[17] I. 2. Rechtliche Lage a. Polen - ein Nationalitätenstaat Die deutsche Volksgruppe war nicht die einzige nationale Minderheit in Polen, auch war sie in Versailles nicht ohne entsprechende Rechtsgarantien dem polnischen Staat überantwortet worden, als sich dieser entgegen dem Punkt 13 der Wilsonschen Friedensvorschläge nicht auf die Gebietsteile beschränkte, die von "unbestritten polnischer Bevölkerung" bewohnt waren. Abgesehen von den ehemals preußischen Gebieten mit deren starkem deutschen Bevölkerungsanteil konnte sich Polen noch im Rigaer Friedensvertrag 1921 und durch die im Jahre 1923 von der Pariser Botschafterkonferenz gefällte Entscheidung im Osten und Südosten weite Gebiete mit überwiegend nichtpolnischer Bevölkerung sichern. Ferner wohnten in fast allen polnischen Landesteilen in beträchtlicher Anzahl Juden, die hier ein bewusst völkisches Eigenleben führten und sich nicht nur als konfessionelle, sondern auch als nationale Minderheit fühlten. Sogar nach den Ergebnissen der polnischen Volkszählung vom 9. 12. 1931 machten die Polen, d. h. alle, die sich bei der Zählung zur polnischen Muttersprache bekannt hatten, nur 68,9% der Gesamtbevölkerung aus, und ein knappes Drittel gehörte somit schon nach diesen Angaben anderen Volksgruppen an. In Wirklichkeit waren diese jedoch zahlenmäßig noch weit stärker. Die Problematik der polnischen Volkszählung in Bezug auf Nationalitätenstatistik haben wir schon herausgestellt (s. S. 9f.). Auf Grund verschiedener wissenschaftlicher Berechnungen ergeben sich für die fremden Volksgruppen folgende gesicherte Mindestzahlen, wobei von der im polnischen Kleinen Statistischen Jahrbuch für 1939 festgestellten Gesamteinwohnerzahl von 35 Millionen ausgegangen wird.
Der Anteil des polnischen Volkes, des "Staatsvolkes", belief sich also nur auf 60%, auf 21 Millionen. Polen war demnach ein Nationalitätenstaat. Dabei waren die fremden Volksgruppen, ohne gefragt worden zu sein, ja zum größten Teil gegen ihren ausdrücklichen Willen, an Polen gekommen. b. Der Minderheitenschutzvertrag Dieser Umstand war mit der von den Alliierten so nachdrücklich verkündeten Parole des Selbstbestimmungsrechtes der Völker nicht in Einklang zu bringen. Als Äquivalent dafür sollten den Volksgruppen wenigstens gewisse Grundrechte sichergestellt werden, die im Minderheitenschutzvertrag festgelegt wurden. Daher wurde in der Note, die Clemenceau als Konferenzpräsident namens des Obersten Rates am 24. 6. 1919 an den polnischen Ministerpräsidenten Ignacy Paderewski richtete, betont, daß die Hauptmächte den Minderheitenschutzvertrag als Voraussetzung für die völkerrechtliche Anerkennung Polens betrachteten. Infolgedessen musste Paderewski am 30. 7. 1919 im Warschauer Sejm erklären: "Der Vertrag zwischen Polen und den Hauptmächten entspringt dem Artikel 93 des [19] Vertrages mit den Deutschen. Der Zusammenhang darin ist organisch, er... bildet eine der Hauptbedingungen unserer Unabhängigkeit."
Somit hatte auch das Deutsche Reich aus Art. 93 des Versailler Friedensvertrages
einen unmittelbaren Anspruch an den polnischen Staat, da dieser Artikel
sozusagen eine Gegenleistung für die Abtretung von Reichsgebieten
darstellte und keineswegs an eine etwaige, damals noch gar nicht in Frage
kommende Mitgliedschaft des Reiches im Völkerbund geknüpft
war. Letzterer Umstand sei hier besonders betont, weil er wesentlich für
die Beurteilung der rechtlichen Lage nach dem Austritt Deutschlands aus dem
Völkerbund im November 1933 sowie nach der Genfer Kontrolle durch
Polen im September 1934 war. Den Minderheiten wurde in diesem von Polen
am
28. 6. 1919 unterzeichneten Schutzvertrag unter Garantie des
Völkerbundes der freie Gebrauch der Muttersprache, das Recht auf
Errichtung, Leitung und Beaufsichtigung von eigenen Schulen,
Wohlfahrtseinrichtungen und kirchlichen Anstalten sowie auf freie
Ausübung jeden Bekenntnisses zugesichert. Alle polnischen
Staatsangehörigen sollten ohne Unterschied des Volkstums, der Sprache
und der Religion vor dem Gesetz gleich sein sowie dieselben bürgerlichen
und staatsbürgerlichen Rechte genießen. Dieser Inhalt der
Minderheitenverträge stellte nach Auffassung der Hauptmächte das
Mindestmaß dessen dar, was den andersnationalen
Bevölkerungsteilen Polens als rechtlicher Eigenkreis zur Verfügung
stehen sollte. Die Hauptmächte erklärten es für ihre
Pflicht,
für die stetige Einhaltung dieser Rechtsformen zu sorgen.
