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5. Teil:
Geschichtsübersicht:
Das neue Polen und der deutsche Osten


A. Die Wiederaufrichtung Polens durch die Mittelmächte und der russische Zusammenbruch

1. Die polnischen Parteien und der Weltkrieg.

Die Nationaldemokraten unter Dmowski, am stärksten in Posen vertreten, erhofften von einem siegreichen Krieg gegen die Mittelmächte die Vereinigung Russisch-Polens mit deutschen und österreichischen Gebieten, also die Schaffung eines "piastischen" Polen unter dem russischen Zaren. Deshalb machen sie etwa von 1907 - 1914 Hetzfeldzug gegen Deutschland namentlich in Frankreich und Rußland, versichern trotz ständiger russischer Unterdrückung der russischen Regierung ihre Loyalität und verhindern einen Aufstand in Russisch-Polen bei Kriegsausbruch (vielleicht wichtig für Ausgang der Marneschlacht!). Im Krieg erreichen sie trotz französischer Unterstützung keine ernsthaften russischen Schritte in Richtung einer polnischen Autonomie, bis 1916 die Mittelmächte die polnische zu einer aktuellen europäischen Frage machen.

Die Sozialisten unter Pilsudski, am stärksten vertreten in Galizien, erhofften vom Sieg der Mittelmächte die Aufrichtung eines "jagellonischen", weit nach Osten reichenden Polen. Pilsudski stellt vor dem Kriege in Galizien eine "polnische Legion" auf, die im Kriege gegen Rußland mitkämpft.



2. Die Proklamation von 1916 und ihre Auswirkung.

Am 5. November 1916 proklamieren der deutsche und der österreichische Kaiser die Gründung Polens. Die Hoffnung auf ein großes polnisches Freiwilligenheer erfüllt sich nicht. Selbst die polnische Legion wird unzuverlässig. Zusammenarbeit mit der provisorischen polnischen Regierung mißglückt. Russische Revolutionsregierung erklärt sich März 1917 für einen polnischen Staat. Nach der bolschewistischen Revolution haben die Westmächte 1918 vollends freie Hand in ihrer Polenpolitik.

[148]
B. Die polnischen Vorbereitungen für Versailles

1. Die Beeinflussung Wilsons.1

Der polnische Nationalausschuß unter Dmowski in Paris 1917 von Alliierten als offizielle Vertretung Polens anerkannt. Schon lange vorher Beeinflussung Wilsons durch den Polen Sosnowski in Amerika, der sich zunächst für den Kriegseintritt Amerikas und später für ein Polen mit territorialem Seezugang einsetzt. Seine Arbeit wird 1917/18 durch den Klaviervirtuosen Paderewski und August bis November 1918 durch Dmowski fortgesetzt. Wilson erklärt am 22. Februar 1917 vor dem Senat: Wo ein Seezugang nicht durch Gebietsabtretungen geschaffen werden kann, "kann es zweifellos durch Neutralisierung unmittelbarer Wegerechte unter der allgemeinen Friedensbürgschaft geschehen". Auch in dem 13. der 14 Punkte (8. Januar 1918) wird kein Landzugang zum Meere gefordert (vgl. These 41). Aus Dmowskis Aufzeichnungen ergibt sich, daß Wilson lediglich die Neutralisierung der Weichsel und einen polnischen Freihafen in Danzig anstrebte. Dmowski arbeitete nicht nur mit irreführenden Karten, sondern drohte Wilson auch schließlich, die 4 Millionen Polen in Amerika würden ihn nicht wieder wählen. Noch am 3. Juni 1919 trat Wilson für eine Volksabstimmung in den deutschen Abtretungsgebieten ein, beruhigte sich aber bei dem Urteil seines Sachverständigen Professor Lord, daß diese Gebiete "eindeutig polnisch" seien. (Lord war schon vor dem Kriege deutschfeindlich und polenfreundlich gewesen.) Vgl. Wilsons Äußerung auf S. 69.



2. Der Aufstand in Südposen.

Unter Ausnutzung der deutschen Wirren machen die Polen Januar 1919 von der Stadt Posen aus einen Aufstand, der sich vor dem Netzegau und den deutsch besiedelten Randgebieten im Osten und Süden festläuft. Deutscher Gegenstoß wird am 16. Februar 1919 durch Diktat von Trier (Verlängerung des Waffenstillstands mit der Entente) zur Einstellung gezwungen; Demarkationslinie südlich des Netzegaus, also an der deutsch-polnischen Volksgrenze.


