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Bd. 1: B. Der Kampf um die
Revision
II. Die deutsche Volksbewegung
um die Revision des Versailler Vertrags
Dr. Wilhelm Ziegler
Oberregierungsrat
Die Revisionsbewegung ist eigentlich so alt wie der Versailler Vertrag selbst.
Daß sie es ist, ist die Schuld der Sieger und nicht der Besiegten. Denn,
obwohl durch den jähen Zusammenbruch von einer niederschmetternden
Betäubung befallen, hat das deutsche Volk vom ersten Augenblick an das
instinktive Gefühl für die Unaufrichtigkeit und den Treubruch dieses
Vertrages immer besessen und nie verloren. Nur zähneknirrschend erfolgte
auch die Kapitulation der Weimarer Nationalversammlung vor der gepanzerten
Faust der Gegner. Daß diese innere Aufbäumung aber die Form der
Revisionsbewegung annahm, das war, ist und bleibt die Schuld der Sieger und
ihres Übermutes. Darum, weil sich diese Sieger in der Stunde der
Vergeltung nicht - nach uraltem Siegerrecht, oder besser
Siegerbrauch - damit begnügten, sich am Besitz, an den materiellen
Gütern des Besiegten schadlos zu halten, sondern ihm auch noch das
Brandmal der moralischen Ächtung auf die Stirn drückten und
kleinlich Rache an der Ehre des Unterlegenen nahmen.
Zwei Zumutungen des Versailler Vertrags sind es gewesen, die dem deutschen
Volke vom ersten Augenblick an als Akt der Gemeinheit und nicht nur des
Siegerrechts nach uraltem geschichtlichen Brauch vorgekommen sind, und die
infolgedessen vom ersten Augenblick an, an seinem Ehrgefühl gezerrt und
gezehrt haben: die Forderung auf Auslieferung der sogenannten Kriegsverbrecher
in Art.
227-230 und die Forderung der Unterzeichnung des sogenannten
Kriegsschuldbekenntnisses in Artikel
231. Es ist symbolisch, daß der
beispiellose Kampf um die Unterzeichnung, der unser Volk bis in die tiefsten
Tiefen aufgewühlt und fast in zwei Hälften zerspalten hat, zum
Schluß sich gerade auf die Verweigerung der Unterschrift unter diese beiden
demütigenden Zumutungen zugespitzt hat, und daß, beinahe noch eine
Minute vor zwölf, die Unterzeichnung dieses überwältigendsten
Friedensdiktats der Weltgeschichte mit
Enteignungen und Zukunftshypotheken materieller Art in größtem
Ausmaß an der Verweigerung der Unterschrift unter [186] diese beiden ehrenrührigen, rein
moralischen Tributleistungen an den Übermut der Sieger gescheitert
wäre. Das war der bitterste Tag, ein
Canossa-Gang im wahrsten Sinn des Wortes, der unsern Unterhändlern und
Unterzeichnern zugemutet wurde, der Gang durch dieses kaudinische Joch, die
Reverenz vor dem Geßlerhut der Fronvögte! So war es fast die List
der Idee der Geschichte, daß von hier aus die Revisionsbewegung ihren
Ausgang nehmen sollte und mußte. Es gibt von Max Weber das paradoxe,
aber fast seherische Wort, das er in Versailles als Mitglied der Friedensdelegation
sprach: "Seien wir doch froh, daß wir diesen Schmachparagraphen
231 in dem Friedensvertrag haben, der von Deutschland das Eingeständnis der
Schuld verlangt. Das ermöglicht uns zu gegebener Stunde die
Wiederaufnahme des Verfahrens zu fordern."
War es Betäubung oder Narkose, also ein Zustand seelischer Depression,
daß das deutsche Volk sich nach dem Zusammenbruch schließlich
doch unter dieses Joch beugte? Oder war es die nüchterne Einsicht in die
erdrückende Übermacht der waffenstarrenden Kreisfront, von der es
eingezingelt war? Die Einsicht in die militärische, wirtschaftliche und
moralische Einkreisung und Isolierung der deutschen Festung? Erst am 12. Juli
1919 wurde die Blockade aufgehoben, nicht etwa schon am Tage nach der
Unterzeichnung des Versailler Diktates, sondern erst volle 14 Tage später!
So erdrückend war die Übermacht der Sieger und darum so brutal,
fast zynisch ihre Willkür. Aber nicht lange sollte diese Fügsamkeit
anhalten. Es ist und bleibt bedeutsam, auch ein Ehrenzeugnis für die innere
Widerstandsfähigkeit des deutschen Volkes, daß schon im
frühesten Augenblick, im Moment der Ratifikation des Versailler Vertrages
(10. Januar 1920), als die Gegner am 3. Februar 1920 die Liste der sogenannten
deutschen Kriegsverbrecher zur Auslieferung überreichten, der moralische
Widerstandswille entflammte. Der Führer der deutschen Friedensdelegation,
Freiherr von Lersner, war Mann und natürliches Organ der deutschen
Volksstimmung in einer Person, als er die Annahme dieser Note am gleichen Tage
verweigerte. In diesem Punkt stand ganz Deutschland hinter ihm, unnachgiebig,
eine geschlossene Mauer. Wie ein Lauffeuer hat damals die Entrüstung und
Empörung sich über unser ganzes Land und Volk fortgepflanzt, trotz
der elenden
Wirtschafts- und Ernährungslage. Und es bleibt denkwürdig,
daß vor dieser unwiderstehlichen Entschlossenheit auch der Übermut
und die Übermacht der Gegner schließlich den Rückzug hat
antreten müssen. Denn der Erfolg war, daß auf der Konferenz in Spa
(Juli 1920) die alliierten Mächte sich schließlich mit einer Aburteilung
der sogenannten Kriegsverbrecher vor dem deutschen Reichsgericht abfanden. Das
ist und bleibt das erste Aufflammen und der erste Erfolg der
Revisions- [187] bewegung im deutschen
Volke — einer Bewegung so spontan und elementar, mitten aus dem tiefsten
Kern der Volksseele heraus, wie sie nur überhaupt sein kann. Und so ist sie
auch geblieben bis auf den heutigen Tag. Meist sicher mehr unbequem und
störend für die Politik der deutschen Regierung,
die - ob sie wollte oder nicht - die Bahn der Verständigung, des
Kompromisses, ja des partiellen Verzichts um höherer Ziele willen gehen
mußte, die infolgedessen immer hinter den Wünschen und
Erwartungen der Volksstimmung zurückbleiben mußte. Aber gerade
dieser Abstand zwischen Volksbewegung und offizieller Politik ist der
untrügliche Beweis für ihre Echtheit, die Blutprobe auf ihre Reinheit
und Urwüchsigkeit.
An den Abstimmungskämpfen hat sie sich zunächst emporgerankt,
aus ihnen neuen Atem gezogen. Aber ihre Bahn war ihr vorgezeichnet durch die
innere Logik, die Geschichte des Versailler Diktates selbst. Denn sie mußte
eines Tages einmünden in die Aufrollung der Kriegsschuldfrage, der zweiten
Ehrenkränkung und Demütigung neben der Auslieferungsforderung
der sogenannten Kriegsverbrecher. Es war nur eine Frage der Zeit, wann dieser
Augenblick eintreten würde. Eintreten mußte er. Es geschah nach
Jahresfrist.
Schon die aufrüttelnden Aufklärungskämpfe, die den
Abstimmungen in Schleswig und in
Ost- und Westpreußen vorangingen,
hatten die moralischen Kräfte und
das Selbstvertrauen des Volkes erheblich gekräftigt. Noch mehr aber das
glänzende Ergebnis in der südlichen Zone von Schleswig (14.