c. Der Minderheitenschutz in der polnischen Verfassung
Polen war außerdem gehalten, die Grundgedanken dieser Bestimmungen in
seiner Verfassung zu verankern. Demzufolge [20] enthielt die polnische Staatsverfassung vom 17.
März
1921 - die sogenannte Märzverfassung - folgende bedeutsame
Artikel: Die Rechte der Minderheiten in Polen waren somit nicht nur außenpolitisch gesichert, sondern auch innenpolitisch verankert.
Nicht genug damit, Polen legte damals Wert darauf, als Demokratie par
excellence zu gelten, war es doch als solche während der
Friedensverhandlungen oft genug sowohl seitens der polnischen Vertreter als
auch seiner Freunde hingestellt worden, wenn es darum ging, den
widerstrebenden Staatsmännern unter den Alliierten die Einverleibung so
vieler zumindest "zweifelhaft polnischer" Gebiete in den neuen [21] Staat schmackhaft zu machen. Die
Grundsätze der westlichen Demokratien übernahm Polen dann
tatsächlich neben den bereits angeführten
Artikeln - wenigstens für seine Märzverfassung. Dort wurde
im
Art. 95 jedermann ohne Unterschied der Abstammung,
Nationalität,
Sprache, Rasse oder Religion der volle Schutz des Lebens, der Freiheit und des
Besitzes zugesichert. Der Art. 96 verbürgte die Gleichheit aller
vor dem
Gesetz, der Art. 105 die Pressefreiheit, Art. 107 die
Petitionsfreiheit, Art. 108 das
Koalitionsrecht, die Versammlungsfreiheit und das Recht, Vereine und
Verbände zu gründen. In Art. 117 wurde schließlich
jedem
Staatsbürger
noch - bei Erfüllung der entsprechenden gesetzlichen
Vorschriften - das Recht zugebilligt zu unterrichten, Schulen oder
Erziehungsanstalten zu gründen und zu leiten. In Posen hatte schon am 30.
Juni 1919 das Kommissariat des Obersten Polnischen Volksrates seinen
"Mitbürgern deutscher Nationalität volle Gleichberechtigung,
völlige
Glaubens- und Gewissensfreiheit, Zutritt zu den Staatsämtern, Freiheit der
Pflege der Muttersprache und nationalen Eigenart" zugesichert.6 Die Verfasser dieses Aufrufes werden,
wenn sie es ehrlich gemeint haben sollten, bestimmt bei Verkündung der
Märzverfassung deren Wortlaut als Einlösung ihres Versprechens
angesehen haben. Wenn auch die meisten dieser Bestimmungen aus der
Märzverfassung in der späteren autoritären Verfassung vom
23. April 1935 wesentlich modifiziert oder gar eingeschränkt erschienen,
so waren sie doch bis dahin in vollem Umfange verpflichtende Rechtsnorm.
Die
zuerst erwähnten Artikel 109 und 110 wurden aber unverändert in
die Aprilverfassung übernommen und hätten an sich auch nach 1935
eine freie Entwicklung u. a. auch der deutschen Volksgruppe sicherstellen
müssen. Wie wenig das tatsächlich der Fall war, wird im Laufe der
Darstellung zu Tage treten.
