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Die Wirklichkeit

Es bedarf zunächst der Feststellung, daß die Vorstellung eines aggressiven Deutschlands, das sich in überseeischen Gebieten Stützpunkte habe schaffen wollen, um andere Mächte, zu bedrohen, den Tatsachen widerspricht.1 Das, was Deutschland in den 24 Jahren seit dem Abgang Bismarcks bis zum Weltkriege an überseeischen Besitzungen erworben hatte, war gering. Es waren Kiautschou in China, die kleinen Südseeinseln Samoa, die Karolinen und Marianen, ferner die Kongo-Zipfel als Erweiterung seiner westafrikanischen Kolonie Kamerun. Es handelte sich dabei nicht um kriegerische Eroberungen, sondern um vertragsmäßige Erwerbungen. Diese Erweiterungen deutschen Kolonialbesitzes in der Regierungszeit Wilhelms II. schrumpfen zu einem ganz unbedeutenden Ding zusammen, wenn man sie mit den englischen und französischen Kolonialerwerbungen im gleichen Zeitraum vergleicht. England hat nicht nur die Burenrepubliken durch Krieg unterworfen, sondern sich auch endgültig Ägypten und den zurückeroberten Sudan gesichert und umfangreiche weitere Gebiete in Afrika seinem Kolonialreich einverleibt: auch in Ostasien hat es durch Besetzung von Weihaiwei und im Stillen Ozean durch Erwerbung der Tonga- und einiger Salomo-Inseln seinen Kolonialbesitz vermehrt. Frankreich hat seit 1890 noch weit umfangreichere überseeische Gebiete sich angeeignet als England. Der größte Teil seines ungeheuren Kolonialreiches in Afrika ist erst in diesem Zeitraum unter die französische Flagge gelangt, wobei kriegerische Expeditionen gegen die Eingeborenen des Landes eine große Rolle spielten. Auch die französischen Besitzungen in Asien haben in den beiden letzten Jahrzehnten vor Ausbruch des Weltkrieges eine beträchtliche Erweiterung erfahren.

Wenn man die tatsächliche Aneignung überseeischer Besitzungen durch Waffengewalt als Kriterium für einen militärischen Imperialismus ansieht, so könnte er hiernach doch nur auf Seiten der Entente gefunden werden, aber nicht auf Seiten Deutschlands. Wenn nicht, worin soll sich dieser militärische Imperialismus auf kolonialem Gebiet gezeigt haben? Die Antwortnote behauptet, der deutsche Militarismus sei darauf ausgegangen, sich Stützpunkte zu schaffen, [34] um gegenüber anderen Mächten eine Politik der Einmischung und Einschüchterung zu verfolgen.

Die historische Wahrheit erfordert die Feststellung, daß diese Behauptung den wirklichen Tatsachen vollkommen widerspricht. In den deutschen Kolonien waren derartige Stützpunkte, abgesehen allein von Tsingtau (Kiautschou), weder vorhanden noch geplant. Es gab in den Schutzgebieten überhaupt keine Befestigungen, welche zur Verteidigung gegen einen europäischen Gegner geeignet gewesen wären. Es waren in den Kolonien nur die kleinen Schutz- und Polizeitruppen vorhanden, deren Aufgabe in der Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung im Lande selbst bestand, wie weiter unten noch näher dargelegt wird. Aber auch im Bereich der gesamten deutschen auswärtigen Politik läßt sich nichts finden, was diesen Vorwurf rechtfertigen könnte. Im Gegenteil ließen die jeweiligen Leiter der deutschen Politik wiederholt die Gelegenheit, den deutschen Kolonialbesitz durch Sonderabmachungen mit anderen Mächten zu erweitern, unbenutzt vorübergehen. Der Nachfolger Bismarcks, Caprivi, war Vermehrungen des deutschen Kolonialbesitzes abgeneigt und verzichtete im Austausch gegen Helgoland auf große ostafrikanische Gebiete. Der spätere langjährige Reichskanzler Fürst Bülow stellte als Grundsatz der deutschen Politik auf: "Keine Eroberungen, keine Gebietserwerbungen, statt dessen Aufrechterhaltung der offenen Tür." Als die Durchführung dieses Grundsatzes in der Marokko-Angelegenheit gegenüber dem imperialistischen, von England unterstützten Frankreich mißlungen war, ließ sich Kiderlen-Wächter zur Anerkennung der französischen Ansprüche auf Marokko gegen Abtretung wenig bedeutender westafrikanischer Gebiete aus dem französischen Kongogebiet bereit finden. Es handelte sich dabei um unerschlossenes Urwaldgebiet, das als Stützpunkt zur Bedrohung anderer Mächte keinesfalls in Frage kommen konnte. In der Folgezeit wurde durch den deutsch-englischen Vertrag, der unmittelbar vor dem Krieg vereinbart wurde, die friedliche Durchdringung eines Teils der portugiesischen Besitzungen durch deutsche Kolonisationsarbeit vorgesehen und der spätere Erwerb dieser Gebiete durch Deutschland für den Fall, daß Portugal aus finanziellen Gründen sie abtreten würde. Auch dies war keinesfalls ein militärischer Imperialismus.

