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[Bd. 2 S. 180]
3. Kapitel: Deutsch-Österreichs Anschlußtragödie.

Katastrophe
  Deutsch-Österreich  

Gleichzeitig mit der oberschlesischen Tragödie vollzog sich das tragische Schicksal von sieben Millionen Deutschen in Österreich.

Deutsch-Österreich, der Leidensgefährte Deutschlands, war ein tief unglückliches Land. Herabgestürzt von der Höhe seiner Macht, aller Hilfsmittel beraubt, war es in einen Zustand bitterer Not und namenlosen Elends geraten, aus dem es nur Erlösung erhoffen konnte durch eine Vereinigung mit Deutschland. Aus einer ehemaligen Großmacht war es zu einem Zwergstaat herabgesunken mit einem Umfang von kaum 84 000 Quadratkilometern und mit einer Bevölkerung von 6½ Millionen Menschen.

Die Monarchien in Deutschland und Österreich-Ungarn waren gestürzt, und damit war das letzte Hindernis für eine Wiedervereinigung Österreichs mit dem Reiche beseitigt. Sowohl auf deutscher wie auf österreichischer Seite bestand sogleich nach dem Zusammenbruch der Wille dazu. Die großdeutsche Strömung beider Länder förderte eifrig die Bewegung, und wir konnten bereits das Echo feststellen, welches der Anschlußgedanke 1919 in der Deutschen Nationalversammlung auslöste.

Anschlußkundgebung in Wien, 27. März 1919.
[Bd. 2 S. 144b]      Anschlußkundgebung in Wien, 27. März 1919.      Photo Scherl.

Doch da drängte sich der Feindbund mit seinem Machtgebot zwischen beide Länder: Artikel 80 des Versailler Vertrages verbot den Zusammenschluß, es sei denn, daß der Völkerbund seine Zustimmung dazu gebe. Darüber hinaus mußte Deutschland ausdrücklich erklären, daß der die Vereinigung mit Österreich erstrebende Artikel der Weimarer Verfassung außer Kraft gesetzt sei. Nach der ganzen Lage der Dinge und dem außenpolitischen Kräfteverhältnis war hiermit die Anschlußfrage erledigt: Deutsch-Österreich konnte nicht hoffen, in absehbarer Zeit seine Vereinigung mit Deutschland zu vollziehen.

Die Österreicher aber ließen nicht von ihrem Willen. Das Volk besaß keine Industrie und hatte insofern keine [181] Möglichkeit, Geld ins Land zu ziehen. Dieses Mißverhältnis zwischen Bedarf und Eigenproduktion führte zu einer rapiden Inflation, der Notenumlauf stieg innerhalb eines Jahres seit dem Januar 1920 von zwölf auf dreißig Milliarden. Jeder einsichtige Staatsmann erkannte, daß die weitere Entwicklung auf dieser Linie zur Katastrophe führen müsse.

Da gab es eben nur zwei Auswege aus diesem Strudel des Unglücks: entweder unterstützten die kapitalkräftigen Staaten der Entente den Donaustaat wirtschaftlich, oder Österreich schloß sich politisch und wirtschaftlich dem Deutschen Reiche an. Welcher Weg auch begangen wurde, immer war die Zustimmung des Völkerbundes vonnöten. Hier nun setzte die Tragik Deutsch-Österreichs ein. Der Regierung der Republik, hinter der vor allem die Christlich-Sozialen standen, war der erste Weg sympathisch, während das Volk, von Großdeutschen und Sozialdemokraten beeinflußt, sich für den zweiten Weg, den Anschluß, entschied. Diese Gegensätzlichkeit der politischen Richtung führte einen Konflikt herauf, durch welchen die Regierung gestürzt, die Wünsche des Volkes aber nicht erfüllt wurden.

