[Bd. 2 S. 159] 2. Kapitel: Der Kampf um Oberschlesien. Es war kein klirrender Kampf der Waffen, aber ein nervenzerrüttender Kampf der Meinungen, Hoffnungen und Befürchtungen, welcher der Tragödie Oberschlesiens voraufging. Der Kampf der Meinungen war auf der Seite derjenigen, welche die Macht hatten, auf der Seite der Alliierten, der Kampf der Hoffnungen und Befürchtungen auf seiten des ohnmächtigen Deutschland. Oberschlesien verursachte in der Tat in Paris und London erhebliches Kopfzerbrechen, und man feilschte um deutsche Seelen wie um eine Schafherde. Im Abstimmungsgebiet war inzwischen der von den Polen heraufbeschworene Aufstand ausgebrochen, und zu der Ungewißheit über das künftige politische Schicksal kamen für die Deutschen zahllose Leiden, Grausamkeiten und Bluttaten. Junge, grünende Saaten wurden zerstampft, Dörfer in Trümmerhaufen verwandelt und die Maschinen in den Fabriken zerstört. Menschenleben wurden für nichts geachtet. Als Bettler, nur mit dem Nötigsten bekleidet, zogen viele Hunderte von Flüchtigen von ihrer Heimat. Die Ehre ihrer Frauen und Töchter wurde mit Füßen getreten, und die Männer wurden meuchlings gemordet. Wilder Fanatismus zerfleischte das Land, und das Seufzen, das Stöhnen und Jammergeschrei erfüllte die einst so blühende Provinz der Arbeit und Wirtschaft, doch gab es keine Macht der Welt, die sich der Unglücklichen erbarmte. –
"Die Volksabstimmung, die gemäß dem Versailler Vertrag stattgefunden habe, hätte gezeigt, daß sich eine Mehrheit von etwa sechs zu vier zu Deutschlands Gunsten erklärt hätte. Die Lage sei einigermaßen kompliziert worden durch die Tatsache, daß in einigen Bezirken die Städte deutsch und das Land polnisch gestimmt hätten. Die Interalliierte Kommission sei zu dem Entschluß gekommen, daß die Gebiete mit überwiegend polnischer Bevölkerung den Polen zugewiesen werden sollten. Jetzt hätten nun die Polen einen Aufruhr eingeleitet, um die Alliierten vor eine vollendete Tatsache zu stellen. Aber so etwas bedeute eine Herausforderung dem Versailler Vertrag gegenüber. Wenn die Angelegenheit nicht streng unparteiisch behandelt werde, würden die Folgen für den europäischen Frieden verhängnisvoll sein. Polen sei das letzte Land, das den Versailler Vertrag zerreißen dürfe, denn Polen habe nicht durch eigene Kraft seine Freiheit gewonnen, sondern diese sei durch England, Frankreich und Italien errungen worden. Die polnische Regierung habe zwar die Verantwortung für den Aufstand abgeleugnet, aber derartige Beteuerungen seien schon öfter gegeben worden, und es sei schwer, zu glauben, daß diese Beteuerungen etwas mehr als [161] Redensarten seien. Für die Alliierten aber sei es sehr wichtig, daß der Vertrag von Versailles eingehalten würde. Wenn Polen gestattet werde, in die deutschen Provinzen einzufallen, so könnte das sehr üble Folgen haben. Deutschland könnte unter diesen Umständen mit Recht zu den Alliierten sagen: 'Sie haben mich gezwungen, meine Verpflichtungen einzuhalten; was aber haben Sie hinsichtlich Ihrer Verpflichtungen getan?'" Der englische Minister fuhr fort:
"Ich erkläre feierlichst, daß es nicht allein eine Ehrensache, sondern auch eine Sache der Sicherheit ist, daß wir uns zu dem Versailler Vertrag bekennen, gleichgültig, ob der Vertrag für oder gegen uns ist. Sie können sagen, es handle sich nur um Deutsche, aber ich sage, die Deutschen haben das Recht auf jeden Punkt, den ihnen der Versailler Vertrag gibt. Es gibt nur zwei Arten, diese Angelegenheit zu behandeln: erstens, können die alliierten Truppen die Ordnung wiederherstellen? zweitens, würde Deutschland von seinen Streitkräften Gebrauch machen können, um die Ordnung in seinem eigenen Gebiete wiederherzustellen? Ich sehe nicht ein, was die Alliierten dagegen einzuwenden haben würden. Das ist ehrliches Spiel – fair play –, und Großbritannien hat immer für ein ehrliches Spiel plädiert. Das einzige, was wir nicht gestatten können, ist, daß der Vertrag gebrochen wird. Das würde die schlimmsten Folgen haben." Wie ein aufgerührter Wespenschwarm fiel die französische Presse über Lloyd George her. Seine ketzerischen, deutschfreundlichen Ausführungen wurden geradezu als ein Verrat an der Sache der Alliierten gebrandmarkt. Briand selbst wies am 14. Mai im Temps den Engländer zurecht. Polen sei unschuldig am Aufstande, denn die Polen hatten es ja selbst behauptet und mit scheinheiligem Augenaufschlag erklärt, der ganze Aufruhr sei nur davon gekommen, daß Deutschland falsche Nachrichten über die bevorstehende Teilung des Gebietes verbreitet hätte, Nachrichten natürlich, die für Polen ungünstig gewesen seien. Deshalb sei auch Deutschland verantwortlich für den Aufruhr. Auf keinen Fall jedoch dürfe man ein militärisches Eingreifen der Deutschen gestatten. Wo bliebe denn da die europäische Sicherheit? Und was die [162] Teilung anbelange, so brauche man sich jetzt darüber noch nicht den Kopf zu zerbrechen, die Interalliierte Kommission werde die Grenze schon festsetzen. Für Lloyd George wurde Oberschlesien eine Quelle innerer Qual. Hier Versailler Vertrag, Ehre, Gewissen – dort Frankreich-Polen, politische Zweckmäßigkeit. Dem Reuterschen Nachrichtenbüro übermittelte er am 18. Mai folgende Erwiderung auf die französischen Vorwürfe:
"Es wäre beklagenswert, wenn die französische Presse einen anderen Standpunkt einnehmen sollte... Der Standpunkt, den die englische, amerikanische und italienische Presse in der oberschlesischen Frage eingenommen hat, sollte Frankreich nicht anstößig sein. Sie stehen zum Vertrage von Versailles und wollen die Bestimmungen des Vertrages gerecht anwenden, ob sie nun für oder gegen Deutschland ausfallen. Das Schicksal Oberschlesiens muß durch den Obersten Rat entschieden werden, nicht durch Korfanty. Es darf den Kindern des Vertrages nicht gestattet werden, ungestraft in Europa Geschirr zu zerbrechen. Jemand muß ihnen die zügelnde Hand anlegen, andernfalls wird es ständige Schwierigkeiten geben... Die britische Regierung war bestrebt, die Frage einer Teilung Oberschlesiens auf der Londoner Konferenz zu regeln. Alle Tatsachen der Volksabstimmung waren bekannt. Unsere Bundesgenossen waren aber nicht bereit, mit der Besprechung fortzufahren. Wir werden treu zu der Entscheidung stehen, die von der Mehrheit der Mächte getroffen werden wird, die auf Grund des Vertrages bei der Festsetzung der schlesischen Grenze eine Stimme haben, wie auch immer der Spruch lauten möge. Wir nehmen die Volksabstimmung als Ausdruck der Wünsche der oberschlesischen Bevölkerung voll an. Da wir aber in den großen Krieg eingetreten sind und für die Verteidigung des alten Vertrages, an dem unser Land beteiligt war, gewaltige Verluste erlitten haben, kann Großbritannien nicht einwilligen, ruhig dabeizustehen, während auf dem Vertrag, den seine Vertreter vor weniger als zwei Jahren unterzeichnet haben, herumgetreten wird."