März 1920) und der überwältigende Sieg in
Ost- und Westpreußen (11.
Juli 1920). Die Herausziehung der
Abstimmungsberechtigten aus dem Reich in ihre Heimat und ihre Rückkehr
unter ihre Lebensgenossen durchpulste das Volk mit neuem, nationalem
Selbstbehauptungswillen, mindestens so sehr wie der Stolz selbst über
diese Siege mit geistigen Waffen. Auch diese Bewegung hatte bereits zu einer
festen Organisation geführt in der Gestalt des "Deutschen Schutzbundes
für das Grenz- und Auslandsdeutschtum" unter der hauptsächlichen geistigen
Führung von Dr. K. C. v. Loesch. Schon im Juni 1919 unter dem
unmittelbaren Eindruck der Versailler Nachrichten über die bevorstehenden
Abstimmungsproben war diese Gründung zustande gekommen. In den
Vorarbeiten für die Abstimmungskämpfe im Norden und Osten trat er
zum erstenmal in Aktion. Eine
weit- und tiefgehende Aufklärung des Volkes und der
Abstimmungsberechtigten, die Sammlung der Abstimmungsberechtigten, der
Hin- und Rücktransport in ihre Heimatgemeinde war seine erste
Hauptaufgabe. Vor allem aber die Aufbringung der beträchtlichen
Geldmittel für die Abstimmungszwecke aus dem Volk selbst heraus war
eine der schwersten Aufgaben dieser Zeit Sie wurde, dank einer glänzenden
Opferwilligkeit aller Stände, klar gelöst. Gerade die allseitige
Opferwilligkeit für diese Grenzspenden und ihr [188] schöner Lohn war als Beitrag des Volkes
im Reich zu der Kampfarbeit der Abstimmungsberechtigten in den Grenzzonen
selbst die glücklichste Ergänzung. Zum zweitenmal ward hier das
Volk in der Anspannung für einen geistigen Kampf um seine
Selbstbehauptung aufgerüttelt. Der Erfolg selbst machte es noch sicherer.
Und so trat es in das Jahr 1921 schon erheblich gefestigter und seiner Haltung
bewußter ein, in das Jahr, das die erste Krise in der Reparationsfrage bringen
sollte. Dieses wurde darum auch das Geburtsjahr der großen Volksbewegung
wider die Schuldlüge des Artikels
231 und für die Rehabilitation des
deutschen Namens und der deutschen Ehre vor der Welt.
Den Anstoß hat ohne Zweifel die immer schärfer werdende
Zuspitzung der Reparationspolitik der Gegner gegeben. Im Januar 1921 war die
Pariser Konferenz der alliierten Ministerpräsidenten mit den Pariser
Beschlüssen, die zum erstenmal genaue Ziffern über die
Reparationsansprüche der Gegner herausbrachte. Damals wurde die
phantastische Zahl von 226 Milliarden Goldmark aufgestellt, die dann in London
auf 132 Milliarden festgesetzt wurde. Vielleicht wäre dieser wahnsinnige
Tanz von Milliardenziffern weniger aufreizend an den Köpfen des deutschen
Volkes vorübergezogen, wenn nicht immer wieder von der gegnerischen
Seite die Reparationsverpflichtungen mit der Kriegsschuldanklage verquickt
worden wären. Zwar durchaus konsequent auf der Linie des Artikels 231,
des Einleitungsartikels zu dem Teil
VIII des Versailler Vertrages
"Wiedergutmachungen", aber keineswegs taktvoll, geschweige denn weise. Damit
aber wurde das Ehrgefühl des Unterlegenen geradezu aufgekitzelt, ja gereizt.
Klassisch kam diese Propagandathese der Siegermächte auf den Londoner
Verhandlungen des Jahres 1921 zum Ausdruck, als der englische Premierminister
Lloyd George am 3. März den deutschen Außenminister Dr. Simons
barsch und diktatorisch anherrschte:
"Für die Alliierten ist die deutsche
Verantwortung für den Krieg grundlegend. Sie ist die Basis, auf der der Bau
des Vertrages von Versailles errichtet worden ist, und wenn dieses
Eingeständnis abgelehnt oder aufgegeben wird, ist der Vertrag
zerstört... Wir wünschen daher, ein für allemal es ganz klar zu
machen, daß die deutsche Verantwortung für den Krieg von den
Alliierten als eine cause jugée behandelt werden
muß."
Ja, alsbald danach brachte die amerikanische Antwortnote auf die Anrufung
Amerikas als Vermittler in der Reparationsfrage dem deutschen Volke mahnend
zum Bewußtsein, daß diese Überzeugung sich nicht nur auf
Europa, sondern auch auf die neue Welt erstreckte. Denn in dieser amerikanischen
Note vom 29. März erklärte die amerikanische Regierung
ausdrücklich:
"Die amerikanische Regierung hält ebenso wie
die alliierten Regierungen [189] Deutschland für den Krieg verantwortlich
und daher moralisch für verpflichtet, Reparationen so weit wie
möglich zu leisten."
Das waren zwei Keulenschläge, die auch das gleichgültigste Volk
hätten aus seinem Schlaf aufjagen müssen. Unter diesen moralischen
Bezichtigungen durch die maßgebendsten Vertreter der beiden
größten Weltmächte ist die eigentliche Revisionsbewegung
gegen die Kriegsschuldlüge des Versailler
Vertrags entstanden. Sie ist die
Folge einer Kampagne der Beschimpfung. Gerade daher aber empfing sie ihren
spontanen und ausgesprochen demokratischen Charakter, den Charakter der
Volksbewegung.
Es war im Frühjahr 1921, als sich an allen Ecken und Enden Bestrebungen
und Kräfte regten, den geistigen Kampf gegen diese schwerste
Beschimpfung des deutschen
Namens - die systematische Verleumdungspropaganda mit Hilfe der
Kriegsschuldlüge - aufzunehmen. Es war eine ausgesprochene
moralische Aufwallung, ein Gewissenskampf. Das Volk fühlte, daß
ihm nunmehr nichts anderes übrig blieb, als unter dem Druck der Gegner
von der Defensive zur Offensive überzugehen. "Die moralische Offensive,
Deutschlands Kampf um sein Recht", so lautete der Titel einer Flugschrift des
Prinzen Max von Baden vom Juli 1921, in der er die Ziele dieser Volksbewegung
umriß. Und auf dem Moralischen lag von Anfang an der Akzent dieser
Bewegung, auch wenn es ihr zunächst noch an der richtigen
Verstandesklarheit gebrach. Denn zunächst war es mehr ein dunkles Tasten,
ein Konglomerat von Einzelbestrebungen. Da waren die verschiedensten
Organisationen, die zum Teil schon unmittelbar unter dem niederschmetternden
Eindruck der Versailler Friedensbedingungen entstanden waren. Da war der
Volksbund "Rettet die Ehre" unter Dompastor D. Hartwig mit seiner
Pressekorrespondenz (Dr. Walther Heide), in München der "Deutsche
Kampfbund gegen die Kriegsschuldlüge", in Breslau der "Deutsche
Volksbund Revision von Versailles", in Düsseldorf der "Bund für
Volksaufklärung über Friedensvertrag und Kriegsvergehen", in Berlin
die "Arbeitsgemeinschaft für vaterländische Aufklärung" unter
dem verdienten Prof. Dr. Görcke. Dazu hatten andere bestehende
Organisationen, wie z. B. die "Liga zum Schutze der deutschen
Kultur" auch bereits diese Aufgabe aufgegriffen. Auch die Schrift Friedrich
Stampfers, des Chefredakteurs des Vorwärts, Von
Versailles - zum Frieden! vom Januar 1920 verdient in diesem
Zusammenhang als Dokument des Revisionswillens Erwähnung, um so
mehr als er an die Spitze seiner Betrachtungen den Art. 231
stellt mit der Quintessenz: "Die Revision von Versailles durch die friedliche Macht des Geistes
wird bei dem Artikel 231
beginnen." So regten sich überall
Einzelkräfte, es fehlte aber das wichtigste, der ausreichende Überblick
und die einheitliche Leitung. Am klarsten war vielleicht die [190] geistige Klarheit vorwärts gediehen in der
sogenannten "Heidelberger Vereinigung", an deren Spitze Männer wie der
letzte Reichskanzler des Kaiserreichs, Prinz Max von Baden, der Graf Max
Montgelas, u. a. standen. Diese "Heidelberger Vereinigung
(Arbeitsgemeinschaft für Politik des Rechts)" war bereits von dem Prinzen
Max zusammen mit Professor Max Weber im Februar 1919 gegründet
worden mit der Absicht, die moralische Position Deutschlands für die
Friedensverhandlungen zu stärken. Es sind zum Teil dieselben Personen, die
auch in der Gutachter-Kommission gesessen haben, die das Gegengutachten vom 27. Mai
1919 über die Verantwortlichkeit am Kriege abgab. Denn außer Max
Weber und dem Grafen Max Montgelas gehörten dieser
Gutachter-Kommission bekanntlich noch die Professoren Hans Delbrück
und Mendelssohn Bartholdy an. Diese Heidelberger Vereinigung ragte schon durch
die Person ihrer Führer über die meisten anderen Gründungen
hinaus. Sie hat infolgedessen auch ihren etwas aristokratischen Charakter behalten.