  Plan zur Volksabstimmung  
über den Anschluß

Unter dem Drucke der sich mehr und mehr verschärfenden Not und in dem gräßlichen Bewußtsein der eigenen Hilflosigkeit nahm die österreichische Nationalversammlung am 1. Oktober 1920 eine großdeutsche Entschließung an, welche verlangte, daß im Laufe der nächsten sechs Monate eine Volksabstimmung über den Anschluß an Deutschland stattfinden solle. Die Alliierten ihrerseits glaubten, die österreichische Initiative in dieser Frage dadurch zum Schweigen zu bringen, daß sie eine wirtschaftliche Unterstützungsaktion für das unglückliche Land in die Wege leiteten. Denn hätte der Völkerbund, dessen Zustimmung zum Anschluß nach Artikel 80 des Versailler Vertrages nötig war, diese verweigern können, wenn eine Abstimmung zustande gekommen wäre und die überwiegende Mehrzahl der Österreicher den Anschluß forderte? Da schien es besser zu sein, Österreich wirtschaftliche Hilfe in Aussicht zu stellen und es gleichzeitig in den Völkerbund aufzunehmen. Dadurch würde der Beweis erbracht, daß die Alliierten ihren Frieden mit Österreich [182] gemacht hatten, und das Land würde schwerlich die Vorteile, die ihm winkten, gegen den Anschluß an das geächtete, außerhalb des Völkerbundes stehende Deutschland eintauschen wollen. Außerdem wurde durch einen solchen Schritt die Christlich-Soziale Partei in Österreich gestärkt, welche dem habsburgischen Hause anhing und daher eine Gegnerin der Anschlußbestrebungen in der Großdeutschen und Sozialdemokratischen Partei war. Am 3. Dezember 1920 wurde Österreichs Aufnahme in den Völkerbund vollzogen.

  Bundeskanzler Dr. Mayr  

Der Bundeskanzler Dr. Mayr begünstigte die Völkerbundspolitik, da die deutsche Regierung in der Anschlußfrage sehr zurückhaltend geworden war. Die Regierung Fehrenbach hatte kein augenblickliches Interesse, das Anschlußproblem aufzurollen, da sie bei ihren Verhandlungen mit den Alliierten über die Wiedergutmachungssumme ängstlich alles vermied, was Frankreich und England verstimmen könnte. Sie war also in dieser Frage durchaus passiv. Der deutsche Außenminister Dr. Simons erklärte Ende November 1920, das deutsche Interesse beschränke sich unter Anerkennung der gegenwärtigen Grenzen Italiens auf kulturelle Beziehungen zu Südtirol; Deutschland glaube, mit Italien einig zu sein in der Auffassung, daß die Eigenart der Südtiroler berücksichtigt und gewahrt werden müsse. Diese Äußerung befriedigte weder in Deutschland noch in Österreich. Aus diesen Gründen nahm die österreichische Regierung die Wirtschaftsverhandlungen mit der Entente auf.

Anfang Januar erklärte der Bundeskanzler Dr. Mayr im Ausschuß für Auswärtiges, die Beziehungen zum Deutschen Reiche seien auf der unveränderlichen und unveräußerlichen Kulturgemeinschaft gegründet, die Österreich mit seinen Stammesbrüdern im Reiche verbinde; die überlieferte Herzlichkeit und Innigkeit der Beziehungen unter Beachtung der beiderseitigen Lebensinteressen zu pflegen, betrachte die österreichische Regierung als eine ihrer wichtigsten Aufgaben. Das war höflich und unverfänglich.

Die fünfzigjährige Reichsgründungsfeier am 18. Januar weckte auch in Österreich Widerhall, und die Großdeutschen wiesen wieder überzeugend auf die Notwendigkeit des [183] Anschlusses hin. Die lebhafte Erörterung dieser Frage in Presse und Parlamenten erregte Frankreichs Aufmerksamkeit, und eine Woche später erklärte der französische Bevollmächtigte in Wien, die Entente werde einen Anschluß Österreichs an Deutschland nicht dulden.

Telegrammwechsel
  mit Reichspräsident Ebert  
zum 18. Januar 1921

Nichtsdestoweniger führte der Präsident des Nationalrates, Dr. Weißkirchner, am 25. Januar folgendes aus:

      "Die politischen Fäden, die unser Land durch ein Jahrtausend mit dem alten Deutschen Reiche verbanden, konnten zwar gelöst werden, niemals aber hat die kulturelle Einheit zwischen uns und dem Deutschen Reiche aufgehört. Der Tag des 18. Januar, dessen unsere Stammesbrüder im Reiche in wehmütiger Freude gedachten, bewegt mit ganzer Macht auch unsere Herzen, die wir Mühsal und Leiden getrennt von unseren Volksgenossen tragen müssen."

