Der Inhalt der kolonialen Schuldlüge Die koloniale Schuldlüge ist in einer großen Zahl von amtlichen und nichtamtlichen Reden, Schriften, Presseäußerungen usw. verbreitet worden. Ihren konzentrierten Ausdruck hat sie in den Noten der Alliierten vom 16. Juni 1919 gefunden, in denen auf die Bemerkungen der deutschen Delegation zu den Friedensbedingungen erwidert und gleichzeitig mit Ultimatum die Unterzeichnung des Friedensvertrages durch die deutsche Regierung binnen fünf Tagen gefordert wurde. Es ist die Mantelnote, in welcher die Frage der Schuld am Kriege sowie die für die Alliierten bei Festsetzung der Friedensbedingungen angeblich maßgebend gewesenen Gründe dargelegt sind, und die Antwortnote selbst, welche auf die von der deutschen Delegation geltend gemachten Gesichtspunkte im einzelnen eingeht. In der Mantelnote werden die Gründe für die Wegnahme des deutschen Kolonialbesitzes wie folgt angegeben:
"Endlich haben die Alliierten und Assoziierten Mächte sich davon überzeugen können, daß die eingeborenen Bevölkerungen der deutschen Kolonien starken Widerspruch dagegen erheben, daß sie wieder unter Deutschlands Oberherrschaft gestellt werden, und die Geschichte dieser deutschen Oberherrschaft, die Traditionen der deutschen Regierung und die Art und Weise, in [28] welcher diese Kolonien verwendet wurden als Ausgangspunkte für Raubzüge auf den Handel der Erde, machen es den Alliierten und Assoziierten Mächten unmöglich, Deutschland die Kolonien zurückzugeben oder dem Deutschen Reiche die Verantwortung für die Ausbildung und Erziehung der Bevölkerung anzuvertrauen." In der Antwortnote selbst heißt es darüber:
"Bei dem Verlangen, daß Deutschland auf alle Rechte und Ansprüche auf seine überseeischen Besitzungen verzichte, haben die Alliierten und Assoziierten Mächte in allererster Linie die Interessen der eingeborenen Bevölkerung berücksichtigt, für die Präsident Wilson im fünften seiner 14 Punkte der Botschaft vom 8. Januar 1918 eingetreten ist. Es genügt, auf die deutschen amtlichen und privaten Zeugnisse vor dem Kriege und auf die im Reichstag besonders von den Herren Erzberger und Noske erhobenen Anklagen Bezug zu nehmen, um ein Bild von den kolonialen Verwaltungsmethoden Deutschlands, von den grausamen Unterdrückungen, den willkürlichen Requisitionen und den verschiedenen Formen von Zwangsarbeit zu erhalten, die weite Strecken in Ostafrika und Kamerun entvölkert haben, ganz abgesehen von dem aller Welt bekannten tragischen Schicksal der Herero in Südwestafrika. Woraus schöpften die Urheber dieser Noten ihre kolonialen Kenntnisse? Es ist bekannt, daß der Verfasser der Mantelnote, welche mit der Unterschrift Clemenceaus an die deutsche Regierung gelangte, der Privatsekretär Lloyd Georges, Philip Kerr war. Daß er die Unterlagen für seine Ausführungen aus englischen Quellen genommen hat, liegt auf der Hand. Auch der Wortlaut der Antwortnote läßt erkennen, daß englisches Material dabei zugrunde gelegen hat. Die materielle Basis für jene Ausführungen in den Noten bildete offenbar die fleißige und umfangreiche Arbeit des bereits oben erwähnten englischen Sonderausschusses, welcher im März 1917 vom [29] englischen Auswärtigen Amt eingesetzt wurde, um die britischen Delegierten mit Informationen für die Friedensverhandlungen zu versehen. Die von ihnen verfaßten Handbücher, welche bei den Friedensverhandlungen benutzt wurden, sind im Jahre 1920 veröffentlicht worden.1 Die auf die Kolonien bezüglichen Handbücher weisen nach Inhalt und Fassung beträchtliche Verschiedenheiten auf. Während einzelne sich darauf beschränken, eine im wesentlichen objektive wissenschaftliche Darstellung der geographischen Verhältnisse, der historischen Entwicklung und der wirtschaftlichen Zustände zu geben, enthalten andere, vor allem das Handbuch über die Behandlung der Eingeborenen in den deutschen Kolonien,2 eine tendenziöse Zusammentragung alles erdenklichen Üblen, was je über deutsche Kolonisationstätigkeit gesagt ist. Den Geist dieser Schriften zu charakterisieren, mag nur angeführt werden, daß die zu irgendeiner Zeit im Reichstag von irgendwelchen Reichstagsabgeordneten erhobenen Anschuldigungen gegen deutsche Kolonialbeamte, wie sie besonders in der trüben Ära der sog. "Kolonialskandale" üblich waren, angeführt sind, daß