[Bd. 2 S. 180] 3. Kapitel: Deutsch-Österreichs Anschlußtragödie.
Deutsch-Österreich, der Leidensgefährte Deutschlands, war ein tief unglückliches Land. Herabgestürzt von der Höhe seiner Macht, aller Hilfsmittel beraubt, war es in einen Zustand bitterer Not und namenlosen Elends geraten, aus dem es nur Erlösung erhoffen konnte durch eine Vereinigung mit Deutschland. Aus einer ehemaligen Großmacht war es zu einem Zwergstaat herabgesunken mit einem Umfang von kaum 84 000 Quadratkilometern und mit einer Bevölkerung von 6½ Millionen Menschen. Die Monarchien in Deutschland und Österreich-Ungarn waren gestürzt, und damit war das letzte Hindernis für eine Wiedervereinigung Österreichs mit dem Reiche beseitigt. Sowohl auf deutscher wie auf österreichischer Seite bestand sogleich nach dem Zusammenbruch der Wille dazu. Die großdeutsche Strömung beider Länder förderte eifrig die Bewegung, und wir konnten bereits das Echo feststellen, welches der Anschlußgedanke 1919 in der Deutschen Nationalversammlung auslöste.
Doch da drängte sich der Feindbund mit seinem Machtgebot zwischen beide Länder: Artikel 80 des Versailler Vertrages verbot den Zusammenschluß, es sei denn, daß der Völkerbund seine Zustimmung dazu gebe. Darüber hinaus mußte Deutschland ausdrücklich erklären, daß der die Vereinigung mit Österreich erstrebende Artikel der Weimarer Verfassung außer Kraft gesetzt sei. Nach der ganzen Lage der Dinge und dem außenpolitischen Kräfteverhältnis war hiermit die Anschlußfrage erledigt: Deutsch-Österreich konnte nicht hoffen, in absehbarer Zeit seine Vereinigung mit Deutschland zu vollziehen. Die Österreicher aber ließen nicht von ihrem Willen. Das Volk besaß keine Industrie und hatte insofern keine [181] Möglichkeit, Geld ins Land zu ziehen. Dieses Mißverhältnis zwischen Bedarf und Eigenproduktion führte zu einer rapiden Inflation, der Notenumlauf stieg innerhalb eines Jahres seit dem Januar 1920 von zwölf auf dreißig Milliarden. Jeder einsichtige Staatsmann erkannte, daß die weitere Entwicklung auf dieser Linie zur Katastrophe führen müsse. Da gab es eben nur zwei Auswege aus diesem Strudel des Unglücks: entweder unterstützten die kapitalkräftigen Staaten der Entente den Donaustaat wirtschaftlich, oder Österreich schloß sich politisch und wirtschaftlich dem Deutschen Reiche an. Welcher Weg auch begangen wurde, immer war die Zustimmung des Völkerbundes vonnöten. Hier nun setzte die Tragik Deutsch-Österreichs ein. Der Regierung der Republik, hinter der vor allem die Christlich-Sozialen standen, war der erste Weg sympathisch, während das Volk, von Großdeutschen und Sozialdemokraten beeinflußt, sich für den zweiten Weg, den Anschluß, entschied. Diese Gegensätzlichkeit der politischen Richtung führte einen Konflikt herauf, durch welchen die Regierung gestürzt, die Wünsche des Volkes aber nicht erfüllt wurden.
Anfang Januar erklärte der Bundeskanzler Dr. Mayr im Ausschuß für Auswärtiges, die Beziehungen zum Deutschen Reiche seien auf der unveränderlichen und unveräußerlichen Kulturgemeinschaft gegründet, die Österreich mit seinen Stammesbrüdern im Reiche verbinde; die überlieferte Herzlichkeit und Innigkeit der Beziehungen unter Beachtung der beiderseitigen Lebensinteressen zu pflegen, betrachte die österreichische Regierung als eine ihrer wichtigsten Aufgaben. Das war höflich und unverfänglich. Die fünfzigjährige Reichsgründungsfeier am 18. Januar weckte auch in Österreich Widerhall, und die Großdeutschen wiesen wieder überzeugend auf die Notwendigkeit des [183] Anschlusses hin. Die lebhafte Erörterung dieser Frage in Presse und Parlamenten erregte Frankreichs Aufmerksamkeit, und eine Woche später erklärte der französische Bevollmächtigte in Wien, die Entente werde einen Anschluß Österreichs an Deutschland nicht dulden.