Aus dieser Stimmung heraus wurde an den Deutschen Reichspräsidenten folgendes Telegramm gesandt:

      "Der Nationalrat der Republik Österreich gedenkt bei seinem ersten Zusammentreten nach dem 18. Januar bewegten Herzens des Tages, an dem vor fünfzig Jahren Deutschlands Stämme sich zum Deutschen Reich vereinigt haben, und hat mich unter lebhaftem Beifall ermächtigt, aus diesem Anlaß dem Deutschen Reichstag und Reichspräsidenten seine herzlichsten Glückwünsche zu entbieten. In unser aller Herzen ruht fest verankert die Hoffnung und das Vertrauen auf des deutschen Volkes neue Blüte. Möge die Zukunft des Deutschen Reiches und der Republik Österreich die Erfüllung unserer Herzenswünsche bringen."

Am folgenden Tage antwortete der Deutsche Reichspräsident:

      "Dem Nationalrat der Republik Österreich danke ich herzlichst für die anläßlich des Erinnerungstages übermittelten freundlichen Grüße. Das deutsche Volk ist gleich den Stammesgenossen in Österreich von der festen Zuversicht erfüllt, daß sich der deutsche Name in der Zukunft überall jene Achtung und Geltung erringen wird, die dem gemeinsamen Streben der Wiederaufrichtung durch unermüdliche Arbeit zuteil werden müssen."

Dieser Telegrammwechsel zum fünfzigjährigen Reichsgründungstage war nicht bloß der Ausdruck für irgendeine internationale Höflichkeit; hinter [184] ihm stand die unausgesprochene Sehnsucht zweier Völker nach dem Großdeutschen Reiche. Gewiß, diese Sehnsucht mußte auf beiden Seiten unausgesprochen bleiben, denn sowohl Deutschland wie Österreich verhandelten mit der Entente über höchst materielle Fragen, bei denen großdeutsche Erörterungen nicht angängig waren.

  Anschlußkundgebungen  

Aber die großdeutsche Sehnsucht ließ sich nicht ersticken; und wollte die Regierung, die infolge ihrer Völkerbundspolitik noch zurückhaltender geworden war, sie nicht erfüllen, dann forderte das Volk die Erfüllung um so stürmischer. Am vorletzten Januartage fand im Rathause zu Wien eine imposante Anschlußkundgebung des Deutsch-Österreichischen Lehrerbundes statt. Der Anschluß an Deutschland sei der einzige Weg zu Wirtschaftsgesundung und kulturellem Gedeihen. Um die Ansicht des Volkes hierüber kennenzulernen, wurde eine Volksabstimmung gefordert.

  Der Wille des Volkes  

Abstimmung in Kärnten: Feierlicher Gottesdienst für deutschen Sieg im Drautal.
[Bd. 2 S. 160b]      Abstimmung in Kärnten: Feierlicher Gottesdienst für deutschen Sieg
im Drautal.
      Photo Scherl.
Schon wenige Tage später erschienen die Vertreter Salzburgs, Tirols, Kärntens und Steiermarks beim Bundeskanzler in Wien und trugen ihm ihre Wünsche vor. Alle Parteien ihrer Länder forderten Abstimmung über den Anschluß an Deutschland. Jedoch solle die Anschlußbewegung im Rahmen des Vertrages von Saint-Germain gehalten werden. Das Abstimmungsergebnis werde unzweifelhaft günstig für Deutschland ausfallen und solle zunächst nur dem Völkerbund mit einem entsprechenden Antrag unterbreitet werden.

Anschlußkundgebung der Kärntner auf dem Zollfeld bei Klagenfurt.
[Bd. 2 S. 160a]  Anschlußkundgebung der Kärntner auf dem Zollfeld bei Klagenfurt.  Photo Scherl.

Eine Woche später stellte die Großdeutsche Partei im Nationalrat den Antrag, es solle ein Bundesgesetz über die Volksabstimmung wegen eines Anschlusses an Deutschland vorgelegt werden. Es solle zunächst nur die grundsätzliche Meinung der Bevölkerung eingeholt werden. Jedoch die Parteien des Nationalrates waren der Ansicht, daß außenpolitische Rücksichten augenblicklich eine Forcierung der Anschlußbewegung nicht wünschenswert erscheinen ließen, und in dieser Auffassung befänden sie sich in Übereinstimmung mit dem Wunsche der Regierung.