So zeigt eine Prüfung der Tatsachen, daß die Behauptung der Note vollkommen unrichtig ist. Weder besaß Deutschland, abgesehen von dem einen mangelhaft befestigten Tsingtau, irgendwelche Stützpunkte über See, noch hatte es Anstalten zur Schaffung solcher getroffen. Im Gegensatz dazu verfügten sowohl England wie Frankreich über eine Anzahl befestigter Stützpunkte über See.

Auch im Weltkriege war Deutschland weit davon entfernt, irgend- [35] welchen kolonialen Imperialismus an den Tag zu legen. Die Formulierung der Kriegsziele, wie sie von den deutschen maßgebenden Stellen, vor allem dem Kolonialstaatssekretär Dr. Solf erfolgt ist, läßt erkennen, daß die deutschen Absichten lediglich darauf gerichtet waren, in friedlicher Weise an der kulturellen und wirtschaftlichen Erschließung der überseeischen Länder beteiligt zu werden.

Ebenso sieht in bezug auf die in den deutschen Schutzgebieten befolgte Kolonialpolitik die Wirklichkeit vollkommen anders aus, als sie die Darstellung der Noten zum Friedensvertrag, die oben erwähnten Handbücher und die sonstigen gegen die deutsche Kolonisation gerichteten Veröffentlichungen erscheinen lassen, nach deren Behauptungen die deutsche Kolonialpolitik in einer systematischen, brutalen Ausbeutung der Eingeborenen unter Anwendung grausamer Verwaltungsmethoden bestanden haben soll.

Was diese Politik in Wirklichkeit wollte, ist wiederholt von den verantwortlichen Leitern deutscher Kolonialpolitik in Reichstagsreden und in Schriften zum Ausdruck gebracht worden. Der Kolonialstaatssekretär Dr. Dernburg hat ausgesprochen, daß "der Eingeborene das wertvollste Aktivum der Kolonien" sei und daß die Anstrengungen der deutschen Kolonisation in erster Linie darauf zu richten seien, ihn zu erhalten und für ihn zu sorgen. Von seinen Nachfolgern hat Dr. von Lindequist gleichfalls keinen Zweifel darüber gelassen, daß eine pflegliche Behandlung der Eingeborenenbevölkerung eine Notwendigkeit deutscher Kolonialpolitik sei. Dr. Solf, vor dem Weltkriege und während desselben Staatssekretär für die Kolonien, hat in Reichstagsreden und Schriften als seinen Grundsatz dokumentiert: "Kolonisieren heißt Missionieren", "aktive Kolonialpolitik bedeutet nicht nur Ausbeutung solcher Länder nach Maßgabe der mutterländischen Bedürfnisse, sondern ist daneben Mitarbeit an einer großen, der Kulturmenschheit gegenüber den Stämmen jener Gebiete obliegenden Aufgabe - der Aufgabe, sie intellektuell und moralisch zu erziehen, die Voraussetzung für ihre wirtschaftliche Emporentwicklung zu schaffen und ihnen behilflich zu sein, zu einer hohen Stufe der Entwicklung emporzusteigen."

In einer Reichstagsrede vom 6. März 1913 hat er die Stellung Deutschlands zu den Eingeborenen wie folgt umschrieben:

      "Die Eingeborenen sind unsere Schutzgenossen und die deutsche Regierung hat um dessentwillen die Verpflichtung, die berechtigten Interessen der Eingeborenen zu den ihrigen zu machen. Denn wir wollen die Eingeborenen nicht ausrotten, wir wollen sie erhalten. Das ist die Anstandspflicht, die wir mit der Hissung der deutschen Flagge in unseren afrikanischen Kolonien und in der Südsee übernommen haben. Die Ausübung dieser Pflicht entspricht auch der Klugheit, denn sie allein verschafft auch die Möglichkeit vernünftiger Wirt- [36] schaftspolitik und damit die Grundlage unserer deutschen nationalen Betätigung."

Und im Jahre 1915 konnte Dr. Solf schreiben:2

      "In sämtlichen Kolonien Afrikas und in der Südsee hat die deutsche Regierung auf dem Gebiete der Verwaltung sowohl wie im wirtschaftlichen Leben, hinsichtlich der militärischen Besetzung, im Handel und Verkehr, im Eisenbahnwesen, in der Landwirtschaft usw. vielfach andere und freiere Grundsätze durchgeführt, als im Mutterlande möglich war. In keiner unserer Kolonien gibt es eine Militärverwaltung! Wäre der Militarismus das Idol der Deutschen, hätten die Deutschen die ihnen angedichteten kriegerischen Eigenschaften und Konquistadorengelüste, unsere Kolonien müßten die Probe auf das Exempel sein, in ihnen hätte der vermeintlichen Soldateska- und Kriegsleidenschaft ein willkommener Tummelplatz entstehen müssen! Daß dem nicht so ist, daß wir ein ziviles und friedliches Regiment eingeführt und im Vertrauen auf den Schutz der Grenzen gegen Feinde, die für Deutschland historisch gewordenen Notwendigkeiten und Hemmungen nicht verpflanzt haben in die Neuländer unserer administrativen Betätigung, daß wir dort alles in allem einen freieren Geist entfaltet haben, erscheint doppelt bemerkenswert..."