"Die politischen Fäden, die unser Land durch ein Jahrtausend mit dem alten Deutschen Reiche verbanden, konnten zwar gelöst werden, niemals aber hat die kulturelle Einheit zwischen uns und dem Deutschen Reiche aufgehört. Der Tag des 18. Januar, dessen unsere Stammesbrüder im Reiche in wehmütiger Freude gedachten, bewegt mit ganzer Macht auch unsere Herzen, die wir Mühsal und Leiden getrennt von unseren Volksgenossen tragen müssen." Aus dieser Stimmung heraus wurde an den Deutschen Reichspräsidenten folgendes Telegramm gesandt:
"Der Nationalrat der Republik Österreich gedenkt bei seinem ersten Zusammentreten nach dem 18. Januar bewegten Herzens des Tages, an dem vor fünfzig Jahren Deutschlands Stämme sich zum Deutschen Reich vereinigt haben, und hat mich unter lebhaftem Beifall ermächtigt, aus diesem Anlaß dem Deutschen Reichstag und Reichspräsidenten seine herzlichsten Glückwünsche zu entbieten. In unser aller Herzen ruht fest verankert die Hoffnung und das Vertrauen auf des deutschen Volkes neue Blüte. Möge die Zukunft des Deutschen Reiches und der Republik Österreich die Erfüllung unserer Herzenswünsche bringen." Am folgenden Tage antwortete der Deutsche Reichspräsident:
"Dem Nationalrat der Republik Österreich danke ich herzlichst für die anläßlich des Erinnerungstages übermittelten freundlichen Grüße. Das deutsche Volk ist gleich den Stammesgenossen in Österreich von der festen Zuversicht erfüllt, daß sich der deutsche Name in der Zukunft überall jene Achtung und Geltung erringen wird, die dem gemeinsamen Streben der Wiederaufrichtung durch unermüdliche Arbeit zuteil werden müssen." Dieser Telegrammwechsel zum fünfzigjährigen Reichsgründungstage war nicht bloß der Ausdruck für irgendeine internationale Höflichkeit; hinter [184] ihm stand die unausgesprochene Sehnsucht zweier Völker nach dem Großdeutschen Reiche. Gewiß, diese Sehnsucht mußte auf beiden Seiten unausgesprochen bleiben, denn sowohl Deutschland wie Österreich verhandelten mit der Entente über höchst materielle Fragen, bei denen großdeutsche Erörterungen nicht angängig waren.
Eine Woche später stellte die Großdeutsche Partei im Nationalrat den Antrag, es solle ein Bundesgesetz über die Volksabstimmung wegen eines Anschlusses an Deutschland vorgelegt werden. Es solle zunächst nur die grundsätzliche Meinung der Bevölkerung eingeholt werden. Jedoch die Parteien des Nationalrates waren der Ansicht, daß außenpolitische Rücksichten augenblicklich eine Forcierung der Anschlußbewegung nicht wünschenswert erscheinen ließen, und in dieser Auffassung befänden sie sich in Übereinstimmung mit dem Wunsche der Regierung. Die Regierung des Dr. Mayr verscherzte sich mehr und mehr die Sympathien des Volkes, indem sie die Anschlußbewegung nicht nur nicht förderte, sondern sogar zu hemmen [185] versuchte. Zwar bewies sie der Entente damit ihren guten Willen, aber der Sache des Volkes diente sie nicht; denn es war ganz offenkundig, daß der Anschlußwille an Deutschland eine große Volksbewegung