Die Regierung des Dr. Mayr verscherzte sich mehr und mehr die Sympathien des Volkes, indem sie die Anschlußbewegung nicht nur nicht förderte, sondern sogar zu hemmen [185] versuchte. Zwar bewies sie der Entente damit ihren guten Willen, aber der Sache des Volkes diente sie nicht; denn es war ganz offenkundig, daß der Anschlußwille an Deutschland eine große Volksbewegung darstellte, von der sich nur die Christlich-Sozialen ausschlossen. Anfang März erklärte der Bundeskanzler im Nationalrat, "es entspreche sowohl der innigen Anteilnahme Österreichs an allem, was Deutschland betreffe, als auch der politischen Klugheit, wenn augenblicklich alles unterbleibe, was die internationale Lage des Deutschen Reiches irgendwie erschweren könnte."

Aus seinen Reden entnahmen die Gegner Dr. Mayrs, wie froh er war, einen begründeten Vorwand für sein ablehnendes Verhalten zu haben. Das Volk aber klagte an: von Tag zu Tag wird unsere Not immer unermeßlicher; wo ist die versprochene Hilfe der Entente geblieben? Man gebe uns den Anschluß an Deutschland frei! Ein tiefer Groll und Unmut zitterte durch die Massen, und diese fanden einen beredten Sprecher in dem großdeutschen Abgeordneten Dr. Frank, der dem Kanzler bereits am folgenden Tage, dem 4. März, entgegnete:

      "Um der Entente nicht eine bequeme Waffe für die Verweigerung der Kredite an uns in die Hand zu geben, haben wir uns in der Anschlußfrage bis zur Pariser Konferenz (24.–29. Januar) die äußerste Zurückhaltung auferlegt. Nun aber können wir eine weitere Passivität in der Anschlußfrage vor unserem Gewissen nicht mehr rechtfertigen... Wenn die Entente ihre Verpflichtungen nicht erfüllen kann oder will, dann soll sie die Gittertore unseres Käfigs öffnen und uns den Anschluß gestatten. Wir haben die Regierung bisher unterstützt, können sie aber nur dann weiter unterstützen, wenn sie unserer Anschlußpolitik nicht weiter hindernd entgegentritt."

Österreich auf der
  Londoner Konferenz  

Vielleicht unter dem Eindruck dieser großdeutschen Kampfansage wurden die österreichisch-alliierten Finanzverhandlungen beschleunigt zu Ende geführt. Der 18. März brachte das Ergebnis der Londoner Konferenz zwischen dem Obersten Rate und dem österreichischen Bundeskanzler. Es wurde eine Finanzkommission des Völkerbundes beschlossen; eine Bankengesellschaft sollte eine Anleihe gewähren, zu deren [186] Deckung die Republik Österreich Staatsmonopole verpfänden sollte. Für Friedensvertragsleistungen, sowie für Tilgung und Verzinsung bisheriger Vorschüsse wurde ein Zahlungsaufschub vorgesehen, die Verwaltung der Staatseinnahmen sollte der Finanzkommission übergeben werden. Man bemerkte in aller Öffentlichkeit, daß diese Vorschläge eine völlige "Ottomanisierung" Österreichs darstellten. Das Land wurde zu einer Kolonie der Alliierten gemacht, und das Volk hatte nur Mißbilligung und Tadel für eine Hilfe, die solch schwere Opfer forderte. Jedoch Dr. Mayr fühlte sich jetzt in seiner Position gefestigt und machte neue Ausflüchte geltend, um die Anschlußbewegung zu lähmen. Jetzt habe der Völkerbund nun die große Aufgabe der Sanierung Österreichs zu erledigen, und solange dies nicht entschieden sei, könne man nicht schon den Völkerbund mit dem Anschluß an Deutschland behelligen. Wer wunderte sich noch, wenn das Volk glaubte, seine Regierung stehe im Bunde mit den Alliierten, und wenn es nun entschlossen war, selbst die Initiative in der brennenden Frage zu ergreifen?