aber in keinem Fall das häufig ganz anders lautende Ergebnis der Untersuchungen durch unabhängige preußische Richter angeführt ist. Verborgen geblieben kann dies den Bearbeitern des kolonialen Handbuchs nicht sein, welche im Zusammentragen alles Ungünstigen einen so bedeutenden Fleiß entwickelten; denn das Ergebnis jener Untersuchungen ist dem Reichstag in einer Denkschrift unter Zureinsichtstellung sämtlicher auf die Kolonialskandale bezüglicher Akten der Kolonialverwaltung vorgelegt worden. Der nicht unterrichtete Leser der Handbücher muß daraus den Eindruck gewinnen, als handle es sich nicht um bloße unbewiesene Anschuldigungen von Reichstagsabgeordneten - von denen manche sozialistische die ganze europäische Kolonisation unter farbigen Völkern überhaupt als verwerfliche Ausbeutungspolitik ansehen -, sondern um voll bewiesene Tatsachen. Im übrigen sind auch jene Äußerungen von Reichstagsabgeordneten aus ihrem Zusammenhange gerissen. Das, was dieselben Abgeordneten zugunsten der deutschen Kolonialpolitik angeführt haben, ist unterdrückt. So ist z. B. der Zentrumsabgeordnete Erzberger, der bekanntlich viele scharfe, sachlich durchaus nicht immer begründete Kritiken an der deutschen Kolonialpolitik vorgebracht hat, in der Entente-Note zum Versailler Vertrag als Hauptkronzeuge für die üblen deutschen Kolonialmethoden angeführt worden. Die von Erzberger gegen die Regierung vorgebrachten Angriffe sind in [30] dem Handbuche ausgiebig benutzt worden. Dagegen ist das, was Erzberger Gutes über die deutsche Kolonialpolitik vorgebracht hat, besonders das warme Lob der ostafrikanischen Eingeborenenpolitik (vgl. Reichstagsrede vom 27. Februar 1918) völlig verschwiegen. Das zweite in der Note der Entente als Kronzeuge aufgeführte Mitglied des Reichstags, der sozialdemokratische Abgeordnete Noske, hat gleichfalls wiederholt die nach sozialdemokratischer Auffassung in den Kolonien vorhandenen Mißstände scharf gerügt. Dagegen hatte er in einem im Mai 1914 erschienenen Buch Kolonialpolitik und Sozialdemokratie neben Erörterung dessen, was nach seiner Ansicht noch in den Kolonien zu bessern sei, auch eine Menge Material dafür angeführt, wie erfreulicherweise allmählich ein durchaus verständiger Geist in der deutschen Kolonialpolitik zur Geltung komme. Auch dieses ist in den englischen Propagandaschriften, welche mit Noskes Ausführungen glänzen, unterschlagen worden. Es liegt auf der Hand, daß dieser Teil der Handbücher zu dem Zweck verfaßt ist, eine moralische Rechtfertigung für die beabsichtigte Wegnahme der deutschen Kolonien zu liefern. Über günstige Urteile, wie sie von englischer Seite über die deutsche koloniale Wirksamkeit reichlich vorlagen, schweigen sich die Verfasser vollkommen aus. Sie erregen in dem ununterrichteten Leser den Eindruck, als ob in den deutschen Kolonien solche Zustände geherrscht hätten, wie zurzeit der Kongo-Greuel in dem belgischen und französischen Kongo, und lassen in ihm den Wunsch erstehen, die armen drangsalierten Schwarzen schleunigst von einer solchen Schandwirtschaft zu befreien. Besonders bedenklich und gefährlich bei diesen Darstellungen ist, daß sie sich äußerlich als objektiv und wissenschaftlich geben. Es ist mit der Möglichkeit zu rechnen, daß selbst innerhalb der in Versailles beratenden Delegationen manche mit kolonialen Verhältnissen nicht bekannte Personen auf Grund solcher Darstellungen geglaubt haben, es sei ein gutes Werk, die Eingeborenen von dem Joch deutscher Gewaltherrschaft zu erlösen. In jedem Fall aber ist in der breiten Öffentlichkeit durch die gegen Deutschland und seine Kolonisation betriebene Propaganda der falsche Eindruck erzeugt worden, als ob in den deutschen Kolonien eine üble Mißwirtschaft und Brutalisierung der Eingeborenen vorgelegen habe. Für Deutsch-Südwestafrika haben die Angriffe gegen deutsche Kolonisation ihre umfassende Bearbeitung in dem als Parlamentsdrucksache herausgegebenen englischen Blaubuch3 gefunden. In diesem waren die schwersten Anklagen gegen die deutsche Kolonialtätigkeit in Deutsch-Südwestafrika erhoben, die auf die Unterjochung [31] und zeitweise selbst auf die Ausrottung von Eingeborenenvölkern ausgegangen sei. Dieses Blaubuch ist bereits im Jahre 1925 von dem Premierminister der Südafrikanischen Union, Hertzog, gelegentlich eines Besuches in Südwestafrika als Erzeugnis der Kriegspropaganda bezeichnet worden. Es hat dann der südwestafrikanische Landesrat auf Antrag seines Mitgliedes Stanch in seiner Sitzung vorn 29. Juli 1926 einstimmig die folgende Entschließung betreffend dieses Blaubuches angenommen:
"Es ist die Ansicht dieses Hauses: Von den sonstigen Propagandaschriften hat eine besondere Rolle die 1918 in Zürich erschienene Schrift von Evans Lewin Deutsche Kolonisatoren in Afrika gespielt, aus der offenbar auch der oder die Verfasser des vorerwähnten Handbuches über Eingeborenenbehandlung in den deutschen Kolonien geschöpft haben. In dieser Schmähschrift greift der Verfasser selbst zu alttestamentlichen Vergleichen, um die deutsche Kolonisation zu verunglimpfen. "Die modernen Nachkommen der Tyrannen des Altertums", nämlich die Deutschen, hätten in ihren Kolonien dasselbe "eines Babylon und Ninive würdige System" angewendet. Er nennt die deutschen Kolonisatoren "grausam, brutal, herrschsüchtig und ganz unfähig für den Umgang mit primitiven Völkern", "wollüstig und gehässig in ihrem moralischen [32] Verhalten zu unterjochten Völkern." In dieser Hetzschrift konstruiert der Verfasser unter Verdrehung der Wahrheit und unter Verallgemeinerung einzelner Vorkommnisse sowie Zusammenreihen aus ihrem Zusammenhang gerissener Reden und Äußerungen von Reichstagsabgeordneten, Missionaren usw. ein furchtbares Zerrbild. Die von ihm hauptsächlich zitierten Reichstagsabgeordneten und Missionare haben gegen diesen Mißbrauch ihrer Äußerungen durch Lewin Verwahrung eingelegt und sachliche Richtigstellungen geliefert in der gleichfalls 1918 in Basel erschienenen Schrift Die deutsche Kolonialpolitik vor dem Gerichtshof der Welt, ebenso der in der Lewinschen Schrift als Zeuge angeführte neutrale (holländische) Pater van der Burgt in einer Veröffentlichung in der Kolonialen Rundschau 1919. Weder in den Handbüchern noch in der mir sonst zugänglichen ausländischen Literatur ist von diesen Richtigstellungen Notiz genommen worden. Der Lewinschen Schrift ist angehängt der an anderer Stelle erörterte offene Brief des Bischofs Frank Weston, Leiters der englischen Universitätenmission in Sansibar und Ostafrika, in welchem vor allem der Vorwurf der Zwangsarbeit gegen die deutsche Kolonialverwaltung erhoben wird. Es würde interessant sein, zu wissen, ob dieser offene Brief geschrieben wurde ohne vorhergehende Abmachung mit General Smuts oder wenigstens ohne seine vorherige Kenntnis, da er bekanntlich darauf hinarbeitete, Deutsch-Südwestafrika zu annektieren. Ich will keineswegs damit andeuten, daß Bischof Weston bei der Veröffentlichung seiner temperamentvollen und übertriebenen Schrift in mala fide handelte. Aber die Tatsache bleibt bestehen, daß er vor dem Kriege in den freundlichsten Beziehungen zu den deutschen Behörden in Ostafrika stand und, so viel ich weiß, keine Beschwerde gegen die deutsche Verwaltung vorzubringen hatte. Ein deutscher protestantischer Missionar, Dr. A. W. Schreiber, hat die Westonschen Angriffe kritisiert und dabei folgendes geschrieben:
"Wenn aber nach Bischof Westons Meinung die Behandlung der Eingeborenen so himmelschreiend war, warum hat der edle Bischof, dem gleichfalls die Tür des Gouvernements und jedes Bezirksamtmannes, wie auch der Weg in die Presse offen stand, in früheren Zeiten hierüber völlig geschwiegen, solange geschwiegen, bis der Nachweis dieser angeblichen Ungeheuerlichkeiten - dazu helfen konnte, daß Deutsch-Ostafrika in britischen Besitz geriet?"4 Damit will ich die Angelegenheit verlassen und bitte den Leser nur zu erwägen, was vor einem Gerichtshofe unter den vorerwähnten Umständen von Bischof Westons Zeugnis gesagt würde. [33] Der Inhalt der kolonialen Schuldlüge läßt sich kurz dahin zusammenfassen: Ein militärisches Deutschland habe in brutaler Gewaltherrschaft die von ihm unterjochten Eingeborenenvölker mißhandelt und sei auf die Schaffung von Stützpunkten zur Bedrohung anderer Nationen ausgegangen.
2Handbook 114. Treatment of natives in the German colonies. ...zurück... 3Report on the natives of S. W. A. and their treatment by Germany 1918. ...zurück...
4Die deutsche Kolonialpolitik vor
dem Gerichtshof der Welt, Basel 1918, Seite 58. ...zurück...
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