[22] d) Die Genfer Konvention betreffend Oberschlesien Eine Sonderstellung im polnischen Staatsgebiet und im Rechtsleben des Deutschtums nahm Ostoberschlesien ein, das bekanntlich erst nach der am 20. 3. 1921 stattgefundenen Volksabstimmung (und nach drei polnischen Aufständen) auf Grund einer von der Botschafterkonferenz am 20. 10. 1921 beschlossenen Teilung des Abstimmungsgebietes am 15. Mai 1922 zu Polen gekommen war. Hier war zwischen Deutschland und Polen eine besondere Regelung, das sogen. Genfer Abkommen (oder die Genfer Konvention) vom 15. Mai 1922, getroffen worden, die den mitten durch das in Jahrhunderten organisch gewachsene Industriegebiet geführten Schnitt etwa mildern und jedem der beiden Teile gewisse Vorteile für eine Übergangszeit von 15 Jahren gewährleisten sollte. Dieses Abkommen, ein umfangreiches Vertragswerk, das bis zum 15. Juli 1937 befristet war, regelte vor allem wirtschaftliche und verkehrsmäßige Fragen. Bedeutungsvoll wurde der eingeführte "kleine Grenzverkehr", der z. B. den Bewohnern Ostoberschlesiens die Arbeitsaufnahme in Westoberschlesien ermöglichte, ohne daß sie ihren Wohnort aufzugeben brauchten. Allerdings verhinderte die Möglichkeit eines steten Kontaktes mit dem Reich bei vielen Deutschen Ostoberschlesiens die Bildung eines Volksgruppenbewusstseins und damit die Weckung echter Selbsthilfe. Der Teil III des Genfer Abkommens enthielt nun ausführliche Bestimmungen zum Schutze der Minderheiten. Dabei war von dem allgemeinen Minderheitenschutzvertrag ausgegangen worden, dessen zeitlich unbeschränkte Geltung auch für Oberschlesien in diesem Abkommen (Art. 64) ausdrücklich anerkannt wurde. Die mehr ins Einzelne gehenden Formulierungen dieses Vertragswerkes schufen u. a. eine Art Minderheitenschulrecht und grenzten dieses gegen staatliche Willkür ab. So verpflichteten sich die Vertragspartner, öffentliche Minderheitenschulen [23] oder -klassen zu errichten, falls es die Erziehungsberechtigten von 40 Kindern wünschten. Die Lehrer dieser Schulen sollten derselben nationalen bzw. konfessionellen Minderheit wie die Kinder angehören. Bei einem Antrag der Eltern von 300 Kindern sollte vom Staate eine höhere Schule errichtet werden. Bei der geplanten Errichtung einer Privatschule sollte die Bedürfnisfrage nicht nachgeprüft werden.
Eine der wertvollsten
Errungenschaften der Genfer Konvention war zweifellos die Errichtung zweier
internationaler Gremien, die strittige Fragen an Ort und Stelle rechtsgültig
entscheiden sollten. Diese waren das sogen. "Schiedsgericht für
Oberschlesien" und die "Gemischte Kommission". Letztere hatte
die Durchführung des Minderheitenschutzes zu überwachen und
setzte sich aus je 2 Vertretern Deutschlands und Polens unter einem vom
Völkerbundsrat zu bestimmenden Präsidenten anderer
Staatsangehörigkeit zusammen. Dieses Amt bekleidete die 15 Jahre
hindurch Dr. Felix Calonder, Altbundespräsident der Schweiz, der alles tat,
was in seinen Kräften stand, um die Buchstaben des Abkommens mit
Leben zu erfüllen. Calonders "unbestechlicher Gerechtigkeitssinn, seine
staatsmännische und diplomatische Erfahrung, seine klare Erkenntnis des
Rechtes und warmherzige Anteilnahme am Geschick der nationalen
Minderheiten"7 befähigten ihn in
außerordentlichem Maße zur Wahrnehmung dieses Amtes, so
daß ihm von keiner Seite wegen seiner Amtsführung Vorwürfe
gemacht werden konnten. Berufungsinstanz war der Völkerbundsrat,
dessen unmittelbare Anrufung auch möglich war. Letzteres galt für
den allgemeinen Minderheitenschutz als einzige Beschwerdemöglichkeit,
was schon die Fragwürdigkeit dieser Sicherung erkennen ließ.
5Mornik, Stanislaus (Jaensch, Erich):
Polens Kampf gegen seine nichtpolnischen Volksgruppen. Berlin
1931; 6Martin, Gottfried (Hrsg.): Brennende Wunden. Tatsachenberichte über die Notlage der evangelischen Deutschen in Polen. S. 93f; Berlin 1931 (1. Aufl.). ...zurück...
7Ulitz, Otto in: Nation und
Staat. Jg. X, S. 649; Wien 1937. ...zurück...
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