark betrage und daß Deutschland seinen Verpflichtungen beim besten Willen nicht nachkommen könne. Es wurde ein Moratorium bis 1924 verlangt. Frankreich jedoch beharrte unerschütterlich auf den 40 Millionen, sonst müßte man neue Zwangsmittel anwenden. Die deutsche Regierung mache nicht die geringsten Anstrengungen, um die Zahlung der geschuldeten Summen an die Verbündeten durch die wirklichen Schuldner, das heißt durch die deutschen Privatleute, sicherzustellen. Gerade diese deutschen Privatleute hätten, wie Frankreich aus sicherer Quelle wisse, durch ihren Ankauf fremder Devisen zu dem gegenwärtigen Markkurs beigetragen. Poincaré ordne gleichzeitig an, daß sämtliche Bankkonten deutscher Reichsangehöriger in Elsaß-Lothringen beschlagnahmt werden sollten, eine Maßnahme, die eine Verletzung des Völkerrechts darstellte, soweit es sich um Bankkonten handelte, die nach dem 10. Januar 1920, dem Tage der Ratifizierung des Friedens, errichtet worden waren.
Nun wurde ein Sachverständigenausschuß beauftragt, diese Vorschläge zu prüfen. Dieser Ausschuß erkannte die Forderungen Poincarés zum Teil an und rühmte ihre Vorteile: es werde eine Institution für Einnahmen geschaffen, die gegebenenfalls in Tätigkeit treten und große Ergebnisse zeitigen könnte, wenn Deutschland die von ihm verlangten notwendigen Reformen nicht durchführe, sodann aber würde ein deutsches Aktivvermögen in die Hände der Verbündeten gelegt, das eine sofortige Ausbeutung gestatte. Großbritannien aber wollte nichts von alledem wissen, und Belgien und Italien standen auf Englands Seite. Es wurde keine Einigung in der Reparationsfrage erzielt. Lloyd George, welcher der Ansicht war, Deutschland brauche den Zahlungsaufschub, wollte die Entscheidung darüber dem Wiedergutmachungsausschuß überlassen, während Frankreich darauf bestand, daß Deutschland gezwungen werde, am 15. August 40 Goldmillionen zu entrichten. Es kam ein, unter französischem Druck, letzter Beschluß zustande, daß jedes Land in Zukunft direkt mit Deutschland über diese Frage verhandeln könne. Der Zusammenhalt der Alliierten hatte einen tiefen Riß bekommen: Frankreich hatte gesiegt, und Poincaré hatte sich freie Hand gegen Deutschland erzwungen. Mit lautem Groll ging man auseinander. Deutschland, das sich inzwischen mit den Vereinigten Staaten dahin geeinigt hatte, ein Schiedsgericht zur Feststellung [265] der deutschen Schulden für Amerika einzusetzen, sah den verhängnisvollen 15. August heranrücken, ohne daß es in der Lage gewesen wäre, den fälligen Betrag zusammenzubringen; so wurden denn in der Tat nur zehn Millionen Goldmark gezahlt. Rücksichtslos ließ Poincaré jetzt seine angedrohte Maßnahme ausführen, die darin bestand, daß tausend deutsche Reichsangehörige aus Elsaß-Lothringen ausgewiesen wurden. Die Unglücklichen mußten, ohne daß ihnen eine Frist gegeben wurde, sofort das Land verlassen und durften nur Handgepäck mitnehmen. Außerdem war den Verheirateten die Mitnahme von 10 000 Papiermark gestattet, während den Unverheirateten, die älter als 25 Jahre waren, nur die Hälfte freigegeben wurde. Dieser Geldbetrag hatte noch nicht einmal den Wert von 50 bzw. 25 Mark, so daß die Vertriebenen tatsächlich wie Bettler von Haus und Hof flüchten mußten, während ihr gesamtes zurückgelassenes Hab und Gut und Vermögen von Frankreich beschlagnahmt wurde.
So war nach Rathenaus Tode für Stinnes wieder der Augenblick gekommen, die deutsche Politik zu beeinflussen. Die Regierung Wirth war gezwungen, sich Stinnes, dem mächtigsten Manne des deutschen Wirtschaftslebens, zu nähern, ein Vorgang, der außenpolitisch ein Abschwenken von Sozialdemokraten und Gewerkschaften und ein Hinwenden zu deutscher Volkspartei und Kapitalismus zur Folge hatte. Dieser Kurswechsel, der durch den eisernen Druck der Not erforderlich wurde, gab der Regierung des Deutschen Reiches im Herbst 1922 das Gepräge.