  Land Tirol  

Am tatkräftigsten ging hierin das Land Tirol voran, dieses Land, dessen Süden, die Heimat Walthers von der Vogelweide, die Italiener wider Recht und Sittlichkeit an sich gerissen hatten. Schon im Januar hatte der Tiroler Landtag beschlossen, eine Volksabstimmung über den Anschluß durchzuführen. Doch am 1. Februar verbot die Wiener Regierung die Ausführung dieses Beschlusses, da Frankreich und die Ententekommission dies verlangten. Tirol war zunächst geneigt, der österreichischen Regierung nachzugeben, aber die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung veranlaßte doch Ende Februar den Landtag, die Volksabstimmung für den 24. April festzusetzen. Zwar teilte die Wiener Regierung Mitte März der Tiroler Landesregierung mit, daß die Volksabstimmung unzulässig sei, dennoch ordnete der Landtag am 18. März die Abstimmung an über die Frage: Wird der Anschluß an das Deutsche Reich gefordert?

Regierung
zwischen Alliierten
  und österreichischem Volk  

Nach diesen Ereignissen mußte der Bundeskanzler erkennen, daß seine Regierung beim Volke keine Achtung und Macht mehr besitze. Der Wille des Volkes ging über die [187] Verordnungen Wiens hinweg und kehrte sich nicht an sie. Die Wiener Regierung, die einerseits zu den Alliierten, anderseits zum Hause Habsburg hielt, fing an, eine klägliche Rolle zu spielen. Im Namen der Sozialdemokratischen Partei trumpfte am 12. April der Abgeordnete Eldersch im Nationalrat auf: Es handle sich für Österreich um zweierlei: entweder Kredithilfe der Alliierten oder Anschluß an Deutschland. Die Sozialdemokraten wählten in diesem Dilemma den natürlichen Weg des Anschlusses. Für das Linsengericht einer geringen Kredithilfe gedächten sie nicht das Recht auf den Anschluß zu verkaufen. Die Regierung habe versucht, den Anschlußgedanken nicht zu erörtern, um den Kreditverhandlungen nicht zu schaden. Es müsse aber gesagt werden, daß die Geduld der österreichischen Bevölkerung zu Ende sei. Das war eine drohende Sprache, und sie bewies, daß die Anschlußbewegung zu einer schweren innenpolitischen Gefahr werden konnte, sie kündigte geradezu eine neue nationale Revolution an.

  Einmischung  
der Alliierten

Was nützte es unter diesen Umständen, daß zwei Tage später der französische Gesandte Lefèvre-Pontalis dem Bundeskanzler im Auftrage Frankreichs folgende Erklärung abgab:

      "Falls die österreichische Regierung nicht in der Lage sein sollte, die gegenwärtig auf den Anschluß an das Deutsche Reich hinzielenden Umtriebe wirkungslos zu machen, so würde die französische Regierung die Hilfsaktion für Österreich einstellen, und die Reparationskommission würde in ihrer Befugnis vollständig wiederhergestellt werden."

Und die Vertreter Englands und Italiens schlossen sich an, indem sie bemerkten, daß ein Zurücktreten Frankreichs von der Hilfsaktion das Ende dieses Unternehmens und das Fallenlassen aller hierauf bezüglichen Pläne bedeute. Auch diese Sprache war drohend genug für die Wiener Regierung, die in einem Zustande erbarmungswürdiger Hilflosigkeit verharrte. Schon am 17. April fand in Wien eine gewaltige Kundgebung der werktätigen Bevölkerung für den Anschluß an Deutschland statt, an der sich viele Tausende von Männern und Frauen beteiligten. Österreich sei nicht lebensfähig, und nur der Anschluß an Deutschland könne ihm wirkliche [188] wirtschaftliche Hilfe bringen. Deshalb sollte dem Völkerbund dieser Wunsch zum Ausdruck gebracht werden. Es war in der zahllosen Menge nicht einer, der dieser Entschließung widersprochen hätte. Mit freudigem Herzen jubelten die Tausende ihrem Stern entgegen: Vereinigung mit Deutschland, das Großdeutsche Reich. Ein Rausch der Begeisterung flog durch die alte Kaiserstadt an der Donau und ließ die tägliche Not vergessen. Ein Traum vereinte Millionen und forderte kategorisch seine Erfüllung.