Von ihr aber gingen wohl die ersten entscheidenden Schritte aus, den moralischen
Kampf um die Schuldfrage mit dem Ausland aufzunehmen. So hat die
Heidelberger Vereinigung am 1. März 1921 in den Foreign Affairs, der
Zeitschrift E. D. Morels, die Herausforderung zu einer Disputation mit alliierten
und neutralen Gelehrten veröffentlicht. Schon vorher hatte Professor Hans
Delbrück den amerikanischen Juristen Beck zu einem Disput
herausgefordert - ohne Erfolg. Also überall hoffnungsvolle, spontan
gewachsene Ansätze, aber noch keine Bewegung nach einheitlichem
Plan.
So kam es, daß im März 1921 in Berlin zum ersten Male verschiedene
Männer zusammentraten, um diese überall hervorbrechende
Bewegung in eine einheitliche und feste Bahn zu leiten. Es waren
hauptsächlich Professor Ernst Jäckh, Freiherr von Lersner, Professor
Philipp Stein und Dr. jur. Ernst Reichenheim. Aus den Beratungen dieses Kreises
erfolgte die Gründung des "Arbeitsausschuß Deutscher
Verbände", der als Kopfstelle für die Zusammenfassung der
Volksbewegung gegen die Kriegsschuldlüge im besondern und die
Ungerechtigkeiten des Versailler Diktates im allgemeinen
gedacht war und dies bis auf den heutigen Tag geblieben ist.
Von vornherein hat der größte Teil der Einrichtungen und
Bestrebungen, die hier und dort sich ähnliche Ziele gesteckt hatten, sich
freiwillig unter die Führung des "Arbeitsausschusses Deutscher
Verbände" gestellt. Die meisten Verbände waren selbst an der
Gründung beteiligt. Den Rest der wenigen Übriggebliebenen hat der
"Arbeitsausschuß" später durch seine praktische Arbeit von der
Notwendigkeit seiner Führungsstellung überzeugt. Seine Aufgabe
wurde ihm von vornherein dadurch erleichtert, daß er nur als Kopfstelle und
nicht als eigene ausgebaute Organisation gedacht war. Und dies [191] ist er bis zum heutigen Tag geblieben. Er hat
sich immer als Mittel zum Zweck und nie als Selbstzweck gefühlt. Oft ist er
hinter der Arbeit anderer zurückgetreten, aber er hat es verstanden, auch die
Verbindung zu allen Organisationen und Kräften des freien Volkslebens
anzuknüpfen und festzuhalten, die ausschließlich oder teilweise,
unmittelbar oder mittelbar an dem Werk der Revision des Artikels
231 sich
beteiligt haben. Das waren ebensosehr die mannigfachen Einzelinstitute zur
Bekämpfung der Kriegsschuldlüge wie die großen
Wirtschafts- und Kulturverbände des deutschen Volkslebens, die
Industrie-Verbände ebenso wie die Gewerkschaften, die wissenschaftlichen
Vereine ebenso wie die studentischen Korporationen. Ihnen allen Hilfsstellung zu
leisten durch Beratung und Zusammenführung der sonst zersplitterten
Einzelbestrebungen, das war das eigentliche Ziel, das die Gründer des
"Arbeitsausschuß deutscher Verbände" im Auge hatten. Das andre und
zweite Ziel war dies, das Material, das die wissenschaftliche Forschung zur
Aufhellung der Kriegsschuldfrage geliefert hatte und weiter liefern würde, in
tägliche Münze umzusetzen und so, direkt und indirekt, ins Volk
hineinzutragen.
An die Spitze dieser Bewegung wurde von ihren Gründern berufen Freiherr
von Lersner, der ehemalige Präsident der Friedensdelegation in Versailles.
Mit der Leitung der eigentlichen Arbeit wurde alsbald der Geheime Regierungsrat
Dr. jur. von Vietsch betraut. Er hat wohl die eigentlichen Fundamente für
die Arbeit und das Gebäude des Arbeitsausschuß deutscher
Verbände gelegt. Ein Werk, zu dem der leider zu früh Verstorbene
durch reiche Weltkenntnis, große Klugheit, vor allem aber den Charme
seiner feinen und fesselnden Persönlichkeit besonders berufen war.
Fast zu gleicher Zeit war getrennt von dem "Arbeitsausschuß Deutscher
Verbände" aus den Bemühungen wissenschaftlicher Kreise heraus die
"Zentralstelle für Erforschung der Kriegsursachen" ins Leben gerufen
worden. Ihre Aufgabe war die wissenschaftliche Durchforschung des täglich
sich erweiternden Gebietes der Ursachen des Weltkrieges. Ihre Leitung
übernahm der Schweizer Historiker Dr. Ernst Sauerbeck, der schon im Jahr
1918 ein bemerkenswertes Werk über Die Großmachtpolitik der
letzten zehn Friedensjahre im Licht der belgischen Diplomatie herausgegeben
hatte, das scharfsinnigen Verstand und glänzende Beherrschung der
Aktenkunde verriet. Die Persönlichkeit dieses Schweizer Fachmannes
bürgte von vornherein für die Objektivität dieser
wissenschaftlichen Zentralstelle.
"Überparteilich" sollte diese ganze Arbeit geleistet
werden - ein nur negativ, aber nicht positiv zu umschreibender Begriff, ein
sprachkritisches Neutrum! Trotzdem war man sich klar, daß mit der
Innehaltung der "Überparteilichkeit" die ganze Bewegung stehe und [192] falle. Man kann und mag viel über
"Überparteilichkeit" philosophieren. Wir meinen, daß allein die Praxis
die Antwort darauf zu geben vermag, ob eine Arbeit wirklich
"überparteilich" ist oder nicht. Hier versagt alle Theorie, hier entscheidet
wirklich und allein der Erfolg! Und ich glaube, daß diese Arbeit des
"Arbeitsausschuß Deutscher Verbände" wie die der "Zentralstelle
für Erforschung der Kriegsursachen" wirklich die Bahn der
"Überparteilichkeit" innegehalten hat.