Immerhin dämpften die Pariser Besprechungen etwas die große Freude und Hoffnung in Warschau. Der Außenminister Skirmunt erklärte etwas resigniert fünf Tage nach Schluß der Konferenz, aller Wahrscheinlichkeit nach werde man das volle Programm nicht verwirklichen können.
"Wir wissen", sagte er, "welche Differenzen zwischen den hierfür entscheidenden Faktoren entstanden sind und wünschen unsererseits eine Entscheidung entsprechend dem Versailler Vertrag und dem Ergebnis der Volksabstimmung. Der Vorschlag des Grafen Sforza (der sich dem englischen näherte) befriedigt uns zwar nicht, bietet aber eine Brücke zur Verständigung. Unser Bestreben wird dahin gehen, die von italienischer Seite vorgeschlagene Linie möglichst der von Frankreich vertretenen nahezubringen."
Etwas deutlicher drückte sich der italienische Nationalist Greco am 18. Juli in der Deputiertenkammer aus. "Polen sei der Schlüssel des französischen Hegemoniesystems, das sich gleichmäßig gegen Deutschland und die Stellung Italiens an der Adria richte. Deshalb hätte Italien gemeinsam mit England die französische Politik in Oberschlesien bekämpfen müssen, die übrigens die Hauptschuld am Vergießen italienischen Blutes trage." – Die Interalliierte Kommission in Oppeln war Mitte Juli zu der Erkenntnis gekommen, daß sie ihre Truppen verstärken müsse, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Von Paris wurde die Forderung nach Truppenvermehrung eifrig unterstützt, um den Deutschen jede Möglichkeit der Einmischung zu nehmen. England war verstimmt und lehnte ab. Wozu sollten die alliierten Truppen vermehrt werden? Man sehe für diese Maßnahme keine Notwendigkeit ein. Wenig freundliche Worte liefen durch den Draht zwischen London und Paris, und es stand in jenen Julitagen schlimm um die englisch-französische Freundschaft.
"678 Gemeinden hätten für Polen, 844 dagegen für Deutschland gestimmt. Es seien 479 000 polnische, dagegen 707 000 deutsche Stimmen abgegeben worden. Dies seien die tatsächlichen Grundlagen, auf welche England seine Ansicht stütze, und die sei folgende: erstens, da Frankreich die gemeindeweise Abstimmung als Basis für die Regelung annehme und da jede Gemeinde dem Lande zugeteilt werde, für das sie gestimmt habe, solle nur der Fall der Ausnahme zugelassen werden, wenn gute Gründe dagegensprechen; zweitens, Enklaven müsse man als unpraktisch und ungerecht für beide Teile vermeiden, die wirtschaftlich [167] untrennbaren Gemeinden könnten nicht voneinander getrennt werden; drittens, das Zentrum des Industriegebietes müsse an Deutschland übertragen werden, was den Rest der zu ziehenden Grenze anlange, so bestünden ja wenig Differenzen zwischen dem französischen und dem englischen Vorschlag. Im übrigen müsse er den französischen Vorschlag deswegen zurückweisen, weil er sieben Elftel der für Deutschland abgegebenen Stimmen an Polen, dagegen die vier Elftel der Stimmen, die für Polen abgegeben worden seien, an Deutschland zuteilen wolle." Der Vertreter Italiens stimmte im wesentlichen dem Engländer zu, und man hatte am ersten Tage die Ansichten kennengelernt. Am folgenden Tage kam Lloyd George zu Wort:
"Die Entscheidung über Oberschlesien sei so ungeheuer wichtig, weil der Weltfrieden von ihr abhänge. Man dürfe diese Frage nicht auf Kosten der Mehrheit der oberschlesischen Bevölkerung regeln und nicht ein neues Elsaß-Lothringen aus Oberschlesien machen. Die gesamte Bevölkerung von etwa 5⅕ Million enthalte nur 1⅕ Million Polen. Das britische Reich werde niemals eine Lösung annehmen, die dies nicht berücksichtige. Es verstehe vollkommen Frankreichs Wunsch nach Garantien seiner Sicherheit, und der Oberste Rat werde sicher hierauf Rücksicht nehmen. Frankreich könne aber vollkommen versichert sein, wenn es aufs neue ungerecht angegriffen werde, so werde das gesamte britische Reich, wie in der Vergangenheit, an