Eingeborene Laboratoriumsgehilfen im Seucheninstitut Daressalam,
Deutsch-Ostafrika.
[32b]      Eingeborene Laboratoriumsgehilfen im Seucheninstitut Daressalam, Deutsch-Ostafrika.
Wenn ich von denen, die an leitender Stelle draußen in den Kolonien die Verwaltung zu führen hatten, mich selbst als den letzten Gouverneur der größten deutschen Kolonie Deutsch-Ostafrika vor dem Kriege und während desselben anführen kann, so habe ich, wie meine Vorgänger, stets den Grundsatz der Fürsorge für die meiner Obhut anvertrauten Eingeborenen mir zur Richtschnur gemacht. Das ist nicht nur in dem Schutze der Eingeborenen gegen jede Bedrückung durch Weiße oder Farbige, nicht nur in einer sozialen Arbeitergesetzgebung zutage getreten, sondern auch in einer weitgehenden sanitären Fürsorge, in Seuchenbekämpfungen und intensiver Gesundheitspflege der Eingeborenen sowie in der Hebung der Schwarzen durch guten Schulunterricht und durch Anleitung zur Verbesserung ihrer landwirtschaftlichen Methoden. Ich zweifle, daß auf diesen Gebieten in irgendeiner englischen, geschweige denn französischen Kolonie mit ähnlichen natürlichen und Bevölkerungsverhältnissen mehr geschehen ist als bei uns. Ähnlich lag die Sache in den übrigen deutschen Kolonien, in deren Mehrzahl gerade auf dem Gebiet des Gesundheitswesens und des Schulunterrichts Bedeutendes geleistet wurde.

Eingeborenen-Krankenhaus, Duala, Kamerun.
[32a]      Eingeborenen-Krankenhaus, Duala, Kamerun.

Eine objektive Darstellung hat die deutsche Kolonialpolitik in dem Deutschen Koloniallexikon erfahren, einem Werk, das zwar [37] infolge der durch den Krieg verursachten Hindernisse erst nach dessen Ende erschienen ist, aber bereits bei dessen Ausbruch abgeschlossen vorlag und keine Änderungen erfahren hat. In diesem spricht sich der verstorbene Professor Rathgen, ein durch seine wissenschaftliche Bedeutung und absolute Objektivität gleich ausgezeichneter, hervorragender Sachverständiger, wie folgt über die deutsche Eingeborenenpolitik aus:3

      "Wie er (der Eingeborene) überhaupt der Vormundschaft bedarf, so besonders des Schutzes gegen Ausbeutung, Wucher, gegen Proletarisierung ebenso wie gegen Seuchen und Hungersnöte. Liegt doch auch eine pflegliche Behandlung der Eingeborenen im eigensten Interesse einer weiterblickenden Kolonialpolitik. Die Notwendigkeit, eine Instanz über dem möglichen Interessenkonflikt der weißen und der Eingeborenenbevölkerung zu haben, ist der Hauptgrund gegen die Gewährung vollen Selbstbestimmungsrechts an die weiße Bevölkerung von Mischkolonien."

Decken sich diese Grundsätze, wie sie von den maßgebenden Kolonialpolitikern Deutschlands, den leitenden Staatsmännern ebenso wie von den Vertretern der Wissenschaft, proklamiert und von den ersteren zur Anwendung gebracht sind, nicht mit denen, die irgendeine fortgeschrittene Kulturnation aufstellen könnte? Findet sich darin irgend etwas, was den Verfassern jener Deutschlands Kolonialtätigkeit herabsetzenden Noten und Schriften Anlaß zum Tadel bieten könnte? Enthalten sie irgendwelche Ziele, die von den in der Völkerbundssatzung festgelegten abweichen?




1S. ausführlicher darüber in meinem Buch Weltpolitik vor, in und nach dem Kriege. 1923. S. 144 ff. ...zurück...

2In seinem Aufsatz "Militarismus und Kolonialpolitik" im Augustheft 1915 der Süddeutschen Monatshefte ("Die deutschen Kolonien"). ...zurück...

3Deutsches Koloniallexikon, Bd. II, S. 337. ...zurück...







Die koloniale Schuldlüge.
Dr. Heinrich Schnee
ehemaliger Gouverneur von Deutsch-Ostafrika