  Abstimmung in Tirol  

Als nun gar die Abstimmung in Tirol von insgesamt 146 468 Stimmen 144 342, das sind 98,6 Prozent, für den Anschluß und nur 1794 dagegen ergab, kannte die Begeisterung keine Grenzen. Die Kunde von dem überwältigenden Sieg der Anschlußfreunde flog wie ein Blitz durch das Land, und das Frohlocken nahm kein Ende. Man brandmarkte die Wiener Regierung, welche nicht die Interessen des Volkes wahrnähme, und hoffte zuversichtlich, daß angesichts solcher Ergebnisse der Völkerbund nicht länger den Anschluß verweigern könne. Daraufhin beschloß der Landtag von Oberösterreich am 27. April einstimmig, ebenfalls eine Volksabstimmung vornehmen zu wollen. Der Salzburger Landtag aber faßte am gleichen Tage folgende Entschließung:

      "Der Landtag legt Verwahrung gegen den vom französischen Gesandten in Wien unternommenen Schritt ein, der nicht imstande ist, die Bevölkerung in ihrem Anschlußgedanken wankend zu machen. Die Volksabstimmung im Lande Salzburg ist am 29. Mai vorzunehmen, falls nicht durch die Bundesregierung ein früherer Termin für das ganze Reich festgesetzt wird. Die Volksabstimmungsfrage hat zu lauten: Wird der Anschluß an Deutschland gefordert?"

Vergeblich versuchte die Bundesregierung in Wien die Salzburger Abstimmung zu hintertreiben. Ja, sie mußte es sogar geschehen lassen, daß am 12. Mai der Nationalrat das Bundesgesetz über Volksabstimmungen auf Grund der Bundesverfassung annahm und das Gesetz über Volksbefragung betreffend den Anschluß an Deutschland verabschiedete. Nach diesem Gesetze sollte den Bundesbürgern die Frage vorgelegt werden: Soll die Bundesregierung beim Rat [189] des Völkerbundes um die Zustimmung zum Anschluß der Republik Österreich an das Deutsche Reich ansuchen? Allerdings hatte der Verfassungsausschuß aus dem großdeutschen Gesetzesantrag die wichtige Bestimmung über den Zeitpunkt der Volksbefragung gestrichen und dafür die Bestimmung aufgenommen, daß der Tag der Volksbefragung durch den Nationalrat bestimmt werden sollte. Der Nationalrat nahm einstimmig dies Gesetz an.

Das war wieder ein Grund für die Alliierten, ihre drohende Stimme zu erheben. Frankreich, Italien und die Kleine Entente wiesen gemeinsam die österreichische Regierung auf strikte Innehaltung des Artikels 88 des Vertrages von Saint-Germain hin, welcher Österreich den Anschluß an Deutschland verbot. Nach diesem Artikel sei bereits vor einer Abstimmung über die Anschlußfrage die Zustimmung des Völkerbundsrates erforderlich. Ein eigenmächtiges Vorgehen von Volk und Regierung hätte die Einstellung aller wirtschaftlichen Hilfsaktionen zur Folge. Die Note hatte keinen Einfluß auf die Bewegung, da die österreichische Regierung auch keinen solchen hatte. Ebenso unfruchtbar war der sechs Tage später, am 21. Mai, erhobene Einspruch des französischen und rumänischen Geschäftsträgers beim Bundeskanzler. Der jugoslawische Ministerpräsident Pasitsch drohte sogar mit einer Revision der steiermärkischen Abstimmung. Welchen Zweck aber hatten all diese Drohungen und Einsprüche, wenn die Regierung selbst machtlos gegen die Volksbewegung war?

Der Bundeskanzler fühlte, daß er nicht imstande war, die Anschlußbewegung zu hindern. Sie ging ihren Lauf wie ein Naturereignis. Mit einem gewissen Gefühle der Resignation gab Dr. Mayr am 23. Mai dem Chef der Salzburger Landesregierung die strenge Weisung, "es sei unbedingt notwendig, den Charakter der Anschlußbewegung als einer reinen Privatveranstaltung zu wahren". Alle amtlichen Organe seien angewiesen, daß jede mittelbare oder unmittelbare Unterstützung zu unterbleiben habe. Zwei Tage später teilte der italienische Vertreter dem Bundeskanzler mit, daß sich die Mächte durch die Anschlußbewegung beunruhigt fühlten; es könnten daraus für Österreich schwere wirtschaftliche und [190] politische Schäden erwachsen. Dr. Mayr konnte derartige Ermahnungen nur noch mit Achselzucken beantworten, mit einem stummen Eingeständnis seiner Ohnmacht.