seiner Seite stehen. Aber Frankreich sei augenblicklich wirklich nicht in Gefahr. Es müsse von seinem Sieg in Mäßigkeit und Billigkeit Gebrauch machen. Er schlage vor, die Frage nochmals durch Sachverständige prüfen zu lassen auf folgender Grundlage: erstens, alle Stimmen müßten für die Zusprechung des Gebietes an die eine oder die andere Macht gezählt werden, die Zusprechung könne nicht gemeindeweise erfolgen, sondern entsprechend der Mehrheit, die sich herausgebildet habe; zweitens, einzig und allein das Industriegebiet, welches das Herz Oberschlesiens sei, würde als unteilbares Ganzes betrachtet; die Industriezone, die viel ausgedehnter sein solle, als es der französische Vorschlag vorbringe, sei keine [168] künstliche Schöpfung; das Industriegebiet müsse Deutschland zugesprochen werden, das die Mehrheit erlangt habe; drittens, die industriellen Gemeinden seien voneinander untrennbar, denn sie bildeten eine enge wirtschaftliche Einheit." Demgegenüber hielt Briand in seinen Ausführungen hartnäckig an seinem Vorschlag fest. Während der Friedensverhandlungen hätte man einstimmig Oberschlesien den Polen zugesprochen. Stände doch im Lexikon von Brockhaus, daß die Bevölkerung von Oberschlesien polnisch sei. Außerdem hätten die Alliierten beschlossen, dem polnischen Volke zum Wiederaufbau zu verhelfen, deswegen müsse man auch dessen wirtschaftliche Lebensmöglichkeiten sicherstellen. Der Industriebezirk müsse Polen zugesprochen werden.
"Der Oberste Rat beschließt, bevor er die Grenze zwischen Deutschland und Polen gemäß Artikel 88 des Versailler Vertrages bestimmt, unter Anwendung des Artikels 12, Absatz 2 der Satzung des Völkerbundes, diesem Bunde die Schwierigkeiten darzulegen, welche die Festlegung der Grenze verursacht, und ihn zu ersuchen, seine Meinung über die Grenzlinie abzugeben, welche die alliierten und assoziierten Regierungen ziehen sollen. In Berücksichtigung der Lage in Oberschlesien wird der Rat des Völkerbundes gebeten, die Angelegenheit mit aller Dringlichkeit zu behandeln." Damit war die oberschlesische Frage an den Völkerbund verwiesen, und sie trat in ihr drittes, ihr Endstadium. Am 19. August nahm der japanische Graf Ishiu die oberschlesische Angelegenheit im Namen des Völkerbundsrates an und erbat sich höflich ein Schriftstück, in welchem die Schwierigkeiten der Grenzziehung dargelegt seien, und, wenn möglich, um eine geschichtliche Darstellung. Zehn Tage später trat der Völkerbundsrat in Genf zusammen und beschloß, eine Nachprüfung durch die Vertreter Belgiens, Brasiliens, [169] Chinas und Spaniens durchführen zu lassen. Acht Wochen brütete der Völkerbundsrat hinter verschlossenen Türen über Oberschlesiens Schicksal! – Angesichts dieser Vorgänge hatte sich der Deutschen begreifliche Erregung bemächtigt. Der Reichskanzler Wirth machte Reisen und hielt Reden, in denen er betonte, Oberschlesien sei unser, aber uns fehle die Macht, wir dürfen nur auf die Gerechtigkeit hoffen. So sprach er am 8. Juli vor den Partei- und Gewerkschaftsführern Schlesiens in Breslau. Einen Monat später, am 2. August, sprach er vor der Handelskammer in Bremen: "Löst die oberschlesische Frage, nachdem das Volk gesprochen hat, gerecht, löst sie so, daß nicht im Osten ein neuer Brandherd entsteht, der Deutschland und die ganze Welt aufs neue dem Ruin entgegenführen kann." Die Hamburger Bürgerschaft hatte schon im Juli eine halbe Million Mark zur Linderung der oberschlesischen Not bewilligt. Am 5. August brachten die Bayerische Volkspartei, die Bayerische Mittelpartei und Deutsche Volkspartei, die Deutsche Demokratische Partei und der Bayerische Bauernbund im bayerischen Landtag eine Entschließung ein: "Im Namen von Recht und Freiheit fordern wir ein ungeteiltes deutsches Oberschlesien von denjenigen, in deren Macht die Entscheidung liegt." Das ganze Volk bangte und bebte.