Dies war die Grundlage, auf welcher dann Anfang September in Berlin zwischen Stinnes und den französischen Wiederaufbaugesellschaften der Vertrag geschlossen wurde. Daraufhin kam es auch zu einem Abkommen zwischen der Lehrer-Siemensschen Baustoffindustrie Berlin-Düsseldorf und der Chambre Syndicale des constructeurs en ciment armé, der 88 der bedeutendsten französischen Bauunternehmergruppen angehörten.
Selbst im Wiederherstellungsausschuß war keine Einmütigkeit über die Mittel und Wege, die Deutschland gegenüber einzuschlagen seien. Barthou war nach wie vor der Ansicht, daß Deutschland kein Moratorium brauche. Der Wohlstand der deutschen Industrie sei ja durch die hohen Ausfuhrziffern [268] erwiesen, es herrschte keine Arbeitslosigkeit wie in England. Deutschland sei nur von bösem Willen beseelt. Die Alliierten müßten produktive Pfänder nehmen, über Reich und Länder strenge Aufsicht üben. Demgegenüber betonte Sir John Bradbury, man müsse Deutschland eine Atempause, einen Zahlungsaufschub bis 1924 gewähren, dann erst könne man damit rechnen, Reparationen in größerem Umfange zu erhalten. Barzahlungen sollten vollständig, Sachlieferungen fast vollständig für zwei oder vier Jahre ausgesetzt werden, um den Staatshaushalt in Ordnung zu bringen und die Mark zu stabilisieren. Der Wiedergutmachungsausschuß sollte seinen Sitz von Paris nach Berlin verlegen, um die Erholung Deutschlands zu beaufsichtigen und zu beschleunigen. Die Reparationskommission begab sich Ende Oktober nach Berlin, um mit der deutschen Regierung über die beiden brennenden Fragen: die Festigung der Mark und den Ausgleich des Reichshaushaltes, zu verhandeln. Wirth, der deutsche Reichskanzler, wies in seiner Begrüßungsansprache darauf hin, daß das deutsche Volk vor einem furchtbaren Winter des Hungers und der Kälte stehe, da Nahrungsmittel und Kohle fehlen. Man dürfe nicht mehr aus Deutschland herausholen, sondern erst müsse die kranke Wirtschaft geheilt werden, dann könnten auch wieder Leistungen aufgebracht werden. Die Reichsregierung hatte gleichzeitig eine Anzahl internationaler Sachverständiger nach Berlin eingeladen, um die Frage der Markbefestigung zu untersuchen. Es waren dies Vissering, Cassel, Brand, Keynes, Dubois und Jenks. In Deutschland selbst war man nämlich geteilter Ansicht. Während die einen meinten, man müsse erst den Staatshaushalt und die Handelsbilanz ausgleichen, ehe man die Mark stabilisieren könne, vertraten andere die umgekehrte Ansicht. Und nun wollte man hören, wie das Ausland über diese Frage dachte. So wurden den Sachverständigen folgende Fragen vorgelegt: Ist unter den gegenwärtigen Umständen eine Stabilisierung der Mark möglich? Wenn nein, welche Voraussetzungen müssen geschaffen werden, um die Stabilisierung zu ermöglichen? Und welche Maßregeln müssen getroffen werden, sobald die Voraussetzungen vorliegen?
Das zweite Gutachten von Brand, Cassel, Keynes und Jenks erkannte folgende wichtige Voraussetzungen für eine Stabilisierung der Mark: ein zweijähriges Moratorium und Einstellung sämtlicher Reparationen bis zu dem Zeitpunkte, wo sie aus Überschüssen des Reiches, nicht mehr aus einer neuen Inflation bezahlt werden könnten, ferner müßte das Reparationsproblem bald und in durchführbarer Weise geregelt werden. Jedoch war man hier der Ansicht, daß die Markstabilisierung weniger von äußeren Faktoren, von Reparationszahlungen und internationaler Anleihe abhänge als vielmehr von einer durchgreifenden Reorganisation des Staatshaushaltes und besserer Gestaltung der Produktionsverhältnisse. Mit diesen Dokumenten in der Tasche reiste der Wiederherstellungsausschuß am 9. November von Berlin ab. Die Reichsregierung stellte auf Grund der Gutachten den Antrag, die endgültigen [270] Verpflichtungen Deutschlands festzusetzen, ein Gesamtmoratorium für Bar- und Sachleistungen von drei bis vier Jahren zu gewähren und einen internationalen Bankkredit von mindestens 500 Millionen Goldmark zur Verfügung zu stellen.