So begann allmählich die ursprünglich ungeordnet aus dem Erdboden
gewachsene Bewegung Ordnung und System anzunehmen. Die Einzelkräfte
begannen sich gegenseitig in die Hände zu arbeiten. Die ersten Schienen
waren gelegt. Aber schon damit war allen Beteiligten klar, daß hier eine
Arbeit auf lange Sicht aufgenommen wurde. Denn zu massiv und hoch war die
chinesische Mauer der Verleumdung, die die geistige Blockade rings um
Deutschland aufgerichtet hatte, zu mächtig der Apparat der gegnerischen
Propaganda und zu unübersehbar, ja täglich lawinenartig wachsend
der Tatsachenstoff, der aus den Memoiren, Aktenpublikationen und
Dokumentenveröffentlichungen hervorquoll. Aber ebenso fest war die
Entschlossenheit, diesen Kampf gegen die moralischen Grundlagen des Versailler
Vertrags nicht ruhen zu lassen vor einem glücklichen Ende.
Klar war von vornherein als eine der Hauptaufgaben die baldige
Durchführung der Öffnung der deutschen Archive, zu der bereits am
3. August 1919 der damalige Außenminister Hermann Müller den
Auftrag erteilt hatte. Denn niemand war fester von der Bedeutung dieser
Öffnung für die deutsche Sache durchdrungen im Gefühl und in
der Überzeugung unserer guten deutschen Sache als die Männer, die
diese Volksbewegung an ihre Spitze gestellt hatte. Und es hat kaum länger
als ein Jahr gedauert, bis die erste Serie der großen Aktenpublikation des
Auswärtigen Amtes unter dem Gesamttitel Die große Politik der
Europäischen Kabinette
1871-1914 in Gestalt von 6 stattlichen Bänden der Öffentlichkeit
Deutschlands und der Welt vorgelegt werden konnte. Kein Geringerer als Walther
Rathenau, der damalige deutsche Außenminister, hat am 13. Juni 1922 unter
Mitwirkung von Vertretern aller großen Parteien im großen Saal der
"Deutschen Gesellschaft 1914" auf der ersten größeren Kundgebung
des "Arbeitsausschuß deutscher Verbände" diese Aktenbände
der Öffentlichkeit übergeben mit den denkwürdigen
Schlußsätzen:
"Der Weg der Wahrheit ist lang. Er ist um so
länger, als ein Mangel an europäischem Interesse die Fragen, die uns
Lebensfragen sind, als gelöst, das Urteil der Geschichte als gesprochen
anzusehen sich gewöhnt hat. Ein Urteil kann nur gesprochen werden von
einem vollgültigen Tribunal. Unser Suchen [193] und Werben um Wahrheit aber wird nicht ruhen,
bis im Namen der Geschichte ein befugtes Tribunal seinen Spruch gefällt
hat."
Als einen Kampf um die Wahrheit hat Rathenau in diesen Worten den Kampf in
der Kriegsschuldfrage bezeichnet - genau wie einst Emile Zola in der
Dreyfuß-Affäre sein prophetisches "La vérité est
en marche, rien ne
l'arrêtera!" herausschleuderte. Auch diesmal ließ die Wahrheit sich nicht
aufhalten. Auch die deutschen Wissenschaftler griffen nunmehr immer
kräftiger in diesen geistigen Kampf für die deutsche Sache ein. Den
Namen von Hans Delbrück haben wir bereits genannt. An seine Person
heftet sich auch das Verdienst, seitens der deutschen Wissenschaft von Anfang an
diese Aufgabe erkannt und ständig verfolgt zu haben. Er war auch der erste
gewesen, der den Gedanken der wissenschaftlichen Disputation aufgegriffen hatte,
er hat in der
Deutsch-Englischen Schulddiskussion mit dem Londoner Geschichtsprofessor
Headlam-Morley auch als erster (im Jahre 1921) eine literarische Kontroverse
ausgefochten. - Neben ihn traten in erster Linie die Herausgeber der
Großen Aktenpublikation, Dr. Friedrich Thimme, Dr. Johannes Lepsius und
Professor Albrecht
Mendelssohn-Bartholdy, sodann Graf Max Montgelas, der ehemalige
kommandierende General, der bereits im Sommer 1919 mit dem Professor Dr.
Walter Schücking die Dokumente zum Kriegsausbruch herausgegeben
hatte. Auch eine
"Französisch-Deutsche Diskussion über die Kriegsursachen" war von
Hermann Lutz und Graf Montgelas mit dem französischen Historiker Ernest
Renauld durchgeführt worden (1922). Von diesen beiden deutschen
Wortführern widmete sich insbesondere der Münchener Schriftsteller
Hermann Lutz der wissenschaftlichen Korrespondenz mit englischen Kreisen.
Diese Wissenschaftler schufen sich in der Monatsschrift Die Kriegsschuldfrage
unter Alfred von Wegerer, dem Nachfolger Sauerbecks in der Leitung der
"Zentralstelle für Erforschung der Kriegsursachen", das wissenschaftliche
Organ, das im Juli 1923 ins Leben trat und sich einen geachteten Namen in der
Wissenschaft der ganzen Welt als Aufklärungsorgan über die
Kriegsschuldfrage erworben hat.
Parallel damit lief die Weiterführung der Volksaufklärungsarbeit
unter Führung des "Arbeitsausschuß Deutscher Verbände".
Schon im November des Jahres 1921 bildete sich in Anlehnung an den
Arbeitsausschuß eine Vereinigung zur Aufklärung der deutschen
Frauen, der "Deutsche Frauenausschuß zur Bekämpfung der
Schuldlüge", unter Führung der Reichstagsabgeordneten Clara
Mende. Es war nicht immer leicht, die Überparteilichkeit, die feste
Marschroute der ganzen Arbeit des "Arbeitsausschuß Deutscher
Verbände", innezuhalten und bei allen Strömungen durchzusetzen.
Denn es wäre nicht Deutschland gewesen, dem diese Arbeit galt und in dem
sie sich
ab- [194] spielte, wenn nicht das innerpolitische Interesse
gelegentlich über die außenpolitische Solidarität triumphiert
hätte. Eine der stärksten und eindrucksvollsten Erfolge der
überparteilichen Arbeit des "Arbeitsausschuß Deutscher
Verbände" und zugleich ein Zeugnis für diese
Überparteilichkeit war die Kundgebung sämtlicher deutschen
Spitzengewerkschaften gegen die Kriegsschuldlüge im deutschen Reichstag
am 11. Dezember 1922. In dieser Veranstaltung wurde von sämtlichen
deutschen Spitzengewerkschaften (Allgemeiner deutscher Gewerkschaftsbund,
Deutscher Gewerkschaftsbund, Gewerkschaftsring deutscher
Arbeiter-, Angestellten- und Beamtenverbände, Allgemeiner freier
Angestelltenbund, Allgemeiner deutscher Beamtenbund, Deutscher Beamtenbund)
folgende Entschließung einstimmig angenommen:
"Die am 11. Dezember 1922 im Deutschen
Reichstagsgebäude versammelten Vertreter der gesamten deutschen
Gewerkschaften erklären einmütig, daß sie den tiefsten Grund
des immer mehr um sich greifenden deutschen Elends in dem auf der Alleinschuld
Deutschlands am Weltkriege aufgebauten Versailler Diktate erblicken.
Sie rufen das ganze deutsche Volk zum einmütigen
Protest gegen dieses Diktat auf und sie werden nicht ablassen, der ganzen Welt
gegenüber immer wieder das Recht des deutschen Volkes auf ein
menschenwürdiges Dasein zu vertreten.