C. Von Versailles bis zur Teilung Oberschlesiens

1. Versailles.

Wilsons Umfall unter dem Einfluß Clemenceaus; Lloyd George setzt durch, daß Danzig nicht zu Polen kommt, sondern "Freie [149] Stadt" in Zollunion mit Polen und unter Oberhoheit des Völkerbundes wird. Polen erhält ohne Abstimmung Korridorgebiet und fast das ganze restliche Posen sowie Stücke Niederschlesiens. Bedingungslose Abtretung Oberschlesiens wird im endgültigen Text durch Abstimmung ersetzt (abgesehen von Abtretungen an die Tschechoslowakei). Abstimmung in Gebieten rechts der Weichsel angeordnet. Memelland an die alliierten Hauptmächte abgetreten. Grenzschäden siehe S. 51 f.



2. Die Abstimmungen östlich der Weichsel 1920.

Versuch Polens, weitere Abtretungen durch Abstimmung zu erreichen, scheitert besonders an der deutschen Haltung der masurischen Bevölkerung Ostpreußens. In den beiden Abstimmungsgebieten Allenstein und Marienwerder 98 und 92 Prozent deutsche Stimmen. Näheres S. 88, 90.



3. Der polnisch-russische Krieg 1920.

Nach Besetzung Kiews durch die Polen, Bedrohung Warschaus durch die Russen und schließlicher Niederlage der Russen werden im Frieden von Riga die polnischen Grenzen weit nach Weißrußland und in die Ukraine vorgeschoben. Näheres S. 67. - In Galizien Polens Hoheitsrechte von der Entente anerkannt, nachdem Polen 1922 ein Gesetz über Autonomie im ukrainischen Ostgalizien geschaffen hatte (das nicht durchgeführt worden ist).



4. Der Handstreich auf Wilna.

Aus Wilna, Litauens historischer Hauptstadt, wurde 1920 die litauische Regierung von dem polnischen General Zeligowski vertrieben. Dieser zuerst desavouiert, später gefeiert. Seitdem polnisch-litauische Grenze gesperrt.



5. Die Teilung Oberschlesiens.

Im oberschlesischen Abstimmungsgebiet stimmten am 20. März 1921 708 000 oder 60 Prozent für das Reich, 479 000 oder 40 Prozent für Polen. Dies, obwohl die deutsche Bevölkerung durch polnische Banden monatelang terrorisiert wurde und die Abstimmungskommission unter dem französischen General Le Rond in jeder Weise die polnische Agitation begünstigt, die deutsche beeinträchtigt hatte. Widerrechtliche Teilung des Gebiets durch den Völkerbundsrat trotz [150] deutscher Mehrheit. Der Hauptteil des Industriegebiets, in dem alle deutschen Städte Mehrheiten gebracht hatten, kam zu Polen. 49 Prozent der Einwohner des Abstimmungsgebietes wurde polnisch. Näheres S. 42 f.



6. Minderheitenschutz.

Polen hat sich zum Minderheitenschutz durch den Vertrag vom 28. Juni 1919 und für Oberschlesien außerdem durch das deutsch-polnische Oberschlesien-Abkommen vom 15. Mai 1922 verpflichtet. Die Übernahme des Minderheitenschutzes war die Vorbedingung für die Überlassung der deutschen Gebiete an Polen. (Vgl. Note Clemenceaus an Polen vom 24. Juni 1919.) Minderheitenverträge immer wieder von Polen gebrochen.


D. Verschiedene Daten zur Nachkriegsentwicklung

1. Allgemeines über Polen.

Fläche von 388 000 qkm (4⁄5 des Deutschen Reiches; 1772 751 000 qkm, fast das vierfache des polnischen Sprachgebiets); von der Gesamtfläche 67 Prozent ehemals russisches, 21 Prozent österreichisches, 12 Prozent deutsches Teilgebiet. 32 Millionen Einwohner, davon 10 - 14 Millionen Minderheiten, von diesen die Hälfte Ukrainer, Rest Juden, Weißrussen, Deutsche u. a. Wirtschaftliche Kräfte besonders in den Minderheitengebieten: Kohlen und Eisen in Oberschlesien; höchstentwickelte Landwirtschaft und verwandte Industrie (Zucker, Spiritus) in Posen und Westpreußen; Petroleum in Ostgalizien; Holz in den Ostgebieten. Kohlen hat Polen für ca. 1500 Jahre, England für 200 bis 300 Jahre). Konfession: ca. zwei Drittel der Bevölkerung Polens römisch-katholisch; je ca. ein Zehntel griechisch-katholisch, russisch-orthodox und jüdisch; ferner (namentlich unter den Deutschen) Protestanten.