darstellte, von der sich nur die Christlich-Sozialen ausschlossen. Anfang März erklärte der Bundeskanzler im Nationalrat, "es entspreche sowohl der innigen Anteilnahme Österreichs an allem, was Deutschland betreffe, als auch der politischen Klugheit, wenn augenblicklich alles unterbleibe, was die internationale Lage des Deutschen Reiches irgendwie erschweren könnte." Aus seinen Reden entnahmen die Gegner Dr. Mayrs, wie froh er war, einen begründeten Vorwand für sein ablehnendes Verhalten zu haben. Das Volk aber klagte an: von Tag zu Tag wird unsere Not immer unermeßlicher; wo ist die versprochene Hilfe der Entente geblieben? Man gebe uns den Anschluß an Deutschland frei! Ein tiefer Groll und Unmut zitterte durch die Massen, und diese fanden einen beredten Sprecher in dem großdeutschen Abgeordneten Dr. Frank, der dem Kanzler bereits am folgenden Tage, dem 4. März, entgegnete:
"Um der Entente nicht eine bequeme Waffe für die Verweigerung der Kredite an uns in die Hand zu geben, haben wir uns in der Anschlußfrage bis zur Pariser Konferenz (24.–29. Januar) die äußerste Zurückhaltung auferlegt. Nun aber können wir eine weitere Passivität in der Anschlußfrage vor unserem Gewissen nicht mehr rechtfertigen... Wenn die Entente ihre Verpflichtungen nicht erfüllen kann oder will, dann soll sie die Gittertore unseres Käfigs öffnen und uns den Anschluß gestatten. Wir haben die Regierung bisher unterstützt, können sie aber nur dann weiter unterstützen, wenn sie unserer Anschlußpolitik nicht weiter hindernd entgegentritt."
"Falls die österreichische Regierung nicht in der Lage sein sollte, die gegenwärtig auf den Anschluß an das Deutsche Reich hinzielenden Umtriebe wirkungslos zu machen, so würde die französische Regierung die Hilfsaktion für Österreich einstellen, und die Reparationskommission würde in ihrer Befugnis vollständig wiederhergestellt werden." Und die Vertreter Englands und Italiens schlossen sich an, indem sie bemerkten, daß ein Zurücktreten Frankreichs von der Hilfsaktion das Ende dieses Unternehmens und das Fallenlassen aller hierauf bezüglichen Pläne bedeute. Auch diese Sprache war drohend genug für die Wiener Regierung, die in einem Zustande erbarmungswürdiger Hilflosigkeit verharrte. Schon am 17. April fand in Wien eine gewaltige Kundgebung der werktätigen Bevölkerung für den Anschluß an Deutschland statt, an der sich viele Tausende von Männern und Frauen beteiligten. Österreich sei nicht lebensfähig, und nur der Anschluß an Deutschland könne ihm wirkliche [188] wirtschaftliche Hilfe bringen. Deshalb sollte dem Völkerbund dieser Wunsch zum Ausdruck gebracht werden. Es war in der zahllosen Menge nicht einer, der dieser Entschließung widersprochen hätte. Mit freudigem Herzen jubelten die Tausende ihrem Stern entgegen: Vereinigung mit Deutschland, das Großdeutsche Reich. Ein Rausch der Begeisterung flog durch die alte Kaiserstadt an der Donau und ließ die tägliche Not vergessen. Ein Traum vereinte Millionen und forderte kategorisch seine Erfüllung.