Sie fordern, daß der Vertrag von Versailles mit
seinen unerfüllbaren Forderungen und seinen die Existenz des ganzen
deutschen Volkes bedrohenden Lasten einer Revision unterzogen wird, durch die
Deutschland die Lebensmöglichkeiten wiedergegeben werden.
Insbesondere verlangen sie eine Verminderung der
Reparationslasten auf ein erträgliches Maß, wie sie sich andererseits
nach wie vor bereit erklären, am Wiederaufbau Europas nach Kräften
mitzuwirken. Sie wenden sich mit Entschiedenheit gegen die unhaltbare
Lüge von der deutschen Urheberschaft am Kriege und erwarten, daß
die Geheimarchive aller am Kriege beteiligt gewesenen Staaten ebenso der Welt
geöffnet werden, wie die Akten des deutschen Auswärtigen
Amtes.
Von der deutschen Regierung erwarten die
Gewerkschaften, daß sie im Interesse des Volkes ihre Politik ganz in der
vorgezeichneten Richtung orientiert.
Den Volksgenossen im besetzten
Rhein- und abgeschnürten Saargebiet, die unter fremder Bedrückung
schmachten, geben die gesamten deutschen Gewerkschaften die Versicherung
unverbrüchlicher Liebe und Treue ab."
Wie das erste Wetterleuchten des Ruhrkampfes wirkt, heute gesehen, diese
Kundgebung. Mitten unter dem Eindruck und der Gewalt dieses Ereignisses aber
stand schon die eindrucksvolle Feier der drei Kirchen am 28. und 29. Juli 1923 in
der Friedrich-Wilhelm-Universität zu Berlin, die das französische
Vorgehen am Rhein und Ruhr verurteilte; dabei erhob Bischof Dr. Christian
Schreiber von Meißen die nachstehenden Forderungen an die
Glaubensgenossen der ganzen Welt:
[195] "1. Die
Völker müssen sich in ihren Beziehungen zueinander leiten lassen
vom Geist der ausgleichenden Gerechtigkeit, der Wahrheit und der edlen
Menschlichkeit, unter Anerkennung des Rechts auch der besiegten Völker
auf gedeihliche Entwicklung, unter Abweisung von Gewaltherrschaft, Ausbeutung
und Knechtung einzelner Völker, unter Aufrichtung der Menschenliebe und
sozialen Gemeinschaft unter den Völkern.
2. Der Vertrag von Versailles ist ehestens einer Revision
zu unterziehen, denn er verstößt gegen die eben erwähnten
sittlichen Forderungen. Er ist insbesondere ungerecht, verhängnisvoll und
unsittlich:
a) Ungerecht, weil er auf der ungerechten
Voraussetzung beruht, daß Deutschland allein für den Krieg und die
Kriegsschäden verantwortlich sei; ferner, weil er dem deutschen Volk
Lasten auferlegt, die es nach dem klaren Ausweis der Tatsachen nicht tragen kann,
wenn es nicht der Versklavung und Vernichtung anheimfallen soll, zum Schaden
der Alliierten selber. Da beim Abschluß des Versailler Vertrages die
deutsche Regierung und die deutsche Volksvertretung nur unter diesen
Vorbehalten und nur unter unüberwindlichem äußeren Zwang
den Vertrag unterschrieben hat, kann aus dieser Unterschrift kein Grund für
die Aufrechterhaltung des Vertrages entnommen werden.
b) Verhängnisvoll, weil er in sich trägt
die Keime zu Haß, Zwietracht und neuen kriegerischen Verwicklungen,
die Europa und die ganze Welt in ein Chaos stürzen müssen.
c) Unsittlich, weil er an Ruhr, Rhein und Saar zu
Maßnahmen und Zuständen geführt hat, die jeder
ausgleichenden Gerechtigkeit und Menschlichkeit hohnsprechen und die
schwersten wirtschaftlichen, sozialen, sittlichen und religiösen
Schädigungen für die betroffene Bevölkerung
herbeigeführt haben."
Die beiden Manifeste sind sozusagen der Abschluß der ersten Phase der
Gesamtarbeit, der Aufrüttelung des Volkes und der Bildung einer
Einheitsfront in Sachen der Kriegsschuldfrage. Aber alsbald sollte diese ganze
Bewegung überschattet werden von dem Erlebnis des Ruhrkampfs.
Es ist hier nicht der Ort, die Geschichte dieses geistigen Abwehrkampfes, der
durch den Ruhreinmarsch und die Ruhrbesetzung entfesselt wurde, im einzelnen zu
schildern. Aber im ganzen gehört diese Ära des passiven
Widerstandes durchaus in die gleiche Linie wie der bisher geschilderte
Spezialkampf. Er ist eigentlich der große Höhepunkt der deutschen
Volksbewegung wider den Versailler Vertrag, ihr erster starker Akkord. In ihm
offenbarte sich auch wuchtig ihr Charakter als Volksbewegung im eigentlichsten
Sinn des Wortes: Aus dem Volk, mit dem Volk und durch das Volk. Eine
Bewegung lediglich mit den Waffen des Geistes und der Sittlichkeit, der Logik und
der Ethik. Der Ruhrkampf hat zunächst, das ist historisch unbestreitbar, mit
einer Niederlage geendet. Aber der geistige Kampf war nicht vergeblich. Denn von
diesen Tagen des Ruhrkampfes an datiert der immer merkbarer werdende
Umschwung in der geistigen Haltung der Welt zu Deutschland. Nicht als ob eine
Revolution der öffentlichen Meinung der Welt damit gemeint sei. Wohl aber
ein [196] Prozeß allmählichen Umdenkens.
Denn noch immer wird auch die öffentliche Meinung vielmehr von den
Interessen gelenkt und geleitet, als der Idealismus meist ahnt. Zum andern
aber gehört auch zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung viel
mehr Arbeit, als der Bürger sich meist einbildet. Die Mauern von Jericho
sind wohl durch Posaunenstöße zu Fall gebracht worden, aber dies
wird im Alten Testament, das uns darüber berichtet, ausdrücklich als
ein Wunder Gottes bezeichnet. Im täglichen Leben aber fallen Mauern, auch
geistige Mauern, namentlich von der Höhe der um Deutschland im
Weltkrieg aufgerichteten, nur durch langwierige, mühsame, aber auch
entschlossene Arbeit. So war der Ruhrkampf das erste große Signal an die
Welt. Aber die Arbeit begann nun erst recht.
Die Stabilisierung der Währung und die Annahme des Dawesplans hatte
dem deutschen Volke endlich wieder festen Boden für seine
Existenzerhaltung unter die Füße gegeben. Der Dawesplan selbst aber
hatte zugleich auch die Entpolitisierung der Reparationsfrage gebracht. Und so
ergab sich als geistiges Ziel der Revisionsbewegung immer klarer die
Loslösung von
Reparations- und Kriegsschuldfrage, aber zugleich auch die Arbeit auf beiden
Gebieten zur Widerlegung der Kriegsschuldlüge und zur Aufklärung
der Welt über die Rechtsgrundlagen der Reparationsfrage sowie die
wirkliche Leistungsfähigkeit des deutschen Volkes, im Sinne der
wirtschaftlichen Vernunft.
Auch die Regierung hatte unter dem Druck der Volksbewegung und der
öffentlichen Meinung schon vorher des öfteren Gelegenheit
genommen, Einspruch gegen die Bezichtigung der Schuld am Kriege zu erheben.
Das Zeugnis von Walther Rathenau haben wir bereits erwähnt. Ihm war am
30. September des gleichen Jahres (1922) der damalige Reichskanzler Dr. Wirth
durch eine Kundgebung vor ausländischen Journalisten gefolgt. Auch sein
Nachfolger, Dr. Cuno, und der darauffolgende Reichskanzler, Dr. Stresemann,
haben im Jahre 1923 Gelegenheiten benutzt, die Kriegsschuldlüge
ausdrücklich und entschieden zurückzuweisen. Mit betonter
Bestimmtheit geschah es, durch den Mund eines deutschen Reichskanzlers, als Dr.