2. Äußere Entwicklung Polens nach 1922.

1922 Militärvertrag mit Frankreich, 1932 erneuert. - Seit 1925 Zollkrieg mit dem Deutschen Reich. - Zahlreiche Streitfälle mit Danzig und Minderheitenklagen vor dem Völkerbund. - 1932 Nichtangriffspakt mit Rußland.



[151] 3. Zur inneren Entwicklung Polens.

Aufbauschwierigkeiten infolge Kriegsschäden (andererseits positive Leistungen und Hinterlassenschaften der deutschen Okkupations-Verwaltung) und infolge des verschiedenen Kultur- und Wirtschaftsniveaus der russischen, österreichischen und deutschen Teilgebiete. Bis 1926 zwei Inflationen, seit 1926 stabile Währung (1 Zloty = ca. Rm. 0,47). Pilsudski ergreift nach mehrtägiger Straßenschlacht in Warschau 1926 die Macht, um parlamentarischen Sumpf zu beseitigen. Seitdem effektive Diktatur Pilsudskis und der hinter ihm stehenden (besonders der militärischen) Kreise unter Wahrung der parlamentarischen Fassade. Konflikt führt zur Neuwahl 1930, bei der sich die Pilsudski-Anhänger mit unerhörtem Terror eine Mehrheit verschaffen: die polnischen Oppositionsparteien werden führerlos gemacht durch Verhaftung von etwa 100 führenden Abgeordneten und Politikern und Tausenden von politisch tätigen Bürgern. Die Abgeordneten, darunter frühere Minister und international bekannte Politiker, werden im Gefängnis von Brest-Litowsk wochenlang schlimmer als verurteilte Mörder gehalten, zum Teil bestialisch mißhandelt und in ihrer Gesundheit gebrochen. Wahlterror gegen die Deutschen in Oberschlesien und Westpreußen; blutige Greuel gegen die Ukrainer in Ostgalizien. Annullierung von Wahllisten.3



4. Der zugesicherte Minderheitenschutz.

Minderheitenvertrag vom 28. Juli 1919 bestimmt u. a. völlige Rechtsgleichheit, freien Gebrauch der Sprache, Freiheit der Errichtung eigener Schulen und anderer Einrichtungen, Garantie und Zuständigkeit des Völkerbundes; für die Deutschen in den ehemals preußischen Gebieten Sonderbestimmungen über staatlichen Unterricht in deutscher Sprache und über Beteiligung der deutschen Minderheiten an dem Genuß und der Verwendung öffentlicher kultureller Aufwendungen. Weitergehende Bestimmungen in der Genfer Konvention (deutsch-polnisches Abkommen über Oberschlesien) vom 15. Mai 1922, die 1937 abläuft. Ferner weitere Verträge. Minderheitenschutz in der Verfassung verankert. Proklamation Pilsudskis vom 20. Januar 1920 an die Bewohner der ehemals deutschen Gebiete siehe v. Kries in Deutschland und der Korridor, S. 435 f. ***[Scriptorium merkt an: bitte Zusatz zu Teil 1 Anm. 1 beachten!]



[152] 5. Die polnische Minderheitenpolitik.

Bis 1930 128 Beschwerden beim Völkerbund über Rechtsverletzungen auf fast allen Lebensgebieten. Polen ist die Folterkammer Europas, das "Gefängnis der Völker".4

a) Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit, Schutz von Leben und Eigentum: Benachteiligung und Verwaltungsschikane bei Steuern, Schank-, Versicherungs- und anderen Konzessionen, öffentlichen Krediten und Aufträgen, Pressezensur, Anzweifelung der Staatsangehörigkeit, Prozesse gegen Minderheitenführer und -journalisten. Besonders gute Handhabe gibt das neue Strafgesetzbuch von 1932, Minderheitsangehörige schon wegen legaler Beschwerde beim Völkerbund ins Gefängnis zu bringen. Judenpogrome, seit 1931 in verschiedenen Städten.