"Der Landtag legt Verwahrung gegen den vom französischen Gesandten in Wien unternommenen Schritt ein, der nicht imstande ist, die Bevölkerung in ihrem Anschlußgedanken wankend zu machen. Die Volksabstimmung im Lande Salzburg ist am 29. Mai vorzunehmen, falls nicht durch die Bundesregierung ein früherer Termin für das ganze Reich festgesetzt wird. Die Volksabstimmungsfrage hat zu lauten: Wird der Anschluß an Deutschland gefordert?" Vergeblich versuchte die Bundesregierung in Wien die Salzburger Abstimmung zu hintertreiben. Ja, sie mußte es sogar geschehen lassen, daß am 12. Mai der Nationalrat das Bundesgesetz über Volksabstimmungen auf Grund der Bundesverfassung annahm und das Gesetz über Volksbefragung betreffend den Anschluß an Deutschland verabschiedete. Nach diesem Gesetze sollte den Bundesbürgern die Frage vorgelegt werden: Soll die Bundesregierung beim Rat [189] des Völkerbundes um die Zustimmung zum Anschluß der Republik Österreich an das Deutsche Reich ansuchen? Allerdings hatte der Verfassungsausschuß aus dem großdeutschen Gesetzesantrag die wichtige Bestimmung über den Zeitpunkt der Volksbefragung gestrichen und dafür die Bestimmung aufgenommen, daß der Tag der Volksbefragung durch den Nationalrat bestimmt werden sollte. Der Nationalrat nahm einstimmig dies Gesetz an. Das war wieder ein Grund für die Alliierten, ihre drohende Stimme zu erheben. Frankreich, Italien und die Kleine Entente wiesen gemeinsam die österreichische Regierung auf strikte Innehaltung des Artikels 88 des Vertrages von Saint-Germain hin, welcher Österreich den Anschluß an Deutschland verbot. Nach diesem Artikel sei bereits vor einer Abstimmung über die Anschlußfrage die Zustimmung des Völkerbundsrates erforderlich. Ein eigenmächtiges Vorgehen von Volk und Regierung hätte die Einstellung aller wirtschaftlichen Hilfsaktionen zur Folge. Die Note hatte keinen Einfluß auf die Bewegung, da die österreichische Regierung auch keinen solchen hatte. Ebenso unfruchtbar war der sechs Tage später, am 21. Mai, erhobene Einspruch des französischen und rumänischen Geschäftsträgers beim Bundeskanzler. Der jugoslawische Ministerpräsident Pasitsch drohte sogar mit einer Revision der steiermärkischen Abstimmung. Welchen Zweck aber hatten all diese Drohungen und Einsprüche, wenn die Regierung selbst machtlos gegen die Volksbewegung war? Der Bundeskanzler fühlte, daß er nicht imstande war, die Anschlußbewegung zu hindern. Sie ging ihren Lauf wie ein Naturereignis. Mit einem gewissen Gefühle der Resignation gab Dr. Mayr am 23. Mai dem Chef der Salzburger Landesregierung die strenge Weisung, "es sei unbedingt notwendig, den Charakter der Anschlußbewegung als einer reinen Privatveranstaltung zu wahren". Alle amtlichen Organe seien angewiesen, daß jede mittelbare oder unmittelbare Unterstützung zu unterbleiben habe. Zwei Tage später teilte der italienische Vertreter dem Bundeskanzler mit, daß sich die Mächte durch die Anschlußbewegung beunruhigt fühlten; es könnten daraus für Österreich schwere wirtschaftliche und [190] politische Schäden erwachsen. Dr. Mayr konnte derartige Ermahnungen nur noch mit Achselzucken beantworten, mit einem stummen Eingeständnis seiner Ohnmacht.
Wir hören nur noch, daß der Bundesrat am 11. Juli gegen den Gesetzesbeschluß des Nationalrats zur Durchführung einer Volksbefragung und eines an den Rat des Völkerbundes auf Grund des Artikels 88 des Friedensvertrages zu stellenden Antrages keinen Einspruch erhob. Dann wird alles stumm. Nach einem Zeitraum von vier Monaten, am 10. November, brachte die Wiener Arbeiterzeitung eine Entschließung, die der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei den Volksversammlungen anläßlich des Gründungstages der Republik Österreich am 12. November vorschlug. Darin hieß es:
"Am dritten Jahrestag der Gründung der Republik erneuert das Proletariat feierlich den Schwur unverbrüchlicher Treue und erklärt, daß kein Verbot militärisch und politisch noch so starker Faktoren imstande ist, es vom Festhalten an dem damals gleichzeitig aufgestellten Ziele des Anschlusses an Deutschland abzubringen."
Das war die Tragik Deutsch-Österreichs: sieben Millionen Deutsche schmachteten in den Ketten eines Gewaltfriedens, der ihnen ihr natürlichstes Recht der Selbstbestimmung versagte. Eine gewaltige Bewegung, getragen vom Feuer der Begeisterung, erlosch am eisenharten Willen der Gegner und am inneren Zwiespalt, der durch die habsburgischen Separatisten, die
Christlich-Sozialen, hervorgerufen wurde. Die Deutschen Österreichs mußten ihre Sehnsucht nach dem Großdeutschen Reiche in ihre Herzen verschließen, denn das große Deutschland war zu ohnmächtig, ihnen zu helfen. |