Stresemann in einer öffentlichen Kundgebung am 25. Oktober 1923 das
erlösende Wort sprach: "Ich weise die Kriegsschuldlüge mit aller
Entschiedenheit zurück." Auch der höchste Repräsentant des
Reiches, der Reichspräsident Friedrich Ebert, gab dieser Volksstimmung
Ausdruck, als er am 3. August 1924, anläßlich der
Toten-Gedenkfeier vor dem deutschen Reichstag vor einer
vielhunderttausendköpfigen Menschenmenge feierlich erklärte: "Im
August 1914 ist das deutsche Volk nur zur Verteidigung der bedrohten Grenzen
seines Vaterlandes in den Krieg gezogen."
So war es nur natürlich, daß nach Annahme des Dawesplans im
Londoner Abkommen der Reichskanzler Dr. Marx, namens der [197] Reichsregierung, am 29. August 1924 amtlich
eine Kundgebung durch die Presse veröffentlichte, in der es unter anderm
hieß:
"Der Reichstag hat mit den heute gefaßten
Beschlüssen sein Siegel unter die Londoner Vereinbarungen gesetzt. Damit
ist eine Entscheidung getroffen, die für das Schicksal des deutschen Volkes
auf Jahre hinaus von maßgebender Bedeutung sein wird. Der
Reichsregierung ist es ein Bedürfnis, allen Mitgliedern des Reichstages, die
zu diesem Ergebnis beigetragen haben, ihren Dank auszusprechen. Alle Beteiligten
haben schwere Bedenken überwinden und vielfach sogar persönliche
Überzeugungen zurückstellen müssen, um zur Annahme der
Londoner Vereinbarungen zu gelangen. So schwer der Entschluß auch jedem
einzelnen geworden sein mag, so mußte er doch gefaßt werden, wenn
unserem Vaterlande der Weg in eine bessere Zukunft eröffnet werden
sollte.
Die Reichsregierung kann und will aber diesen
bedeutsamen Augenblick, in dem sie in Durchführung des Versailler
Vertrages schwere Verpflichtungen auf sich nimmt, nicht vorübergehen
lassen, ohne in der Kriegsschuldfrage, die seit 1919 mit schwerem Drucke auf der
Seele des deutschen Volkes lastet, klar und unzweideutig ihren Standpunkt
darzulegen.
Die uns durch den Versailler Vertrag unter dem Druck
übermächtiger Gewalt auferlegte Feststellung, daß Deutschland
den Weltkrieg durch seinen Angriff entfesselt habe, widerspricht den Tatsachen der
Geschichte. Die Reichsregierung erklärt daher, daß sie diese
Feststellung nicht anerkennt. Es ist eine gerechte Forderung des deutschen Volkes,
von der Bürde dieser falschen Anklage befreit zu werden. Solange das nicht
geschehen ist, und solange ein Mitglied der Völkergemeinschaft zum
Verbrecher an der Menschheit gestempelt wird, kann die wahre
Verständigung und Versöhnung zwischen den Völkern nicht
vollendet werden.
Die Reichsregierung wird Anlaß nehmen, die
Erklärung den fremden Regierungen zur Kenntnis zu bringen."
Zwar hat diese Kundgebung einen geharnischten Gegenprotest der
französischen Regierung hervorgerufen, so daß die Notifikation dieser
Note erst durch die Verbalnote vom 26. Sept. 1925 erfolgte. Aber deutlich war
damit zum Ausdruck gebracht, daß das deutsche Volk als solches nicht mehr
willens war, diesen Ruf als Friedensbrecher und Kriegsschuldiger auf sich sitzen
zu lassen. Aber gerade das entrüstete Echo auf der Gegenseite zeigte auch,
daß noch ein großes Stück Aufklärungsarbeit auf diesem
Gebiet zu leisten war.
Hier aber war ein Feld, wo die deutsche Gründlichkeit wirklich einmal sich
betätigen konnte. Ein gescheiter Engländer, der englische Lektor an
der Universität München, Wells, hat schon im Jahre 1923 in einem
Aufsatz in der Keynesschen Zeitschrift Der Wiederaufbau prophezeit, daß
die deutsche Gründlichkeit nicht eher von der Durchforschung der
Kriegsschuldfrage nachlassen würde, nachdem sie ihr durch den Versailler
Vertrag aufgezwungen worden sei, als bis alle Zusammenhänge wirklich
aufgehellt sein würden. Er hat recht behalten. Auf rein wissenschaftlichem
Gebiet erschien alsbald eine Flut von Monographien und Spezialuntersuchungen,
zum Teil auch von leichter Traktätchenware. Es hat erst länger
gedauert, [198] bis wirklich eine kritische Zusammenfassung
des Standes der Forschung in einem handlichen Werke vorlag. Den ersten Versuch
machte wohl das im Auftrag des "Arbeitsausschuß Deutscher
Verbände" von dem Verfasser dieses Beitrages herausgegebene
Sammelwerk Deutschland und die Schuldfrage (1923). Ihm folgte als erstes
wissenschaftliches Kompendium der Leitfaden zur Kriegsschuldfrage des Grafen
Max Montgelas (1923) und schließlich die kurze Broschüre von Hans
Delbrück Der Stand der Kriegsschuldfrage (1924), die in knappster Form
und komprimiertester Zusammendrängung die Resultate der Forschung
zusammenfaßte, bis dann Erich Brandenburg in seinem Werk Von
Bismarck zum Weltkriege (1924) zum ersten Male auf Grund der Akten des
Auswärtigen Amtes eine authentische und erschöpfende Darstellung
der gesamten deutschen Vorkriegspolitik gab. Eine besondere Phase der
internationalen Vorkriegspolitik untersuchte Friedrich Stieve, der insbesondere auf
Grund des Briefwechsels Iswolskis die Fäden zwischen Paris und Petersburg
in den Jahren 1911-1914 scharfsinnig bloßlegte in dem Werk Der Diplomatische
Schriftwechsel Iswolskis (1925). So wurde nach und nach auf breitester Front die
wissenschaftliche Offensive zur Revision des Schuldspruchs von Versailles
eröffnet. Vor allem die fortschreitende Erweiterung der Großen
Aktenpublikation förderte immer neues Entlastungsmaterial für
Deutschlands Sache zutage. Und als schließlich im Jahre 1927 die stattliche
Serie von 40 Bänden als Abschluß des großen Werkes Die
Große Politik der Europäischen Kabinette
1871-1914 vorlag, da konnten die Herausgeber dieses Monumentalwerkes und
mit ihnen die deutsche Wissenschaft auf eine großartige wissenschaftliche
und moralische Leistung zurückblicken. Immer mehr hatte sich die Arbeit
auf die Schultern von Friedrich Thimme konzentriert, nachdem Johannes Lepsius
schon nach der ersten Serie verschieden war. An seinen Namen knüpft sich
in der Hauptsache das Verdienst dieser Riesenarbeit.