Die deutsche Regierung selbst hatte am 25. September an die Verbandsmächte Noten gerichtet, in der sie Anspruch auf ganz Oberschlesien erhob. Sie begründete dies mit Eingaben von fünf großen schlesischen Organisationen, die fast die Gesamtheit der Bevölkerung umfaßten: der Oberschlesische Berg- und Hüttenmännische Verein und die Handelskammer als Vertreter von Handel, Industrie und Gewerbe; die Oberschlesische Handwerkskammer als Vertreter des Handwerks; der Oberschlesische Landbund als Vertreter der Landwirtschaft; der Allgemeine deutsche Gewerkschaftsbund, der Gewerkschaftsbund und Gewerkschaftsring als Vertreter der Angestellten und Arbeiter und der katholische Klerus. Sie alle hatten sich an die Reichsregierung gewandt und ein ungeteiltes Verbleiben Oberschlesiens bei Deutschland gefordert. –
"Der Verband ehemaliger polnischer Insurgenten, der über achttausend Mitglieder umfaßt, richtet an die Hohe Interalliierte Kommission das dringende Ersuchen, gegen die Angehörigen der kongreßpolnischen Mordkommission und alle noch auf oberschlesischem Boden, besonders in Kattowitz, Beuthen und Myslowitz befindlichen kongreßpolnischen Offiziere und Mannschaften einzuschreiten, die einen neuen Aufstand organisieren. Ebenso verlangen wir die Entfernung der landfremden Orgeschleute. Namen und Wohnungen von Angehörigen der kongreßpolnischen Mordkommission werden gleichzeitig durch Einschreibebrief mitgeteilt." Da Polen mit dem, was man von Paris und Genf über Oberschlesien gehört hatte, nicht zufrieden war, lag die Gefahr eines neuen Aufstandes durchaus im Bereich der Möglichkeit. Allerdings wurde seine Durchführung durch den Abfall der Insurgenten sehr erschwert. Nach dem aufsehenerregenden Telegramm vom 1. Oktober war es für den Verband der ehemaligen Insurgenten nicht länger möglich in Beuthen zu verbleiben, und er siedelte bereits in den nächsten Tagen nach Oppeln über, in den unmittelbaren Schutz der Interalliierten Kommission. Von hier aus erging der Aufruf, den am 6. Oktober die oberschlesischen Zeitungen brachten und in dem die enttäuschten Aufrührer [172] ihrem gequälten Herzen Luft machten.