b) Schulpolitik. Staatliche deutsche Schulen durch Abbau deutscher Direktoren und Lehrer unter nationalistisch-polnische Leitung gebracht, polnischen Schulen angegliedert oder geschlossen. Schulen aus den verschiedensten Gründen (z. B. angeblich ungeeignete Schulräume, die nachher für polnische Schulen durchaus geeignet sind) zum Erliegen gebracht. 1925 in Oberschlesien von 8560 Anmeldungen zu deutschen Schulen 7114 für ungültig erklärt. In Posen und Pommerellen werden neuerdings alle Anträge auf Errichtung von privaten Minderheitsschulen abgelehnt. Große Mehrzahl der deutschen Kinder muß in polnische Schulen gehen. Während der Wirtschaftskrise Kämpfe gegen Minderheitenschulen verschärft.

c) Bodenpolitik. Vor Krieg in Preußen auf Grund des Enteignungsgesetzes von 1908 4 Güter mit 1656 ha gegen hohe Entschädigung enteignet. 1920 - 1928 etwa die hundertfache Fläche deutschen Grundbesitzes (Entschädigung fast durchweg völlig sabotiert) allein durch Anwendung und Mißbrauch des Versailler Liquidationsrechtes enteignet (über 150 000 ha nach amtlichem polnischem Bericht). Dazu kommt die Annullierung deutscher Vorkriegsansiedler, die vorzugsweise Anwendung der Agrarreform auf dem Grundbesitz der Minderheiten. Zwang zum Verkauf von Grundbesitz durch behördliche Schikane. Massenweise Exmittierung von deutschen Pächtern in Wolhynien. Schon bis 1926 in Posen und Westpreußen zirka 500 000 ha oder ein Drittel des deutschen Grundbesitzes verloren.

d) Oberschlesischer Wahlterror 1930. Tausende von Deutschen aus der Wählerliste gestrichen, z. B. weil sie nicht die geforderten [153] Dokumente über Staatsangehörigkeit so rasch beschaffen konnten. Terrorisierung der Deutschen durch den (von den Abstimmungskämpfen her bekannten) halbamtlichen "Aufständischen-Verband". Laut Völkerbundsbeschwerde des deutschen Volksbundes in 255 Fällen Leben und Eigentum von Deutschen bedroht. Vielfach Kontrolle in den Wahllokalen: wer geheim stimmt, ist Feind der Regierung. Ehrenvorsitzender des Aufständischen-Verbandes ist der oberschlesische Wojewode (Oberpräsident) Grazynski. Er bleibt Ehrenvorsitzender und Oberpräsident, obwohl der Völkerbundsrat die Haltung der polnischen Behörden in dieser Sache scharf verurteilt. Frühling 1933 neue Deutschenverfolgung in Oberschlesien.

e) Die ukrainischen Greuel. Dmowski legt schon im Kriege der Entente die Teilung der Ukraine unter Polen und Rußland nahe, damit sie nicht ein Werkzeug Deutschlands werde. (Unter Schutz der Mittelmächte 1917/18 ukrainischer Staat.) Autonomie versprochen für die Ukraine, aber nicht durchgeführt. Polonisierung bisher gescheitert, Ukrainer bis in offene Staatsfeindschaft getrieben. Trotz Landhungers der Ukrainer polnische Kolonisation. 1930 wegen Brandstiftungen an polnischem Staats- und Privateigentum militärische Strafexpedition ("Pazifizierung") in das ukrainische Ostgalizien. In zirka 700 ukrainischen Orten Verhaftungen, Zerstörungen von Büchereien, Genossenschaftseinrichtungen usw., bestialische Mißhandlungen, an denen zirka 50 Menschen gestorben, Hunderte erkrankt sind. - 1932 umfangreiche Kämpfe.

f) Weißrußland. Umfangreiche polnische Militärkolonisation. Kleinkrieg. 1927 Verhaftung von zirka 200 weißrussischen Führern, angeblich zur Vereitelung eines Aufstandes zugunsten Sowjetrußlands; Unruhen; Auflösung der weißrussischen Organisationen, 1928 37 weißrussische Führer wegen Landesverrates verurteilt.



6. Polen und Danzig.

Näheres S. 96 ff., 102 f., 107.


7. Niedergang Posens und Westpreußens.

Näheres S. 54 f.

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1Vgl. S. 81 f.; ferner Recke; v. Loesch in v. Loesch-Boehm; Martel. ...zurück...

[Anm. 2 fehlt.]

3Näheres z. B. bei Santoro, Through Poland during the election of 1930 (Genf 1931). ...zurück...

4Polen, das Gefängnis der Völker, Titel eines tschechischen Buches. ...zurück...

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100 Korridorthesen:
Eine Auseinandersetzung mit Polen

Dr. Arnold Zelle