Nun aber kam es ebenso sehr auf die Ausmünzung dieser wissenschaftlichen
Funde für die eigentliche Volksaufklärungsarbeiten. Zunächst
hat auf diesem Gebiet sich der Oberst a. D. Bernhard Schwertfeger besonders
verdient gemacht, vor allem durch seinen Wegweiser durch das große
Aktenwerk der deutschen Regierung in fünf Teilen, der unmittelbar
anschließend an den großen Bruder unter dem Titel Die
Diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes 1871 bis 1914 nacheinander
erschien. Vor kurzem auch noch durch die einbändige Zusammenfassung
des Riesenwerkes in seiner zusammenfassenden Darstellung Der Weltkrieg der
Dokumente (1928). Neben ihm steht ebenbürtig die wissenschaftliche
Aufklärungsarbeit von Friedrich Stieve, aus dessen Feder insbesondere das
beste populäre [199] Handbuch zur Vorgeschichte des Weltkriegs
Deutschland und Europa
1890-1914 stammt. Systematisch wurde diese wissenschaftliche Forschungsarbeit
in dem Institut der "Zentralstelle für Erforschung der Kriegsursachen"
immer weiter vorgetrieben. An die Stelle von Ernst Sauerbeck war Alfred von
Wegerer getreten, und um das Institut selbst hatte sich durch die Initiative und
unter dem Vorsitze des früheren Gesandten Exz. Raschdau ein freier Kreis
von wissenschaftlichen freien Mitarbeitern gebildet, die "Gesellschaft für
Erforschung der Kriegsursachen". Auf Raschdau folgte später als
Vorsitzender der ehemalige Diplomat und Reichsminister a. D. Rosen, an dessen
Stelle vor kurzem Reichskanzler a. D. Dr. Marx getreten ist. Hier
wird insbesondere der wissenschaftliche Vortrag mit anschließender
Aussprache - die kontradiktorische
Klärung - gepflegt. Auch die Arbeit des Untersuchungsausschusses
des Reichstags zur Vorgeschichte des Weltkrieges unter Leitung von Dr. Eugen
Fischer gehört in diesen Zusammenhang. Er hat der Öffentlichkeit
insbesondere im Jahre 1921 das grundlegende Weißbuch über die
Militärischen Rüstungen und Mobilmachungen geschenkt. Sein
Schlußgutachten steht jetzt nach jahrelanger Vorarbeit unmittelbar vor dem
Abschluß.
Aus all diesen Quellen floß dem "Arbeitsausschuß Deutscher
Verbände" Anregung und Antrieb, Stoff und Geist für seine
Aufklärungsarbeit zu. Er hat sie rege genutzt. Noch im Jahre des
Ruhrkampfes (1923) war an die Stelle von Dr. v. Vietsch als
geschäftsführendes Vorstandsmitglied sein Mitarbeiter Hans Draeger
getreten. Als Präsident trat im Jahre 1925 an die Spitze der
Reichstagsabgeordnete Gouverneur z. D. Dr. Heinrich Schnee. Unter ihrer beider
Leitung steht die Arbeit heute noch. Das Mitteilungsblatt Der Weg zur Freiheit
wurde immer mehr zum volkstümlichen Informationsblatt über alle
mit dem Versailler
Diktat zusammenhängenden Fragen ausgebaut. Presse
und Organisationen bedienten sich immer mehr der stofflichen Orientierung durch
den Arbeitsausschuß. Vorträge wurden immer von neuem erbeten und
vermittelt. Und alle die zahlreichen Einzelorganisationen, die sich mit der
Erörterung der Kriegsschuldfrage befaßten, hielten weiterhin engste
Fühlung mit dem Arbeitsausschuß. Insbesondere die
alljährlichen Zusammenkünfte (Stuttgart, Goslar, Heidelberg) waren
die festen Treffpunkte für alle Persönlichkeiten des deutschen Volkes,
die sich der Revisionsbewegung um den Versailler Vertrag widmeten. Nicht als ob
diese Bewegung im "Arbeitsausschuß Deutscher Verbände"
monopolisiert sei. Jede Teilorganisation hatte durchaus ihr freies Bewegungsfeld.
So sei z. B. an die großen Kriegsschuldprotestbewegungen des
Deutschen Reichskriegerbundes "Kyffhäuser" während des
Frühjahrs 1929 erinnert. Aber wohl alle diese Einzelbestrebungen haben
sich - etwas [200] wirklich seltenes in
Deutschland! - einheitlich in die große Volksbewegung unter dem
"Arbeitsausschuß Deutscher Verbände" eingeordnet.
Immer tiefer ist auf diese Weise die Erkenntnis von der Bedeutung der
Kriegsschuldfrage und ihrer mannigfachen Verästelung und Ausstrahlung
auf die sonstigen Fragen der Politik in alle Schichten des deutschen Volkes
hineingedrungen. Die Polemik über die Kriegsschuldfrage ist im
großen und ganzen aus der parteipolitischen Agitation verschwunden.
Dafür ist die Ablehnung der Versailler Schuldthese in fast alle Parteiaufrufe
oder -programme übergegangen. Sie gehört zum einheitlichen
Bestand des Gedankengutes aller Parteien, mögen sie in der Frage der
Differenzierung des Schuldanteils auch voneinander abweichen.
Als Unterlage für den Geschichtsunterricht in den Schulen hat insbesondere
der schon erwähnte Abriß von Friedrich Stieve Deutschland und
Europa 1890-1914 wertvolle Dienste geleistet. Aber auch die pädagogische
Geschichtsliteratur selbst hat heute, durchaus sachlich, auch diesen Abschnitt der
deutschen Geschichte mit in ihren Darstellungskreis zum großen Teil
einbezogen - im Unterschied von der früheren Lehrweise, die fast
überall im Unterricht den Vorhang hinter dem Jahr der
Reichsgründung (1871) fallen ließ. In diesem Fall ergänzte sich
die moderne pädagogische Lehrauffassung glücklich mit dem
moralischen Bedürfnis der Aufklärung über ein Deutschland
zugefügtes Unrecht. In diesem Zusammenhang sei als charakteristisch
für diesen Zeitgeist die Geschichte des deutschen Volkes vom Ausgang des
18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart des bekannten Schulmannes,
Oberstudiendirektor Dr. Fritz Wuessing, erwähnt, die sich ausführlich
mit der "Kriegsschuldfrage" auseinandersetzt und gerade in Lehrerkreisen weite
Verbreitung gefunden hat. Wie überhaupt die Berufsorganisation der
deutschen Lehrerschaft, der "Deutsche Lehrerverein", an der sachlichen
Aufklärung über die Kriegsschuldfrage immer reges Interesse
genommen hat, in gleicher Weise wie der Verband deutscher Geschichtslehrer und
der deutsche Philologenverband, der noch im März 1929 auf seiner
Vorstandssitzung "an alle seine Mitglieder die dringende Bitte richtete, bei jeder
sich bietenden Gelegenheit nach Kräften im Kampf gegen die
Schuldlüge mitzukämpfen". Ebenso haben auch die deutschen
Hochschulen immer mehr die Untersuchung der Kriegsursachen in ihre
Vorlesungspläne eingereiht. Vor allem der unermeßliche
Tatsachen- und Dokumentenstoff, den die große Aktenpublikation des
Auswärtigen Amtes vor der Wissenschaft ausschüttete, hat
Anlaß und Gegenstand zu einer Fülle von wissenschaftlichen Arbeiten
und Dissertationen geliefert. Auch die studentische Jugend selbst widmete sich der
Erörterung des Problems. Studentische Kundgebungen am 28. Juni jedes
[201] Jahres bürgerten sich ein. In diesen
Zusammenhang gehört auch die Entschließung, die der Verband der
Deutschen Hochschulen auf dem 6. deutschen Hochschultag im März 1929
faßte.
Dafür, daß auch in den breiten Schichten der Bevölkerung,
insbesondere in der Arbeiterschaft das Interesse für diesen moralischen
Komplex der Kriegsschuldfrage ständig rege geblieben ist, sei hier als
wichtigstes Beispiel die Broschüre des sozialdemokratischen
Reichstagsabgeordneten Adolf Biedermann Eine offene Wunde aus dem Jahr
1928 erwähnt, zu der der damalige Reichstagsabgeordnete und jetzige
Reichsinnenminister Severing ein Vorwort schrieb. Diese Broschüre hat sehr
starken Absatz gefunden - ein konkretes Zeugnis für den ideellen
Anklang in den Kreisen ihrer Leserschaft.