  Abstimmung  
in Salzburg

Im Lande Salzburg eilten am 29. Mai 104 000 Menschen zur Abstimmungsurne, das waren etwa 90 Prozent der gesamten Bevölkerung. 103 000 Stimmen sprachen sich für, 800 gegen den Anschluß aus! 200 waren ungültig. Einen großartigeren Triumph konnte der deutsche Gedanke kaum feiern. Das Ergebnis war noch günstiger für den Anschluß als in Tirol. In Steiermark sollte auch am 29. Mai abgestimmt werden. Aber infolge der besonderen Verhältnisse und der jugoslawischen Drohungen war es der Wiener Regierung gelungen, den Landtag wankend zu machen. Wenn man aber in Wien hoffte, daß Steiermark seine Abstimmung fallen lassen würde, so hatte man sich sehr geirrt. Am 24. Mai hatte man die Volksabstimmung für den

  Rücktritt Dr. Mayrs  

3. Juli anberaumt. Alle Bitten, Ermahnungen, Drohungen Wiens nützten nichts. Infolgedessen sah sich Dr. Mayr genötigt, müde des Kampfes gegen das eigene Volk und überdrüssig der Ententedrohungen, am 1. Juni seine Entlassung zu nehmen. Er begründete seinen Schritt damit, daß er infolge der vom Steirischen Landtag beschlossenen Abstimmung die Verantwortung für die Regierung angesichts der Ententedrohungen und der Gefährdung der Kreditaktion durch die Anschlußbewegung nicht länger tragen zu können glaubte. –

Ende der
  Anschlußbewegung  

Die anschlußfeindliche Regierung war gestürzt, aber mit ihrem Sturz hatte auch plötzlich die Anschlußbewegung ihre innere Kraft verloren. In Steiermark beschloß am 16. Juni der Landesparteitag der Christlich-Sozialen, mit der neuen Wiener Regierung über die Abstimmung zu verhandeln. In Wien verhandelten dann die Vertreter der steirischen Christlich-Sozialen mit den Führern der Wiener Christlich-Sozialen, und sie kamen zu dem Ergebnis, die Abstimmung fallen zu lassen. Acht Tage später, nach der Rückkehr ihrer Vertreter, stellte die Christlich-Soziale Partei im Steirischen Landtag einen entsprechenden Antrag, der mit 29 christlich-sozialen Stimmen gegen 15 Großdeutsche und freiheitliche [191] Bauernbündler angenommen wurde. Die Sozialdemokraten hatten vor der Abstimmung den Saal verlassen. Die Bewegung war erlahmt, sie war tatsächlich durch die Politik der Alliierten und, trotz Dr. Mayrs Sturz, der Christlich-Sozialen zum Schweigen gebracht worden.

Wir hören nur noch, daß der Bundesrat am 11. Juli gegen den Gesetzesbeschluß des Nationalrats zur Durchführung einer Volksbefragung und eines an den Rat des Völkerbundes auf Grund des Artikels 88 des Friedensvertrages zu stellenden Antrages keinen Einspruch erhob. Dann wird alles stumm.

Nach einem Zeitraum von vier Monaten, am 10. November, brachte die Wiener Arbeiterzeitung eine Entschließung, die der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei den Volksversammlungen anläßlich des Gründungstages der Republik Österreich am 12. November vorschlug. Darin hieß es:

      "Am dritten Jahrestag der Gründung der Republik erneuert das Proletariat feierlich den Schwur unverbrüchlicher Treue und erklärt, daß kein Verbot militärisch und politisch noch so starker Faktoren imstande ist, es vom Festhalten an dem damals gleichzeitig aufgestellten Ziele des Anschlusses an Deutschland abzubringen."

Das war die Tragik Deutsch-Österreichs: sieben Millionen Deutsche schmachteten in den Ketten eines Gewaltfriedens, der ihnen ihr natürlichstes Recht der Selbstbestimmung versagte. Eine gewaltige Bewegung, getragen vom Feuer der Begeisterung, erlosch am eisenharten Willen der Gegner und am inneren Zwiespalt, der durch die habsburgischen Separatisten, die Christlich-Sozialen, hervorgerufen wurde. Die Deutschen Österreichs mußten ihre Sehnsucht nach dem Großdeutschen Reiche in ihre Herzen verschließen, denn das große Deutschland war zu ohnmächtig, ihnen zu helfen.



Geschichte unserer Zeit
Dr. Karl Siegmar Baron von Galéra