Der geschäftstüchtige Poincaré wußte auch aus diesen Ereignissen seinen Vorteil zu ziehen. Er verlangte von Passau und Ingolstadt je eine halbe Million Goldmark als Sühne und drohte, wenn ihm diese nicht bezahlt würden, eine Million aus dem besetzten Gebiete zu erpressen. Da die Städte nicht in der Lage waren, diesen völkerrechtlich in keiner Weise gerechtfertigten Tribut aufzubringen, sah sich das Deutsche Reich genötigt, von sich aus die geforderte Million zu zahlen, um seine Angehörigen im Rheinland vor brutalen Maßnahmen zu schützen. –
Auch bei einer anderen Gelegenheit versagte sich die Deutsche Volkspartei nicht der Reichsregierung. Am 24. Oktober brachte die Regierung Wirth eine Gesetzesvorlage ein, wonach unter Abänderung der Reichsverfassung die Amtsdauer des Reichspräsidenten nicht Ende Juni 1923, sondern erst Ende Juni 1925 ablaufen sollte. Bayern erhob zwar Widerspruch und ebenso die Deutschnationale Volkspartei, aber am gleichen Tage nahm der Reichstag das Gesetz an mit 314 Stimmen. Da nur 76 Stimmen der Deutschnationalen Volkspartei und der Kommunisten dagegen waren, war die durch die Verfassung für diesen Fall geforderte Zweidrittelstimmenmehrheit vorhanden. Dieses Gesetz, das den Einfluß des sozialdemokratischen Reichspräsidenten auf zwei weitere Jahre ausdehnte, bildete gewissermaßen den Abschluß der Maßnahmen des Reiches zum Schutze der Republik. Auch die Deutsche Volkspartei glaubte dem Gesetz zustimmen zu dürfen in der Erwartung, in Kürze an der Regierung teilnehmen zu dürfen.
Die Regierung Wirth verschwand von der Bildfläche und hinterließ ein Andenken bitteren Leides. Hervorgegangen aus der katastrophalen Lage der Maitage 1921, hatte sie ein aussichtsloses Experiment begonnen, – ein Experiment, welches die Regierung Fehrenbach nicht verantworten zu können glaubte, nämlich durch äußerste Willfährigkeit die [278] drakonischen Wiedergutmachungsforderungen der Alliierten ad absurdum zu führen. Das Experiment war vollständig mißglückt, und das deutsche Volk hatte seine Rechnung zu bezahlen in Gestalt der Inflation, ohne daß die Alliierten den Beweis für die Absurdität ihrer Forderungen als erbracht ansahen. Aus diesem Erfüllungswillen der Regierung ergaben sich mit zwingender Notwendigkeit all die anderen Erscheinungen und Ereignisse jener Ära. Da das deutsche Kapital von vornherein den unbedingten Erfüllungswillen als wirtschaftlichen Wahnsinn erklärte, befand es sich im Gegensatz zur Regierung Wirth, und diese mußte mit der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften zusammenarbeiten. Diese Zusammenarbeit war so intensiv, daß man zeitweise von einer gewerkschaftlichen Nebenregierung sprach. Der erste Versuch, sich dem Kapital zu nähern, wurde im November und Dezember 1921 unternommen und mißglückte. Ein Rückschlag trat ein, der sich in um so engerem Anschluß an die Gewerkschaften äußerte. Eine Folge des Erfüllungswillens war die Ermordung Rathenaus, deren unselige Konsequenzen das Volk sich zum Schutze der Republik zerfleischen ließen. Letzten Endes war die Regierung Wirth doch genötigt, ernstlich die Hilfe des deutschen Kapitals in Anspruch zunehmen, da die Erfüllungspolitik mit einem vollständigen Bankrott endete, und über diesem Willen, die Koalition nach rechts zu erweitern, wurde die Regierung Wirth von ihrer eigenen Bundesgenossin, der Sozialdemokratie, gestürzt.
Das Schicksal der Regierung Wirth bewies, daß es unter dem Drucke der Reparationsverpflichtungen nicht möglich war, auf die Dauer Deutschland nach den revolutionären Grundsätzen von 1918 und 1919 gegen das Kapital zu regieren. Mit zwingender Notwendigkeit drängten die außenpolitischen Zustände auf eine Regierungskonstellation hin, in welcher die Deutsche Volkspartei, die Vertreterin des reparationszahlenden deutschen Kapitals, Sitz und Stimme hatte. |