"Wir oberschlesischen Insurgenten haben für unser Land gekämpft und geblutet. Wir sind in den Kampf gezogen, um die Freiheit für unsere oberschlesische Heimat zu erringen. Polen wollte uns dabei helfen. Wir haben unser Ziel nicht erreicht, unsere Hoffnungen sind getäuscht worden. Der Warschauer und der galizische Pole hat sich nicht als unser Freund und Bundesgenosse gezeigt, sondern als herrschsüchtiger und habgieriger Eindringling. Wir sind die Betrogenen." Nach dem Aufstand sei man nach Polen gekommen, und da habe man von Tag zu Tag klarer erkannt, daß Oberschlesiens Glück nie mit diesem Lande verknüpft sein könne. "Wir mußten zu der niederschlagenden Überzeugung kommen: eine Vereinigung unseres oberschlesischen Landes mit Warschau bedeutet den Ruin unserer geliebten Heimat." Der Kongreßpole sei nicht der Bruder des Oberschlesiers, er stehe ihm wie ein Fremder gegenüber. Die Mitkämpfer des letzten Aufstandes haben dies am eigenen Leibe erfahren müssen. Keine Löhnung, schlechte Verpflegung, gemeine Behandlung, Fußtritte statt Lohn – das sei der Dank der Warschauer gewesen. Als man darauf zur Selbsthilfe gegriffen habe, bis aufs Blut gepeinigt, war Maschinengewehrfeuer und das blanke Bajonett die Antwort gewesen. Kaltblütig hätten die Polen viele Insurgenten hingemordet, noch jetzt schmachteten viele Oberschlesier in der Zitadelle von Posen. Aber Oberschlesien dulde immer noch Kongreßpolen in seinem Lande.
"Noch ist Warschau nicht der Herr Oberschlesiens, aber in unseren besten Stellen sitzen Leute aus Warschau, Krakau und Posen, die durch ihr freches, unverschämtes Benehmen, besonders unsern oberschlesischen Schwestern gegenüber, uns zum Ekel geworden sind. Wir wollen los von Warschau. Hinaus mit den Kongreßpolen aus Oberschlesien! Das ist die Forderung von über achttausend oberschlesisch-polnischen Insurgenten." – Soweit also war es gekommen, daß nun, wo die Entscheidung vor der Tür stand, die Spießgesellen Polens in Oberschlesien von ihren Freunden in Warschau nicht mehr das geringste wissen wollten. Diese neue, interessante Konstellation war sehr geeignet, die Öffentlichkeit zu beunruhigen. Neuer Zündstoff hatte sich [173] in der unglücklichen Provinz angesammelt, der bei der nächsten Gelegenheit explodieren konnte. Auch drohte Gefahr, als der Völkerbundsvorschlag bekannt wurde. Darum machte die Interalliierte Kommission am 13. Oktober von Oppeln aus bekannt, daß sie ruhiges und besonnenes Verhalten verlange; sie werde rücksichtslos jede Unruhe unterdrücken, woher sie auch kommen möge. Man werde auch Zeitungen verbieten, wenn sie beunruhigende Nachrichten verbreiteten, öffentliche Kundgebungen würden nicht geduldet. – Jedoch, es ereignete sich nichts, was aufs neue das Land in Unruhe und Bürgerkrieg gestürzt hätte.
In den Landtagen Preußens, Bayerns, Sachsens, Württembergs protestierte man gegen das oberschlesische Urteil. Die Reichsregierung richtete eine Note an die Botschafterkonferenz in Paris (27. Oktober), daß sie die Teilung Oberschlesiens nicht nur als eine Ungerechtigkeit, sondern als eine Verletzung des Versailler Vertrages betrachte. Aus Paris kam lediglich die kühle Antwort, man halte den deutschen Protest für [175] unbegründet, null und nichtig. Deutschland wurde höchstens noch aufgefordert, dafür zu sorgen, daß keine unruhigen Elemente nach Oberschlesien eindringen, denn für alle jetzt dort entstehenden Unruhen müsse man Deutschland verantwortlich machen. Auch der polnische Sejm war unzufrieden. Nicht alle Wünsche Polens seien erfüllt worden. Ministerpräsident Ponikowski erklärte im Namen der Regierung am 27. Oktober, der Entscheidungstag sei leider nicht, wie erwartet, ein Tag der Freude, da viele Tausend Polen jenseits der Grenze blieben. Die polnische Regierung werde dafür sorgen, daß für die in Gleiwitz und Beuthen Verbliebenen alle Garantien und Rechte eingehalten würden, wie sie auch selbst die Rechte der zu Polen gekommenen Minderheit vertragsmäßig schützen werde. Polen nehme die Entscheidung des Botschafterrates an und wolle nach der nunmehrigen Festlegung seiner Grenze den Weg friedlicher Arbeit betreten.