Ihren monumentalen Abschluß fand diese Periode der inneren
Volksbewegung zur Revision des Versailler Schuldspruches in der feierlichen
Erklärung des Reichspräsidenten
von Hindenburg bei der Einweihung
des Tannenbergdenkmals in Hohenstein am 18. September 1927:
"Die Anklage, daß Deutschland schuld sei an
diesem größten aller Kriege, weisen wir, weist das deutsche Volk in
allen seinen Schichten einmütig zurück! Nicht Neid, Haß oder
Eroberungslust gaben uns die Waffen in die Hand. Der Krieg war uns vielmehr das
äußerste, mit den schwersten Opfern des ganzen Volkes verbundene
Mittel der Selbstbehauptung einer Welt von Feinden gegenüber. Reinen
Herzens sind wir zur Verteidigung des Vaterlandes ausgezogen, und mit reinen
Händen hat das deutsche Heer das Schwert geführt. Deutschland ist
jederzeit bereit, dies vor unparteiischen Richtern nachzuweisen."
Es ist selbstverständlich, daß dieses lodernde Feuer einer
tiefinnerlichen Volksbewegung direkt und indirekt auf das Ausland ausgestrahlt
hat. Ganz unwillkürlich haben natürlich Bestrebungen eingesetzt, die
ehrliche Überzeugung von der guten deutschen Sache auch in das Ausland,
vor allem die Kreise, die guten Willens sind, hineinzutragen. Vor allem die
Verbindung mit den wissenschaftlichen Kreisen des Auslandes ergab sich als
selbstverständlich. Auf diesem Gebiet hat vor allem die "Zentralstelle
für Erforschung der Kriegsursachen" durch das geistige Instrument ihrer
Zeitschrift Die Kriegsschuldfrage entscheidende Pionierarbeit geleistet. Der
Aufklärungsarbeit im populären Sinn widmete sich der
"Arbeitsausschuß Deutscher Verbände" als solcher, darin auch
unterstützt vor allem durch den Aufklärungsausschuß der
Handelskammer Hamburg, der sich hauptsächlich bemüht hat, in den
mittel- und südamerikanischen Staaten, im nahen Osten (Türkei), wie
in Ostasien (China, Japan) sachpolitische Aufklärung über die
deutsche Politik und Wirtschaft in weiterem Sinne zu schaffen.
[202] Die hundertfachen Verzweigungen und
Verästelungen, durch die sonst die Aufklärung über diese
Fragen in die verschiedenen Volkskreise des Auslands hineingeströmt sein
mag, entziehen sich natürlich einer genaueren Kenntnis. Sie haben sicher
ebensosehr an dem allmählichen Durchbruch der Einsicht im Ausland
mitgeholfen wie die erwähnten organisierten Bestrebungen. Jedenfalls kann
festgestellt werden, daß diese Volksbewegung zur Revision des Versailler
Diktats und insbesondere des Kriegsschuldverdiktes in dem Artikel 231
starkes Echo im Ausland erzielt hat. Zunächst hat der große prinzipielle
Schritt der Öffnung der deutschen Archive in Form der Herausgabe der
großen Aktenpublikation des Auswärtigen Amtes den Damm der
Widerstände im Ausland gegen die Öffnung der fremden Archive
durchbrochen. Dem Entschluß der britischen Regierung vom November
1924 zur Öffnung ihrer Archive ist 1926 der Beschluß der
amerikanischen und der italienischen und 1927 der gleiche der französischen
Regierung gefolgt. Heute liegen immerhin schon mehrere Bände des
britischen Aktenwerks, ein Band des amerikanischen Aktenwerks vor, und der
erste französische Band steht dicht vor dem Erscheinen. Man wird
naturgemäß erst das Vorliegen größerer Partien dieser
Publikationen abwarten müssen, bevor man ein Urteil über ihren
historischen Wahrheitscharakter abgeben kann. Aber als psychologisches Faktum,
als publizistische Tatsache sind diese Öffnungen der fremden Archive ohne
Zweifel schon Fortschritte, selbst wenn sie nur Konzessionen an die
öffentliche Meinung sein sollten. Und diese Tatsachen sind ohne Zweifel
Ergebnisse, vielleicht sogar Früchte dieser skizzierten ernsten und
entschlossenen deutschen Volksbewegung. Ähnlich hat sich
allmählich ohne Zweifel auch eine gewisse Umlagerung der Auffassungen
und Werturteile in den Kreisen der ausländischen Fachleute und Historiker
vollzogen. Von der bekannten Senatsrede des amerikanischen Senators Owen an
über die Publikationen der amerikanischen Historiker Barnes, Sidney B. Fay,
zu den Werken der Engländer E. D. Morel, Beazley, Gooch,
Headlam-Morley, dem grundlegenden Buch des holländischen Historikers
Japikse über Bismarcks Friedenspolitik zu den Büchern der
Franzosen Renouvin,
Fabre-Luce, Margueritte, des Italieners Barbagallo und schließlich zu dem
großen Sammelwerk des Norwegers Harris Aall. Wohl sind sie verschieden
in den Abstufungen der Überzeugung, in den Spielarten der Betrachtung,
aber doch alle einig in der Kritik an dem Schuldspruch, wie er im Artikel 231
seinen Niederschlag gefunden hat. Die Fundamente dieses Schuldspruchs in der
Psychologie der Völker sind tatsächlich im Wanken. Das
läßt sich wohl sagen, bei aller Distanz zu derartigen summarischen
Werturteilen über so labile und atmosphärische Gebilde wie die
Volksmeinung, wenn man überhaupt an eine Volksseele glaubt.
[203] Und wenn wir heute auf die zehn Jahre
Geschichte des Versailler
Diktates zurückblicken, dann kann bei aller Trauer
und Empörung über die mancherlei Demütigungen und
Enttäuschungen, die uns damals und seitdem bereitet worden sind, doch ein
gewisses Gefühl der Genugtuung und des Stolzes ruhig sich einstellen. Ein
Gefühl der Genugtuung und des Stolzes darüber, daß das
deutsche Volk den Sinn für Würde und den Charakter keineswegs
verloren hat, daß hier eine elementare Volksbewegung spontan
hervorgebrochen ist, daß diese Volksbewegung ihren überparteilichen
Charakter - im Gegensatz zu hunderten anderer betrüblicher
Erfahrungen - dieses Mal klar bewahrt hat, daß diese Volksbewegung
sich nicht hat unterdrücken lassen, sondern tapfer mit den Waffen des
Geistes und der Moral weiter gekämpft hat, und daß diese
Volksbewegung schöne Früchte getragen hat. Vielleicht ist diese
Volksbewegung einer der seltenen exakten
Beweise - wenigstens in Deutschland - für die
Möglichkeit und Produktivität einer ehrlich gemeinten und richtig
geleiteten Aufklärungsarbeit. Vielleicht, andere werden sagen: sicher. Sicher
ist jedenfalls das eine, daß diese schönen Erfolge unmöglich
gewesen wären, wenn nicht die innere Empörung, die ehrliche
Aufwallung, das gute Gewissen und der männliche Stolz eines ganzen
Volkes hinter dieser Bewegung gestanden hätte. Sie war wohl organisiert,
aber nicht gemacht. Sie kam aus den Tiefen der Volksseele. Dieser
moralische Fundus hat bisher über ihr Schicksal entschieden und
wird auch weiterhin darüber entscheiden.
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