"Alle Gewalttaten in Oberschlesien, die verhindern sollten, daß die Volksabstimmung günstig für Deutschland ausfiele, sind nicht nur geduldet, sondern von langer Hand vorbereitet worden. Ein vernichtenderes Urteil über die oberschlesischen Dinge, als es hier ausgesprochen ist, läßt sich kaum denken, und das oberschlesische Urteil raubte dem Völkerbund die Mehrzahl seiner Sympathien. Zwar sagt der englische Geschichtsschreiber Gooch, der Zorn auf den Völkerbund sei nicht am Platze gewesen, denn er hätte die ihm übertragene schwierige Aufgabe mit Sorgfalt und Unparteilichkeit gelöst, und seine Bewegungsfreiheit sei durch die Bestimmungen des Friedensvertrages beschränkt, für den er nicht verantwortlich wäre. Dennoch aber will es uns scheinen, daß der Völkerbund sehr wohl und im Sinne des Versailler Vertrages die Macht gehabt hätte, Oberschlesien restlos den Deutschen zuzusprechen, nachdem England und Frankreich ihre gegensätzlichen Vorschläge fallen ließen, indem sie ihn als Schiedsrichter anriefen. – Der Verlust Oberschlesiens war der letzte, aber der schmerzlichste Gebietsverlust Deutschlands nach dem Weltkriege. Man hatte sich abgefunden mit dem Verlust Elsaß-Lothringens, und Nordschleswig war zu verschmerzen. Auch Eupen-Malmedy hätte die Öffentlichkeit nicht besonders stark ergriffen, wenn nicht die Volksbefragung so barbarisch gehandhabt worden wäre. Schlimmer und schmerzlicher wirkte der Verlust der Provinzen Posen und Westpreußen, aber auch darein fügte man sich schließlich, da diese Gebietsabtretungen in Versailles kategorisch diktiert worden waren. Und wenn nun schließlich der Versailler Vertrag den Deutschen ein Recht in die Hand gab und Deutschland mit gutem Gewissen nach der Abstimmung dieses Recht geltend machte in Oberschlesien, und man ihm dennoch sein Recht und sein Land raubte, so war das ein Verbrechen! Deutschland konnte anklagen und wettern, und schließlich mußte es sich doch in seine trostlose Ohnmacht fügen. Es empfand den Verlust Oberschlesiens nicht nur politisch, territorial, wirtschaftlich, es empfand ihn, was viel schlimmer war, moralisch als einen Verlust seiner Ehre. Der Völkerbund setzte ein Dreimännerkollegium ein, bestehend aus einem Deutschen, einem Polen und dem Vorsitzenden Calonder, der früher Präsident des Schweizer [179] Bundes war, und dieses Komitee hatte die Aufgabe, die über Oberschlesien getroffenen Bestimmungen durchzuführen. Den ganzen Winter hindurch dauerten die Verhandlungen, und im Mai 1922 kam zu Genf ein Vertrag von 606 Artikeln zwischen Polen und Deutschland zustande. Im Juli verließen die alliierten Truppen das Abstimmungsgebiet, und Deutschland und Polen besetzten ihre Gebietsteile. Eine ständige gemischte Kommission und ein Schiedsgericht hatten über den Schutz der Minderheiten zu wachen und wurden dem Völkerbund unterstellt. Durch eine Art wirtschaftlichen Kondominiums wurde die gewaltsame Zerreißung des Industriegebiets vermieden und das Chaos von Oberschlesien abgewendet. –
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